JudikaturOLG Wien

22Bs203/12g – OLG Wien Entscheidung

Entscheidung
22. Mai 2012

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat durch den Senatspräsidenten Dr. Levnaic-Iwanski als Vorsitzenden sowie den Richter Mag. Hahn und die Richterin Mag. Staribacher als weitere Senatsmitglieder in der Maßnahmenvollzugssache des D***** U***** (betreffend eine mit Freiheitsentziehung verbundene vorbeugende Maßnahme nach § 21 Abs 2 StGB) wegen vorläufigen Absehens vom Strafvollzug wegen Aufenthaltsverbots nach § 133a StVG über die Beschwerde des Genannten gegen den Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau vom 12. April 2012, GZ 23 BE 59/12w-7, in nichtöffentlicher Sitzung den

B e s c h l u s s

gefasst:

Spruch

Der Beschwerde wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

Der am ***** geborene polnische Staatsangehörige D***** U***** wurde mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 9. Jänner 2008 (rk seit 22. Juli 2008), AZ 72 Hv 182/07x, wegen § 87 Abs 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von vier Jahren verurteilt und unter einem gemäß § 21 Abs 2 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Die Freiheitsstrafe war mit 22. Februar 2011 verbüßt, seither wird ausschließlich die Maßnahme vollzogen.

Anträge des Untergebrachten auf vorläufiges Absehen vom Strafvollzug wegen Aufenthaltsverbots gemäß § 133a StVG wurden vom Landesgericht Krems a.d. Donau bereits mit Beschlüssen vom 6. Juli 2011, GZ 19 BE 51/11p-3, bestätigt durch Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien vom 29. Juli 2011, AZ 17 Bs 234/11b, und vom 14. März 2012, GZ 23 BE 55/12g-7, bestätigt durch Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien vom 18. April 2012, AZ 20 Bs 147/12g, abgewiesen.

Dessen ungeachtet bzw. während anhängigen Rechtsmittelverfahrens stellte der Untergebrachte am 21. März 2012 neuerlich einen solchen Antrag (ON 1).

Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Landesgericht Krems a.d. Donau als zuständiges Vollzugsgericht diesen Antrag damit begründet ab, dass die Bestimmung des § 133a StVG auf den Maßnahmenvollzug nicht anwendbar wäre (ON 7).

Dagegen richtet sich die rechtzeitige Beschwerde des Untergebrachten (ON 8), in welcher er auf die Bestimmung des § 167 Abs 1 StVG hinweist und moniert, dass infolge Verweises auf §§ 131 bis 135 StVG der vorläufige Aufschub nach § 133a StVG auch für den Maßnahmenvollzug gelte.

Rechtliche Beurteilung

Der Beschwerde kommt keine Berechtigung zu.

Gemäß § 133a Abs 1 StVG ist vom weiteren Vollzug einer Freiheitsstrafe vorläufig abzusehen, wenn der Verurteilte die Hälfte der Strafzeit , mindestens aber drei Monate verbüßt hat und (Z 1) gegen ihn ein Aufenthaltsverbot besteht, (Z 2) er sich bereit erklärt, seiner Ausreiseverpflichtung in den Herkunftsstaat unverzüglich nachzukommen, und zu erwarten ist, dass er dieser Verpflichtung auch nachkommen wird, und (Z 3) der Ausreise keine rechtlichen oder tatsächlichen Hindernisse entgegenstehen.

Hat ein Verurteilter die Hälfte, aber noch nicht zwei Drittel einer Freiheitsstrafe verbüßt, so ist trotz Vorliegens der Voraussetzungen nach Abs 1 solange nicht vorläufig vom weiteren Vollzug der Strafe abzusehen, als es im Hinblick auf die Schwere der Tat ausnahmsweise des weiteren Vollzuges bedarf, um der Begehung strafbarer Handlungen durch andere entgegenzuwirken (Abs 2 leg cit).

Der Begriff der Strafzeit im Sinne des Abs 1 leg cit ist gleichbedeutend mit jenem der (verhängten und zu vollziehenden) Freiheitsstrafe nach Abs 2 auszulegen (Pieber in WK² StVG § 133a Rz 16 unter Hinweis auf die Materialien). Da § 133a Abs 1 und Abs 2 StVG demnach jeweils auf das Ausmaß einer bereits verbüßten zeitlichen Freiheitsstrafe abstellen, kommt ein vorläufiges Absehen vom Strafvollzug zunächst bei lebenslangen Freiheitsstrafen nicht in Betracht.

Die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher ist nach § 25 Abs 1 StGB auf unbestimmte Zeit anzuordnen und so lange zu vollziehen, wie es ihr Zweck (vgl § 164 StVG) erfordert. Der Maßnahmenvollzug soll potentiell gefährliche Rechtsbrecher davon abhalten, unter dem Einfluss ihrer geistigen oder seelischen Abartigkeit mit Strafe bedrohte Handlungen zu begehen. Ferner soll u.a. der Zustand der Untergebrachten soweit gebessert werden, dass die (davon beeinflusste) Begehung strafbarer Handlungen (auch geringfügiger Art) nicht mehr zu erwarten ist (Zagler, Strafvollzugsrecht, 212; Drexler, StVG 2 § 164 Rz 1). Im Falle einer Unterbringung nach § 21 StGB besteht - anders als bei einer solchen nach den §§ 22, 23 StGB - keine Höchstanhaltedauer. Ob die Unterbringung noch notwendig ist, hat das Gericht von Amts wegen mindestens alljährlich zu prüfen (§ 25 Abs 3 StGB).

Gemäß § 167 StVG gelten im Maßnahmenvollzug nach § 21 StGB die §§ 20 bis 129, 131 bis 135, 146 bis 150 und 152 - soweit die §§ 164 bis 166 nichts anderes bestimmen - dem Sinne nach. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung („131 bis 135“), die zuletzt mit BGBl Nr. 605/1987 novelliert wurde, wäre in den Fällen der Unterbringung nach § 21 Abs 1 und Abs 2 StGB auch ein vorläufiges Absehen vom Maßnahmenvollzug wegen Aufenthaltsverbots nach § 133a StVG zulässig.

Die historische und teleologische Interpretation des im Rahmen des StRÄG 2008, BGBl I Nr. 109/2007, eingeführten § 133a StVG zeigt jedoch, dass die auch im Zuge nachfolgender Novellen des StVG unterbliebene explizite Ausnahme dieser Bestimmung vom Verweis in § 167 Abs 1 StVG nur auf ein offenkundiges Redaktionsversehen zurückzuführen ist und das vorläufige Absehen vom Strafvollzug wegen Aufenthaltsverbots des § 133a StVG dem Sinne nach auf die Unterbringung nach § 21 StGB nicht anwendbar ist.

Durch Einführung des § 133a StVG sollte ein Instrument geschaffen werden, um nicht aufenthaltsverfestigte ausländische Verurteilte nach Verbüßung der Hälfte der Freiheitsstrafe zur Ausreise aus dem Bundesgebiet verhalten zu können und gleichzeitig (durch Vollstreckung der restlichen Strafe, wenn der Verurteilte seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachkommt oder während der Dauer des Aufenthaltsverbots wieder in das Bundesgebiet zurückkehrt) die Zwecke eines Aufenthaltsverbots effektiv abzusichern. Mit dieser Regelung sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der Strafvollzug bei diesen Personen häufig auf einen „Verwahrvollzug“ hinausläuft, weil sie nach Verbüßung (oder bedingter Entlassung) der Strafhaft ohnehin ausreisen müssen (EBRV 302 BlgNR 23. GP 1, JAB 331 BlgNR 23. GP, 1). Zur Darlegung der Größenordnung der in Betracht kommenden Personengruppe wurde lediglich auf in Haft bzw. Untersuchungshaft, nicht jedoch im Maßnahmenvollzug befindliche Fremde Bezug genommen (EBRV 302 BlgNR 23. GP 1, 14).

Der Gedanke, dass der österreichische Strafvollzug nicht unnötigerweise mit dem Vollzug an Ausländern belastet werden soll, wenn diese danach ohnehin das Bundesgebiet verlassen müssen, fand schon in § 4 StVG (Absehen vom Strafvollzug wegen Auslieferung) seinen Niederschlag (Pieber aaO Rz 1). § 133a StVG war daher im Ministerialentwurf (129 ME 23. GP) noch als § 4a StVG konzipiert. Da der Vollzug – anders als bei § 4 StVG – in jedem Fall zumindest bereits die Hälfte der Strafdauer erreicht haben muss, wurde jedoch aus Zweckmäßigkeitsgründen (wie auch bei der bedingten Entlassung) das Vollzugsgericht zur Entscheidung über das vorläufige Absehen wegen Aufenthaltsverbots berufen, weshalb von einer Regelung als § 4a Abstand genommen und stattdessen § 133a als Regelungsort vorgeschlagen wurde, wenngleich es sich – wie auch in den Fällen des § 133 Abs 2 – nicht um einen Fall der „Aufnahme“ (im Sinne der Überschrift des Ersten Unterabschnitts des Dritten Abschnitts des StVG) (EBRV 302 BlgNR 23. GP 13f) handelt.

Die Möglichkeit der Unterbringung im Maßnahmenvollzug wurde in Österreich mit der Strafrechtsreform 1975 geschaffen. Nach § 157 Abs 1 StVG, der im Zuge dieser Reform mit dem Strafvollzugsanpassungsgesetz (BGBl Nr. 424/1974) eingefügt wurde, gelten für die Anordnung des Vollzugs der mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahmen grundsätzlich die §§ 3 bis 5 und 7 StVG dem Sinne nach. Der Verweis auch auf die von Anbeginn im StVG enthaltene und in der Folge nur geringfügig novellierte Bestimmung des § 4 StVG war zweifelsohne von der Intention des Gesetzgebers umfasst. Demgegenüber kommt – mit Blick auf die sich in der Unterbringung im Maßnahmenvollzug manifestierende Gefährlichkeit - ein Aufschub des Strafvollzuges nach § 6 StVG nicht in Betracht, im Falle der Vollzugsuntauglichkeit ist eine Ersatzhaft nach § 5 Abs 3 Z 3 StVG zu vollziehen.

§ 167 Abs 1 StVG normiert, dass die grundsätzlichen Bestimmungen über den Vollzug von Freiheitsstrafen auch auf die Unterbringung nach § 21 StGB anzuwenden sind (Drexler, aaO § 167 Rz 1). Da das Hauptaugenmerk der Unterbringung nach § 21 StGB darauf gerichtet ist, das Risiko der Begehung strafbarer Handlungen durch den Untergebrachten unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit zu minimieren, ist aber auch eine Unterbrechung (§ 99 StVG) nur zu gewähren, wenn die Begehung einer gerichtlich strafbaren Handlung während dieser Zeit nicht anzunehmen ist, im Falle nachträglichen Strafaufschubs (§ 133 StVG) gemäß § 5 Abs 3 Z 3 StVG mit einer Ersatzhaft vorzugehen und die bedingte Entlassung nach § 47 Abs 2 StGB erst zu verfügen, wenn anzunehmen ist, dass die Gefährlichkeit, gegen die sich die vorbeugende Maßnahme richtet, nicht mehr besteht.

Die auch im Maßnahmenvollzug anzuwendende Bestimmung des § 4 StVG unterscheidet sich von § 133a StVG zunächst insofern, als das vorläufige Absehen vom Vollzug wegen Auslieferung auf keine weiteren Bedingungen, insbesondere kein Mindestausmaß der bereits verbüßten Freiheits- strafe abstellt und allein dann unzulässig ist, wenn es aus besonderen generalpräventiven Gründen des unverzüglichen Vollzugs bedarf. Wesentlich ist jedoch, dass der Untergebrachte bei der Auslieferung in die Obhut einer ausländischen Behörde übergeben wird, im Fall des § 133a StVG hingegen lediglich die Ausreise überwacht und das weitere Schicksal des Untergebrachten bereits nach der Grenze jeglicher (in- und ausländischer behördlicher) Kontrolle entzogen werden würde.

Während den Vollzugszwecken von ausländischen Verurteilten (§ 20 StVG) mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch Verbüßung zumindest der Hälfte der verhängten Freiheitsstrafe verbunden mit der Androhung des sofortigen Strafvollzugs für den Fall der Missachtung der Ausreiseverpflichtung oder der neuerlichen Einreise nach Österreich während aufrechten Aufenthaltsverbots nachhaltig Rechnung getragen werden kann, wäre dies im Maßnahmenvollzug, der auch den oben erwähnten Besserungsauftrag enthält, keineswegs der Fall.

Die Freilassung einer Person, die auf Grund einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad eine strafbare Handlung begangen hat, ist bei nach wie vor bestehender Gefährlichkeitsprognose auch bei gleichzeitiger Ausreise nicht zu verantworten und mit Blick auf die diesbezüglichen Einschränkungen bei den sinngemäß anzuwendenden grundsätzlichen Bestimmungen über den Vollzug von Freiheitsstrafen im Maßnahmenvollzug dem Gesetzgeber nicht zusinnbar.

Ein vorläufiges Absehen wegen Aufenthaltsverbots kommt daher beim Vollzug vorbeugender Maßnahmen nach § 21 StGB nicht in Betracht.

Der Beschwerde war daher ein Erfolg zu versagen.

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