3Ob37/22w – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon. Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Rechtshilfesache der Antragstellerin S*, Frankreich, gegen die Antragsgegnerin (Empfängerin) Ö* AG, *, vertreten durch Dr. Martin Wandl und Dr. Wolfgang Krempl, Rechtsanwälte in St. Pölten, wegen Zustellung eines Schriftstücks, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 21. Jänner 2022, GZ 64 R 105/21w 10, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird gemäß § 526 Abs 2 Satz 1 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Text
Begründung:
[1] Gegenstand des Rechtshilfeverfahrens ist das Zustellungsersuchen einer französischen Huissiers-Kanzlei (Übermittlungsstelle), mit dem die Zustellung des Urteils des Tribunal de Commerce de Paris vom 15. 4. 2021 an die Antragsgegnerin bewirkt werden soll.
[2] Soweit für das Revisionsrekursverfahren von Bedeutung, wies das Erstgericht die Erklärung der Annahmeverweigerung durch die Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 1. 12. 2021 als unzulässig zurück.
[3] Das Rekursgericht hob aus Anlass des Rekurses der Antragsgegnerin diesen Beschluss wegen Nichtigkeit ersatzlos auf. Die Beurteilung der Sprachkenntnisse des Zustellungsempfängers und damit die Entscheidung darüber, ob der Zustellungsempfänger mangels ausreichender Sprachkenntnisse die Annahme der zuzustellenden Schriftstücke gemäß Art 8 EuZVO verweigern dürfe, obliege dem Prozessgericht im Übermittlungsstaat. Das Erstgericht sei – als Empfangsstelle im Empfangsstaat – zur Entscheidung über die Annahmeverweigerung nicht zuständig.
Rechtliche Beurteilung
[4] Die Antragsgegnerin will mit ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs erreichen, dass „das Erstgericht“ im fortzusetzenden Verfahren beurkundet und der Übermittlungsstelle mitteilt, dass die Zustellung zufolge berechtigter Annahmeverweigerung als nicht bewirkt anzusehen sei. Mit ihren Ausführungen zeigt die Antragsgegnerin keine erhebliche Rechtsfrage auf:
[5] 1.1 Auf das zugrunde liegende Zustellungsersuchen gelangt die EuZVO 2007 (VO 1393/2007/EG) zur Anwendung. Diese (neu kodifizierte) Verordnung geht auf die EuZVO 2000 (VO 1348/2000/EG) zurück, die inhaltlich weitestgehend unverändert übernommen wurde ( Brenn , Glosse zu 1 Ob 218/11g in EvBl 2012/106, 723).
[6] 1.2 Die EuZVO regelt die zulässigen Übermittlungswege für die grenzüberschreitende Zustellung von Schriftstücken in Zivil- und Handelssachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem „üblichen Übermittlungsweg“ zwischen den von den Mitgliedstaaten zu benennenden Übermittlungs- und Empfangsstellen im Sinn des Art 2 EuZVO. Kapitel II Abschnitt 1 leg cit enthält die Übermittlungs- und Zustellungsregelungen für den üblichen Übermittlungsweg in Bezug auf gerichtliche Schriftstücke. Da solche förmlichen Zustellungen auch ohne oder gegen den Willen des Empfängers bewirkt werden können, sieht die EuZVO zum Schutz des Zustellungsempfängers in Art 8 ein einzuhaltendes Sprachenregime vor (vgl auch Art 5 betreffend die beizubringende Übersetzung durch den um die Zustellung ersuchenden „Antragsteller“). Liegt das Schriftstück nicht in einer der geforderten Sprachen (Sprache, die der Empfänger versteht, oder Amtssprache am Zustellungsort) bzw einer solchen Übersetzung vor, so steht dem Empfänger ein ausdrücklich normiertes Annahmeverweigerungsrecht zu, über das er entsprechend belehrt werden muss (Art 8 Abs 1). Die praktische Handhabung der EuZVO soll durch die Auflage eines Handbuchs (iSe Arbeitsbehelfs) erleichtert werden, in das die für die Durchführung des grenzüberschreitenden Zustellungsverfahrens sachdienlichen Informationen, insbesondere die in der EuZVO vorgesehenen Erklärungen der Mitgliedstaaten im Sinn des Art 23 Abs 1 und 2, aufgenommen werden sollen (Art 23 Abs 3).
[7] 1.3 Die EuZVO verdrängt in ihrem Anwendungsbereich das nationale Verfahrens- und Zustellrecht (nur) insoweit, als sie zu einer Zustellfrage eine eigene Regelung enthält (1 Ob 218/11g EvBl 2012/106, 723 [ Brenn ]; vgl auch 2 Ob 217/12v). Demnach ist bei Zustellungen aus dem Ausland für das Sprachenregime und die damit zusammenhängende Annahmeverweigerung Art 8 EuZVO maßgeblich (vgl 2 Ob 217/12v) . Nach den eindeutigen Vorgaben der EuZVO sowie nach der Rechtsprechung des EuGH und des Obersten Gerichtshofs hat daher über die Berechtigung einer Annahmeverweigerung und die daran zu knüpfenden Rechtsfolgen und dementsprechend über die Wirksamkeit der Zustellung das Prozessgericht nach dem Recht des Prozessstaats (lex fori) zu entscheiden (C 384/14, Alta Realitat SL , insb Rn 54 ff; vgl 8 Ob 17/12a; Brenn , Glosse zu 1 Ob 218/11g in EvBl 2012/106, 723; Brenn , EZV 9 und 48). Die Rolle der Empfangsstelle beschränkt sich daher darauf, die Zustellung durchzuführen und den Empfänger über das Annahmeverweigerungsrecht zu belehren, sie hat aber nicht über inhaltliche Fragen, wie etwa die Berechtigung einer Annahmeverweigerung aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse des Empfängers, zu entscheiden (C 384/14, Alta Realitat SL , Rn 55; vgl auch C 519/13, Alpha Bank Cyprus ; 2 Ob 158/16y). Wird die Annahme verweigert, so hat die Empfangsstelle diesen Umstand der Übermittlungsstelle anhand des Formblatts nach der EuZVO und gegebenenfalls das Datum der Zustellung mitzuteilen (Art 8 Abs 2 und Abs 3). Es ist dann allein Sache des im Übermittlungsstaat angerufenen nationalen Gerichts, über derartige Fragen zu entscheiden, sofern die Beteiligten darüber unterschiedlicher Auffassung sind (C 384/14, Alta Realitat SL , Rn 56).
[8] 2. Die Beurteilung des Rekursgerichts steht mit diesen Grundsätzen im Einklang.
[9] Die gegenteilige Ansicht der Antragsgegnerin, wonach auch im Anwendungsbereich der EuZVO über die Berechtigung der Annahmeverweigerung im österreichischen Rechtshilfeverfahren zu entscheiden sei, entspricht nicht der Rechtslage.
[10] Die Anregung zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH war nicht aufzugreifen, weil zu der von der Antragstellerin hier relevierten unionsrechtlichen Fragestellung bereits Judikatur des EuGH vorliegt .
[11] 3. Mangels erheblicher Rechtsfrage war der außerordentliche Revisionsrekurs zurückzuweisen.