12Os143/24g – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 29. Jänner 2025 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger als Vorsitzende sowie die Hofräte und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Oshidari, Dr. Haslwanter LL.M., Dr. Sadoghi und Dr. Farkas in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Prieth in der Strafsache gegen * K* wegen des Vergehens der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1 StGB, AZ 46 Hv 11/23g des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen einen Vorgang in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Leitner, zu Recht erkannt:
Spruch
Im Verfahren AZ 46 Hv 11/23g des Landesgerichts für Strafsachen Wien verletzt das Unterbleiben der gemeinsamen Zustellung der Ausfertigung des noch nicht rechtskräftigen Urteils vom 7. Dezember 2023 (ON 31a) mit einer schriftlichen Übersetzung desselben in die türkische Sprache an den Angeklagten § 56 Abs 1 zweiter Satz und Abs 3 StPO.
Die Zustellung der Urteilsausfertigung (in deutscher Sprache) wird für unwirksam erklärt und es wird der Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien aufgetragen, deren neuerliche Zustellung an den Angeklagten samt einer Übersetzung des Urteils in die türkische Sprache zu veranlassen.
Text
Gründe:
[1] Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 7. Dezember 2023, GZ 46 Hv 11/23g 31a, wurde * K* des Vergehens der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1 StGB schuldig erkannt.
[2] Weil der Angeklagte lediglich der türkischen Sprache mächtig ist (BV ON 2.5, 1, ON 42), wurden der Hauptverhandlung Dolmetscher beigezogen (ON 13, 1; ON 28, 1; ON 31, 1).
[3] Gegen das Urteil meldete die Verteidigerin am 11. Dezember 2023 Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe an (ON 36.2) und gab in der Folge mit Schriftsatz vom 19. Jänner 2024 die Vollmachtsauflösung bekannt (ON 37).
[4] Die schriftliche Urteilsausfertigung wurde daraufhin (nur) dem unvertretenen Angeklagten am 12. Februar 2024 durch Hinterlegung zugestellt (Zustellnachweise zu ON 1.25). Eine Übersetzung in die türkische Sprache erfolgte zunächst nicht.
[5] Erst am 27. Februar 2024 wurde dem Angeklagten zusätzlich auch die Übersetzung der Ausfertigung des nicht rechtskräftigen Urteils in die türkische Sprache (ON 40) durch Hinterlegung zugestellt (Zustellnachweis zu ON 1.28).
[6] Am 19. März 2024 stellte er einen Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe (ON 42), den das Landesgericht für Strafsachen Wien mit Beschluss vom 20. März 2024 bewilligte (ON 1.32).
[7] Am 21. März 2024 wurde das Urteil sodann auch dem Verfahrenshilfeverteidiger zugestellt (Zustellnachweis zu ON 1.32), der daraufhin am 17. April 2024 eine Berufung wegen Nichtigkeit sowie gegen die Aussprüche über die Schuld, die Strafe und die privatrechtlichen Ansprüche einbrachte (ON 47.1).
[8] Mit Urteil vom 26. August 2024, AZ 30 Bs 93/24g, wies das Oberlandesgericht Wien als Berufungsgericht die Berufung wegen Nichtigkeit – mangels fristgerechter Ausführung – und wegen des Ausspruchs über die privatrechtlichen Ansprüche zurück und gab der Berufung im Übrigen nicht Folge (ON 56).
Rechtliche Beurteilung
[9] Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, steht ein Vorgang, nämlich die erst am 27. Februar 2024 erfolgte Zustellung der Übersetzung des nicht rechtskräftigen Urteils des Landesgerichts für Strafsachen Wien an den türkischsprachigen Angeklagten mit dem Gesetz nicht in Einklang:
[10] Gemäß § 56 Abs 1 zweiter Satz StPO hat ein Angeklagter (§ 48 Abs 2 StPO), der die Verfahrenssprache nicht spricht oder versteht – soweit dies zur Wahrung der Verteidigungsrechte und eines fairen Verfahrens erforderlich ist – das Recht auf schriftliche Übersetzung der wesentlichen Aktenstücke, die innerhalb einer angemessen festzusetzenden Frist vorzunehmen ist. Die Ausfertigung des noch nicht rechtskräftigen Urteils ist nach § 56 Abs 3 StPO ein solches wesentliches Aktenstück ( Hinterhofer/Oshidari , Strafverfahren Rz 1.178).
[11] Ein Angeklagter, der (wie hier) die Verfahrenssprache nicht versteht, hat solcherart das Recht auf schriftliche Übersetzung des noch nicht rechtskräftigen Urteils und Zustellung derselben gemeinsam mit dem Urteil (RIS Justiz RS0132694).
[12] Die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien hätte daher – da ein Vorgehen nach § 56 Abs 5 und 6 StPO hier nicht in Rede steht – die schriftliche Übersetzung der Urteilsausfertigung in die türkische Sprache und deren Zustellung an den der Verfahrenssprache nicht mächtigen unvertretenen Angeklagten gleichzeitig mit dem nicht rechtskräftigen Urteil zu veranlassen gehabt.
[13] Weil bereits die Zustellung der in deutscher Sprache abgefassten Urteilsausfertigung die Frist zur Ausführung des Rechtsmittels auslöste (RIS Justiz RS0132694 [T1]), führte der Verstoß gegen § 56 Abs 1 zweiter Satz und Abs 3 StPO in Ansehung der Berufung wegen Nichtigkeit zur (unverschuldeten) Versäumung der Einhaltung dieser Frist.
[14] Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich diese Gesetzesverletzung – unabhängig davon, dass ein in solchen Fällen möglicher, allerdings bereits binnen 14 Tagen nach Wegfall des Hindernisses zu stellender Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 364 Abs 1 StPO; vgl erneut RIS Justiz RS0132694 [T1]) hier unterblieb – zum Nachteil des Angeklagten auswirkte, war deren Feststellung gemäß § 292 letzter Satz StPO auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (vgl 14 Os 50/19p, 51/19k und 13 Os 39/24w, 40/24t Rz 9 f).
[15] Von dieser Maßnahme rechtslogisch abhängige Entscheidungen und Verfügungen gelten damit gleichfalls als beseitigt (RIS Justiz RS0100444; Ratz , WK StPO § 292 Rz 28 ).