13Os39/24w – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 26. Juni 2024 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz Hummel LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Richteramtsanwärter Loibl LL.M., BSc in der Strafsache gegen * A* wegen des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Fall StGB, AZ 95 Hv 138/23v des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen mehrere Vorgänge im Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Janda, zu Recht erkannt:
Spruch
In der Strafsache AZ 95 Hv 138/23v des Landesgerichts für Strafsachen Wien verletzen das jeweilige Unterbleiben
der Anhörung des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft vor der Ergänzung des Protokolls über die am 15. Jänner 2024 durchgeführte Hauptverhandlung mit Beschluss vom 16. Februar 2024 (ON 14) § 271 Abs 7 vierter Satz StPO iVm § 488 Abs 1 StPO und
der Zustellung einer Übersetzung der Ausfertigung des noch nicht rechtskräftigen Urteils vom 15. Jänner 2024 (ON 11.2) in die rumänische Sprache an den rumänischsprachigen Angeklagten § 56 Abs 1 und 3 StPO.
Der Beschluss der Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 16. Februar 2024 (ON 14) wird aufgehoben.
Die Zustellung der Urteilsausfertigung wird für unwirksam erklärt und es wird der Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien aufgetragen, deren neuerliche Zustellung an den Angeklagten samt eine Übersetzung des Urteils in die rumänische Sprache zu veranlassen.
Text
Gründe:
[1] Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 15. Jänner 2024 (ON 11.2) wurde * A* des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Fall StGB schuldig erkannt und unter Bedachtnahme gemäß § 31 StGB auf ein Vor-Urteil zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt.
[2] Dagegen meldeten der im Verfahren nicht durch einen Verteidiger vertretene, rumänischsprachige (vgl ON 2.5 S 1 und 3, ON 4.1 und 8.2 sowie ON 11.1 S 1) Angeklagte unmittelbar nach der – unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die rumänische Sprache durchgeführten – Hauptverhandlung (ON 11.1 S 8) sowie die Staatsanwaltschaft am 16. Jänner 2024 (ON 12) Rechtsmittel an.
[3] Mit Beschluss vom 16. Februar 2024 ergänzte die Einzelrichterin – ohne die Parteien vorangehend zur in Aussicht genommenen Änderung zu hören – von Amts wegen das Protokoll über die am 15. Jänner 2024 durchgeführte Hauptverhandlung „Gemäß § 271 Abs 7 StPO“ auf dessen Seite 7 dahin, dass gemäß § 252 Abs 2a StPO der gesamte Akteninhalt mit Zustimmung der Verfahrensbeteiligten vorgetragen wird, wobei auf wörtliche Verlesungen verzichtet wird (ON 14).
[4] Eine Ausfertigung des noch nicht rechtskräftigen Urteils wurde dem Angeklagten zugestellt, nicht jedoch eine Übersetzung davon.
[5] Über die vom Angeklagten unausgeführt gebliebene Berufung sowie über jene der Staatsanwaltschaft hat das Oberlandesgericht Wien (zu AZ 18 Bs 132/24d) noch nicht entschieden.
Rechtliche Beurteilung
[6] Wie die Generalprokuratur in ihrer gemäß § 23 StPO erhobenen Nichtigkeitbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, stehen mehrere Vorgänge im Verfahren AZ 95 Hv 138/23v des Landesgerichts für Strafsachen Wien mit dem Gesetz nicht im Einklang:
[7] 1. Nach § 271 Abs 7 zweiter Satz StPO (iVm § 488 Abs 1 StPO) hat der Einzelrichter des Landesgerichts – soweit hier von Bedeutung – das Protokoll über die Hauptverhandlung (nach Vornahme der erforderlichen Erhebungen) von Amts wegen zu ergänzen, soweit erhebliche Umstände oder Vorgänge dort zu Unrecht nicht erwähnt worden sind. Zuvor ist den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme zur in Aussicht genommenen Ergänzung (sowie zu den Ergebnissen der gepflogenen Erhebungen) binnen festzusetzender angemessener Frist einzuräumen (§ 271 Abs 7 vierter Satz StPO; Danek/Mann , WK StPO § 271 Rz 49).
[8] Die von der Einzelrichterin vorgenommene Ergänzung des über die Hauptverhandlung aufgenommenen Protokolls – welche im Übrigen entgegen § 271 Abs 7 fünfter Satz iVm § 270 Abs 3 vierter Satz StPO dort nicht beigefügt worden ist – ohne dem Angeklagten und der Staatsanwaltschaft davor Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen, verletzt somit § 271 Abs 7 vierter Satz iVm § 488 Abs 1 StPO.
[9] 2. Gemäß § 56 Abs 1 und 3 StPO hat ein Angeklagter, der die Verfahrenssprache nicht spricht oder versteht, das Recht auf schriftliche Übersetzung der Ausfertigung des noch nicht rechtskräftigen Urteils und Zustellung derselben gemeinsam mit der Urteilsausfertigung (RIS Justiz RS0132694), was hier unterblieben ist.
[10] Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Angeklagten wirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).
[11] Vom aufgehobenen Beschluss rechtslogisch abhängige Entscheidungen und Verfügungen gelten gleichermaßen als beseitigt (RIS Justiz RS0100444).