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10Ob28/22y – OGH Entscheidung

Entscheidung
22. November 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ. Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie den Hofrat Mag. Ziegelbauer, die Hofrätin Dr. Faber und die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei B*, gegen die beklagte Partei P*, wegen Wiederaufnahme des Verfahrens auf Ehescheidung AZ 9 C 15/14y des Bezirksgerichts Neulengbach, aufgrund der Vorlage des Akts AZ 9 C 11/22x des Bezirksgerichts Neulengbach, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

I.1. Die Wiederaufnahmeklage wird, soweit in ihr inhaltlich der Wiederaufnahmegrund des § 530 Abs 1 Z 4 ZPO geltend gemacht wird, zurückgewiesen.

I.2. Der Antrag auf Gewährung der Verfahrenshilfe zur Führung des Verfahrens über die Wiederaufnahmeklage wird in dem Umfang, in dem inhaltlich der Wiederaufnahmegrund des § 530 Abs 1 Z 4 ZPO geltend gemacht wird, abgewiesen.

II. Der Oberste Gerichtshof ist zur Entscheidung über die Wiederaufnahmeklage in dem Umfang, in dem sie inhaltlich auf die Wiederaufnahmegründe des § 530 Abs 1 Z 2 und Z 7 ZPO gestützt wird, nicht zuständig.

Die Wiederaufnahmeklage wird in diesem Umfang an das Bezirksgericht Neulengbach überwiesen.

Text

Begründung:

[1] Im Verfahren AZ 9 C 15/14y des Bezirksgerichts Neulengbach begehrte der Kläger (und damalige Widerbeklagte) die Scheidung der mit der Beklagten (und damaligen Widerklägerin) im Jahr 2000 geschlossenen Ehe. Die Beklagte begehrte mit ihrer Widerklage die Scheidung aus dem Alleinverschulden des Klägers. Das Erstgericht schied die Ehe aus dem überwiegenden Verschulden des Klägers. Das Berufungsgericht gab den nur gegen den Verschuldensausspruch dieses Urteils erhobenen Berufungen beider Streitteile in der Hauptsache nicht Folge und bestätigte das Ersturteil. Der Oberste Gerichtshof wies die gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts gerichteten außerordentlichen Revisionen des Klägers und der Beklagten mit Beschluss vom 13. 9. 2018, 10 ObS 60/18y, zurück.

[2] Der Kläger begehrt mit der am 6. 4. 2022 beim Erstgericht von ihm selbst eingebrachten, anwaltlich nicht unterfertigten Klage die Wiederaufnahme des Verfahrens auf Ehescheidung gegen die Beklagte. In Verbindung mit der Klage beantragte er die Bewilligung der Verfahrenshilfe einschließlich der Beigebung eines Rechtsanwalts. Er macht dazu geltend, dass sich Zeugen bei ihrer Vernehmung einer falschen Beweisaussage im Sinn des § 288 StGB schuldig gemacht hätten. Gegen einen Zeugen habe er Strafanzeige eingebracht. Zwischenzeitlich habe er Kenntnis von vielen neuen Tatsachen und Beweismitteln erlangt, deren Vorbringen und Benützung im Ehescheidungsverfahren eine für ihn günstigere Entscheidung herbeigeführt hätte. Herausgestellt habe sich schließlich, dass beim Erstrichter andere als rein sachliche Motive für seine Entscheidung eine Rolle gespielt hätten und dieser vor seiner Entscheidung jedenfalls befangen gewesen sei.

[3] Das Erstgericht sprach mit Beschluss vom 11. 5. 2022, GZ 9 C 11/22x 4 aus, dass

1. der Richter des Bezirksgerichts Neulengbach, * im Verfahren über die Wiederaufnahmeklage ausgeschlossen sei,

2. das Bezirksgericht Neulengbach unzuständig sei und

3. die beim Bezirksgericht Neulengbach eingebrachte Wiederaufnahmeklage zum Verfahren 9 C 15/14y an den Obersten Gerichtshof überwiesen werde.

[4] Begründend führte es im Wesentlichen aus, dass für die nach § 530 Abs 1 Z 4 ZPO erhobene Wiederaufnahmeklage im vorliegenden Fall der Oberste Gerichtshof zuständig sei, weil dieser abschließend über das im wiederaufzunehmenden Verfahren erhobene Rechtsschutzbegehren entschieden habe. Die Klage sei daher an den Obersten Gerichtshof zu überweisen.

[5] Mit Beschluss vom 28. 7. 2022 stellte der Oberste Gerichtshof dem Erstgericht den Akt mit dem Auftrag zurück, den Beschluss vom 11. 5. 2022 (ON 4) den Parteien zuzustellen. Das Erstgericht legte dem Obersten Gerichtshof den Akt neuerlich nach Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses vom 11. 5. 2022 vor.

Rechtliche Beurteilung

[6] I. Zur Entscheidung über die Wiederaufnahmeklage , soweit diese inhaltlich auf den Wiederaufnahmegrund des § 530 Abs 1 Z 4 ZPO gestützt wird:

[7] 1. Der Kläger hat seine Wiederaufnahmeklage inhaltlich nicht nur auf die Wiederaufnahmegründe des § 530 Abs 1 Z 2 ZPO (falsche Beweisaussage) und § 530 Abs 1 Z 7 ZPO (neue Tatsachen und Beweismittel), sondern auch auf eine behauptete Befangenheit des Erstrichters und damit – wovon das Erstgericht ausgegangen ist – auf den Wiederaufnahmegrund des § 530 Abs 1 Z 4 ZPO gestützt.

[8] 2. Gemäß § 530 Abs 1 Z 4 ZPO kann ein Verfahren, das durch eine die Sache erledigende Entscheidung abgeschlossen worden ist, auf Antrag einer Partei wieder aufgenommen werden, wenn sich der Richter bei der Erlassung der Entscheidung oder einer der Entscheidung zugrunde liegenden früheren Entscheidung in Beziehung auf den Rechtsstreit zum Nachteil der Partei einer nach dem Strafgesetzbuch zu ahndenden Verletzung seiner Amtspflicht schuldig gemacht hat. Nach § 532 Abs 1 ZPO ist für die nach § 530 Abs 1 Z 4 ZPO erhobene Wiederaufnahmeklage das Gericht, von welchem die durch die Klage angefochtene Entscheidung gefällt wurde, wenn aber in der Klage mehrere in demselben Rechtsstreit von Gerichten verschiedener Instanzen gefällte Entscheidungen angefochten werden, das höchste unter diesen Gerichten ausschließlich zuständig. Liegt bereits vor Bekanntwerden des Wiederaufnahmegrundes des § 530 Abs 1 Z 4 ZPO eine Entscheidung höherer Instanz vor, ist die Wiederaufnahmeklage beim Gericht höherer Instanz einzubringen, da auch die Beseitigung seiner Endentscheidung begehrt wird ( Jelinek in Fasching/Konecny IV/1³ § 532 ZPO Rz 16). Zur Entscheidung über eine auf den Wiederaufnahmegrund des § 530 Abs 1 Z 4 ZPO gestützte Wiederaufnahmeklage kann auch der Oberste Gerichtshof berufen sein (4 Ob 305/84 = RS0044612; RS0044317). Nach der jüngeren Rechtsprechung ist der Oberste Gerichtshof auch dann zuständig, wenn er – wie hier – die außerordentliche Revision gemäß § 508a Abs 2 ZPO als unzulässig zurückgewiesen hat (2 Ob 6/03a, 5 Ob 208/06h, beide zur Nichtigkeitsklage).

[9] 3. Die Rechtsprechung verlangt auch bei einer auf den Wiederaufnahmegrund des § 530 Abs 1 Z 4 ZPO gestützten Klage, dass der Sachverhalt, der den Anfechtungsgrund herstellt, vorgebracht wird (RS0044604). Das Gericht hat daher die Schlüssigkeit der Wiederaufnahmeklage zu prüfen (RS0044631). Das gilt auch im Verfahren über eine auf § 530 Abs 1 Z 4 ZPO gestützte Wiederaufnahmeklage; das Verfahren ist nur dann nach § 539 Abs 1 ZPO zur Einleitung einer strafrechtlichen Ermittlung zu unterbrechen, wenn der Kläger ein tatsächliches Geschehen behauptet, das den Tatbestand dieser Bestimmung erfüllt (RS0103696). Das ist hier nicht der Fall:

[10] 4. Der Kläger macht inhaltlich lediglich eine Befangenheit des Erstrichters geltend, indem er ihm vorwirft, dass andere als rein sachliche Motive für seine Entscheidung eine Rolle gespielt hätten. Befangenheit als solche ist aber kein Nichtigkeits oder Wiederaufnahmegrund ( Jelinek in Fasching/Konecny IV/1³ § 530 ZPO Rz 90; vgl RS0041972, RS0042070). Die Wiederaufnahme nach § 530 Abs 1 Z 4 ZPO setzt vielmehr voraus, dass die Befangenheit im konkreten Verfahren zu einer strafbaren Amtspflichtverletzung geführt hat (4 Ob 14/11d). Ein konkretes Vorbringen zu einer strafrechtlich erheblichen Amtspflichtverletzung des Erstrichters zum Nachteil des Klägers (vgl RS0044604 [T4]; RS0103696 [T3, T4]) enthält die Klage nicht. Die Klage ist daher in dem Umfang, in dem der Wiederaufnahmegrund des § 530 Abs 1 Z 4 ZPO geltend gemacht wird, gemäß § 538 Abs 1 ZPO im Vorprüfungsverfahren ohne weiteres Verbesserungsverfahren (betreffend die Unschlüssigkeit: RS0036173 [T14]; betreffend das Fehlen einer im Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof erforderlichen [RS0121427] Anwaltsunterschrift: RS0005946 [T3], 4 Ob 240/16x) zurückzuweisen (RS0044604).

[11] 5. Da der Oberste Gerichtshof zur Entscheidung über die Wiederaufnahmeklage zuständig ist, soweit der Wiederaufnahmegrund des § 530 Abs 1 Z 4 ZPO geltend gemacht wird, ist er auch zuständig, über den Verfahrenshilfeantrag in diesem Umfang zu entscheiden (§ 65 Abs 2 ZPO; RS0036094). Aufgrund der dargestellten Unschlüssigkeit der Klage in Bezug auf § 530 Abs 1 Z 4 ZPO ist die Rechtsverfolgung offenbar aussichtslos im Sinn des § 63 ZPO, sodass der Verfahrenshilfeantrag in diesem Umfang abzuweisen ist.

[12] II. Zur Entscheidung über den Zuständigkeitsstreit gemäß § 47 JN :

[13] 1. Der Kläger hat seine Wiederaufnahmeklage – wie ausgeführt – nicht nur auf eine behauptete Amtspflichtverletzung des Erstrichters gestützt, sondern inhaltlich auch auf die Wiederaufnahmegründe des § 530 Abs 1 Z 2 und Z 7 ZPO. Für diese Fälle der Wiederaufnahmeklage bestimmt § 532 Abs 2 ZPO, dass die Klage beim Prozessgericht erster Instanz, wenn aber nur ein in höherer Instanz erlassenes Urteil von dem geltend gemachten Anfechtungsgrund betroffen ist, bei dem Gericht höherer Instanz eingebracht werden muss. Die Wiederaufnahmegründe der Z 2 und 7 des § 530 Abs 1 ZPO betreffen die Tatsachengrundlage und daher die Entscheidungen der Tatsacheninstanzen. Ausschlaggebend ist, welches Gericht die Tatsachen abschließend festgestellt hat, die vom Anfechtungsgrund betroffen sind (RS0044559; Jelinek in Fasching/Konecny IV/1³ § 532 ZPO Rz 20). In diesem Umfang fehlt es für die Behandlung der Wiederaufnahmeklage an einer funktionellen Zuständigkeit des Obersten Gerichtshofs, der nicht Tatsacheninstanz ist.

[14] 2. Gemäß § 47 Abs 1 JN sind Streitigkeiten zwischen verschiedenen Gerichten erster Instanz über die Zuständigkeit für eine bestimmte Rechtssache von dem diesen Gerichten zunächst übergeordneten gemeinsamen höheren Gericht zu entscheiden. Grundsätzlich kann daher ein Zuständigkeitskonflikt nur zwischen Gerichten derselben Instanz entstehen. In vorliegenden Fall sind für die Behandlung der Wiederaufnahmeklage teilweise das Erstgericht, teilweise der Oberste Gerichtshof funktionell zur Entscheidung als Gerichte erster Instanz zuständig, sodass ein negativer Zuständigkeitskonflikt zwischen Gerichten sonst sachlich unterschiedlicher Instanz vorliegt (vgl Schneider in Fasching/Konecny IV/1 3 § 47 JN Rz 3).

[15] 3. Das Erstgericht hat die Überweisung der Wiederaufnahmeklage auf § 474 Abs 1 ZPO gestützt (vgl RS0041882; Jelinek in Fasching/Konecny IV/1³ § 532 ZPO Rz 8). Nach dieser Bestimmung hat das Berufungsgericht im Fall seiner Unzuständigkeit diese auszusprechen und die Berufung an das für dieselbe zuständige Gericht zu verweisen. Für Überweisungen unter Berufungsgerichten im Sinn des § 474 Abs 1 ZPO besteht an und für sich eine Bindungswirkung, § 499 Abs 2 ZPO hat in diesem Zusammenhang den gleichen Bindungseffekt wie § 46 Abs 1 JN (vgl Pimmer in Fasching/Konecny IV/1³ § 499 ZPO Rz 3). Die Bindungsnorm des § 46 Abs 1 JN hat aber nur die sachliche, nicht auch die örtliche, geschweige denn die funktionelle Zuständigkeit im Auge (vgl Jelinek in Fasching/Konecny IV/1³ § 532 ZPO; Rz 11, RS0046391 [T2]). Ein Überweisungsbeschluss gemäß § 44 JN, dem schon vor seiner Rechtskraft Bindungswirkung zukommt, liegt hier nicht vor (vgl Schneider in Fasching/Konecny IV/1 3 § 47 JN, Rz 29). Überdies setzt die Anrufung des gemeinsamen übergeordneten Gerichtshofs im Sinn des § 47 Abs 1 JN gewöhnlich voraus, dass rechtskräftige, die Zuständigkeit verneinende Beschlüsse der für die Zuständigkeit in Betracht kommenden Gerichte gefasst wurden (RS0118692; RS0046374 ua). Ein – nur im Weg der Analogie zu § 474 Abs 1 ZPO gefasster – Überweisungsbeschluss betreffend eine (hier:) Wiederaufnahmeklage hat daher nicht den gleichen Bindungseffekt wie eine unter Berufungsgerichten angeordnete Überweisung gemäß §§ 474 Abs 1, 499 Abs 2 ZPO. Der Oberste Gerichtshof ist daher an den Beschluss des Bezirksgerichts Neulengbach nicht gebunden.

4. Da sich das Bezirksgericht Neulengbach mit rechtskräftigem Beschluss für die Behandlung der Wiederaufnahmeklage insgesamt für unzuständig erklärt hat, der Oberste Gerichtshof aber wie ausgeführt für die Behandlung der Wiederaufnahmeklage in dem Umfang unzuständig ist, in dem sie auf die Wiederaufnahmegründe des § 530 Abs 1 Z 2 und Z 7 ZPO gestützt wird, liegt ein Kompetenzkonflikt vor, der unter Anwendung der Grundsätze des § 47 Abs 1 JN zu lösen ist. Dieser Zuständigkeitsstreit kann in Ermangelung eines dem Obersten Gerichtshof und dem Bezirksgericht Neulengbach „zunächst übergeordneten gemeinsamen höheren Gerichts“ nur durch den Obersten Gerichtshof entschieden werden (2 N 501/82 = SZ 55/107 = RS0046435).

5. Für die weitere Führung des Rechtsstreits über die Wiederaufnahmeklage, soweit sie auf die Wiederaufnahmegründe des § 530 Abs 1 Z 2 und Z 7 ZPO gestützt ist, ist aus den dargelegten Gründen das Bezirksgericht Neulengbach zuständig.

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