JudikaturOGH

3Ob75/24m – OGH Entscheidung

Entscheidung
03. Juli 2024

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon. Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S*, vertreten durch die Mutter *, vertreten durch Mag. Stefan Weidinger, Rechtsanwalt in Scharnstein, gegen die beklagte Partei R*, vertreten durch Huber Dietrich Rechtsanwalts Partnerschaft in Linz, wegen 26.397,68 EUR sA und Feststellung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Teil-Zwischenurteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 21. März 2024, GZ 3 R 31/24k 20, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Der damals vierjährige Kläger wurde in dem von der Beklagten betriebenen Kindergarten schwer verletzt (Verbrennungen dritten und vierten Grades), als er einen Kochtopf mit heißem Apfelmus ergriff und die Flüssigkeit auf seinen Arm, seine Hand und auf seine Oberschenkel gelangte.

[2] Der Kläger begehrt von der Beklagten Schadenersatz (Schmerzengeld, Ersatz von Pflegeleistungen und näher bezifferter Kosten der Eltern) sowie die Feststellung der Haftung für sämtliche künftige Folgeschäden aus dem Unfall. Die Beklagte wendete im Wesentlichen mangelndes Verschulden ein.

[3] Das Berufungsgericht gab dem Zahlungsbegehren dem Grunde nach statt und hob die das Klagebegehren abweisende Entscheidung des Erstgerichts im Übrigen auf.

[4] Die gegen das Teilurteil dem Grunde nach gerichtete außerordentliche Revision der Beklagten zeigt keine erhebliche Rechtsfrage auf.

Rechtliche Beurteilung

[5] 1.1 Das Berufungsgericht verletzt den Grundsatz der Unmittelbarkeit, wenn es von Feststellungen des Erstgerichts, die auf einer unmittelbaren Beweisaufnahme beruhen, ohne Beweiswiederholung abgeht oder den entscheidungswesentlichen Sachverhalt aufgrund der in erster Instanz aufgenommenen Beweise ohne Beweiswiederholung ergänzt (RS0043193; RS0043057); dies begründet einen vom Obersten Gerichtshof wahrzunehmenden Verfahrensfehler (vgl RS0043461).

[6] 1.2 Die Beklagte meint ein solcher Verfahrensmangel liege vor, weil das Berufungsgericht zum festgestellten Unfallshergang, nach dem der Kläger beim gemeinsamen Kochen plötzlich (aus ungeklärter Ursache) rückwärts vom Sessel fiel, reflexartig den Kochtopf ergriff und mit sich riss, ergänzend ausführte, dass der Kläger vor diesem Rückwärtsfallen ausrutschte oder nach hinten stieg. Damit legte das Berufungsgericht seiner Entscheidung jedoch ausdrücklich eine als disloziert in der Beweiswürdigung vorhandene Feststellung zugrunde. Ein Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz ist darin nicht zu erkennen, denn die (rechtlichen) Schlussfolgerungen des Berufungsgerichts zur Frage der Haftung der Beklagten infolge einer Aufsichtspflichtverletzung beruhen damit alle auf den vom Erstgericht festgestellten Tatsachen. Die ergänzend hervorgehobene Feststellung betrifft im Übrigen nur zwei denkbare Ursachen für den Sturz und das reflexartige Ergreifen des Kochtopfs durch den vierjährigen Kläger.

[7] 1.3 Auch die von der Beklagten in diesem Zusammenhang hilfsweise geltend gemachte Aktenwidrigkeit liegt nicht vor: Eine solche würde voraussetzen, dass ein Widerspruch zwischen dem Inhalt eines Aktenstücks und dessen Zugrundelegung und Wiedergabe durch das Rechtsmittelgericht bestünde (vgl RS0043397 [T2]). Die von der Beklagten beanstandete angebliche Ergänzung des Sachverhalts durch die dislozierte Feststellung zur möglichen Ursache für das Rückwärtsfallen des Klägers ist aber keine Aktenwidrigkeit, weil sie sich in der Entscheidung des Erstgerichts findet.

[8] 2.1 Das Maß der Aufsichtspflicht im Sinn des § 1309 ABGB bestimmt sich danach, was angesichts des Alters, der Eigenschaft und der Entwicklung des Aufsichtsbedürftigen vom Aufsichtsführenden vernünftigerweise verlangt werden kann (RS0027339 [T1]). Das Maß der gebotenen Sorgfalt bei Bestehen einer Aufsichtspflicht ist jeweils danach zu beurteilen, wie sich ein „maßgerechter“ Mensch in der konkreten Situation des Aufsichtspflichtigen verhalten hätte. Konkret vorhersehbare Gefahren sind zu vermeiden (RS0027339 [T7]). Für das Ausmaß der Aufsichtspflicht sind immer die besonderen Verhältnisse des einzelnen Falls maßgeblich (RS0042405 [T16]; RS0038140 [T1]). Die Frage, ob eine Aufsichtspflichtverletzung vorliegt, hängt daher stets von den Umständen des Einzelfalls ab und ist in der Regel nicht erheblich im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO (RS0027463 [T2]; RS0027323 [T10]).

[9] 2.2 Das Berufungsgericht ging von einer Aufsichtspflichtverletzung aus, weil hier eine konkret vorhersehbare Gefahr geschaffen worden sei, indem der vierjährige Kläger (und noch zwei andere Kinder) wegen der geringen Körpergröße auf Holzkindersessel steigen durfte(n), um sich am Kochen auf der in der Mitte des Tisches befindlichen Kochplatte zu beteiligen. Mit einem Verhalten wie dem des Klägers, der – aus welchem Grund auch immer – das Gleichgewicht verlor, nach hinten fiel und reflexartig den Kochtopf ergriff, wodurch er mit der heißen Flüssigkeit überschüttet und verletzt wurde, sei zu rechnen gewesen. Entgegen der Rechtsansicht der Beklagten ist diese Beurteilung nicht korrekturbedürftig.

[10] 2.3 Weder mit ihrem Hinweis auf die Feststellung, dass die Pädagoginnen im Kindergarten der Beklagten mit den Kleinkindern schon mehrfach ohne Zwischenfälle auf ähnliche Weise gemeinsam gekocht hätten, noch mit ihrer Bezugnahme auf Lehrmeinungen und Rechtsprechung zur Aufsichtspflicht und den jeweils konkret vorhersehbaren Gefahren gelingt es der Beklagten, eine erhebliche Rechtsfrage aufzuzeigen. Der Umstand, dass es bei ähnlicher Vorgangsweise zuvor zu keinem Unfall gekommen ist, ändert nichts an der Gefahr durch die Verwendung von Kindersesseln zur Beteiligung der Kleinkinder beim Kochen ohne Absicherung gegen ein Herunterfallen. Die vom Berufungsgericht angenommene Aufsichtspflichtverletzung führt auch nicht – wie die Beklagte meint – zu einer „Erfolgshaftung“, denn es hat den Grund für die Haftung darin gesehen, dass die Kleinkinder gegen einen möglichen spontanen Griff auf den (oder in den) heiß gefüllten Topf bei einem Verlust ihres Gleichgewichts, während sie auf der (kleinen) Sitzfläche der Kindersessel standen, nicht abgesichert waren. Die Kinder konnten im Übrigen (wie festgestellt) durch das Zerkleinern der Äpfel und ähnliche Vorbereitungstätigkeiten gefahrlos am gemeinsamen Kochen teilnehmen. Dass die angefochtene Entscheidung daher eine „erhebliche Rechtsunsicherheit“ für Kinderbetreuungseinrichtungen zur Folge hätte und dazu führe, dass auch andere gefährliche Tätigkeiten wie Spielen im Wald oder Klettern „stark eingeschränkt“ werden müssten, weil „nicht einmal eine noch so sorgfältige Aufsicht (…) eine Haftung verhindern könnte“, ist entgegen der Meinung der Beklagten nicht zu befürchten. In der angefochtenen Entscheidung hat das Berufungsgericht seinen Ermessensspielraum nicht überschritten, indem es davon ausging, dass die Betreuerin der Kleinkinder grundsätzlich mit einem derartigen reflexartigen Griff auf den Kochtopf wie dem des Klägers habe rechnen und daher diese konkret vorhersehbare Gefahr hätte von vornherein vermeiden müssen.

[11] 3. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 510 Abs 3 ZPO).

Rückverweise