JudikaturVfGH

G74/12 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
03. Dezember 2012

Aufhebung des §60 Abs1 FremdenpolizeiG 2005 (FPG) idF BGBl I 38/2011.

Auf Grund des ausdrücklichen Wortlautes des §60 Abs1 FPG ist eine gänzliche Aufhebung eines ausgesprochenen Einreiseverbotes überhaupt nicht und die Herabsetzung auf die Hälfte des festgesetzten Zeitraumes eines solchen - im Hinblick auf den Verweis auf §53 Abs1 und Abs2 leg cit - nur dann möglich, wenn es nicht für einen fünf Jahre übersteigenden Zeitraum erlassen wurde. Diese Regelung bewirkt, dass es einem Fremden jedenfalls für einen bestimmten Zeitraum bzw unbefristet nicht möglich ist, das österreichische Bundesgebiet zu betreten oder in dieses zurückzukehren. §60 Abs1 FPG schließt damit eine Aufhebung von Einreiseverboten grundsätzlich aus.

Eine Möglichkeit zur Aufhebung des Einreiseverbotes besteht selbst dann nicht, wenn die Gründe, die zur Erlassung des Einreiseverbotes geführt haben, nachträglich weggefallen sind:

Während nämlich bei Rückkehr- und Aufenthaltsverboten aus den sich aus dem Verfassungsrecht ergebenden Gründen eine Aufhebungsmöglichkeit durch den Gesetzgeber ausdrücklich vorgesehen wurde (§60 Abs5 und §69 Abs2 FPG), enthalten die Bestimmungen über das Einreiseverbot keine solche Möglichkeit. Da das FPG die Aufhebungsgründe bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abschließend regelt, schließt §60 Abs1 FPG auch eine Interpretation dahingehend aus, dass eine Aufhebung bei Wegfall der Gründe, die zur Erlassung geführt haben, auch bei Einreiseverboten möglich ist; einem Antrag auf Aufhebung eines Einreiseverbotes wäre - abgesehen von der Herabsetzungsmöglichkeit im Fall des §53 Abs1 und Abs2 leg cit - daher nicht stattzugeben.

Damit macht es §60 Abs1 FPG aber unmöglich, der sich aus Art8 EMRK ergebenden Verpflichtung, unter besonderen Umständen den Aufenthalt eines Fremden zu ermöglichen, nachzukommen, und zwar insbesondere auch in jenen Fällen, in denen die Gründe, die zur Erlassung geführt haben, nachträglich weggefallen sind, sich die Familiensituation maßgeblich geändert hat oder einem gemeinsamen Familienleben im Heimatstaat des Fremden wesentliche Hindernisse entgegenstehen. Die Berücksichtigung solcher besonderen Umstände, die nach Verhängung des Einreiseverbotes eintreten oder zum Vorschein gelangen, durch die Vornahme einer Interessenabwägung wird dadurch in allen Fallkonstellationen unmöglich gemacht, weil auch Einreiseverbote bis zu fünf Jahren nicht aufgehoben, sondern nur bis auf die Hälfte herabgesetzt werden können. Dadurch wird deutlich, dass selbst für einen nicht straffällig gewordenen Fremden, über den ein Einreiseverbot bis zu fünf Jahren verhängt wurde, es für die Hälfte der Dauer dieses Einreiseverbotes unmöglich ist, in das Bundesgebiet zurückzukehren.

Fallen die Voraussetzungen für die Erlassung des Einreiseverbotes überhaupt weg, so kann es dazu kommen, dass es an der Erforderlichkeit bzw der Verhältnismäßigkeit des Eingriffes in das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens fehlt. Angesichts der Intensität des Eingriffes muss es auch in solchen Fällen möglich sein, eine entsprechende Abänderung des Einreiseverbotes bewirken zu können. Auch die von der Bundesregierung ins Treffen geführte Möglichkeit einer amtswegigen Aufhebung nach §68 AVG vermag an diesem Ergebnis nichts zu ändern, da dadurch dem Betroffenen kein Antragsrecht eingeräumt wird. Hinsichtlich §72 FPG ist festzustellen, dass die dadurch vorgesehene Möglichkeit einer Wiedereinreisebewilligung das Einreiseverbot nicht beseitigt und den Aufenthalt nur vorläufig und unter restriktiven Bedingungen ermöglicht. Die übrigen Wirkungen des Einreiseverbotes, wie etwa die Tatsache, dass es im Rahmen eines Verfahrens zur Erlangung eines anderen Aufenthaltstitels zu berücksichtigen ist bzw einen Hinderungsgrund darstellt, werden nicht beseitigt.

Anlassfall B1097/11, E v 11.12.12, Aufhebung des angefochtenen Bescheides; Quasi-Anlassfall B1189/12, E v 12.12.12.

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