8Ob32/76 – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Hager als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fedra, Dr. Benisch, Dr. Thoma und Dr. Kralik als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei L* S*, Hilfsarbeiter, *, vertreten durch Dr. Alfred Puchner, Rechtsanwalt in Feldkirch, wider die beklagten Parteien, 1.) L* T*, Angestellter, *, 2.) I* AG., *, beide vertreten durch Dr. Theodor Veiter und Dr. Clement Achammer, Rechtsanwälte in Feldkirch, wegen S 1.809,02 s.A., infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch als Berufungsgerichtes vom 13. Jänner 1976, GZ R 422/75 13, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Bezirksgerichtes Feldkirch vom 6. Oktober 1975, GZ C 865/75 9 abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit S 1.096,78 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin die USt von S 67,02 und die Barauslagen von S 192,--) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 26. September 1974 fuhr der Kläger mit seinem PKW auf der Bundesstraße 190 von Feldkirch in Richtung Götzis. Beim Einbiegen nach links in einen Seitenweg stieß er mit dem ihn überholenden PKW des Erstbeklagten zusammen. Die Zweitbeklagte ist der Haftpflichtversicherer des PKWs des Erstbeklagten.
Der Kläger begehrt Ersatz der Reparaturkosten von S 7.236,08 (AS. 30) und behauptet Alleinverschulden des Erstbeklagten, der ihn vorschriftswidrig überholt habe.
Die Beklagten machen Alleinverschulden des Klägers geltend. Dieser habe sich weder zur Fahrbahnmitte eingeordnet, noch habe er rechtzeitig den Blinker betätigt.
Das Erstgericht, das von einer Schadensaufteilung im Verhältnisse 1 : 3 zu Lasten des Klägers ausging, gab der Klage hinsichtlich eines Betrages von S 1.809,02 statt und wies das Mehrbegehren von S 5.394,06 (richtig: S 5.427,06) ab.
Das Berufungsgericht änderte das Urteil des Erstgerichtes hinsichtlich des Teilzuspruches von S 1.809,02 im Sinne der Abweisung der Klage ab.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus den Anfechtungsgründen des § 503 Ziffer 2 und Ziffer 4 ZPO mit den Anträgen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen oder es dahin abzuändern, daß das Urteil des Erstgerichtes wieder hergestellt werde.
Die Beklagten stellen die Anträge, die Revision wegen der fehlenden Anfechtungserklärung zu verwerfen oder der Revision nicht Folge zu geben.
Die Untergerichte gingen von folgendem Sachverhalt aus:
Die Fahrbahn der Bundesstraße 190 — eine Vorrangstraße — ist im Bereich der Unfallsstelle 7,7 m breit. Der Kläger, der die Abzweigung nach links zu einem Betrieb in Meiningen suchte, lenkte zunächst schon etwa 160 m vor der Unfallsstelle den PKW zur Fahrbahnmitte und betätigte den linken Blinker. Als er erkannte, daß es sich nicht um die richtige Abzweigung handle, beschleunigte er auf ca. 60 bis 70 km/h und fuhr in der Mitte seiner Fahrbahnhälfte weiter. Hinter dem PKW des Klägers fuhr ein Omnibus. Da kein Gegenverkehr herrschte, betätigte der mit einer Geschwindigkeit von 80 bis 85 km/h fahrende Erstbeklagte den linken Blinker und fuhr auf die linke Fahrbahnhälfte, um den mit 60 km/h fahrenden Omnibus zu überholen. Erst 3 Sekunden vor der Kollision konnte der Erstbeklagte den PKW des Klägers wahrnehmen, der zu diesem Zeitpunkt mit einem Abstand von 1 m zum rechten Fahrbahnrand und mit einer Geschwindigkeit von 45 bis 50 km/h fuhr. Dem Erstbeklagten fiel diese Geschwindigkeitsverminderung auf Grund der Verringerung des Abstandes zwischen dem PKW des Klägers und dem Omnibus auf. Er nahm an, der Kläger werde anhalten. Zwei Sekunden vor der Kollision lenkte der Kläger in einer Entfernung von etwa 15 m von der Unfallsstelle aus einer Fahrlinie mit einem Abstand von 1 m zum rechten Fahrbahnrand seinen PKW allmählich nach links, nachdem er kurz vorher den linken Blinker betätigt hatte. Die Geschwindigkeit seines PKWs betrug zu diesem Zeitpunkte ca. 15 km/h. Bevor der Kläger den linken Blinker betätigte und nach links abbog, hatte er im Rückspiegel nur den Omnibus wahrgenommen. 1,5 Sekunden vor der Kollision konnte der Erstbeklagte in einer Entfernung von 33 m von der Kollisionsstelle die Absicht des Klägers, nach links abzubiegen, an der Schrägstellung des PKWs erkennen und die Betätigung des linken Blinkers wahrnehmen. Der Erstbeklagte betätigte daraufhin die Lichthupe, beschleunigte noch etwas und wich weiter nach links zum linken Fahrbahnrand aus. Hiebei stieß der PKW des Klägers mit dem linken vorderen Kotflügel gegen den rechten hinteren Kotflügel des PKWs, des Erstbeklagten.
Das Erstgericht lastete dem Erstbeklagten an, die von ihm eingehaltene Geschwindigkeit sei mit Rücksicht darauf, daß er den vor dem Omnibus fahrenden PKW des Klägers am Beginn des Überholmanövers nicht habe sehen, aber ein plötzliches Auftauchen eines Hindernisses nicht habe ausschließen können, überhöht gewesen sei. Der Erstbeklagte hätte den Kläger auch in dem Augenblick, da er dessen PKW das erste Mal gesehen habe, durch ein Hupzeichen warnen müssen. Die Abgabe eines solchen Warnzeichens wäre auch wegen der erkennbaren Verminderung der Fahrgeschwindigkeit des PKWs des Klägers notwendig gewesen, da für den Erstbeklagten kein Anhaltspunkt vorhanden gewesen sei, daß der Kläger anhalten werde. Das überwiegende Verschulden treffe aber den Kläger, der gegen die Bestimmungen der §§ 11 und 12 StVO verstoßen habe. Weder habe er sich gegen die Fahrbahnmitte eingeordnet, noch habe er seine Linksabbiegeabsicht rechtzeitig angezeigt. Bei entsprechender Beobachtung des nachfolgenden Verkehrs im Außenspiegel hätte er das Überholmanöver des Erstbeklagten rechtzeitig erkennen können.
Das Berufungsgericht war der Ansicht, daß den Erstbeklagten kein Verschulden treffe. In dem Augenblick, da er den PKW des Klägers erstmals habe wahrnehmen können, sei dieser vollkommen unauffällig geradeaus gefahren. Dieser habe zum rechten Fahrbahnrand einen Abstand von 1 m eingehalten und den linken Blinker nicht betätigt. Für den Erstbeklagten sei zu diesem Zeitpunkt keinerlei Absicht des Klägers erkennbar gewesen, nach links abzubiegen. Auf Grund der erkennbaren Geschwindigkeitsverringerung des PKWs des Klägers habe der Erstbeklagte höchstens annehmen können, der Kläger werde anhalten. Die gegebene Verkehrssituation habe vom Erstbeklagten auch nicht die Abgabe eines Warnzeichens verlangt. Die Überholgeschwindigkeit von 80 bis 85 km/h sei auf der übersichtlichen Schnellstraße nicht überhöht gewesen. Das Linkslenken und die Betätigung des linken Blinkers am PKW des Klägers habe der Erstbeklagte erst 1,5 Sek. vor dem Zusammenstoß wahrnehmen können. Unter Zubilligung einer Reaktionszeit von 1 Sek. sei für eine Abwehrmaßnahme nur mehr eine halbe Sekunde zur Verfügung gestanden. Da innerhalb dieses Zeitraumes eine unfallsverhindernde Bremsung nicht mehr möglich gewesen wäre, könne es dem Erstbeklagten nicht als Verschulden angerechnet werden, daß er versucht habe, den Unfall noch durch ein Linksauslenken zu vermeiden.
Die Beklagten vertreten in der Revisionsbeantwortung die Auffassung, die Revision des Klägers sei zu verwerfen, weil sie keine Anfechtungserklärung enthalte.
Dem Beklagten ist beizupflichten, daß nach § 506 Absatz 1 Ziffer 2 ZPO die Revisionsschrift neben der kurzen Bezeichnung der Anfechtungsgründe und der Erklärung, ob die Aufhebung oder eine Abänderung des Urteiles und welche beantragt wird, die bestimmte Erklärung enthalten muß, inwieweit das Urteil angefochten wird. Die Anfechtungserklärung als quantitatives Element des Rechtsmittels steckt den Rahmen der Anfechtung ab und begrenzt so den Umfang des Suspensiv und Devolutiveffektes des Rechtsmittels. Der Anfechtungserklärung kommt aber für sich allein nicht jene überragende Bedeutung zu, wie den Berufungsanträgen und Berufungsgründen. Das Fehlen der Anfechtungserklärung in der Revision hat dann nicht deren Verwerfung zur Folge, wenn sich aus den Anträgen und der Begründung der Revision der Umfang der Anfechtung ergibt (vgl. Fasching IV, 59 Anm. 5; JB l 1972, 103; 1974, 375 u.a.). Die Abgrenzung des Umfanges der Anfechtung ergibt sich im vorliegenden Falle aus dem auf Abänderung gerichteten Eventualantrag der Revision, die Entscheidung des Erstgerichtes wieder herzustellen, und aus der Begründung der Revision hinsichtlich des primär gestellten Aufhebungsantrages, wonach die Schadensaufteilung des Erstgerichtes im Verhältnisse 1 : 3 zu Lasten des Klägers gebilligt wird. Nach dem Inhalt der Revision kann daher kein Zweifel über den Umfang der Anfechtung des Urteiles des Berufungsgerichtes bestehen, so daß das Fehlen der Anfechtungserklärung nicht zur Verwerfung der Revision führt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aber nicht gerechtfertigt.
Unter dem Revisionsgrund des § 503 Z. 2 ZPO macht der Kläger zunächst geltend, das Berufungsgericht habe die Feststellungen des Erstgerichtes, der Einmündungstrichter des Weges, in den er habe einbiegen wollen, sei 12 m breit und aus einer Entfernung von 70 bis 80 m erkennbar gewesen und der Beklagte habe den PKW des Klägers das erste Mal in 62 m Entfernung von der Unfallsstelle und 3 Sekunden vor der Kollision gesehen, nicht übernommen.
Wenn im Urteil des Berufungsgerichtes die Feststellungen des Erstgerichtes nicht in allen Einzelheiten wiedergegeben werden, so begründet dies keine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, da das Berufungsgericht in keiner Weise zu erkennen gibt, daß es Feststellungen des Erstgerichtes nicht übernehme, sondern ausdrücklich die Beweis w ürdigung des Erstgerichtes hinsichtlich der Feststellungen zum Fahrverhalten der beiden Lenker und zum Unfallsablauf billigt. Im übrigen hat das Berufungsgericht ohnehin die Feststellung des Erstgerichtes, daß der Erstbeklagte den PKW des Klägers 3 Sekunden vor der Kollision das erste Mal gesehen hat, wiedergegeben.
Soweit der Kläger unter diesem Anfechtungsgr u nde auch noch geltend macht, das Berufungsgericht habe in seine Überlegungen nicht die Ausführungen des Sachverständigen einbezogen, wonach der Unfall vermieden worden wäre, wenn der Erstbeklagte ca. 3 Sek. vor der Kollision gebremst hätte, weil der PKW des Klägers nach 3 Sek. die Kreuzung bereits verlassen gehabt hätte, macht er keine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens im Sinne des § 50 3Z. 2 ZPO, sondern einen der rechtlichen Beurteilung zuzuordnenden Feststellungsmangel geltend. Wie bei der Erörterung der Rechtsrüge noch auszuführen sein wird, bedurfte es dieser Feststellung aber nicht, da auf Grund des Fahrverhaltens des Klägers 3 Sek. vor der Kollision für den Erstbeklagten kein Anlaß zu einer Bremsung bestanden hat.
Zu Unrecht rügt der Kläger auch eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes durch das Berufungsgericht. Dieses übernimmt ausdrücklich die Feststellungen des Erstgerichtes, daß dem Erstbeklagten die Geschwindigkeitsverringerung des PKWs des Klägers auf Grund der Verringerung des Abstandes zwischen diesem PKW und dem Omnibus aufgefallen sei und er angenommen habe, der Kläger werde anhalten. Das Berufungsgericht hat damit keine vom Erstgericht abweichende Feststellung getroffen. Soweit das Berufungsgericht bei der Erörterung der Rechtsrüge diese Beurteilung der Verkehrslage durch den Erstbeklagten billigt, gehört dies zur rechtlichen Beurteilung. Darauf wird bei Behandlung der Rechtsrüge noch einzugehen sein.
Ebenso gehört die Frage, ob der Erstbeklagte bei der gegebenen Situation zur Abgabe eines akustischen Warnzeichens verpflichtet gewesen wäre, zur rechtlichen Beurteilung.
Den Ausführungen des Klägers in seiner Rechtsrüge, der Erstbeklagte hätte schon bei erstmaliger Wahrnehmung seines PKWs auf Grund der erkennbaren Geschwindigkeitsverringerung damit rechnen müssen, daß er nach links einbiegen werde, kann nicht gefolgt werden. Wer nach links einbiegen will, hat die bevorstehende Änderung der Fahrtrichtung rechtzeitig anzuzeigen (§ 11 Absatz 2 StVO) und sich zur Fahrbahnmitte einzuordnen (§ 12 Absatz 1 StVO). Die Fahrweise des PKWs des Klägers entsprach bei erstmaliger Wahrnehmbarkeit durch den Erstbeklagten 3 Sek. vor der Kollision in keiner Weise der eines vorschriftsmäßig nach links abbiegenden Verkehrs t eilnehmers. Der linke Blinker war nicht eingeschaltet. Der PKW hielt auf der 3,85 m breiten Fahrbahnhälfte einen Abstand von 1 m zum rechten Fahrbahnrand ein. Eine erkennbare Geschwindigkeitsverminderung ist kein notwendiges Kriterium für ein bevorstehendes Linkseinbiegen (2 Ob 276/74). Der Erstbeklagte mußte daher die Geschwindigkeitsverringerung des PKWs des Klägers, die durchaus auf ein bevorstehendes Halten des PKWs schließen ließ, nicht im bedenklichen Sinne auslegen. Es bestand daher für den Erstbeklagten zu diesem Zeitpunkt kein Anlaß zum sofortigen Abbremsen seines Fahrzeuges, da eine Gefahrensituation für ihn noch gar nicht erkennbar war. Es bedarf daher auch nicht der vom Kläger gewünschten Feststellung, daß der Erstbeklagte durch ein 3 Sek. vor der Kollision einsetzendes Bremsen den Unfall hätte verhindern können.
Bei dieser Situation bestand für den Kläger auch keine Verpflichtung zur Abgabe eines Warnzeichens. Eine solche ist vor dem Überholen nur dann gegeben, „wenn es die Verkehrssicherheit erfordert “, nicht aber allgemein (§§ 15 Absatz 3 und 22 Absatz 1 StVO; vgl. ZVR 1974/131). Die bloße Geschwindigkeitsverringerung ließ noch keine Gefahrensituation erkennen. Da die Kreuzung auf einer Vorrangstraße durchfahren wurde, war das Überholen mehrspuriger Fahrzeuge auch zulässig (§ 16 Absatz 2 lit c , zweiter Halbsatz, StVO). Das Linksabbiegen des PKWs des Klägers konnte der Erstbeklagte erst 1 ½ Sek. vor der Kollision in 33 m Entfernung von der Kollisionsstelle erkennen. Er versuchte daher richtig der Gefahrensituation durch ein Linksausweichen zu begegnen, da allein der Sekundenweg aus 80 km/h 22 m beträgt und daher innerhalb der nach Ablauf der Reaktionszeit für ein Bremsen noch zur Verfügung stehende ½ Sekunde der Zusammenstoß nicht mehr hätte verhindert oder die Anstoßgeschwindigkeit nicht mehr wesentlich herabgesetzt werden können.
Zutreffend hat das Berufungsgericht auch dargelegt, daß die vom Erstbeklagten eingehaltene Geschwindigkeit nicht überhöht war. Der Forderung des Gesetzes nach einem kurzen und zügigen Überholvorgang (§ 16 Absatz 1 lit b StVO) wird nur dann entsprochen, wenn die Geschwindigkeit des Überholenden wesentlich höher ist als die des zu überholenden Fahrzeuges (vgl. Dittrich-Veith-Schuchlenz , Anm. 18 zu § 16 StVO). Bei einer Geschwindigkeit des vorausfahrenden Omnibusses von 60 km/h war daher die Überholgeschwindigkeit des PKWs des Erstbeklagten von 80 bis 85 km/h nicht überhöht. Mit einem plötzlichen, vorschriftswidrigen Linksabbiegen durch ein vorausfahrendes Fahrzeug mußte der Erstbeklagte nicht von vorneherein rechnen.
Im Fahrverhalten des Erstbeklagten ist daher kein Verschulden zu erblicken. Mit Rücksicht auf das Alleinverschulden des Klägers besteht bei der gegebenen Sachlage auch kein Anlaß zur Heranziehung der Beklagten zum Schadensausgleich im Sinne des § 11 Absatz 1 EKHG.
Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.