2Ob140/77 – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Wittmann als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fedra, Dr. Schragel, Dr. Reithofer und Dr. Scheiderbauer als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj. G* , geboren am *, *, vertreten durch ihren Vater J*, Salinenarbeiter, *, als gesetzlichen Vertreter, dieser vertreten durch Dr. Karl Kuprian, Rechtsanwalt in Bad Ischl, wider die beklagten Parteien 1.) Mag. Jo*, Gymnasialprofessor, *, 2.) A*Gesellschaft, *, beide vertreten durch Dr. Hermannfried Eiselberg, Rechtsanwalt in Wels, wegen S 45.000,-- s.A. und Feststellung, infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes vom 28. April 1977, GZ. 5 R 17/77 17, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Wels vom 23. Dezember 1976, GZ. 3 Cg 243/76 11, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens wird der Endentscheidung vorbehalten.
Text
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin wurde am 31. Dezember 1974 gegen 19 Uhr 50 beim Überqueren der *-Bundesstraße in * auf Höhe des Hauses Nr. * von einem vom Erstbeklagten gelenkten und bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten Personenkraftwagen niedergestoßen und verletzt, wobei sie einen Oberschenkelbruch erlitt. Der Erstbeklagte war auch Halter des von ihm gelenkten Fahrzeuges. Ein gegen ihn wegen dieses Unfalles eingeleitetes Strafverfahren endete mit Freispruch.
Die Klägerin verlangt von den Beklagten zur ungeteilten Hand die Zahlung eines Schmerzengeldes von S 45.000,-- s.A. sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Schäden der Klägerin aus diesem Unfall, bezüglich der Zweitbeklagten jedoch nur im Rahmen des Haftpflichtversicherungsvertrages. Sie behauptet, der Erstbeklagte habe den Unfall verschuldet, denn er sei mit relativ überhöhter Geschwindigkeit gefahren. Sie stützt ihr Begehren zugleich aber auch auf die Bestimmungen des EKHG.
Die Beklagten beantragten Abweisung des Klagebegehrens. Sie bestritten nicht die Angemessenheit des begehrten Schmerzengeldes, wendeten aber ein, es treffe den Erstbeklagten keinerlei Verschulden; er habe den Unfall nicht vermeiden können. Die Unfallsverletzungen der Klägerin seien folgenlos abgeheilt.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren zur Gänze ab.
Es war der Ansicht, den Erstbeklagten treffe kein Verschulden, für ihn habe sich der Unfall als unabwendbares Ereignis dargestellt.
Die Berufung der Klägerin hatte Erfolg. Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil im Ausspruch über das Leistungsbegehren als Teilurteil im Sinne des Klagebegehrens ab und hob es im Ausspruch über das Feststellungsbegehren mit Beschluß unter Rechtskraftvorbehalt auf. Es war der Ansicht, den Erstbeklagten treffe zwar kein Verschulden, er habe aber den Entlastungsbeweis im Sinne des § 9 Abs. 2 EKHG nicht erbracht.
Der Aufhebungsbeschluß wurde nicht angefochten.
Gegen das Teilurteil richtet sich die wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Revision der Beklagten mit dem Antrag, es im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens abzuändern.
Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nicht gerechtfertigt.
Auszugehen ist von folgendem Sachverhalt, der der Entscheidung des Berufungsgerichtes zugrundeliegt:
Der Erstbeklagte fuhr bei Dunkelheit mit eingeschaltetem Fernlicht mit einer Geschwindigkeit von etwa 70 km/h von * kommend in Richtung *. Die 7,75 m breite Fahrbahn war mit Schneematsch bedeckt. Der Erstbeklagte fuhr mit seinem 1,59 m breiten Fahrzeug auf der im Unfallsbereich unübersichtlichen Straße auf der rechten Fahrbahnhälfte so, daß er sowohl zur Fahrbahnmitte als auch zum rechten Fahrbahnrand einen Abstand von gut 1 m hatte. Er bemerkte aus größerer Entfernung das außerhalb der Fahrbahn rechts abgestellte und beleuchtete Fahrzeug des Vaters der Klägerin. Er verringerte deshalb seine Geschwindigkeit auf etwa 50 km/h. Inzwischen lief die mit einer weißen Haube und einem roten Mantel bekleidete Klägerin, die damals 0,80 m groß war, aus dem von der Bundesstraße zurückgesetzt stehenden Haus * auf dem von Schnee freigeschaufelten 5 m langen Zugang von links zur Bundesstraße. Der Schnee lag im Gelände etwa 0,15 m hoch; der neben der Fahrbahn im Bereich des Zuganges liegende Schneehaufen hatte eine Höhe von 0,20 bis 0,25 m. Da das Niveau des Bodens gegenüber der Straßendecke um etwa 0,70 m tiefer liegt, steigt dieser Zugang zur Straße vom Haus aus vorerst mit 17 % und im letzten Meter vor der Bundesstraße nur mehr mit etwa 7 % an. Die Klägerin, die an sich ein lebhaftes Kind ist, beweg te sich dabei mit einer Geschwindigkeit von 2 bis 2,5 m/sec, was einer Geschwindigkeit von 7,2 bis 9 km/h entspricht. Auf der Bundesstraße angelangt versuchte die Klägerin, die Straße in einem Zug im rechten Winkel zur Fahrbahnlängsachse zu überqueren, um zu ihrem beim abgestellten Wagen wartenden Vater zu gelangen. Der Erstbeklagte hätte den Kopf der Klägerin schon sehen können, als sie noch etwa 3 m vor der Fahrbahn auf der zur Straße führenden Zufahrt war. In ihrer ganzen Größe, vermindert um die Höhe des Schneehaufens von 0,20 bis 0,25 m, war die Klägerin für den Erstbeklagten erkennbar, als sie von der Fahrbahn 1 m entfernt war. Der Erstbeklagte, dessen Anhalteweg infolge des Schneematsches auf der Straße und der eingehaltenen Geschwindigkeit von 50 km/h etwa 34 m betrug und der 3 Sekunden vor dem Zusammenstoß von der späteren Kollisionsstelle 34 m entfernt war, bemerkte die Klägerin erst, als sie sich der Straße auf 0,50 bis 1 m genähert hatte. Er hätte den Unfall verhindern können, wenn er auf das Überqueren der Fahrbahn durch die Klägerin mindestens 3 Sekunden hindurch hingewiesen worden wäre. Er hätte den Unfall aber auch dann vermeiden können, wenn er die Klägerin wahrgenommen hätte, als sie sich noch etwa 1,50 m außerhalb der Fahrbahn befand. Der Erstbeklagte bremste, als er die Klägerin sah, doch wurde diese, nachdem sie auf der Straße noch 5,75 m laufend zurückgelegt hatte, vom linken vordern Teil des Fahrzeuges erfaßt und nach vorne geschleudert. Das Fahrzeug kam etwa 1,50 bis 2 m nach der Kollision zum Stillstand.
Zur Haftungsfrage führte das Berufungsgericht aus: Der Erstbeklagte hätte bei scharfer Beobachtung der Umgebung der Straße die Klägerin schon sehen können, als sie noch etwa 3 m von der Straße entfernt gewesen sei. Kopf und Haube seien sichtbar gewesen. Durch die Steigung des Zufahrtsweges zur Straße hin habe sich der Körper der Klägerin zunehmend in das Blickfeld des Erstbeklagten heben müssen. Wenn er die Klägerin erst bemerkt habe, als sie sich dem Fahrbahnrand auf 0,50 bis 1 m genähert hatte, könne ihm dies unter den damals herrschenden Verhältnissen nicht zum Verschulden gerechnet werden. Hätte er die Klägerin aber bei geschärfter Beobachtung der Umgebung der Straße früher bemerken und hätte er den Unfall verhüten können, so schließe dies die Annahme aus, daß er die den Umständen nach mögliche Sorgfalt beobachtet habe.
Dagegen machen die Beklagten geltend, eine Reaktionsverzögerung könne dem Erstbeklagten nicht angelastet werden; in dem Augenblick, in dem er Haube und Kopf der Klägerin erstmals hätte erblicken können, hätte er noch keinen Anlaß für eine Bremsreaktion erkennen müssen, weil die Wahrnehmungsfähigkeit des Auges bei Dunkelheit erheblich herabgesetzt sei, zumal die festgestellten Umstände das Erkennen der Klägerin sehr erschwert hätten. Die weiße Kopfbedeckung der Klägerin habe im Schnee wie eine Tarnung gewirkt. Die verzögerte Reaktion sei nicht auf Unaufmerksamkeit, sondern auf die durch äußere Umstände bedingte Verringerung der Sinneswahrnehmung zurückzuführen. Der Erstbeklagte habe auch auf den rechts abgestellten beleuchteten Personenkraftwagen achten müssen. Das plötzliche Auftauchen eines Kleinkindes auf der Straße zu später Stunde sei völlig unvermutet und unvorhersehbar gewesen. Als Maßstab für das Verhalten des Erstbeklagten könne daher nicht die rein technische Möglichkeit zur Einleitung einer Abwehrhandlung gelten, sondern es müsse die physiologisch bedingte Leistungsfähigkeit eines durchschnittlichen Kraftfahrers zugrundegelegt werden. Außergewöhnliche Fähigkeiten dürften aber nicht verlangt werden. Zu einer Beobachtung der an die Fahrbahnränder anschließenden Flächen wäre der Erstbeklagte nicht verpflichtet gewesen, weil es sich dabei nicht um Verkehrsflächen gehandelt habe. Schließlich sei die Beobachtung des Fahrbahnrandes erschwert gewesen, weil dort nicht mehr das volle Scheinwerferlicht, sondern nur Streulicht wirksam werde.
Eine Beobachtung über den Fahrbahnrand hinaus sei wegen der erwähnten Böschung nicht möglich gewesen.
Dem ist folgendes entgegenzuhalten:
Zur Führung des Entlastungsbeweises nach § 9 Abs. 2 EKHG genügt nicht, wenn dargetan wird, daß den Kraftfahrer kein Verschulden trifft, sondern es kommt darauf an, ob er den Unfall trotz Beachtung jeder nach den Umständen des Falles gebotenen Sorgfalt nicht vermeiden konnte. Die eine Haftungsbefreiung nach § 9 Abs. 2 EKHG begründende Sorgfalt ist nicht die normale Verkehrssorgfalt, sondern die äußerst mögliche Sorgfalt. Diese ist nur dann beobachtet, wenn der Lenker eine über die gewöhnliche Sorgfaltspflicht hinausgehende, besondere überlegene Aufmerksamkeit, Geistesgegenwart und Umsicht gezeigt hat (ZVR 1973/162, ZVR 1974/190, ZVR 1976/175, ZVR 1977/136 u.a.). Als Maßstab ist dabei die Sorgfalt eines sachkundigen, erfahrenen Kraftfahrers (Sachverständigen) zu nehmen (ZVR 1961/343, ZVR 1973/162, ZVR 1976/175 u.a.). Der Kraftfahrer haftet daher auch für einen Mangel der besonders geschärften Aufnahmsfähigkeit für rasche Eindrücke (ZVR 1962/245).
Nun steht aber fest, daß der Erstbeklagte die Klägerin, die sich in Richtung zum Fahrbahnrand bewegte, erstmals hätte wahrnehmen können, als diese vom Fahrbahnrand noch etwa 3 m entfernt war. Der Sachverständige Ing. S*, auf dessen Gutachten sich diese Feststellung gründet, hat hiebei berücksichtigt, daß der Erstbeklagte mit aufgeblendeten Scheinwerfern fuhr; er stellte auch darauf ab, daß wegen der Böschung zunächst nur der Kopf der Klägerin sichtbar wurde und daß diese mit der Annäherung an den Fahrbahnrand immer mehr ins Blickfeld des Erstbeklagten kam. Damit geht das Revisionsvorbringen insoweit ins Leere, als Umstände angeführt werden, die die Erkennbarkeit der Klägerin zwar erschwert, aber keineswegs ausgeschlossen haben. Es ist davon auszugehen, daß ein sachkundiger und erfahrener Kraftfahrer bei Anwendung der erwähnten äußerst möglichen Sorgfalt die Klägerin wahrgenommen hätte. Da es sich dabei um ein kleines Kind handelte, das sich zur Fahrbahn hin bewegte, hätte ein solcher Kraftfahrer darin einen Anlaß für eine unverzügliche Bremsreaktion erblickt. War der Erstbeklagte zu einer so raschen Wahrnehmung und Reaktion — physiologisch bedingt — nicht fähig, dann könnte ihn dies nicht entlasten, denn dann hätte er diesem Umstand durch Wahl einer geringeren Geschwindigkeit Rechnung tragen müssen.
Dem Berufungsgericht ist daher beizupflichten, daß dem Erstbeklagten der Entlastungsbeweis nach § 9 Abs. 2 EKHG nicht gelungen ist.
Demzufolge mußte der Revision der Erfolg versagt bleiben.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf §§ 52 Abs. 2, 392 Abs. 2 ZPO.