10ObS46/25z – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hargassner als Vorsitzenden, den Vizepräsidenten Hon. Prof. PD Dr. Rassi und die Hofrätin Dr. Wallner Friedl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Manfred Joachimsthaler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Jelinek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei F*, vertreten durch Korn Gärtner Rechtsanwälte OG in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Dr. Simone Metz, LL.M, Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Feststellung von Schwerarbeitszeiten, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 26. Februar 2025, GZ 12 Rs 13/25f 47, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits und Sozialgericht vom 14. Oktober 2024, GZ 18 Cgs 201/22z 42, nicht Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil unter Einschluss des bereits in Rechtskraft erwachsenen Teils zu lauten hat:
„1. Es wird festgestellt, dass die klagende Partei zum Feststellungszeitpunkt 1. Jänner 2022 460 Beitragsmonate der Pflichtversicherung – Erwerbstätigkeit, 2 Beitragsmonate der Pflichtversicherung – Teilversicherung und 84 Ersatzmonate, daher insgesamt 546 Versicherungsmonate erworben hat.
2. Es wird festgestellt, dass die von der klagenden Partei erworbenen Versicherungsmonate im Zeitraum September 2001 bis April 2003, Juni 2003 bis März 2004, Juni 2004 bis September 2004, Dezember 2004 bis März 2005, Juni 2005 bis September 2005, November 2005 bis März 2006, Juni 2006, August 2006 bis Oktober 2006 sowie die Monate Dezember 2006 bis Februar 2020, jeweils mit Ausnahme der Monate April und November, Schwerarbeitsmonate im Sinne des § 1 Abs 1 Z 1 Schwerarbeitsverordnung sind.
3. Das darüber hinausgehende Mehrbegehren, weitere Versicherungsmonate im Zeitraum September 2001 bis Dezember 2021 als Schwerarbeitsmonate festzustellen, wird abgewiesen.
4. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 2.967,30 (darin 494,54 EUR USt) bestimmten Verfahrenskosten zu ersetzen.“
Die beklagte Partei ist weiters schuldig, der klagenden Partei die mit 731,90 EUR (darin 121,98 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens sowie die mit 502,70 EUR (darin 83,78 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
[1] Der 1961 geborene Kläger war ab 1. 9. 2001 bei unterschiedlichen Dienstgebern als Taxilenker mit einer Normalarbeitszeit von 40 Wochenstunden beschäftigt. Die tatsächlichen Arbeitszeiten lagen aber im zeitlichen Ausmaß darüber.
[2] Ein üblicher Arbeitstag unter der Woche begann mit Schülerfahrten von 7:00 Uhr bis 8:00 Uhr. Anschließend fuhr er nach Hause. Durchschnittlich drei Mal pro Woche musste er um 10:15 Uhr Passagiere von einem Heilstollen holen. Ab und zu hatte er noch eine weitere Fahrt am Vormittag, wie etwa einen Krankentransport, durchzuführen.
[3] Von 11:30 Uhr bis 13:15 Uhr führte der Kläger wiederum Schülerfahrten durch. Danach hatte er wieder frei.
[4] Bis Februar 2020 war der Kläger täglich außer Sonntag für den Abend und Nachtdienst eingeteilt. Von Mitte Dezember bis Ostern dauerte dieser durchschnittlich von 19:00 Uhr am Abend bis 4:00 Uhr oder (mindestens sechsmal pro Monat) 5:00 Uhr in der Früh. Von Ostern bis Mitte Dezember trat der Kläger den Nachtdienst sporadisch erst zwischen 22:00 Uhr und 24:00 Uhr an, arbeitete dann aber bis zum Abschluss der Schülerfahrten durch.
[5] Am Sonntag hatte der Kläger üblicherweise frei.
[6] Grundsätzlich gab es nie Stehzeiten oder Rufbereitschaft.
[7] Das Verfahren befindet sich im zweiten Rechtsgang, zum Verfahrensgang im ersten Rechtsgang wird auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu 10 ObS 145/23f (Rz 4 bis 8) verwiesen.
[8] Die Abweisung des Mehrbegehrens (Punkt 3.) erwuchs bereits im ersten Rechtsgang in Rechtskraft.
[9] Im zweiten Rechtsgang wies das Erstgericht das weitere Klagebegehren zur Gänze ab.
[10] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es sei zwischen dem Ende des „Tagdienstes“ gegen 13:15 Uhr und dem Beginn des Nachtdienstes um 19:00 Uhr nicht die vorgeschriebene Ruhezeit eingehalten worden. Damit sei kein Wechsel von einem Nachtdienst zu einem durch Ruhezeiten von anderen Diensten getrennten Tagdienst erfolgt, sondern lediglich der kontinuierlich geleistete Dienst unterbrochen worden. Der Kläger habe seine Dienste auf 24 Stunden eines jeden Arbeitstages verteilt, sodass sich Arbeits und Erholungszeiten in stets annähernd gleichbleibendem Rhythmus abgewechselt hätten und an Sonntagen zusätzliche Erholungszeiten zur Verfügung gestanden seien. Eine Störung des Schlafrhythmus sei damit nicht erfolgt. Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zu Fallkonstellationen fehle, in denen keine 24 Stunden Dienste geleistet würden, sondern die Arbeitszeit täglich auf die 24 Stunden des Tages verteilt werde.
[11] Dagegen richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, die Entscheidung des Berufungsgerichts im klagsstattgebenden Sinn abzuändern, in eventu die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben.
[12] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung die Zurückweisung der Revision, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[13] Die Revision ist zulässig und berechtigt.
[14]1. Nach dem hier nur relevanten § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsV gelten Tätigkeiten dann als besonders belastend bzw als Schwerarbeit (§ 607 Abs 14 ASVG bzw § 4 Abs 4 APG), wenn sie in einem Schicht oder Wechseldienst auch während der Nacht (unregelmäßige Nachtarbeit), das heißt, zwischen 22:00 Uhr und 6:00 Uhr, jeweils im Ausmaß von mindestens sechs Stunden und zumindest an sechs Arbeitstagen im Kalendermonat erbracht werden, sofern in diese Arbeitszeit nicht überwiegend Arbeitsbereitschaft fällt.
[15] 1.1. Wesentliches Wesensmerkmal des § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsV ist der notwendige Wechsel zwischen Tagund Nachtdienst (RS0126106). Nach der ständigen Rechtsprechung stellt reine Nachtarbeit kein Belastungsmoment im Sinn der SchwerarbeitsV dar, das zum Vorliegen von Schwerarbeit führt (RS0126106 [T2]; 10 ObS 81/22t Rz 16 ua). Ebenso wenig begründen regelmäßig geleistete 24 Stunden Dienste Schwerarbeitszeiten im Sinn des § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsV (10 ObS 104/17t Pkt 4.). Die besonders belastenden Arbeitsbedingungen bestehen vielmehr in der unregelmäßigen Nachtarbeit im Rahmen eines Schichtoder Wechseldienstes, die notwendigerweise einen Wechsel zwischen Tagdienst und Nachtdienst voraussetzt (RS0126106). Es muss daher ein Schicht oder Wechseldienst (im Rahmen eines periodischen Dienst bzw Schichtplans) erbracht werden, das heißt, es muss vor, nach oder zwischen den sechs Nachtdiensten zumindest ein Wechsel zu einem Tagdienst stattfinden (10 ObS 145/23f Rz 14; 10 ObS 129/24d Rz 15 je mwN; Rieder/Ölberg in Brameshuber/Aubauer/Rosenmayr Khoshideh , SVSON § 4 APG Rz 75 f).
[16] 2.1. Im vorliegenden Fall ist unstrittig, dass der Kläger regelmäßig Nachtdienste im Ausmaß von mindestens sechs Stunden und zumindest an sechs Arbeitstagen im jeweiligen Kalendermonat sowie auch untertags Dienste, wenn auch sehr zerstückelt und nur in kürzerem Ausmaß, erbracht hat. Jedenfalls von Sonntag früh auf Montag früh erfolgte ein Wechsel von einem Nachtdienst zu einem Tagdienst. Der Kläger war somit in einem Schichtdienst bei einem Wechsel von Nachtdiensten zu Tagdiensten tätig.
[17] 2.2. Dass zwischen den Tagund Nachtdiensten die nach dem AZG vorgesehenen Ruhepausen nicht eingehalten wurden, schadet entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts einer Einstufung als Schwerarbeit nicht und führt jedenfalls im vorliegenden Fall nicht dazu, dass die einzelnen Dienste, zwischen denen jeweils zumindest mehrere Stunden lagen, nicht voneinander abgrenzbar wären:
[18] 2.2.1. Der Oberste Gerichtshof geht zwar von einem Zusammenhang zwischen § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsV und den arbeitszeitrechtlichen Bestimmungen aus, was vor allem in der Verwendung der dort definierten Begriffe zum Ausdruck kommt (10 ObS 145/23f Rz 16 unter Verweis auf 10 ObS 104/17t; 10 ObS 81/22t Rz 22). Daraus ist aber nicht abzuleiten, dass eine Nichteinhaltung der arbeitszeitrechtlichen Bestimmungen eine Anrechnung von tatsächlich erbrachten Leistungen als Schwerarbeit verhindern würde.
[19] 2.2.2. Zum einen ist grundsätzlicher Zweck der „Schwerarbeitspension“, eine durch besondere Belastung verursachte verminderte Lebenserwartung auszugleichen. Dies entspricht einem weiteren Begriffsverständnis, das sämtliche vom Versicherten in einem bestimmten Zeitraum tatsächlich (versicherungspflichtig) ausgeübten Verrichtungen umfasst (vgl dazu bereits 10 ObS 64/22t Rz 19; 10 ObS 81/22t Rz 20).
[20] Auch für den Erwerb von Schwerarbeitszeiten im Sinn des § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsV kommt es daher auf die Ausübung von Tätigkeiten im Sinn des dargestellten Begriffsverständnisses an (siehe bereits 10 ObS 81/22t Rz 21). Bei der Beurteilung, ob Schwerarbeitszeiten vorliegen, kommt es auf die konkrete Ausgestaltung der vom Versicherten im maßgebenden Zeitraum verrichteten Tätigkeit an. Die besonders belastende Tätigkeit muss tatsächlich geleistet worden sein.
[21]2.2.3. Dass die Nichteinhaltung der gesetzlichen Ruhebestimmungen nach dem AZG allenfalls zur Nichtanrechnung von Schwerarbeitszeiten führen müsste, ist zudem weder aus dem Wortlaut der Verordnung und den Bestimmungen zur „Schwerarbeiterpension“, noch aus dem Zweck dieser Bestimmungen abzuleiten:
[22] Zum einen enthält die SchwerarbeitsV – im Gegensatz zur Arbeitsbereitschaft (vgl § 1 Abs 1 Z 1 SchwerarbeitsV; siehe dazu auch ausführlicher 10 ObS 81/22t Rz 34) – keine Regelung zu Ruhepausen.
[23]Zum anderen ist Zweck des AZG im Wesentlichen der Schutz der Arbeitnehmer vor übermäßiger Inanspruchnahme ihrer Arbeitskraft durch den Arbeitgeber (AB NR 1463 Blg XI GP 3; Brandstetter , 24 Stunden Dienste eines Tierkrankenpflegers und SchwerarbeitsV, JAS 2018, 66 [73]).
[24]2.2.4. Die Nichteinhaltung der Bestimmungen des AZG ist auch nur gegenüber dem Arbeitgeber strafbewehrt (§ 28 Abs 2 AZG). Eine „Sanktionierung“ des Arbeitnehmers dadurch, dass bei Verletzung der arbeitszeitrechtlichen Schutzbestimmungen die Anrechnung von Schwerarbeitsmonaten verwirkt werden soll, ist somit gesetzlich nicht vorgesehen. Wie Schrank (Leitentscheidungen der Höchstgerichte zum Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht 63.6.1. Nr 29, Schicht oder Wechseldienst auch während der Nacht [unregelmäßige Nachtarbeit]? Taxilenker – OGH 14. 5. 2024, 10 ObS 145/23f) richtig anmerkt, entspricht es dem arbeitszeit- und entgeltrechtlichen Grundsatz des Arbeitsrechts, dass arbeitgeberseitig geduldete Rechtsverstöße keine negativen Auswirkungen für Arbeitnehmer auf die Anerkennung und Abgeltung tatsächlich geleisteter Arbeit haben.
[25] 2.3. Auch das Argument des Berufungsgerichts, dass es zu keiner Störung des Schlafrhythmus gekommen wäre, verfängt nicht, führt doch bereits regelmäßiger Nachtdienst in Verbindung mit Tagdiensten zur Bejahung von Schwerarbeit iSd SchwerarbeitsV und zudem waren auch die Tagdienste des Klägers zumindest unter der Woche und an Samstagen teilweise unregelmäßig.
[26]3. Die Kostenentscheidung beruht jeweils auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a iVm § 77 Abs 2 ASGG.