Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Mag. Zacek als Vorsitzende, den Richter Mag. Zechmeister und die Richterin Dr. Heissenberger, LL.M., sowie die fachkundigen Laienrichter Dipl. Bw. Michael Choc, MBA, und DI Oliver Leo Schreiber in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , **, vertreten durch Mag. Wolfgang Ruckenbauer, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt,Landesstelle **, **, vertreten durch Mag. Roman Maier, ebendort, wegen Invaliditätspension, über die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 18.12.2025 (offenbar richtig: 2024), **–42, gemäß den §§ 2 Abs 1 ASGG, 480 Abs 1 ZPO in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 731,90 (darin EUR 121,98 USt) bestimmten Kosten der Berufungsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
Mit dem angefochtenen Urteil sprach das Erstgericht aus, dass das Klagebegehren, die Beklagte sei schuldig, dem Kläger die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, ab dem 1.2.2023 dem Grunde nach zu Recht besteht. Es trug der Beklagten auf, dem Kläger ab dem 1.2.2023 bis zur Erlassung des die Invaliditätspension festsetzenden Bescheids eine vorläufige Zahlung in Höhe von EUR 800,-- brutto monatlich zu erbringen (Näheres dazu siehe Spruchpunkte 1. und 2. des angefochtenen Urteils).
Das Erstgericht stellte den auf den S. 2 bis 5 des angefochtenen Urteils ersichtlichen Sachverhalt fest, auf den verwiesen wird.
Rechtlich kam es zusammengefasst zu dem Ergebnis, dass ein Versicherter auf eine Berufstätigkeit dann nicht verwiesen werden dürfe, wenn er diese nur unter der Voraussetzung eines besonderen Entgegenkommens seines Arbeitgebers verrichten könne. Von einem solchen besonderen Entgegenkommen des Arbeitgebers sei insbesondere dann auszugehen, wenn die aufgrund der gesundheitlichen Einschränkungen notwendigen Arbeitsbedingungen und Anforderungen am konkreten Arbeitsplatz des Versicherten nicht demjenigen am allgemeinen Arbeitsplatz in diesem Beruf entsprächen. Aufgrund der nunmehr bestehenden Einschränkung der Arbeitsfähigkeit des Klägers sei eine Erwerbstätigkeit nur unter der Voraussetzung möglich, dass der Dienstgeber dem Kläger über den auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblichen Rahmen hinaus entgegenkomme. Berufsunfähigkeit im Sinne des Gesetzes liege daher vor. Mangels Möglichkeit der Besserung sei eine Befristung nicht auszusprechen gewesen. Die vorläufige Leistung beruhe auf § 89 Abs 2 ASGG.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten ausschließlich wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagsabweisenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Kläger beantragt in seiner Berufungsbeantwortung, der Berufung nicht Folge zu geben.
Die Berufung ist nicht berechtigt .
Die Beklagte steht zusammengefasst auf dem Standpunkt, dass dem Kläger eine Erwerbstätigkeit möglich sei. Ein Entgegenkommen des Dienstgebers über den auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblichen Rahmen hinaus sei nicht erforderlich. Ob ein Entgegenkommen des Arbeitgebers notwendig sei, sei eine Rechtsfrage und damit nicht vom berufskundlichen Sachverständigen zu beurteilen. Gerade bei Callcenter-Mitarbeitern sei Inklusion möglich. Hierzu werde auf die aktuelle Rechtsprechung zu 10 ObS 95/23b verwiesen. Am derzeitigen Arbeitsmarkt gebe es einerseits „Blindenberufe“ und würden andererseits auch Rollstuhlfahrer in das Berufsleben („behindertengerechte Arbeitsplätze“) miteinbezogen. So setzten vor allem Großunternehmen auf Inklusion und Chancengleichheit und seien auch Bewerbungen von Menschen mit Behinderungen ausdrücklich erwünscht. Auch dürfe gemäß § 7 b Abs 1 Z 7 BEinstG niemand aufgrund einer Behinderung im Zusammenhang mit einem Dienstverhältnis unmittelbar oder mittelbar diskriminiert werden. Es werde auch auf die Richtlinie Inklusive Arbeit verwiesen. Beim Kläger liege kein hoher Unterstützungsbedarf vor. Er sei lediglich zum Großteil auf einen Rollstuhl angewiesen. Weiterer Unterstützungsbedarf liege nicht vor. Hinsichtlich des Arbeitsplatzes benötige der Kläger somit lediglich einen Tisch, welcher mit einem Rollstuhl benützt werden könne. Hierfür, insbesondere zur Arbeitsplatzeinrichtung gebe es diverse Förderungsmöglichkeiten, sodass Mehrkosten für den jeweiligen Dienstgeber abgedeckt würden. Insbesondere werde auf die Förderungsmöglichkeiten über das Arbeitsmarktservice, die Sozialversicherung und die Wirtschaftskammer verwiesen. Den Arbeitgeber treffe somit keine Kostenbelastung. Hinsichtlich der Toiletten werde eine behindertengerechte Toilette benötigt. Dies sei jedoch ohnehin bereits bei den meisten – zumindest Großunternehmen – der Fall. Hierfür werde keine Umgestaltung notwendig sein. Sollte auch hier eine Umgestaltung notwendig sein, werde wiederum auf die Förderungsmöglichkeiten verwiesen.
Der Rechtsrüge kommt keine Berechtigung zu.
1. Vorweg ist festzuhalten, dass der Berufungssenat bei seiner rechtlichen Beurteilung von den – von der Beklagten nicht bekämpften – erstgerichtlichen Feststellungen auszugehen hat. Soweit die Beklagte von diesen Feststellungen abweicht und einen feststellungsfremden Sachverhalt einführt, ist die Rechtsrüge nicht gesetzmäßig ausgeführt.
2. Die Frage, auf welche Tätigkeiten ein Versicherter verwiesen werden darf, ist eine Rechtsfrage. Grundsätzlich darf ein Versicherter auf eine Berufstätigkeit dann nicht verwiesen werden, wenn er diese nur unter der Voraussetzung eines besonderen Entgegenkommens seines Arbeitgebers verrichten kann (10 ObS 81/15g; 10 ObS 125/13z ua). Auch dabei handelt es sich um eine Rechtsfrage (10 ObS 81/15g ua), wie die Beklagte richtig erkennt.
2.1. Von einem solchen besonderen Entgegenkommen des Arbeitgebers ist insbesondere dann auszugehen, wenn die aufgrund der gesundheitlichen Einschränkungen notwendigen Arbeitsbedingungen und Anforderungen am konkreten Arbeitsplatz des Versicherten nicht denjenigen am allgemeinen Arbeitsplatz in diesem Beruf entsprechen (10 ObS 81/15g mwN), der Versicherte daher die Verweisungstätigkeit nicht mehr in dem am allgemeinen Arbeitsmarkt erwarteten regulären Umfang oder zu den dort üblichen Bedingungen ausüben kann (10 ObS 81/15g ua).
2.2. Ausgehend von den erstgerichtlichen Feststellungen ist von einem solchen besonderen Entgegenkommen des Arbeitgebers auszugehen. Dabei sind insbesondere folgende erstgerichtliche Feststellungen relevant:
„[…]
Aufgrund seiner Leiden und Erkrankungen sind dem Kläger nur noch bei besonderem Entgegenkommen des Arbeitgebers hinsichtlich der Zugänglichkeit der entsprechenden Einrichtung des Arbeitsplatzes und der entsprechenden Ausstattung der Toilette Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt möglich.
[…]
Der Anmarschweg zur Arbeitsstätte ist nur zumutbar, wenn dieser mit Rollstuhl zurückgelegt werden kann. Ein öffentliches Verkehrsmittel kann nur bei völliger Barrierefreiheit und soweit die Benützung durch Rollstühle vorgesehen ist, benutzt werden. Der Zustand des Klägers besteht so seit Antragstellung.
Tätigkeiten sind dem Kläger daher auf dem Arbeitsmarkt nur möglich, soferne eine entsprechende besondere Ausstattung der Toilette und Einrichtung des Arbeitsplatzes gewährleistet werden kann, entsprechende bauliche Veränderungen eingerichtet und seitens des Arbeitgebers zur Verfügung gestellt werden.
Die Zurverfügungstellung entsprechender Arbeitsplätze ist nicht generell auf dem Arbeitsmarkt üblich und die Gegebenheiten liegen nicht selbstverständlich vor.
Mit dem medizinischen Leistungskalkül wären dem Kläger – nur bei besonderem Entgegenkommen des Arbeitgebers durch Schaffung bzw Bereitstellung der baulichen Gegebenheiten und Einrichtung von Arbeitsplatz und Toilette - noch Berufstätigkeiten im Angestelltenbereich entsprechend Beschäftigungsgruppe 2 bis 3 des Kollektivvertrags für Lehrlinge und Angestellte in Handelsbetrieben möglich, etwa Tätigkeiten als Callcenteragent im Telefonmarketing.
[…]
Auch im Bereich der Tätigkeiten als Callcenteragent ist die Zugänglichkeit zum Arbeitsplatz und entsprechende Ausstattung sowie Einrichtung des Arbeitsplatzes nicht selbstverständlich gegeben. Hierfür bedarf es des besonderen Entgegenkommens des Arbeitgebers, ebenso für die Ausstattung der Toilette.
Ebenso wären dem Kläger - nur bei besonderem Entgegenkommen des Arbeitgebers - noch Tätigkeiten als Pressesprecher möglich.
[…]
Ausreichend Arbeitsplätze, an denen für den Kläger die Möglichkeit der Ausübung der beruflichen Tätigkeit ohne besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers besteht, existieren auf dem Arbeitsmarkt nicht. Die Möglichkeit der Ausübung einer Tätigkeit unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes sind für den Kläger aufgrund des Erfordernisses der baulichen Vorsorge bei Einrichtung des Arbeitsplatzes und Ausstattung einer Toilette nicht gegeben.
Eine Besserung des Gesundheitszustandes des Klägers, dass er Berufstätigkeiten unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ohne besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers wieder ausüben könnte, ist nicht zu erwarten.“
Auf Basis dieser Feststellungen zeigt sich, dass am allgemeinen Arbeitsmarkt keine ausreichenden Arbeitsplätze vorhanden sind, die die für den konkreten Arbeitsplatz des Klägers nötigen Anforderungen erfüllen. Es ist hier somit von einem „besonderen Entgegenkommen des Arbeitgebers“ im Sinne der Rechtsprechung auszugehen (vgl 10 ObS 81/15g mwN). Wie bereits das Erstgericht richtig näher dargelegt hat, darf ein Versicherter aber auf eine Berufstätigkeit dann nicht verwiesen werden, wenn er diese nur unter der Voraussetzung eines besonderen Entgegenkommens seines Arbeitgebers verrichten kann (vgl RIS-Justiz RS0084383, RS0084389). Berufsunfähigkeit im Sinne des Gesetzes liegt daher vor.
2.3. Soweit die Beklagte in ihrer Berufung mit Sachverhaltselementen argumentiert, die von diesen erstgerichtlichen Feststellungen abweichen, ist die Rechtsrüge nicht gesetzmäßig ausgeführt und vom Berufungsgericht daher darauf nicht einzugehen.
2.4. Im Hinblick auf den vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt geht auch die Bezugnahme der Berufungswerberin auf die Entscheidung 10 ObS 95/23b ins Leere. Der genannten Entscheidung lag nämlich ein gänzlich anders gelagerter Sachverhalt zugrunde. So wurde dort ua festgestellt, dass für die dort klagende Partei, die seit ihrer frühen Kindheit auf beiden Augen blind war, österreichweit jedenfalls deutlich mehr als 100 ihrem Leistungskalkül entsprechende Arbeitsplätze (in den „Blindenberufen“) zur Verfügung stehen (Näheres dazu siehe 10 ObS 95/23b). Soweit die Beklagte Sachverhaltselemente aus den Feststellungen der Entscheidung 10 ObS 95/23b in das gegenständliche Verfahren transferiert, weicht die Beklagte nicht nur unzulässigerweise von den Feststellungen des gegenständlichen Verfahrens ab, sondern verstößt sie auch gegen das im gegenständlichen Berufungsverfahren geltende Neuerungsverbot. Auf diese gegen das Neuerungsverbot verstoßenden Ausführungen ist somit nicht näher einzugehen. Dabei ist die Berufungswerberin darauf hinzuweisen, dass sie in der Tagsatzung vom 18.12.2024 (auf die sich die Beklagte in ihrer Berufung bezieht) lediglich ganz allgemein und unsubstanziert vorgebracht hat, „dass auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, gerade bei Call-Centern, bzw. Call-Center-Mitarbeitern Inklusion am Arbeitsplatz möglich sei. Verwiesen werde hierzu auf 10 ObS 95/23b“ und „dies sei auch auf Rollstuhlfahrer anzuwenden“ (vgl. Tagsatzungsprotokoll ON 39, S. 2).
Lediglich der Vollständigkeit halber wird in diesem Zusammenhang angemerkt, dass der in dieser Tagsatzung anwesende berufskundliche Sachverständige Mag. B* zu diesem Vorbringen der Beklagten eine Stellungnahme dahin abgab, dass auch im Bereich der Call-Center nicht selbstverständlich die Gegebenheiten vorlägen, wie sie für den Kläger bei Benutzung des Rollstuhls erforderlich seien, sodass von einem besonderen Entgegenkommen des Dienstgebers auszugehen sei (vgl. ON 39, S. 2).
2.5. Der Berufung der Beklagten war daher ein Erfolg zu versagen.
3. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2 ASGG. Die Beklagte hat dem Kläger die tarifmäßig verzeichneten Kosten seiner Berufungsbeantwortung zu ersetzen.
4. Die ordentliche Revision war nicht zuzulassen, weil eine Rechtsfrage von der in § 502 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG geforderten Qualität fehlt.
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