Spruch
L501 2309315-1/9E L501 2309307-1/11E L501 2309313-1/11E L501 2309308-1/9E L501 2309311-1/9E L501 2309310-1/9E IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene ALTENDORFER als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX und 2.) XXXX beide Staatsangehörigkeit Türkei, beide vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, sowie die Beschwerden von 3.) XXXX , 4.) XXXX , 5.) XXXX , und 6.) XXXX , alle Staatsangehörigkeit Türkei, alle gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX , diese vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.02.2025, Zlen. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.05.2025 zu Recht:
A)
Die Beschwerden werden gemäß § 28 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die nunmehr beschwerdeführenden Parteien (in der Folge „bPen“), türkische Staatsangehörige, stellten nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 10.10.2023 Anträge auf internationalen Schutz. Zum Fluchtgrund befragt, gab die beschwerdeführende Partei 1 (in der Folge „bP 1“) im Rahmen der Erstbefragung an, sie sei beim Militär misshandelt und geschlagen worden und sehe in ihrer Heimat keine Zukunft mehr. Die bP 2 erklärte, sie habe die Türkei verlassen, um den Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen, in der Türkei gebe es keine Zukunft und für die Kurden keine Rechte.
Im Rahmen ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge „BFA“ bzw. „belangte Behörde“) am 06.02.2024 erklärte die bP 1, sie sei im Zuge der Ableistung ihres Militärdienstes im Jahr 2007 von Offizieren wegen des Gebrauchs der kurdischen Sprache geschlagen und zwecks Vermeidung einer Anzeige zur Behandlung nicht in ein Militärkrankenhaus, sondern in ein privates Krankenhaus eingeliefert worden. Sie habe sich dort einer Operation am Ohr unterziehen müssen. Da sie diesen Vorfall im Fernsehen publik gemacht habe, würden die Behörden sie nicht mehr in Ruhe lassen. Um sie zur Zurückziehung ihrer Anzeige zu bewegen, werde sie hin und wieder – zuletzt 2020 – für einen Tag angehalten. Ihren Kindern werde in der Schule gesagt, sie sei eine Verräterin, ihr Sohn habe wegen ihr zwei Stunden vor der türkischen Fahne stehen müssen. Die bP 2 gab an, dass sie und ihre Kinder dieselben Probleme wie die bP 1 hätten.
Mit den verfahrensgegenständlichen Bescheiden wies die belangte Behörde die Anträge der bPen auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Türkei (Spruchpunkt II. ) ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz (Spruchpunkt III.), erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass ihre Abschiebung in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgestellt. (Spruchpunkt VI.).
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die bPen keine Verfolgung aufgrund einer der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe glaubhaft hätten machen können, im Falle der Rückkehr keine wie immer geartete Gefährdung bestünde, sie ihren Herkunftsstaat ausschließlich aus wirtschaftlichen und persönlichen Gründen verlassen hätten sowie eine Integrationsverfestigung in Österreich nicht festgestellt habe werden können.
Mit Verfahrensanordnungen der belangten Behörde vom 17.02.2025 wurde den bPen gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG für ein etwaiges Beschwerdeverfahren eine juristische Person als Rechtsberatung zur Seite gestellt.
In ihren fristgerecht erhobenen Beschwerden monierten die bPen ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren, eine mangelhafte Beweiswürdigung sowie eine mangelnde Würdigung der beigezogenen Länderberichte. Die belangte Behörde habe eine eingehende Prüfung des Kindeswohls unterlassen, obwohl die bP 3 angegeben habe, in der Schule gemobbt worden zu sein. Der türkische Staat sei nicht willens und nicht in der Lage, die bPen vor Verfolgung zu schützen. Die Berichtslage belege eine systematische Diskriminierung der Kurden; in einem politisierten Kontext könne die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen, auch das Singen kurdischer Lieder. Zudem sei bekannt, dass die türkische Justiz mit sehr vielen Mängeln funktioniere, von Korruption und Politisierung betroffen sei. Die bP 1 sei ein Opfer der türkischen Justiz, ihr drohten weitere Schikanen seitens der Polizei und anderen Behörden und infolgedessen womöglich eine unmenschliche Behandlung in der Haft.
Am 30.05.2025 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt, in der die bPen 1 bis 3 als Parteien einvernommen wurden. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.08.2025 wurde den bPen das (neue) Länderinformationsblatt der BFA Staatendokumentation betreffend der Türkei vom 06.08.2025 mit der Möglichkeit übermittelt, hierzu eine schriftliche Äußerung abzugeben. Eine Stellungnahme binnen der gesetzten Frist langte nicht ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
II.1. Feststellungen:
II.1.1. Die am XXXX geborene und bis zum 12. Lebensjahr dort auch aufgewachsene männliche bP 1 ist mit der am XXXX geborenen und aufgewachsenen weiblichen bP 2, welche dort auch die Grundschule absolvierte, verheiratet und sind sie die leiblichen Eltern der am XXXX geborenen männlichen bP3, der am XXXX geborenen männlichen bP 4, der am XXXX geborenen männlichen bP 5 und der am XXXX geborenen männlichen bP 6. Die Hochzeit fand 2010 statt; ab ca. 2012 lebten die bPen im Haus der Eltern der bP 2 in XXXX .
Die bPen sind türkische Staatsangehörige kurdischer Abstammung und bekennen sich zum sunnitischen Islam. Ihre Identität steht fest. Die bPen sprechen sowohl Türkisch als auch Kurmancî. Sie leiden an keinen lebensbedrohlichen physischen oder psychischen Erkrankungen, sie sind uneingeschränkt arbeitsfähig Die bPen sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Die bP 1 wuchs bis zur ihrem 12. Lebensjahr bei ihren Eltern im Dorf XXXX auf, besuchte dort zwei Jahre lang die Grundschule und zog schließlich mit einem ihrer Brüder zu zwei bereits in XXXX lebenden Brüdern. Sie arbeitete als Kellnerin bzw. als Teeschenkerin bevor sie für eineinhalb Jahre in XXXX ihren Militärdienst ableistete. Nachdem sie nach XXXX zurückgekehrt war, war sie zunächst arbeitslos, danach für zwei Jahre auf Baustellen tätig. Die bP1 zog anschließend gemeinsam mit der bP 2 in das Haus ihrer Schwiegereltern in die Stadt XXXX . Sie bewohnte dort mit den mj. bPen ein eigenes Stockwerk. Die Familie lebte für ca. 13 Jahre in XXXX , die bP 1 war selbständig erwerbstätig, sie betrieb eine Metzgerei. Die schulpflichtigen bPen besuchten in XXXX die Schule. Die wirtschaftliche Lage der Familie war gut. Nach dem Erdbeben in XXXX Anfang 2023 zog die Familie nach Istanbul und besuchten die schulpflichtigen bPen dort auch die Schule.
Anfang Oktober 2023 verließen die bPen ihr Herkunftsland legal auf dem Luftweg nach Serbien und reisten spätesten am 10.10.2023 unter Umgehung der Grenzkontrollen unrechtmäßig in das Bundesgebiet ein, wo sie die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten.
Die bP 1 hat zwei Schwestern und sieben Brüder, ihr Vater ist verstorben; die Mutter wohnt gemeinsam mit einem jüngeren Bruder der bP 1 in einer Eigentumswohnung in XXXX . Ein Bruder der bP 1 lebt XXXX in einem in seinem Eigentum stehenden Haus und verdient sich seinen Lebensunterhalt als Autohändler. Die übrigen Geschwister leben alle in XXXX in Mietwohnungen, die Brüder arbeiten auf Baustellen. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Geschwister der bP 1 sind grundsätzlich gut. Die bP 1 und die bP 2 stehen mit der Mutter der bP 1 in Kontakt.
Die Eltern der bP 2 sowie vier ihrer Geschwister leben nach wie vor in der Stadt XXXX in wirtschaftlich guten Verhältnissen. Eine Schwester und ein Bruder der bP 2 leben in Deutschland.
II.1.2. Die bPen 1 und 2 sind gesunde, arbeits- und anpassungsfähige Personen. Die Teilnahme am Arbeitsleben ausschließende gesundheitliche Einschränkungen liegen nicht vor. Die bP 1 weist eine mehrjährige Erfahrung als selbständige Metzgerin sowie als Arbeiterin in der Baubranche und im Gastronomiebereich auf. Die bPen verfügen in ihrem Herkunftsstaat über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage sowie über familiäre Anknüpfungspunkte in Gestalt ihrer dort lebenden Eltern und Geschwister. Der bP 1 ist zur Sicherstellung des familiären Auskommens die Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit in der Nahrungsmittelbranche ebenso möglich und zumutbar, wie die Aufnahme unselbständiger Erwerbstätigkeiten in anderen Wirtschaftszweigen. Auch der bP 2 ist - soweit es die Betreuungspflichten in Ansehung der minderjährigen bPen zulassen - die Aufnahme von Gelegenheits- oder Teilzeitarbeiten zur Unterstützung des Familienauskommens im Rückkehrfall grundsätzlich möglich und zumutbar. Die bPen haben im Rückkehrfall als türkische Staatsbürger überdies Zugang zum dortigen Sozialsystem (siehe dazu die Feststellungen zur allgemeinen Lage in der Türkei). In Ansehung der minderjährigen bPen ist eine hinreichende Betreuung und Absicherung ihrer altersentsprechenden Grundbedürfnisse durch die Eltern ebenso gegeben, wie ein freier Zugang zur schulischen Ausbildung sowie zur Gesundheitsfürsorge.
II.1.3. Die bPen gehörten in ihrem Herkunftsstaat keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an, sie waren auch nicht politisch aktiv. Ihnen wurde vor ihrer Ausreise keine bestimmte (oppositionelle) politische Gesinnung und auch keine Verwicklung in Straftaten unterstellt. Sie hatten vor ihrer Ausreise keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften ihres Herkunftsstaates.
Die bPen waren vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat auch keiner anderweitigen individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt durch staatliche Organe oder Privatpersonen ausgesetzt und werden im Falle einer Rückkehr einer solchen individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sein. Sie unterliegen auch keiner individuellen Gefährdung nach asylrechtlich relevanten Gesichtspunkten aufgrund ihrer sunnitisch-kurdischen Identität, ihrer Familien- bzw. Stammeszugehörigkeit bzw. wegen ihrer allgemeinen Wertehaltung oder wegen der Ausreise aus der Türkei sowie des in Österreich durchlaufenen Asylverfahrens oder des Aufenthaltes in Europa.
Den bPen droht im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso wenig unterliegen sie einer anderweitigen individuellen Gefährdung, insbesondere nicht im Hinblick auf eine ihnen drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerischen Ereignissen oder terroristischen Anschlägen. Sie werden im Falle einer Rückkehr weder mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Begehung von Strafrechtsdelikten bezichtigt werden, noch wird ihnen eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden.
Die bP 1 wurde im Zuge der Ableistung ihres Militärdienstes im Jahr 2007 von einem Vorgesetzten geschlagen und erlitt dabei eine Verletzung des Trommelfells, welches operativ saniert werden musste. Sie zeigte diesen Vorfall an und machte ihn über die Medien publik.
Der letzte Aufenthaltsort der bPen in XXXX ist ebenso wie ihr langjähriger Wohnort XXXX in ihrem Heimatland ohne mit maßgebliche Wahrscheinlichkeit eintretender sicherheitsrelevanter Vorfälle erreichbar.
II.1.4. Die bPen halten sich zumindest seit 10.10.2023 in Österreich auf, sie reisten unrechtmäßig in das Bundesgebiet ein. Sie sind seither durchgehend aufgrund ihrer Anträge auf internationalen Schutz im Bundesgebiet aufhältig. Die bPen verfügen über keinen anderen Aufenthaltstitel.
Die Familie bezog nach ihrer Ankunft in Österreich mit einer kurzen Unterbrechung Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber, von 01.11.2024 bis 31.03.2025 stand die bP1 in einem der Sozialversicherung unterliegendem Dienstverhältnis. Die Familie wohnt nach wie vor in einer Betreuungseinrichtung für Asylwerber.
Die bP 1 besuchte bislang keinen Sprachkurs, die bP 2 nahm an Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache in ihrer Unterkunft teil. Weder die bP 1 noch die bP 2 haben eine Sprachprüfung abgelegt. Sie verfügen über keine Kenntnisse der deutschen Sprache. Die mj. bPen 3 bis 5 erwerben Kenntnisse der deutschen Sprach durch ihren Schulbesuch in Österreich. Innerhalb der Familie erfolgt die Kommunikation in den Sprachen Türkisch und Kurmancî.
Die bPen verfügen über keine familiären oder privaten Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet. Sie sind nicht Mitglied in einem Verein oder einer gemeinnützigen Organisation. Die bP1 verrichtet im Quartier freiwillige Dienste. Die bP 3 bis 5 besuchen in Österreich die Schule, die bP 6 wird von der bP 2 zu Hause betreut. Die sozialen Kontakte der Familie resultieren hauptsächlich aus ihrer derzeitigen Wohnsitznahme bzw. dem Schulbesuch der bPen 3 bis 5.
II.1.5. Die bPen 1 und 2 sind strafgerichtlich unbescholten. Der Aufenthalt der Familie im Bundesgebiet war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG 2005 geduldet. Der Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von damit zusammenhängenden zivilrechtlichen Ansprüchen notwendig. Die bPen wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
II.1.6. Zur (allgemeinen) Lage im Herkunftsstaat werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten Quellen getroffen:
II.1.6.1. Politische Lage
Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung - Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) unzufrieden und nach deren erneutem Sieg bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 desillusioniert, was sich auch im Erfolg der CHP (Republikanische Volkspartei - Cumhuriyet Halk Partisi) bei den Lokalwahlen im März 2024 widerspiegelt. Ursache sind vor allem der durch die hohe Inflation verursachte Kaufkraftverlust, die zunehmende Verarmung von Teilen der Bevölkerung, Rückschritte in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die fortschreitende Untergrabung des Laizismus. Insbesondere junge Menschen sind frustriert. Die Gesellschaft ist maßgeblich aufgrund der von Präsident Erdoğan verfolgten spaltenden Identitätspolitik stark polarisiert (ÖB Ankara 4.2025, S. 4f.; vgl. Migrationsverket 9.4.2024, S. 8f.).
Vorgehen gegen die Oppositionspartei CHP
Nach einem harten Wahlkampf und politischen Auseinandersetzungen und unerwarteten Wahlsiegen der CHP bei den Lokalwahlen zeichnete sich im Frühjahr 2024 eine neue Dialogpolitik, verdeutlicht durch gegenseitige Besuche zwischen Repräsentanten der regierenden AKP, inklusive Staatspräsident Erdoğan, und der größten Oppositionspartei CHP ab (FES 11.7.2024). Doch rund ein halbes Jahr später verkehrte sich diese Entwicklung ins Gegenteil. Es begann mit der Verhaftung des CHP-Bürgermeisters des Istanbuler Stadtbezirks Esenyurt, Ahmet Özer, im Oktober 2024 unter dem Vorwurf der Unterstützung der PKK. Anstatt seiner wurde ein Treuhänder der Regierung eingesetzt. Es folgten im Jänner und Februar 2025 weitere Absetzungen von CHP-Bürgermeistern. Die größte Verhaftungswelle erfolgte im März 2025, als neben dem Istanbuler Oberbürgermeister İmamoğlu sowie den Bezirksbürgermeistern von Şişli und Beylikdüzü auch gegen mehr als 100 Personen Haftbefehle ergingen. Hintergrund waren Ermittlungsverfahren wegen Korruption oder wegen Unterstützung der PKK (TM 9.7.2025; vgl. FES 28.3.2025, AlMon 23.3.2025, Bianet 23.3.2025, Spiegel 13.1.2025). Mit Stand 9.7.2025 befanden sich laut Angaben der CHP 16 ihrer Bürgermeister in Haft und einer unter Hausarrest (TM 9.7.2025).
Anfang Juni 2025 enthob das Innenministerium fünf CHP-Bürgermeister wegen Korruptionsermittlungen ihres Amtes. Überdies wurde gegen den Parteivorsitzenden der CHP, Özgür Özel, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, weil er angeblich bei einer Kundgebung einen Istanbuler Generalstaatsanwalt beleidigt und bedroht hat (L'essentiel 5.6.2025; vgl. AP 5.6.2025). Und Anfang Juli beantragte das Büro des Staatspräsidenten die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 61 CHP-Abgeordneten, darunter jene von Partei-Chef Özgür Özel (TM 7.7.2025a). Weiter Beispiele und Details siehe: Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit / Opposition.
Experten sprechen angesichts der Verhaftung des Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, von einem Putsch seitens der Regierung, einem sog. "executive coup", der das Bild eines wachsenden Autoritarismus in der Türkei unterstreicht (Güney/ORF 20.3.2025), bzw. vom Ende des "Competitive Authoritarianism", sodass die Türkei an der Schwelle zum Übergang zu einer konsolidierten Diktatur steht (Schenkkan/FH 26.3.2025). Die Parlamentarische Versammlung des Europarates brachte in ihrer Resolution vom 9.4.2025 "ihre tiefe Besorgnis über diese Entscheidungen zum Ausdruck, die politisch motiviert und ein Versuch zu sein scheinen, die Opposition einzuschüchtern, ihre Aktionen zu behindern, den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken" [Anm.: aus dem dem englischen Originalzitat] (CoE-PACE 9.4.2025, Pt. 3). Und auch das Europäische Parlament "ist der Ansicht, dass die Angriffe gegen İmamoğlu einen politisch motivierten Schritt darstellen, mit dem verhindert werden soll, dass ein legitimer Herausforderer bei der bevorstehenden Wahl kandidiert, und dass die derzeitigen türkischen Staatsorgane das Land mit diesen Maßnahmen weiter in Richtung eines vollständig autoritären Regimes treiben" (EP 7.5.2025; S. 23).
Erschwerend für die Lage der größten Oppositionspartei ist der aufgebrochene interne Konflikt. - In einem Verfahren werfen unzufriedene CHP-Mitglieder Partei-Chef Özel Stimmenkauf beim Parteitag im November 2023 vor. Ersetzt würde Özel im Fall einer Verurteilung vermutlich durch Ex-Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu, welcher sich von den aktuellen Vorwürfen aus seinem Umfeld gegen Özel nie distanziert hatte. Die Mehrheit der CHP steht aber weiterhin hinter Özel. Mit einer allfälligen Schwächung der CHP, so Experten, könnte die Gefahr für Erdoğan sinken, die nächste Wahl zu verlieren (SRF 30.6.2025; vgl. DW 27.6.2025). Zudem versucht auch die regierungsnahe Presse, beide CHP-Flügel gegeneinander auszuspielen. Sie behauptet, Kılıçdaroğlu sei samt seinem Flügel Opfer von parteiinternen Intrigen geworden. Das Resultat sind heftige Auseinandersetzungen, die die Anhängerschaft in zwei Lager spalten (DW 27.6.2025).
Auflösung und Entwaffnung der PKK
Seit Herbst 2024 prägten vor allem die Diskussionen um die Beilegung des 40 Jahre andauernden Konflikts zwischen dem türkischen Staat und der Arbeiterpartei Kurdistans - PKK. - Im Oktober 2024 hatte der Versitzende der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Devlet Bahçeli, den überraschenden Vorschlag gemacht, dass im Gegenzug für die Option einer (möglichen) Freilassung des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan dieser selbst zu einem Ende des jahrzehntelangen Kampfes der PKK und deren Auflösung aufrufen solle. Staatspräsident Erdoğan hatte damals den Vorschlag als "Fenster für eine historische Gelegenheit" bezeichnet. Am 28.12.2024 wurde zwei Abgeordneten der prokurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (DEM-Partei), irri Süreyya Önder und Pervin Buldan, erlaubt, Öcalan in seiner Haftzelle zu besuchen. Die DEM-Partei ließ verlauten, dass Öcalan bereit sei, einen kurdisch-türkischen Friedensprozess zu unterstützen und er habe auch seine Bereitschaft angedeutet, den bewaffneten Kampf der PKK zu beenden. Seitens der DEM-Delegierten folgten Informationsgespräche mit weiteren politischen Parteien, aber auch mit den seit 2016 inhaftierten ehemaligen Ko-Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die ihre Unterstützung für einen Friedensprozess kundtaten (BAMF 13.1.2025, S. 9f.; vgl. DW 8.1.2025, FR 30.12.2024, HDN 13.1.2025, Zeit Online 29.12.2024).
In einer Erklärung rief Abdullah Öcalan am 27.2.2025 seine Anhänger auf, die Waffen niederzulegen und die PKK aufzulösen (AlMon 27.2.2025; vgl. Standard 27.2.2025, DW 27.2.2025). Öcalan hatte sich zuvor an Akteure in Europa, Rojava (Kurdenregion in Syrien) und Kandil (Standort der militärischen PKK-Führung im Irak) gewandt, in denen er seine Ansichten formulierte. Gleichzeitig signalisierten diese Akteure, dass sie Öcalans Entscheidung anerkennen werden (DW 27.2.2025; vgl. Standard 27.2.2025). Am 1.3.2025 erklärte der Exekutivrat der PKK seine volle Unterstützung für die Umsetzung des Aufrufs Öcalans und verkündete einen Waffenstillstand. Für das endgültige Niederlegen der Waffen und ihre Selbstauflösung stellte die Organisation jedoch Bedingungen und erklärt, "dass für den Erfolg dieses Prozesses geeignete politische und rechtliche Rahmenbedingungen notwendig sind". Implizit wurde in der Erklärung auch die Freilassung von Öcalan gefordert (ANF 1.3.2025; vgl. Zeit Online 1.3.2025, FAZ 1.3.2025). Die türkische Regierung teilte wiederum mit, sie werde nicht mit der PKK verhandeln und forderte, dass alle kurdischen Milizen, auch die im Irak und in Syrien, ihre Waffen niederlegen müssten (Zeit Online 1.3.2025; vgl. FAZ 1.3.2025).
Am 12.5.2025 gab die PKK nach der Abhaltung ihres 12. Parteikongresses vom 5.-7. Mai im Nordirak ihre Auflösung und das Ende des bewaffneten Kampfes bekannt (ICG 16.5.2025; vgl. ANF 12.5.2025, BPB 16.6.2025, AlMon 12.5.2025). Die Regierung verfolgt eine äußerst vorsichtige Herangehensweise, die von Diskretion geprägt ist. Über die Vorteile für die Kurden ist wenig bekannt, abgesehen von besseren Lebensbedingungen für Öcalan, der seit seiner Festnahme 1999 in Einzelhaft auf der Gefängnisinsel İmralı sitzt, und rechtlichen Maßnahmen, die eine Strafmilderung oder Freilassung für Tausende von politischen Gefangenen ermöglichen würden, die wegen "Terrorismus" im Zusammenhang mit der PKK inhaftiert sind. Bislang gab es keine Jubelrufe oder Siegesbekundungen von beiden Seiten (AlMon 12.5.2025). Allerdings kritisierte die Ko-Vorsitzende der DEM-Partei, Tülay Hatimoğulları, nach fünf Wochen am 22. Juni, dass es keine greifbaren Schritte der Regierung in Richtung Demokratisierung oder Friedensprozess gebe. Sie forderte konkrete Maßnahmen, wie etwa die umgehende Freilassung politischer Gefangener, - darunter Figen Yüksekdağ, Selahattin Demirtaş - die Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und die Aufhebung repressiver Gesetze, insbesondere im Kontext der sogenannten Kobanê-Prozesse. Hatimoğulları machte deutlich, dass der aktuelle Moment eine Chance für Verhandlungen sei, aber keine Garantie (ANF 22.6.2025). Der zweite Ko-Vorsitzende der DEM-Partei, Tuncer Bakırhan, forderte angesichts der ersten symbolischen, für die 11. Juli angekündigten [Anm.: nach Redaktionsschluss] Entwaffnung von PKK-Kämpfern, dass der türkische Staat mit demokratischen Reformen reagieren soll, darunter die Anerkennung der Rechte der kurdischen Sprache, die Freilassung politischer Gefangener und die Wiederherstellung politischer Freiheiten. Bakirhan drängte außerdem auf die rasche Bildung einer parlamentarischen Kommission, die die Wiedereingliederung ehemaliger Kämpfer überwachen und umfassendere kurdische Fragen durch Gesetzgebung regeln soll (Rudaw 9.7.2025).
Am 7.7.2025 kam es zu einem Treffen zwischen Staatspräsident Erdoğan und Vertretern der DEM-Partei, darunter die beiden Parlamentarier Pervin Buldan und Mithat Sancar. Anwesend waren auch der Chef des Nationalen Geheimdienstes (MİT), İbrahim Kalın, und der stellvertretende Vorsitzende der regierenden AKP, Efkan Ala. Ohne Inhalte bekannt zu geben, bekräftigten beide Seiten den gegenseitigen Willen, den Prozess voranzutreiben (TM 7.7.2025b). Staatspräsident Erdoğan sagte über das Treffen: "Wir haben unseren Willen bekräftigt, unser Ziel einer terrorfreien Türkei zu verwirklichen. Wir treten in eine neue Ära ein, in der wir mehr gute Nachrichten haben werden" (HDN 9.7.2025).
Gesellschaftliche Bruchlinien
Die türkische Gesellschaft ist nach wie vor entlang ethnischer, politischer und religiöser Bruchlinien tief gespalten. Während die Kurdenfrage eine der Spaltungslinien ist (Kurden gegen Türken), sind die Türken auch politisch (konservative Nationalisten gegen Modernisten) und religiös (sunnitische Islamisten gegen Säkularisten) gespalten. In den letzten Jahren hat der spaltende Diskurs der politischen Elite zu einer weiteren Trennung und tiefen Polarisierung zwischen dem Lager der Erdoğan-Befürworter und seinen Gegnern beigetragen (BS 19.3.2024, S. 18). Das hat auch mit der Politik zu tun, die sich auf sogenannte Identitäten festlegt. Nationalistische Politiker, beispielsweise, propagieren ein "stolzes Türkentum". Islamischen Wertvorstellungen wird zusehends mehr Gewicht verliehen. Kurden, deren Kultur und Sprache Jahrzehnte lang unterdrückt wurden, kämpfen um ihr Dasein (WZ 7.5.2023). Angesichts des Ausganges der Wahlen im Frühjahr 2023 stellte das Europäische Parlament (EP) überdies hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Verfasstheit des Landes fest, dass nicht nur "rechtsextreme islamistische Parteien als Teil der Regierungskoalition ins Parlament eingezogen sind", sondern das EP war "besorgt über das zunehmende Gewicht der islamistischen Agenda bei der Gesetzgebung und in vielen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, unter anderem durch den wachsenden Einfluss des Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet) im Bildungssystem" und "über den zunehmenden Druck der Regierungsstellen sowie islamistischer und ultranationalistischer Gruppen auf den türkischen Kultursektor" (EP 13.9.2023, Pt. 17).
Autoritäre Entwicklungen
Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die die Türkei seit 2002 regieren, sind in den letzten Jahren zunehmend autoritär geworden und haben ihre Macht durch Verfassungsänderungen und die Inhaftierung von Gegnern und Kritikern gefestigt. Die AKP hat auf die jüngsten wirtschaftlichen Herausforderungen und die Niederlagen bei den Kommunalwahlen reagiert, indem sie ihre Bemühungen zur Unterdrückung abweichender Meinungen und zur Einschränkung des öffentlichen Diskurses intensiviert hat. Freedom House fügt die Türkei mittlerweile in die Kategorie "nicht frei" ein (FH 29.2.2024). Das Funktionieren der demokratischen Institutionen ist weiterhin stark beeinträchtigt. Der Demokratieabbau hat sich fortgesetzt, und die strukturellen Defizite des Präsidialsystems wurden nicht behoben (EC 30.10.2024; vgl. EP 13.9.2023, Pt. 9, WZ 7.5.2023).
Die Türkei wird heute als "kompetitives autoritäres" Regime eingestuft (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl. DE/Aydas 31.12.2022, Güney/ORF 20.3.2025, Esen/Gumuscu 19.2.2016), in dem zwar regelmäßig Wahlen abgehalten werden, der Wettbewerb zwischen den politischen Parteien aber nicht frei und fair ist. Solche Regime, zu denen die Türkei gezählt wird, weisen vordergründig demokratische Elemente auf: Oppositionsparteien gewinnen gelegentlich Wahlen oder stehen kurz davor; es herrscht ein harter politischer Wettbewerb; die Presse kann verschiedene Meinungen und Erklärungen von Oppositionsparteien veröffentlichen; und die Bürger können Proteste organisieren. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch ehedem Risse in der demokratischen Fassade: Regierungsgegner werden mit legalen oder illegalen Mitteln unterdrückt, unabhängige Justizorgane werden von regierungsnahen Beamten kontrolliert und die Presse- und Meinungsfreiheit gerät unter Druck. Wenn diese Maßnahmen nicht zu einem für die Regierungspartei zufriedenstellenden Ergebnis führen, müssen Oppositionsmitglieder mit gezielter Gewalt oder Inhaftierung rechnen - eine Realität, die für die türkische Opposition immer häufiger anzutreffen ist (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl. Esen/Gumuscu 19.2.2016, Güney/ORF 20.3.2025).
Das Europäische Parlament kam im Mai 2025 ähnlich sowie zuvor im September 2023 zur Schlussfolgerung, "dass es der türkischen Regierung wie bereits in den vergangenen Jahren nach wie vor an einem klaren politischen Willen mangelt, die notwendigen Reformen durchzuführen, um den Beitrittsprozess wiederzubeleben, und dass sie sich weiterhin nach einem tief verfestigten autoritären Verständnis von einem Präsidialsystem richtet" (EP 7.5.2025, S. 3; vgl. EP 13.9.2023, Pt. 21).
Worldwide Governance Indicators
WB 2024
Erklärung: Der WGI der Weltbank misst sechs umfassende Dimensionen der Regierungsführung - je länger die Balken bzw. höher der Wert, desto positiver:
Interpretation: In den ersten Jahren nach der Machtübernahme der AKP haben sich die Indikatoren deutlich verbessert. In den letzten zehn Jahren haben sie sich, bis auf die Dimension: "Politische Stabilität und Abwesenheit von Gewalt/Terrorismus", allesamt wieder verschlechtert und liegen zum Teil unter dem Niveau von 2002.
Das Präsidialsystem
Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident. Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 20.5.2024, S. 5).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4 % der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 1.4.2021, S. 2). Der Abschied der Türkei von der parlamentarischen Demokratie und der Übergang zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 haben den Autokratisierungsprozess des Landes beschleunigt. - Die Exekutive ist der größte antidemokratische Akteur. Die wenigen verbliebenen liberal-demokratischen Akteure und Reformer in der Türkei haben nicht genügend Macht, um die derzeitige Autokratisierung der Landes umzukehren (BS 19.3.2024, S. 38). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S. 20/Pt. 55). In einer weiteren Entschließung vom September 2023 erklärte sich das Europäische Parlament "tief besorgt über die fortwährende übermäßige Machtkonzentration beim türkischen Präsidenten ohne wirksames System von Kontrollen und Gegenkontrollen, durch die die demokratischen Institutionen des Landes erheblich geschwächt wurden; [und] betont, dass die fehlende Eigenständigkeit auf mehreren Verwaltungsebenen aufgrund der extremen Abhängigkeit vom Präsidenten bei allen Arten von Entscheidungen und der Alleinherrschaft eines einzigen Mannes ein dysfunktionales System zur Folge haben kann" (EP 13.9.2023, Pt. 20; vgl. EP 19.5.2021, Pt. 55).
Machtfülle des Staatspräsidenten
Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7; vgl. EC 30.10.2024, S. 19f.). Die gesetzgebende Funktion des Parlaments wird durch die häufige Anwendung von Präsidialdekreten und Präsidialentscheidungen eingeschränkt. So hat auch die politische Opposition nur sehr begrenzte Möglichkeiten die Tagesordnung der Parlamentsdebatten zu beeinflussen. Das Fehlen einer wirksamen gegenseitigen Kontrolle und die Unfähigkeit des Parlaments, das Amt des Präsidenten wirksam zu überwachen, führen dazu, dass dessen politische Rechenschaft auf die Zeit der Wahlen beschränkt ist. Die öffentliche Verwaltung, die Gerichte und die Sicherheitskräfte stehen unter dem starken Einfluss der Exekutive. Die Präsidentschaft übt direkte Autorität über alle wichtigen Institutionen und Regulierungsbehörden aus (EC 30.10.2024, S. 19f.; vgl. EP 19.5.2021, S. 20/ Pt. 55).
Präsidentendekrete unterliegen grundsätzlich keiner parlamentarischen Überprüfung und können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7) und zwar nur durch eine Klage von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren, aktuell etwa von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen (SWP 1.4.2021, S. 9). Die Mitglieder des Parlaments können nur schriftliche Anfragen an den Vizepräsidenten und die Minister richten und sind gesetzlich nicht befugt, den Präsidenten offiziell zu befragen. Ordentliche Präsidialdekrete unterliegen nicht der parlamentarischen Kontrolle (EC 30.10.2024, S. 19). Die im Rahmen des Ausnahmezustands erlassenen Dekrete des Präsidenten jedoch müssen dem Parlament zur Genehmigung vorgelegt werden (EC 8.11.2023, S. 19).
Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art. 8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 1.4.2021, S. 9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird (EC 12.10.2022, S. 14). Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab der Armee, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S. 14). Auch die Zentralbank steht weiterhin unter merkbaren politischen Druck und es mangelt ihr an Unabhängigkeit (EC 8.11.2023, S. 10f., 65).
Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S. 14).
Die Zentralisierung der Politikgestaltung im Rahmen des Präsidialsystems setzt sich fort, was ein inklusives, partizipatives und evidenzbasiertes System der Politikgestaltung weiter verhindert. Insgesamt mangelt es an einer funktionalen Aufteilung der Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen den verschiedenen Regierungsinstitutionen, was zu einer "Überzentralisierung" und Ineffizienz der öffentlichen Verwaltung führt (EC 30.10.2024, S. 80). Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S. 20, Pt. 57).
Monitoring des Europarates
Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (CoE-PACE 22.4.2021, S. 1; vgl. EP 19.5.2021, S. 7-14).
Präsidentschaftswahlen
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit (seit der Verfassungsänderung 2017) einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 7). - Am 10.3.2023 rief der Präsident im Einklang mit der Verfassung und im Einvernehmen mit allen politischen Parteien vorgezogene Parlamentswahlen für den 14.5.2023 aus (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 4; vgl. PRT 10.3.2023).
Da keiner der vier Präsidentschaftskandidaten am 14.5.2023 die gesetzlich vorgeschriebene absolute Mehrheit für die Wahl erreichte, wurde für den 28.5.2023 eine zweite Runde zwischen den beiden Spitzenkandidaten, Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und dem von der Opposition unterstützten Kemal Kılıçdaroğlu, angesetzt (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Wie schon in der ersten Runde verschafften eine einseitige Medienberichterstattung und das Fehlen gleicher Ausgangsbedingungen dem Amtsinhaber auch in der am 28.5.2023 abgehaltenen Stichwahl einen ungerechtfertigten Vorteil. Der Wahlkampf war dominiert von einer harten Rhetorik, hetzerischen und diskriminierenden Äußerungen beider Kandidaten sowie einer anhaltenden Einschüchterung und Schikanierung von Anhängern einiger Oppositionsparteien (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Diesbezüglicher "Höhepunkt" waren Fake News von Amtsinhaber Erdoğan. - Dieser zeigte während einer Wahl-Kundgebung eine Videomontage, in der es so aussah, als würden PKK-Führungskräfte das Wahlkampflied der größten Oppositionspartei CHP singen (Duvar 7.5.2023; vgl. DW 23.5.2023) und Kılıçdaroğlu an den PKK-Kommandanten, Murat Karayilan, appellieren: "Lasst uns gemeinsam zur Wahlurne gehen" (ARD 28.5.2023; vgl. DW 23.5.2023). In Folge wurde die Manipulation von Erdoğan zugegeben (ARD 28.5.2023; vgl. DS 24.5.2023). Dies hielt Erdoğan nicht davon ab, unmittelbar vor der Präsidenten-Stichwahl abermals "offenkundige Absprachen" zwischen Kılıçdaroğlu und PKK-Terroristen in den Kandil-Bergen zu behaupten (DS 24.5.2023).
In einem Umfeld, in dem das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt ist, haben sowohl die privaten als auch die öffentlich-rechtlichen Medien bei ihrer Berichterstattung über den Wahlkampf keine redaktionelle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewährleistet, was die Fähigkeit der Wähler, eine fundierte Wahl zu treffen, beeinträchtigt hat (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Amtsinhaber Erdoğan gewann die Stichwahl mit rund 52 %, während sein Herausforderer, Kılıçdaroğlu, knapp 48 % gewann (AnA 29.5.2023; vgl. Politico 29.5.2023, taz 10.4.2023).
Das Parlament
Der Rechtsrahmen bietet nicht in vollem Umfang eine solide Rechtsgrundlage für die Durchführung demokratischer Wahlen. Die noch unter dem Kriegsrecht verabschiedete Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht in ausreichendem Maße, da sie sich auf Verbote zum Schutz des Staates konzentriert und Rechtsvorschriften zulässt, die weitere unzulässige Einschränkungen mit sich bringen. Die Mitglieder des 600 Sitze zählenden Parlaments werden für eine fünfjährige Amtszeit [zuvor vier Jahre] nach einem Verhältniswahlsystem in 87 Mehrpersonenwahlkreisen gewählt. Vor der Wahl sind Koalitionen erlaubt, aber die Parteien, die in einer Koalition kandidieren, müssen individuelle Listen einreichen. Im Einklang mit einer langjährigen Empfehlung der OSZE und der Venedig-Kommission des Europarats wurde mit den Gesetzesänderungen von 2022 die Hürde für Parteien und Koalitionen, um in das Parlament einzuziehen, von 10 % auf 7 % gesenkt (OSCE/ODIHR 15.5.2023 S. 6f.).
Bei den gleichzeitig mit der ersten Runde der Präsidentschaftswahl stattgefundenen Parlamentswahlen erhielt die "Volksallianz" unter Führung der AKP mit 49 % der Stimmen eine absolute Mehrheit der 600 Parlamentssitze. - Die AKP gewann hierbei 268 (35,6 %), die ultranationalistische MHP 50 (10,1 %) und die islamistische Neue Wohlfahrtspartei - Yeniden Refah Partisi (YRP) fünf Sitze (2,8 %). Das Oppositionsbündnis "Allianz der Nation" unter der Führung der säkularen, sozialdemokratisch ausgerichteten CHP erlangte 35 %, wobei die CHP 169 (25,3 %) und die nationalistische İYİ-Partei 43 Sitze (9,7 %) errang. Aus dem Bündnis mehrerer Linksparteien unter dem Namen "Arbeit und Freiheitsallianz" schafften die Links-Grüne Partei - Yeşil Sol Parti (YSP) mit künftig 61 (8,8 %) und die "Arbeiterpartei der Türkei" -Türkiye İşçi Partisi (TİP) mit vier Abgeordneten den Sprung ins Parlament (TRT 2023; vgl. BBC 22.5.2023).
Duvar 18.5.2023
In der neu gewählten Nationalversammlung sitzen zusätzlich Vertreter und Vertreterinnen mehrer Kleinparteien, welche auf den Listen der AKP, der CHP und er YSP standen. So entfallen [Stand: Mai 2023] von den 268 Sitzen der AKP vier auf die kurdisch-islamistische Partei der Freien Sache, Hür Dava Partisi - HÜDA-PAR und ein Sitz auf die Demokratische Linkspartei, Demokratik Sol Parti - DSP. Von den 149 Mandaten der CHP gehören 14 der Partei für Demokratie und Fortschritt, Demokrasi ve Atılım Partisi - DEVA [des ehemaligen Wirtschaftsministers Ali Babacan], zehn der Zukunftspartei, Gelecek Partisi - GP [des ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu] und weitere zehn der islamisch-konservativen Partei der Glückseligkeit, Saadet Partisi -SP und drei der Demokratischen Partei, Demokrat Parti - DP. Über die CHP-Liste bekam die ansonsten eigenständig kandidierende İYİ-Partei zu ihren 43 Sitzen noch einen Sitz dazu. Über die Listen der Links-Grünen Partei erhielten die Partei der Arbeit, Emek Partisi - EMEP zwei sowie die Partei der Sozialen Freiheit, Toplumsal Özgürlük Partisi - TÖP eines der YSP-Mandate [Anm.: Die Zahl der YSP von 63 in der Grafik entspricht nicht jener des amtlichen Wahlresultats von 61 Mandataren] (Duvar 18.5.2023, vgl. BIRN 19.5.2023), was mit den übrigen 58 YSP die offiziellen 61 Parlamentarier ergibt (BIRN 19.5.2023).
Einen Monat vor der Wahl zog die HDP ihre Kandidatur als Partei aufgrund des seit 2021 laufenden Verbotsverfahrens gegen sie zurück und stellte ihre Kandidaten auf die Liste der mit ihr verbündeten Kleinpartei YSP zu den Wahlen (taz 10.4.2023; vgl. AJ 11.5.2023).
Die Parlamentswahlen fanden inmitten einer erheblichen Polarisierung und eines intensiven Wettbewerbs zwischen den Regierungs- und den Oppositionsparteien statt, die unterschiedliche politische Programme zur Gestaltung der Zukunft des Landes vertraten. Während des Wahlkampfs wurden die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit im Allgemeinen respektiert, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen. Vertreter der YSP sahen sich durchgängig Druck und Einschüchterungen ausgesetzt, die sich gegen ihre Wahlkampfveranstaltungen und Unterstützer richteten und zu systematischen Festnahmen führten. So leitete der Generalstaatsanwalt von Diyarbakır am 10.4.2023 eine Untersuchung aller Reden ein, die auf einer YSP-Wahlveranstaltung gehalten wurden, um festzustellen, ob irgendwelche Reden "terroristische Propaganda" enthielten. Darüber hinaus wurden einige weitere Fälle von Eingriffen in das Recht auf freie Meinungsäußerung beobachtet, die sich gegen Oppositionsparteien, Kandidaten und Unterstützer richteten (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 1, 13).
Die Demokratische Partei der Völker - HDP, die aufgrund des laufenden Verbotsverfahrens vor dem Verfassungsgericht von der Schließung bedroht war, nahm an den Parlamentswahlen vom 14.5.2023 unter den Listen der Links-Grünen Partei - YSP teil. Am 27.8.2023 stellte die HDP auf ihrem vierten außerordentlichen Kongress ihre Aktivitäten ein und beschloss, den politischen Kampf unter dem Dach der YSP fortzusetzen. Die YSP wiederum hielt ihren vierten großen Kongress am 15.10.2023 ab und änderte ihren Namen in Partei für Gleichheit und Demokratie der Völker - Halkların Eşitlik ve Demokrasi Partisi - HEDEP (Bianet 16.10.2023; vgl. FES 7.12.2023, S. 6). Der Kassationsgerichtshof entschied, die Abkürzung HEDEP nicht zuzulassen, weil sie eine zu große Ähnlichkeit mit der verbotenen Vorgängerpartei HADEP aufwies (FES 7.12.2023; vgl. Bianet 24.11.2023). Am 11.12.2023 änderte HEDEP ihre Abkürzung in DEM-Partei, nachdem der Kassationsgerichtshof eine Änderung aufgrund der Ähnlichkeit mit der geschlossenen Partei für Volksdemokratie (HADEP) gefordert hatte. Der vollständige neue Name der Partei wurde nicht geändert. Das Wort "Demokratie" im Parteinamen wurde verwendet, um die Abkürzung zu bilden (Duvar 11.12.2023; vgl. TM 11.12.2023).
Kommunalwahlen
Am 31.3.2024 haben in der Türkei Kommunalwahlen stattgefunden. Diese waren insofern von Bedeutung, da 20 % aller Beschäftigten der Türkei allein in Istanbul leben und dort mehr als die Hälfte der landesweiten Exporte und Importe abgefertigt werden. Außerdem stehen Istanbul und die Hauptstadt Ankara gemeinsam mit den Städten Izmir, Adana, Muğla und Antalya für fast die Hälfte der Wirtschaftsleistung des Landes (DW 1.4.2024). - Erstmals seit ihrer Gründung 2001 wurde die islamisch-konservative Partei AKP von Präsident Erdoğan mit 35,5 % nur zweitstärkste Kraft. Die oppositionelle CHP kam landesweit auf 37,7 %. Sie gewann in 21 Städten und 14 Großstädten unter anderem in Istanbul, Ankara, Izmir, Bursa, Adana und Antalya. Sie übernahm auch einige ehemalige AKP-Hochburgen in Anatolien. Im Südosten der Türkei gewann die pro-kurdisch DEM-Partei, Nachfolgerin der HDP, zehn Provinzen (BPB 22.5.2024; vgl. DW 1.4.2024, Jacobin 23.4.2024). Die CHP wurde zum ersten Mal seit 1977 wieder die führende Partei im Land. Sie baute ihre Regierungskontrolle von 22 auf 35 Provinzen aus. In den kurdischen Gebieten war die Niederlage der AKP noch deutlicher. Sie verlor beispielsweise Muş und Ağri an die DEM-Partei (Jacobin 23.4.2024). Die Wahl hat außerdem gezeigt, dass mit der Neuen Wohlfahrtspartei (Yeniden Refah Partisi - YRP) von Fatih Erbakan eine islamisch-konservative Partei entstanden ist, die für die AKP-Basis eine Alternative darstellt (FES 11.7.2024, S. 4). Die YRP wurde in der Provinz Şanliurfa stärkste Partei (Jacobin 23.4.2024). Laut Experten war die angespannte wirtschaftliche Lage entscheidend für das schlechte Abschneiden der AKP. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 konnten Erdoğan die AKP noch viele Wahlgeschenke an die Pensionisten und die Wirtschaft machen. Dieses Mal war dies angesichts der leeren Staatskassen nicht mehr möglich (DW 1.4.2024).
Eingriffe in die lokale Demokratie
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das es ihr erlaubt, "Treuhänder" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten zu ernennen, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden. Dieses Dekret wurde erneut nach den Wahlen 2024 und bis ins Jahr 2025 angewendet (DFAT 16.5.2025, S. 23).
Was die kommunale Selbstverwaltung betrifft, so hielt die Regierung den Druck auf oppositionelle Bürgermeister aufrecht, auch mit administrativen und gerichtlichen Mitteln. Die Praxis der Absetzung von Bürgermeistern und deren Ersetzung durch Treuhänder gibt nach wie vor Anlass zu ernster Besorgnis, da sie laut Europäischer Kommission die lokale Demokratie untergräbt und den Wählern ihre bevorzugte Vertretung vorenthält (EC 30.10.2024, S. 19).
II.1.6.2. Sicherheitslage
Aktuelle Situation angesichts der formalen Auflösung der PKK
Die offizielle Auflösung der PKK am 12.5.2025 ist ein wichtiger Schritt zur Beendigung des bewaffneten Konflikts. Die Waffenruhe, die im Zuge der Auflösung ausgerufen wurde, hat das Potenzial, die Sicherheitslage in der Türkei zu entspannen. Es bleibt jedoch ungewiss, ob alle PKK-nahen Gruppierungen die Entscheidung zur Auflösung mittragen, oder es dennoch zu gewaltsamen Zwischenfällen kommt. Die Erklärung vom 12.5.2025 betrifft zunächst nur die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) sowie ihre militärischen Verbände. Die Schwesterparteien im Irak, Syrien und Iran sind hingegen nicht aufgelöst worden [Stand: Anfang Juli 2025] (FES 16.6.2025; vgl. DlF 13.5.2025).
Die Auflösung wird laut Quellen weitreichende politische und sicherheitspolitische Folgen für die Region haben, darunter auch für den benachbarten Irak und Syrien. Laut Quellen, die mit den Verhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung vertraut sind, gibt es noch einige ungelöste Fragen (Majalla 11.5.2025). - Die kurdische Region in Syrien (Rojava) bleibt beispielsweise ein zentraler Streitpunkt zwischen der türkischen Regierung einerseits und der PKK sowie der syrisch-kurdischen PYD (Partei der Demokratischen Union - Partiya Yekîtiya Demokrat) andererseits, denn die türkische Regierung hat die PYD, YPG (Volksverteidigungseinheiten - Yekîneyên Parastina Gel) und die SDF (Demokratischen Kräfte Syriens) stets als Ableger der PKK betrachtet. Die PKK wiederum sieht in Rojava ihr ideologisches und strategisches Projekt (BPB 16.6.2025). Offen bleiben [Stand: Anfang Juli 2025] das Wann und Wo sowie die Aufsicht der Übergabe der Waffen, die mögliche Rückkehr der PKK-Kämpfer und die Zukunft der Führungskader. So soll der türkische Geheimdienst MİT laut Berichten diese Waffenübergabe an Orten in der Türkei, aber auch in Syrien und dem Irak überwachen. PKK-Kämpfer, die sich keines Verbrechens schuldig gemacht haben, soll die Rückkehr ohne Strafverfolgung ermöglicht werden, während Führungspersönlichkeiten in Drittländern Exil eröffnet werden soll (TM 15.5.2025). Die PKK ist hauptsächlich im Nordirak ansässig, weshalb die Beteiligung sowohl der Zentralregierung in Bagdad als auch der Regionalregierung Kurdistans (KRG) in Erbil für den Erfolg der Bemühungen um Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung unerlässlich ist. Sowohl die KRG-Behörden als auch Bagdad haben angeboten, die nächsten Schritte zu unterstützen. Sie könnten bestimmte Aufgaben bei der Einsammlung und Vernichtung von Waffen, der Überprüfung der Einhaltung der Vereinbarungen sowie der Umsiedlung und Wiedereingliederung der Mitglieder in das zivile Leben übernehmen (ICG 16.5.2025).
Akteure der Sicherheitsbedrohung
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Gülen-Bewegung, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete [Anm.: nun aufgelöste] PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten) in Syrien, durch den Islamischen Staat (IS) (AA 20.5.2024, S. 4; vgl. USDOS 12.12.2024, Crisis 24 25.8.2023, EC 30.10.2024, S. 38) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, S. 16; vgl. USDOS 12.12.2024, Crisis 24 25.8.2023, EC 30.10.2024, S. 38).
Höhepunkt der Terroranschläge und bewaffneter Aufstände 2015-2017
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren mutmaßlichen Ableger, den TAK (Freiheitsfalken Kurdistans - Teyrêbazên Azadîya Kurdistan), den IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi- Cephesi – DHKP-C) (SZ 29.6.2016; vgl. AJ 12.12.2016). Seit dem Zusammenbruch des Waffenstillstands zwischen der türkischen Regierung und der PKK im Juli 2015 haben die türkischen Streitkräfte in mehreren Provinzen im Südosten des Landes Sicherheitsoperationen durchgeführt. An diesen Operationen waren Infanterie-, Artillerie- und Panzereinheiten sowie die türkische Luftwaffe beteiligt (DFAT 16.5.2025, S. 10; vgl. BICC 2.2025, S. 32f.).
Hierdurch wiederum verschlechterte sich die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, vor allem für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten der Türkei. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 2.2025, S. 323). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, S. 28). Im Frühjahr 2016 zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, S. 11, Pt. 27). Das türkische Verfassungsgericht hat allerdings eine Klage im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen zurückgewiesen, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak getötet wurden. Das oberste Gericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei (Duvar 8.7.2022b). Vielmehr sei laut Verfassungsgericht die von der Polizei angewandte tödliche Gewalt notwendig gewesen, um die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten (TM 4.11.2022). Zum Menschenrecht "Recht auf Leben" siehe auch das Kapitel: Allgemeine Menschenrechtslage und zum Thema Binnenflüchtlinge das Unterkapitel: Flüchtlinge / Binnenflüchtlinge (IDPs).
Entwicklungen bis zur Auflösung der PKK
Zwischen 2016 und 2023 stieg die Gewaltrate allmählich im gesamten Nordirak sowie in Nordsyrien an, wo sich die Eskalation zwischen den türkischen Sicherheitskräften, den Volksverteidigungseinheiten - YPG (die syrische Schwesterorganisation der PKK) verschärfte. Die Eskalation innerhalb der Türkei hingegen ging in diesem Zeitraum deutlich zurück (ICG 8.1.2024). Die Zusammenstöße in der Türkei dauerten auch in den Jahren 2023 und 2024 an, wenn auch mit geringerem Tempo als in den Vorjahren (DFAT 16.5.2025, S. 10f.). Die anhaltenden Bemühungen im Kampf gegen den Terrorismus haben die terroristischen Aktivitäten verringert und die Sicherheitslage verbessert (EC 30.10.2024, S. 58).
Die Maßnahmen der Sicherheitskräfte gegen die PKK betrafen in unverhältnismäßiger Weise kurdische Gemeinden. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten (USDOS 22.4.2024, S. 24, 42, 68).
Opferbilanz
Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2023 242 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon 173 bewaffnete Kämpfer, 69 Angehörige der Sicherheitskräfte, jedoch keine Zivilisten (İHD/HRA 23.8.2024, S. 2). Das waren deutlich weniger als in der İHD-Zählung von 2022 als 122 Angehörige der Sicherheitskräfte, 276 bewaffnete Militante und neun Zivilisten den Tod fanden (İHD/HRA 27.9.2023a).
Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe am 20.7.2015 bis zum 4.6.2025 7.227 (4.851 PKK-Kämpfer, 1.501 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [1.065], aber auch 304 Polizisten und 132 sogenannte Dorfschützer - 649 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen). Die Zahl der Todesopfer im PKK-Konflikt in der Türkei erreichte im Winter 2015-2016 ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit konzentrierte sich der Konflikt auf eine Reihe mehrheitlich kurdischer Stadtteile im Südosten der Türkei. In diesen Bezirken hatten PKK-nahe Jugendmilizen Barrikaden und Schützengräben errichtet, um die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben die Kontrolle über diese städtischen Zentren im Juni 2016 wiedererlangt. Seitdem ist die Zahl der Todesopfer allmählich zurückgegangen. - Seit der formalen Auflösung der PKK haben sich die Zusammenstöße deutlich reduziert. - Während im Jänner noch 16 und im Februar noch zwölf Tote verzeichnet wurden, sanken die monatlichen Opferzahlen seit März 2025 in den einstelligen Bereich [siehe Grafik] (ICG 5.6.2025).
Die Türkei setzte ihr Vorgehen gegen die PKK trotz der von der Gruppe erklärten Waffenruhe fort. So wurden im Irak und in Syrien laut offizieller Verlautbarung des Verteidigungsministeriums im März 2025 insgesamt 26 "Terroristen" neutralisiert (AP 6.3.2025; vgl. ORF 13.3.2025). Ende Mai wurden im Nord-Irak zwei PKK getötet (ICG 6.2025).
ICG 5.6.2025
Das türkische Parlament stimmte im Oktober 2023 einem Memorandum des Präsidenten zu, das den Einsatz der türkischen Armee im Irak und in Syrien um weitere zwei Jahre verlängert. Das Memorandum, das die "zunehmenden Risiken und Bedrohungen für die nationale Sicherheit aufgrund der anhaltenden Konflikte und separatistischen Bewegungen in der Region" hervorhebt, wurde mit 357 Ja-Stimmen und 164 Nein-Stimmen angenommen. Die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), und die pro-kurdische Partei für Gleichberechtigung und Demokratie (HEDEP), inzwischen in Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM-Partei) umbenannt, waren unter den Gegnern des Memorandums und wiederholten damit ihre ablehnende Haltung von vor zwei Jahren (HDN 18.10.2023; vgl. AlMon 17.10.2023). Im Rahmen des Mandats, das erstmals 2014 in Kraft trat und mehrfach verlängert wurde, führte die Türkei mehrere Bodenangriffe in Syrien und im Irak durch (AlMon 17.10.2023).
II.1.6.2.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung
Divergierende Einschätzungen der Gülen-Bewegung
Die Gülen-Bewegung ist eine religiöse Bewegung, die in den 1960er Jahren in der Türkei auf der Grundlage der Predigten des muslimischen Geistlichen Fethullah Gülen entstand, einem ehemaligen radikalen islamistischen Prediger, der im Oktober 2024 im Exil in den Vereinigten Staaten verstarb. Die Bewegung, auch bekannt als Cemaat ("Gemeinschaft") oder Hizmet ("Dienst"), entwickelte sich zu einer zivilgesellschaftlichen Bewegung, an der religiöse, bildungsbezogene und soziale Organisationen beteiligt sind. Ihre Gegner, darunter auch ehemalige Anhänger, äußern Bedenken hinsichtlich des sektenähnlichen, geheimnisvollen und undemokratischen Charakters der Bewegung (DFAT 16.5.2025, S. 20). Fethullah Gülen war das charismatische Zentrum des weltweit aktiven Netzwerks (Dohrn/BPB 27.2.2017), mit Unterstützern in 140 Ländern (DFAT 16.5.2025, S. 20). Während Gülen von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet wurde, der einen toleranten Islam förderte, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhob (BBC 21.7.2016) und als leidenschaftlicher Befürworter des interreligiösen und interkulturellen Austauschs dargestellt wurde, beschrieben Kritiker Gülen als islamistischen Ideologen, der über ein strikt organisiertes Wirtschafts- und Medienimperium regierte und dessen Bewegung den Sturz der säkularen Ordnung der Türkei anstrebte (Dohrn/BPB 27.2.2017).
Stärke und Präsenz der Gülen-Bewegung
Die Gülen-Bewegung ist keine fest umrissene Organisation. Man kann bzw. konnte nicht offiziell Mitglied werden. Vor ihrem Verbot bildete die Bewegung eine lose Ansammlung von religiösen, erzieherischen und sozialen Einrichtungen. Die diffuse Organisationsform der Bewegung macht es schwierig, ihre genaue Größe zu bestimmen. Um 2010 schätzte man, dass zwischen acht und zehn Millionen Menschen in der Türkei auf die eine oder andere Weise in die Gülen-Bewegung involviert waren (MBZ 2.2025a, S. 45). Auch weil die Gülenisten in der Türkei zu einer verdeckten Existenz bestimmt waren, war es unmöglich, die aktuelle Größe dieser Bewegung im Land zu ermitteln (MBZ 31.8.2023, S. 41). Die Expertenschätzungen hinsichtlich der Mitgliederanzahl variieren stark. - So z. B. nennt das Carnegie Endowment for International 2013 eine Zahl von drei Millionen Sympathisanten (CEIP 24.10.2013), während die Expertin Caroline Tee die Zahl der treuen Anhänger vor 2016 auf eine halbe bis zwei Millionen schätzt (MBZ 2.2025a, S. 45).
Obwohl die Bewegung nicht offen in der Parlamentspolitik engagiert war, war sie äußerst einflussreich. Neben Schulen, Studienzentren und religiösen Diskussionszentren betrieb sie Unternehmen und Medien, darunter eine Nachrichtenagentur, einen Verlag und mehrere Fernsehsender. Seit Anfang der 1970er Jahre nutzten die Gülenisten ihre Netzwerke, um Anhänger in wichtige Regierungspositionen zu bringen, darunter in die Polizei, die Justiz und die Geheimdienste (DFAT 16.5.2025, S. 20). Die Präsenz von Gülenisten im öffentlichen Dienst umfasste, je nach Bereich, zwischen 1,5 % und 11,3 % aller Beamten. Auffallend war die Präsenz von Gülenisten im Bildungswesen, wo sie etwa 18 % aller privaten Wohnheime und 11 % aller Privatschulen beeinflussten. Unter den höheren Bürokraten scheint (vor dem Putschversuch) der Anteil der Gülenisten in der Justiz 30 % und bei der Polizei 50 % erreicht zu haben (MIT-CIS 18.3.2019).
Historische Kooperation zwischen Gülen-Bewegung und AKP-Regierung
Jahrzehntelang waren Gülen und Präsident Erdogan politisch auf einer Linie, und die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung war kein Verbrechen. Die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung wurde aufgrund der engen Beziehung zwischen Erdoğan und Gülen indirekt von der AKP gefördert (DFAT 16.5.2025, S. 20). Beide hatten bis vor einigen Jahren ähnliche Ziele: die politische Macht des Militärs zurückzudrängen und den frommen Anatoliern zum gesellschaftlichen Aufstieg zu verhelfen (HZ 20.7.2016). Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den säkularen, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel, die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 25.7.2016). Gülen-Anhänger hatten viele Positionen im türkischen Staatsapparat inne, die sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzten, und welche die regierende AKP tolerierte (DW 13.7.2018). Erdoğan nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016). Die Allianz zwischen AKP und Gülen-Bewegung erreichte ihren Höhepunkt während des Verfassungsreferendums vom 12.9.2010, das die Zusammensetzung der Justizorgane veränderte und letztlich die säkularistische Kontrolle über die Justiz brach. Die beiden, AKP und Gülenisten, kooperierten insbesondere bei den Ergenekon- und Sledgehammer-Prozessen, die Hunderte von aktiven und pensionierten Militärs ins Gefängnis brachten, was die Befehlsgewalt des Militärs neu bestimmte (Taş 16.5.2017, S. 4). Manipulierte Beweisstücke, geheime Zeugen und etliches mehr während der Ermittlungen bildeten nicht selten die Basis jener Schauprozesse, die von der türkischen Polizei und der Staatsanwaltschaft seit 2007 vorbereitet wurden (Qantara 30.9.2013). Insbesondere das Gesetz über anonyme Zeugen aus 2008 wurde vor allem von der Gülen-Bewegung genutzt. Die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die Sondergerichte konnten jeden Fall, den sie wollten, in Zusammenarbeit einleiten und die gewünschte Entscheidung herbeiführen. Die AKP hat diese Situation in jeder Hinsicht unterstützt (Mezopotamya 2.8.2022). Die Ermittlungen wurden von einer kleinen Gruppe von Gülen-Anhängern bei der Polizei und in den unteren Rängen der Justiz durchgeführt, medial unterstützt von den Gülen-nahen Medien (Jenkins/CACI-SRSP 15.4.2014; vgl. Cagaptay o.D., S. 31), welche gleichzeitig Regierungschef Erdoğan als einen Demokraten darstellten, der gegen die Eliten und einen ruchlosen "tiefen Staat" kämpft (Cagaptay o.D., S. 31f). Der Gülen-Bewegung war es somit gelungen, einen Staat im Staate zu etablieren, indem sie die Sicherheitskräfte ebenso unterwanderte wie den Justizapparat und die Verwaltung. Der Einfluss der Bewegung innerhalb der Justiz, gedeckt von der regierenden AKP, stellte sicher, dass die Verfehlungen ihrer Anhänger, z. B. Manipulation von Beweisstücken in Verfahren zwecks Verfolgung politischer Gegner, ungesühnt blieben (Qantara 30.9.2013; vgl. Jenkins/CACI-SRSP 15.4.2014). Laut Türkei-Spezialisten, wie Gareth Jenkins, sind die Beweise - einschließlich Geständnissen - dafür, dass eine Komplottgruppe von Gülen-Anhängern hinter Fällen wie Ergenekon, Sledgehammer und dem Spionagering von Izmir steckte, inzwischen so umfassend, dass sie unwiderlegbar sind (Jenkins/CACI-SRSP 15.4.2014).
Schrittweise Kriminalisierung durch den Staat: von der kriminellen Vereinigung zur Terrororganisation
Im Dezember 2013 kam es zum offenen politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, als Gülen-nahe Staatsanwälte und Richter Korruptionsermittlungen gegen die Familie Erdoğans (damals Ministerpräsident) sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen (AA 24.8.2020, S. 4; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 20). Erdoğan beschuldigte daraufhin Gülen und seine Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren, und Untersuchungen zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 25.7.2016). In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (BPB 1.9.2014) und begann schon seit Ende 2013 darüber hinaus, in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen zu suspendieren, zu versetzen, zu entlassen oder anzuklagen. Die Regierung verfolgte ferner unter dem Vorwand der Unterstützung der Gülen-Bewegung Journalisten strafrechtlich und zerschlug Medienkonzerne, Banken sowie andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern und enteignete diese teilweise (AA 24.8.2020, S. 4; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 20).
Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 einen Haftbefehl gegen Fethullah Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Gülen-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014). Die Sicherheitskräfte waren landesweit mit einer Großrazzia gegen Journalisten und angebliche Regierungsgegner bei der Polizei vorgegangen (DW 14.12.2014). Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdoğan, dass die Gülen-Bewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). Mitte Juni 2017 definierte das Kassationsgericht die Gülen-Bewegung als bewaffnete terroristische Organisation. In dieser Entscheidung wurden auch die Kriterien für die Mitgliedschaft in dieser Organisation festgelegt (UKHO 1.2.2018, S. 8; vgl. Sabah 17.6.2017).
Verbindungen zu Einrichtungen der Gülen-Bewegung
In der Vergangenheit umfasste die Gülen-Bewegung in der Türkei verschiedene Einrichtungen wie Schulen, Studentenhäuser, Krankenhäuser sowie kulturelle und karitative Einrichtungen. Die herausragende Qualität und der gute Ruf dieser Institutionen zogen sowohl engagierte Gülenisten als auch solche an, die der Bewegung nicht angehörten. Daher waren in der Vergangenheit Millionen von Menschen in der Türkei auf die eine oder andere Weise mit der Gülen-Bewegung verbunden. Angesichts dieses früheren Umfanges der Gülen-Bewegung war es nicht immer klar, wie die türkischen Behörden entschieden, gegen welche Gülenisten sie vorgehen sollten (MBZ 31.8.2023, S. 42). Folglich ist es durchaus möglich, dass jemand an einer Gülen-Einrichtung studiert, für diese gearbeitet, oder etwa ein Konto bei der Asya Bank (galt als Hausbank der Gülen-Bewegung) gehabt hat, ohne Gülenist im ideologischen Sinne zu sein. Eine solche Person kann dennoch mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden und infolgedessen persönliche Probleme mit den Behörden bekommen. Umgekehrt konnten in einigen Fällen wohlhabende tatsächliche oder angebliche Gülenisten persönliche Probleme mit den Behörden vermeiden, indem sie Beamte bestachen. Diese Praxis ist als FETÖ Borsası (wörtlich "FETÖ-Börse") bekannt. Durch die Zahlung von Bestechungsgeldern oder die Übergabe eines Unternehmens konnte ein (mutmaßlicher) Gülenist erreichen, dass sein erzwungener beruflicher Rücktritt rückgängig gemacht oder er von der Fahndungsliste gestrichen wurde. Zudem gab es Fälle von AKP-Politikern, die Verbindungen zur Gülenbewegung hatten, aber durch ihren politischen Einfluss einer strafrechtlichen Verfolgung entrannen (MBZ 2.3.2022, S. 36, 38).
Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung, hinter dem Putschversuch vom 15.7.2016 zu stecken, bei dem mehr als 250 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien, eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bislang schuldig geblieben (DW 13.7.2018). Fethullah Gülen selbst verurteilte den Putschversuch und leugnete jede Beteiligung (MBZ 2.2025a, S. 45). Die Gülen-Bewegung wird von der Türkei als "Fetullahçı Terör Örgütü – (FETÖ)", "Fetullahistische Terror Organisation", tituliert, meist in Kombination mit der Bezeichnung "Paralel Devlet Yapılanması (PDY)", die "Parallele Staatsstruktur" bedeutet (AA 20.5.2024, S. 4; vgl. UKHO 1.2.2018, S. 6). Die EU stuft die Gülen-Bewegung weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse substanzielle Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017; vgl. Presse 30.11.2017). Auch für die USA ist die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung keine Terrororganisation (TM 2.6.2016).
Ausmaß der Verfolgung
Viele der nach dem Putschversuch von 2016 festgenommenen Personen sollen in Haft gefoltert worden sein. Amnesty International und Human Rights Watch dokumentierten Fälle von Schlägen, Zwangsstellungen, Verweigerung von Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung, Scheinhinrichtungen, sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen. Die Folter wurde in der Regel von Polizisten verübt, häufig während Verhören in informellen Haftanstalten und manchmal unter Aufsicht von Polizeiarztinnen und -ärzten. Zu den Opfern gehörten Richter, Staatsanwälte, Polizisten, Soldaten und andere Beamte. Die Inhaftierten waren auch anderen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, darunter die Verweigerung des Zugangs zu oder der Wahl von Rechtsanwälten und die Inhaftierung über lange Zeiträume ohne Anklage. Im Jahr 2019 gab es glaubwürdige Berichte über das Verschwinden und die Folterung mutmaßlicher Gülen-Anhänger, die ehemalige Mitarbeiter des Außenministeriums waren (DFAT 16.5.2025, S. 21).
Laut Medienberichten zum achten Jahrestag (2024) des Putschversuches im Juli 2016 wurden seither 705.172 Personen, die mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden, gerichtlich belangt. 125.456 Personen wurden verurteilt und 104.448 Personen freigesprochen. Inhaftiert sind 13.251 Gülen-Mitglieder, darunter 10.365 rechtskräftig Verurteilte. Gegen 61.796 Personen laufen noch Ermittlungen. 23.052 befinden sich in Verfahren vor unteren Gerichten. 357.205 Ermittlungen wurden ohne Anklageerhebung abgeschlossen. 1.634 vermeintliche Gülen-Mitglieder wurden in 289 Verfahren im Zusammenhang mit dem Putschversuch zu schweren lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt, weitere 1.366 erhielten lebenslange Haftstrafen und 1.891 verbüßen unterschiedlich lange Gefängnisstrafen (TR-Today 15.7.2024; vgl. TM 10.4.2021). Im Dezember 2023 bestätigte das Kassationsgericht (Oberstes Appellationsgericht) die erschwerte lebenslange Haft in 77 Fällen. Von in Summe 469 Verurteilungen bestätigte das Gericht 430, während 39 freigesprochen wurden (Duvar 19.12.2023; vgl. TM 19.12.2023).
Im Zuge der massiven Verfolgung nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden - die Zahlen variieren - über 540.000 Personen (zeitweise) festgenommen (SCF 5.10.2020). Annähernd 23.900 Armeeangehörige (TR-Today 15.7.2024), darunter 150 der 326 Generäle und Admirale, 4.145 Richter und Staatsanwälte (SCF 5.10.2020), 40.000 Polizeibeamte (TR-Today 15.7.2024) und mehr als 5.000 Akademiker wurden entlassen. Über 160 Medien, mehr als 1.000 Bildungseinrichtungen und fast 2.000 NGOs wurden ohne ordentliches Verfahren geschlossen (SCF 5.10.2020). 150.000 öffentlich Bedienstete, inklusive Wissenschaftler, wurden entlassen (MEI 20.10.2022, S 2; vgl. SCF 5.10.2020). Seit Juli 2016 hat die Regierung etwa 1.000 Unternehmen beschlagnahmt oder Verwalter für diese ernannt, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen werden, zuletzt auch 2025. Seit 2016 (bis 2023) wurden Vermögenswerte im Wert von rund 50 Milliarden US-Dollar von mutmaßlichen Gülen-Anhängern beschlagnahmt (DFAT 16.5.2025, S. 21).
Die türkischen Behörden machten unmittelbar nach dem Tode von Fethulla Gülen am 20.10.2024 klar, dass sie ihren Kampf gegen die Gülen-Bewegung unvermindert fortsetzen würden. Bereits am 21.10.2024 kündigte Außenminister Hakan Fidan an, dass die Regierung in ihrem Kampf gegen die Gülen-Bewegung nicht nachlassen werde (MBZ 2.2025a, S. 45f.). Das Verteidigungsministerium forderte die Gülen-Anhänger auf, sich unverzüglich zu ergeben (Duvar 22.10.2024). Die systematische Strafverfolgung mutmaßlicher Gülen-Anhängeri dauert folglich weiterhin an. Die sogenannten "Säuberungsmaßnahmen" zielen darauf ab, diese Personen aus allen relevanten Institutionen zu entfernen (BAMF 4.11.2024b, S. 4; vgl. TM 3.12.2024). Die Verhaftungen erfolgen in Wellen und können sich über das ganze Land erstrecken. Oft genügen zur Einleitung einer Strafverfolgung schon Informationen von Dritten, dass eine angeführte Person der Gülen-Bewegung angehört oder ihr nahesteht. Betroffen sind auch österreichische Staatsbürger sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 29). Im Juli 2024 nannte Justizminister Yerlikaya die Zahl von 9.738 Personen, welche etwa innerhalb eines Jahres bei 6.025 Einsätzen festgenommen wurden (HDN 15.7.2024; vgl. AnA 17.7.2024), wobei die Gerichte die Inhaftierung von rund 1.500 Personen anordneten und über 1.750 Freigelassene gerichtliche Aufsichtsmaßnahmen verhängten (TM 26.5.2024; vgl. BAMF 29.7.2024, S. 10).
Mitte Oktober 2024 wurden 13 Personen mit Verbindung zur Gülen-Bewegung in Manisa festgenommen, und gleichzeitig gab die Generalstaatsanwaltschaft in der Hauptstadt Ankara bekannt, dass zwölf von 33 Verdächtigen, die im Zusammenhang mit der Unterwanderung der türkischen Land- und Luftstreitkräfte festgenommen worden waren, sich für eine Zusammenarbeit mit den Behörden entschieden und 133 Personen als Mitglieder der Gülen-Bewegung identifizierten (DS 16.10.2024). Innenminister Yerlikaya gab Mitte November bekannt, dass bei Einsätzen in 66 Provinzen 459 Verdächtige festgenommen wurden. Laut Minister seien die Verdächtigen auch an der Propaganda der Gülen-Bewegung [offizielle Diktion der Quelle: "Terrorgruppe"] in den sozialen Medien beteiligt gewesen und hätten über öffentliche Telefone miteinander kommuniziert, eine Methode, die häufig eingesetzt würde, um nicht entdeckt zu werden. Sie nutzten auch ByLock, so der Innenminister (DS 19.11.2024; vgl. SCF 19.11.2024). Im Dezember 2024 gab es mehrere Verhaftungswellen: Am 10. Dezember wurden 24 Verdächtige festgenommen. 21 von ihnen sollen 2012 an der Manipulation öffentlicher Personalauswahlprüfungen beteiligt gewesen sein. Ein weiterer Verdächtiger, angeblich der Buchhalter der Stadt Konya, wurde als Nutzer von ByLock verhaftet, während gegen zwei weitere Verdächtige ermittelt wird, weil sie sich in Gülen-Studentenwohnheimen aufhielten und die ByLock-App verwendeten (DS 10.12.2024). Am 18. Dezember wurden laut Innenminister in neun Provinzen 41 vermeintliche Gülen-Mitglieder als Bestandteil eines angeblich geheimen Netzwerkes in der Armee bzw. den Behörden verhaftet, die überdies laufende Verbindungen zu hochrangigen flüchtigen Gülen-Funktionären gehabt hätten (DS 18.12.2024). Und am 24. Dezember wurden 31 Gülen-Verdächtige in der Provinz Izmir festgenommen (DS 24.12.2024).
Auch 2025 setzten sich die Verhaftungen von vermeintlichen Gülen-Mitgliedern oder -Unterstützern fort. - Am 7. Jänner wurde berichtet, dass 22 von 37 gesuchten Verdächtigen festgenommen wurden. Sie waren vermeintlich Teil eines Firmennetzwerkes, welches die Gülenbewegung finanziert. Sie wurden laut Behördenangaben durch Aussagen ehemaliger Gülen-Mitglieder, die mit den Behörden zusammengearbeitet haben, sowie durch Finanzermittlungen und Untersuchungen digitaler Beweise, die bei früheren Ermittlungen sichergestellt wurden, identifiziert. Die Verdächtigen hätten über Kuriere Bargeld sowohl an Gülen-Mitglieder, die wegen ihrer Verbindungen zur Gruppe inhaftiert sind, als auch an deren Familien übermittelt (DS 7.1.2025; vgl. SCF 10.1.2025, TM 10.1.2025). Bereits am 10. Jänner verkündete der Innenminister die Verhaftung weiterer 63 Personen bei Operationen in 38 Provinzen (SCF 10.1.2025; vgl. TM 10.1.2025), und am 14. Jänner die Festnahme von weiteren 110 Verdächtigen in 23 Provinzen, welche zum akademischen und militärischen Netzwerk der Gülen-Bewegung gehören sollen (DS 14.1.2025; vgl. SCF 14.1.2025). Bereits am 18. Jänner vermeldete das Innenministerium die Festnahme von 47 Verdächtigen in 23 Provinzen im Rahmen der "KISKAÇ-35"-Operationen (TC-İB 18.1.2025) und am 24.1.2025 die Festnahme im Zuge der "KISKAÇ-36"-Operationen von 71 Verdächtigen in 23 Provinzen (TC-İB 24.1.2025; vgl. DS 24.1.2025, SCF 24.1.2025). Am 21.2.2025 verhaftete die Polizei insgesamt 353 Personen, darunter auch zehn Beamte, die verdächtigt werden, der Gülen-Bewegung anzugehören. Die Verdächtigen wurden bei Razzien in 31 Städten festgenommen. Ihnen wird laut Innenminister vorgeworfen, eine Döner-Kebab-Restaurantkette benutzt zu haben, um Geld für die Gülenbewegung zu sammeln (DS 21.2.2025; vgl. SCF 21.2.2025, C8 22.2.2025). Bei Operationen zwischen dem 19. und 27. März in 27 Provinzen wurden 73 Personen festgenommen. Hiervon wurden 48 inhaftiert, 16 unter richterlicher Aufsicht freigelassen und gegen den Rest wurde weiter ermittelt. Innenminister Yerlikaya sagte, die Festgenommenen stünden im Verdacht, über Münztelefone Kontakt zu halten, die verschlüsselte Nachrichten-App ByLock zu benutzen und Inhalte der Gülen-Bewegung in sozialen Medien zu verbreiten. Einige Personen wurden auch beschuldigt, Teil der angeblichen "militärischen und aktuellen Strukturen" der Gülen-Bewegung zu sein oder sie finanziell zu unterstützen (TM 4.4.2025; vgl. TC-İB 4.4.2025). Am 5. Mai verkündete die Polizei von Ankara die Verhaftung von 33 vermeintlichen Gülenisten, wovon 20 in öffentlichen Einrichtungen arbeiteten. Die Verdächtigen sollen für die Rekrutierung neuer Mitglieder und die Überprüfung deren Loyalität zuständig gewesen sein (DS 5.5.2025; vgl. Hürriyet 5.5.2025). In der ersten Mai-Hälfte wurden in weiteren Operationen in 47 Provinzen, vor allem in Gaziantep, 225 Verdächtige festgenommen. Am 10.5.2025 wurden vier weitere vermeintliche Gülen-Mitglieder verhaftet, wobei die Behörden behaupteten, dass es sich um eine Gruppe handle, die Reisen von jungen Türken in Länder des Balkans (Albanien, Nordmazedonien, Bosnien und Montenegro) organisiere, wo diese in Kursen indoktriniert und rekrutiert würden (DS 11.5.2025; vgl. TR-Today 11.5.2025, TC-İB 6.5.2025). Bereits am 16.5.2025 gab das Innenministerium die Verhaftung weiterer 101 Personen bei Razzien in 27 Provinzen bekannt. Den Inhaftierten wurde vorgeworfen, über Münztelefone Kontakt zu Mitgliedern der Bewegung aufgenommen, die Bewegung finanziell unterstützt und Propaganda in sozialen Medien verbreitet zu haben (TC-İB 16.5.2025; vgl. SCF 16.5.2025). Und am 23.05.2025 wurden zeitgleich in 36 Provinzen Razzien gegen mutmaßliche Angehörige der Gülen-Bewegung durchgeführt, wobei 56 Militärangehörige in Untersuchungshaft genommen wurden (BAMF 26.5.2025, S. 9; vgl. DS 23.5.2025). Und Mitte Juni wurd innerhalb von zwei Tage 56 Personen festgenommen, wobei der Fokus auf die Zerschlagung der laut Behördenangaben geheimen Infrastruktur der Bewegung, ihrer Rekrutierungsbemühungen unter Jugendlichen und ihrer Fluchthelferringe, die illegale Grenzübertritte ermöglichten, gelegt wurde (SCF 17.6.2025). In der zweiten Junihälfte erfolgte eine größere Verhaftungswelle, bei der fast 250 Personen in über 40 Provinzen festgenommen wurden, darunter 163 aktive Militärangehörige inklusive mehreren Offizieren sowie 21 aktive und ehemalige Polizisten (SCF 24.6.2025; vgl. BIRN 24.6.2025, TM 24.6.2025).
Gefahren für Rechtsvertreter
Anwälte von angeblichen Gülen-Mitgliedern laufen Gefahr, selbst in den Verdacht zu geraten, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben (MBZ 18.3.2021, S. 40f.). Im September 2020 wurden 47 Rechtsanwälte festgenommen, weil diese angeblich durch ihre Rechtsberatung Gülen-Mitglieder unterstützt hätten (AlMon 16.9.2020; vgl. ICJ 14.9.2020). Siehe auch Kapitel: Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen.
Verfolgung von Nicht-Gülen-Mitgliedern als Gülenisten
Mitunter werden "Nicht-Gülenisten" als Gülen-Mitglieder oder -Anhänger gebrandmarkt und von den Behörden als solche behandelt. In diesem Fall könnten beispielsweise Oppositionelle, Gewerkschaftsaktivisten, Journalisten und Akademiker, die sich kritisch über Regierung äußern, in Betracht kommen (MBZ 2.2025a, S. 50). Beispielsweise wurde die Anwältin Dilek Ekmekçi strafrechtlich verfolgt und wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung in Untersuchungshaft genommen. Sie hatte sich u. a. kritisch über den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen in staatlichen Einrichtungen geäußert (MBZ 2.2025a, S. 50; vgl. MLSA 24.10.2024, Agos 31.1.2025). Ende Jänner 2025 entschied das Gericht die Freilassung von Ekmekçi nach 152 Tagen Haft. Sie wurde jedoch wegen "wissentlicher und vorsätzlicher Unterstützung einer illegalen Organisation" zu einem Jahr und 13 Monaten verurteilt und mit einer Ausreisesperre belegt (MLSA 31.1.2025; vgl. Agos 31.1.2025).
Kriterien für die Verfolgung durch die Justiz
Menschenrechtsbeobachter haben ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck gebracht, dass die türkische Regierung keine klaren Kriterien veröffentlicht hat, anhand derer Personen mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden können (DFAT 16.5.2025, S. 20; vgl. AA 20.5.2024). - Bereits am 3.9.2016 veröffentlichte die Tageszeitung Milliyet eine nicht erschöpfende "Liste von sechzehn Kriterien", die als Richtschnur für die Entlassung aus staatlichen Funktionen und für die Strafverfolgung dient. Personen, welche die angeführten Kriterien in unterschiedlichem Maße erfüllen, werden offiziellen Verfahren unterzogen und als "Terroristen" bezeichnet - gefolgt von ihrer Festnahme oder Inhaftierung. Nach Angaben der Regierung war das Ziel der Erstellung einer solchen Liste, "die Schuldigen von den Unschuldigen zu unterscheiden" (JWF 1.1.2019, S. 10). In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher Gülenist einzuleiten: Das Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App "ByLock"; Geldeinlagen bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013 (bis zu deren Schließung 2016) oder anderen Finanzinstituten der sogenannten "parallelen Struktur"; Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman; Spenden an Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen (AA 20.5.2024, S. 6f.; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 38, JWF 1.1.2019, S. 11, Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021, S. 10f.), wie der einst größten Hilfsorganisation des Landes "Kimse Yok Mu" (JWF 1.1.2019, S. 11); der Besuch der eigenen Kinder von Schulen, die der Gülen-Bewegung zugeordnet werden; Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen, inklusive Beschäftigungsverhältnisse und die Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung (AA 20.5.2024, S. 7; vgl. JWF 1.1.2019, S. 11, Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021, S. 10f.). Weitere Kriterien sind u. a.: die Unterstützung der Gülen-Bewegung in Sozialen Medien, der mehrmalige Besuch von Internetseiten der Gülen-Bewegung und die Nennung durch glaubwürdige Zeugenaussagen, Geständnisse Dritter oder schlicht infolge von Denunziationen (JWF 1.1.2019, S. 11; vgl. Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021, S. 10f.). Eine Verurteilung setzt in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus, wobei der Kassationsgerichtshof präzisiert hat, dass für die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation ein gewisser Bindungsgrad der Person an die Organisation nachgewiesen werden muss (AA 20.5.2024, S. 7). Der Kassationsgerichtshof entschied im Mai 2019, dass weder das Zeitungsabonnement eines Angeklagten (SCF 6.8.2019) noch die Einschreibung seines Kindes in einer Gülen-Schule für eine Verurteilung ausreicht (AA 20.5.2024, S. 7; vgl. SCF 6.8.2019).
Laut Eigenangaben differenzieren die türkischen Behörden unterschiedliche Schweregrade der Beteiligung an der Gülen-Bewegung. Im März 2020 erklärte die 16. Strafkammer des Verfassungsgerichts, zuständig für Berufungen in allen Gülen-Fällen, dass es sieben Stufen der Beteiligung gäbe: Die erste Ebene besteht aus den Menschen, welche die Gülen-Bewegung aus guter Absicht (finanziell) unterstützten. Die zweite Schicht besteht aus einer loyalen Gruppe von Menschen, die in Gülen-Organisationen arbeiteten und mit der Ideologie der Gülen-Bewegung vertraut war. Die dritte Gruppe besteht aus Ideologen, die sich die Gülen-Ideologie zu eigen machten und in ihrem Umfeld verbreiteten. Die vierte Gruppe waren Inspektoren, die die verschiedenen Formen von Dienstleistungen der Gülen-Bewegung überwachten. Die fünfte Gruppe setzte sich aus Beamten zusammen, die für die Erstellung und Umsetzung der Politik der Gülen-Bewegung verantwortlich war. Die sechste Gruppe bildet den elitären Kreis, der den Kontakt zwischen den verschiedenen Segmenten der Organisation aufrechterhielt bzw. dies immer noch tut, aber auch Personen aus ihren Positionen entlassen konnte. Die siebte Gruppe besteht aus siebzehn Personen, die direkt von Fethullah Gülen ausgewählt wurden und an der Spitze der Gülen-Bewegung stehen (MBZ 18.3.2021, S. 38f.). Während praktisch jeder mit einem Gülen-Hintergrund strafrechtlich belangt werden kann, stehen mutmaßliche Gülenisten im Sicherheitsapparat, wie Militärs und Gendarme, besonders im Visier. Auch Personen, die Führungspositionen in Gülen-Institutionen wie den Gülen-Schulen, der Fatih-Universität in Istanbul und der Tageszeitung Zaman innehatten, fallen den Behörden eher negativ auf (MBZ 2.3.2022, S. 38).
Die Entscheidung der türkischen Behörden, vermeintliche Gülen-Mitglieder strafrechtlich zu verfolgen, oder nicht, scheint sehr willkürlich zu sein (MBZ 2.3.2022, S. 39). Moderate Richter tendieren zwischen "passiven" und "aktiven" Gülen-Mitgliedern zu unterschieden, während Hardliner keine Unterscheidung hinsichtlich der Kriterien einer vermeintlichen Unterstützung oder Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung machen. Infolgedessen ist der Ausgang der Strafverfahren, insbesondere hinsichtlich des Strafausmaßes, willkürlich (MBZ 18.3.2021, S. 41). Zu dieser Unberechenbarkeit trägt u. a. der Umstand bei, dass die Behörden weder objektive Kriterien verwenden, noch sie diese konsequent anwenden (MBZ 2.3.2022, S. 39). Selbst Personen, die keine Gülenisten waren, wie Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und linke Gewerkschaftsmitglieder, wurden beschuldigt, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben (MBZ 31.8.2023, S. 43).
Anlässlich des Todes von Fethullah Gülen am 20.10.2024 wurden Personen, die öffentlich ihr Beileid zum Ausdruck brachten strafrechtlich wegen Terrorismusunterstützung verfolgt. So wurde der Chefredakteur der Zeitung Yeni Asya, Kazım Güleçyüz, wegen einer diesbezüglichen Beileidsbekundung auf der Plattform "X" mit den Worten: "Allah habe ihn selig" festgenommen (DTJ 28.10.2024; vgl. NaT 24.10.2024). Die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft ordnete die Verhaftung von insgesamt 15 Verdächtigen an, von denen tatsächlich vier festgenommen wurden, weil sie Gülen in sozialen Medien nach seinem angeblichen Tod gelobt hatten (NaT 24.10.2024).
Die Verwandten von hochrangigen Gülenisten sind besonders gefährdet, die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu ziehen (MBZ 2.2025a, S. 52). So wurde nebst Selahaddin Gülen, ein Neffe Fetullah Gülens, der bereits 2021 vom Nationale Nachrichtendienst MİT von Kenia in die Türkei verbracht wurde, auch Asiye Gülen, eine Nichte Fetullah Gülens, und deren Ehemann im Juni 2023 in Istanbul festgenommen (MBZ 31.8.2023, S. 45). Und Mitte Juli 2023 verhafteten die Istanbuler Polizei und der Geheimdienst MİT Selman Gülen, einen weiteren behördlich gesuchten Neffen Fetullah Gülens, die Frau des Ersteren, Nur Gülen, sowie deren Eltern (DS 14.7.2023). Generell sind Familienangehörige mutmaßlicher Gülen-Anhänger betroffen gewesen, unter anderem durch Reiseverbote und/oder Passbeschlagnahmungen, das Einfrieren von Vermögenswerten und die Entlassung aus dem öffentlichen Dienst (DFAT 16.5.2025, S. 21). Es gab jedoch auch mehrere Fälle von Familien, die einen Gülen-Unterstützer in ihren Reihen hatten, ohne dass die Angehörigen Probleme mit den türkischen Behörden hatten (MBZ 2.3.2022, S. 41).
Die Strafverfolgungsbehörden wenden zur Identifizierung vermeintlicher Gülen-Mitglieder eine Überwachungs-Software an, die anhand von 78 Haupt- und 253 Sekundärkriterien Verdächtigte ausfindig macht, das sog. "FETÖ-Meter" (TM 5.3.2021). Diese Kriterien sind in vier Kategorien gruppiert, nämlich: jene, die unmittelbar den Kernbereich des Privatlebens der profilierten Person betreffen; diejenigen, die sich auf das Berufsleben (ab der Kadettenzeit) der Person beziehen; diejenigen, die sich auf das soziale Umfeld und die Zugehörigkeit der profilierten Person beziehen; diejenigen, die sich auf die Verwandten der profilierten Person beziehen (Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021). Zu den Kritierien gehören etwa Daten über den Bildungswerdegang, die Verwandtschaft und den Vermögensstand. Verdächtige Merkmale sind beispielsweise der Dienst in einer NATO-Vertretung im Ausland oder ein Doktorat. Bei Militärangehörigen gilt die eigene Hochzeit außerhalb von Gebäuden im Besitz des Militärs als Verdachtsmoment, weil unterstellt wird, dass dies der Verschleierung der Identitäten der Hochzeitsgäste diente (TM 5.3.2021). Das FETÖ-Meter sammelte zu Beginn insbesondere nachrichtendienstliche Daten aus allen Bereichen der Armee sowie aus Ministerien und Behörden, um mögliche, aus der Sicht der Behörden, Infiltratoren aufzuspüren. Die Ermittler untersuchten mit dem Tool u. a. etwa eine Million Handynummern, die auf ehemalige und noch dienende Marineoffiziere registriert waren und fanden angeblich heraus, dass 1.500 von ihnen Nutzer der verschlüsselten Messenger-App "ByLock" waren. Ebenso wurden die Kontoinformationen von Offizieren bei der inzwischen aufgelösten Bank Asya zur Identifizierung verwendet (DS 12.9.2018). Der FETÖ-Meter inspirierte auch andere staatliche Stellen zu einer ähnlichen Politik, wie die Sozialversicherungsanstalt (SGK), die seit vier Jahren mutmaßliche Gülen-Sympathisanten in ihrer Datenbank mit dem "Code 36" kennzeichnet. Die Kennzeichnung ist automatisch für jeden potenziellen Arbeitgeber sichtbar, was zu Befürchtungen bei denjenigen führt, die erwägen, eine dieser Personen einzustellen (TM 5.3.2021; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 21). Die Entlassenen verlieren ihr Einkommen und ihre Sozialleistungen, darunter auch den Zugang zu Krankenversicherung und Pensionsleistungen (DFAT 16.5.2025, S. 21).
Es ist ein soziales Stigma, ein Gülen-Mitglied zu sein, weshalb sich viele Bürger von ihnen distanzieren, und Bekannte innerhalb des sozialen Umfeldes von Gülen-Mitgliedern brechen die Kontakte ab (MBZ 31.8.2023, S. 44f.). Diese Haltung beruht nicht immer auf Hass und Abneigung, sondern ist eine Form des Selbstschutzes, aus Angst strafrechtlich verfolgt zu werden, wenn sie mit Personen der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden (MBZ 2.3.2022, S. 41). Infolgedessen haben vermeintliche oder tatsächliche Gülen-Mitglieder auch ihren Arbeitsplatz verloren oder fanden keine (neue) Anstellung (MBZ 31.8.2023, S. 46). Auch das "FETÖ-Meter" wurde als Instrument, vor allem in der Armee, eingesetzt, um Personen zu entlassen. Zu Entlassungen kam es selbst aufgrund einer Verwandtschaft (Ehepartners, Geschwister) mit einem angeblichen Gülen-Mitglied, das z. B. ein Konto bei der Asya Bank hatte oder ein angeblicher ByLock-Benützer war (Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021, S. 21-26). In der amtlichen Kundmachung vom März 2022 wurde bereits klargestellt, dass alle Personen, die wegen (angeblicher) Verbindungen zum Terrorismus zwangsweise entlassen worden waren, in einer Datenbank der Sozialversicherung, Sosyal Güvenlik Kurumu (SGK), erfasst wurden. Diese Registrierung erschwerte es entlassenen Mitarbeitern, eine neue Stelle zu finden. Wenn sie sich auf eine neue Stelle bewarben, konnten potenzielle Arbeitgeber sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor die Registrierung über ein SGK-Portal einsehen. Sie waren oft nicht geneigt, Personen mit einer solchen Registrierung einzustellen (MBZ 2.2025a, S. 51f.). Es gab in der Vergangenheit Berichte, wonach arbeitslose Gülen-Mitglieder zur Schattenwirtschaft auf der Straße oder zu einem Leben als Selbstversorger im Dorf ihrer Vorfahren verdammt sind (MBZ 18.3.2021, S. 43).
Urteile des EGMR und der türkischen Höchstgerichte
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 23.11.2021 ein Urteil zu 427 türkischen Richtern und Staatsanwälten gefällt, darunter Mitglieder des Kassationsgerichtshofs und des Staatsrates [oberstes Verwaltungsgericht], die wegen des Verdachtes der Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung aus dem Staatsdienst entlassen und festgenommen worden waren. Gemäß EGMR-Urteil war deren Inhaftierung willkürlich und damit rechtswidrig. Die Türkei wurde deshalb zu Schadensersatzzahlungen von 5.000 EUR pro Person verurteilt. Im Verfahren ging es vor allem um die Frage, ob die besagten Vertreter der Justiz überhaupt in Untersuchungshaft genommen werden durften, da das türkische Recht dies für die Mitglieder der Justiz nicht erlaubt, mit Ausnahme bei unmittelbarer Verübung einer Straftat, worauf sich die türkische Regierung berief. Diese Begründung wies der EGMR als abwegig zurück, da die Mitgliedschaft in einer Organisation keine "in flagranti"-Tat sein könne (BAMF 6.12.2021, S. 14). Und Anfang September 2022 entschied der EGMR, dass die Untersuchungshaft von 230 Richtern und Staatsanwälten nach dem gescheiterten Putsch 2016 rechtswidrig war und dass die Türkei jedem Antragsteller 5.000 Euro Schadenersatz zahlen muss. Bei 209 Beschwerdeführern habe die Untersuchungshaft nicht in einem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren stattgefunden, während bei den übrigen 21 Klägern die Verdachtsmomente keine Begründung für die Verhängung einer Untersuchungshaft konstituierten (TM 6.9.2022).
Am 25.6.2024 entschied der EGMR (Duymaz und andere gegen die Türkei), dass für die Untersuchungshaft von 314 Personen nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 gegen Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstieß, da keine Gründe vorlagen, die einen hinreichenden Verdacht begründen konnten, dass die Betroffenen eine Straftat begangen hätten. Der EGMR erklärte auf der Grundlage der Gerichtsdokumente, dass die Mehrheit der Antragsteller als Nutzer der Messaging-App ByLock identifiziert wurde. Einige wurden aufgrund von Zeugenaussagen oder Konten bei der Gülen-nahen Bank Asya verdächtigt, mit der Gülen-Bewegung in Verbindung zu stehen, und einige aufgrund des Besitzes von Gülen-nahen Publikationen und/oder US-Ein-Dollar-Scheinen mit einer "F"-Seriennummer die den Anfangsbuchstaben des Vornamens "Fetullah" bezeichnet, während andere aufgrund ihrer Beschäftigung bei und/oder Mitgliedschaft in Gülen-nahen Einrichtungen und Organisationen verdächtigt wurden. Der EGMR hat jedoch mehrmals klargestellt, dass solche Aktivitäten bzw. Umstände nicht ausreichen, um zu beweisen, dass jemand ein Verbrechen begangen hat. - Das Gericht verurteilte Ankara zudem zur Zahlung von 5.000 Euro Schadenersatz sowie von Kosten und Auslagen (TM 25.6.2024; vgl. ECHR 25.6.2024).
Der EGMR verurteilte am 3.12.2024 in zwei getrennten Sammelurteilen (Kesler und andere vs. die Türkei / Sert und andere vs. die Türkei) erneut wegen der Verhaftung und Untersuchungshaft von insgesamt 379 Personen nach einem gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016 wegen ihrer angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung. Der EGMR sah keine ausreichenden Gründe für ihre Inhaftierung vorliegen. Den Klägern wurde die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen, weil sie die ByLock-Messanger-App nutzten, Konten bei der Bank Asya unterhielten, Gülen-bezogene Publikationen und US-Ein-Dollar-Scheine mit einer Seriennummer "F" (angeblich für "Fethullah") und/oder ihre Beschäftigung bei und/oder Mitgliedschaft in Institutionen und Organisationen, die alle von der türkischen Regierung als mit der Gülen-Bewegung verbunden angesehen werden. Darüber hinaus wurden Zeugenaussagen, die auf Verbindungen zur Bewegung hinweisen, Social-Media-Beiträge, die Teilnahme an oder die Abhaltung religiöser Versammlungen, die Kommunikation mit leitenden Führungskräften der Gülen-Bewegung, die Erleichterung der Kommunikation zwischen Gülen-Mitgliedern, der Aufenthalt in Gülen-nahen Häusern und die Durchführung verschiedener anderer Aktivitäten auf mutmaßlichen Befehl der Bewegung von den türkischen Gerichten auch als strafrechtliche Beweise gegen die Antragsteller verwendet. Das EGMR entschied, dass die Türkei gegen Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstieß, da es in den Fällen aller 379 Kläger keine ausreichenden Gründe für die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft gab. Das EGMR entschied, dass die Türkei 363 der 379 Kläger jeweils 5.000 Euro als Entschädigung für immaterielle Schäden sowie für Kosten und Auslagen zahlen muss. - Mit der jüngsten Entscheidung hat der EGMR festgestellt, dass die Türkei die Rechte von insgesamt 2.732 Personen in 62 verschiedenen Anträgen im Zusammenhang mit den Rechtsverletzungen nach dem Putschversuch verletzt hat. Die Türkei wurde in diesen Fällen zur Zahlung von insgesamt 12.563.538 Euro an immateriellen Schäden und Kosten verurteilt (TM 3.12.2024; vgl. ECHR 3.12.2024a, ECHR 3.12.2024b).
Der EGMR entschied am 11.2.2025, dass die Türkei in drei verschiedenen Fällen das Recht von 120 Richtern und Staatsanwälten auf ein faires Verfahren verletzt hat. Die Urteile – Olcay und andere vs. die Türkei, Benli und andere vs. die Türkei - der Fall Benli betraf sechs Richter und leitende Inspektoren des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte (HSYK) und des Justizministeriums - sowie Tosun und andere vs. die Türkei – betrafen die Amtsenthebungen von Richtern sowohl vor als auch nach dem Putschversuch im Jahr 2016. Den betroffenen Richtern wurde kein Rechtsweg zur Anfechtung ihrer Entlassung ermöglicht, was sie dazu veranlasste, ihren Fall vor den EGMR zu bringen. Der EGMR entschied einstimmig, dass die Richter einen legitimen Anspruch darauf hatten, ihre Entlassung anzufechten, und dass die Verweigerung einer gerichtlichen Überprüfung ihre Grundrechte beeinträchtigte und gegen Artikel 6 § 1 (Recht auf Zugang zu einem Gericht) verstieß. Das Gericht verurteilte die Türkei, jedem Antragsteller 3.000 Euro Schadenersatz zu zahlen (TM 11.2.2025; vgl. Politurco 11.2.2025).
Das Kassationsgericht (i. e. Oberstes Appellationsgericht) sprach am 21.6.2022, sechs Jahre nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei, 71 ehemalige Militärschüler frei, die wegen Beteiligung am Umsturzversuch zu lebenslanger Haft verurteilt worden waren (Spiegel 23.6.2022; vgl. Bianet 22.6.2022).
Im Februar 2024 beschloss der Staatsrat (Verwaltungsgerichtshof), dass 450 Richter und Staatsanwälte, die seinerzeit zwangsweise entlassen worden waren, wieder eingestellt werden sollten. Präsident Erdoğan äußerte öffentlich seinen Unmut darüber und bezeichnete die Entscheidung des obersten Verwaltungsgerichtes als "inakzeptabel". Nach dieser Entscheidung leitete der Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) eine neue Untersuchung gegen 387 Richter und Staatsanwälte ein (HDN 19.2.2024; vgl. MBZ 2.2025a, S. 51).
Das Verfassungsgericht ordnete am 22.01.2025 per Beschluss die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den ehemaligen Lehrer Hasan Sarıcı an, der nach dem Putschversuch im Jahr 2016 per Regierungserlass aus seinem Amt entlassen und wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung zu sechs Jahren Haft verurteilt worden war. Die Verurteilung Sarıcıs vor dem Ersten Hohen Strafgerichtshof in Kırklareli basierte auf seiner Mitgliedschaft in einer Gülen-nahen Gewerkschaft, Finanztransaktionen bei der Bank Asya und einem Abonnement der Zeitung Zaman. Als Begründung für die Wiederaufnahmeanordnung führte das Höchstgericht Verstöße gegen Verfassungsrechte und unzureichende Beweise an. Nebst der Feststellung von Verfahrenslücken betonte das Verfassungsgericht, dass Sarıcıs angebliche Aktivitäten zum Zeitpunkt seiner Verurteilung kein Verbrechen darstellten. Das Gericht konnte demnach keinen direkten Zusammenhang zwischen Sarıcıs Handlungen und einer mutmaßlichen aktiven Teilnahme an kriminellen Aktivitäten herstellen. Das Verfassungsgericht betonte, dass für die strafrechtliche Verantwortlichkeit klare Beweise für Vorsatz und aktive Teilnahme an organisatorischen Aktivitäten erforderlich seien (BAMF 3.2.2025, S. 9; vgl. SCF 22.1.2025). In der Begründung stellte das Höchstgericht fest, dass es keine konkreten Beweise dafür gab, ob der Antragsteller wusste, dass die Gülen-Bewegung eine terroristische Organisation war, bevor sie als solche eingestuft wurde, das heißt, dass Sarıcı vernünftigerweise nicht vorhersehen konnte, dass er strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden würde (YŞ 23.1.2025).
ByLock und spezielle Münztelefone
ByLock ist eine Handy-Applikation zur verschlüsselten, sicheren Austausch schriftlicher und gesprochener Nachrichten. Sie wird von der türkischen Regierung als eines der wichtigsten Indizien für eine Unterstützung bzw. Nähe zur Gülen-Bewegung betrachtet. Zudem sei ByLock laut Behörden von der Gülen-Bewegung verwendet worden, um den Putschversuch vom Juli 2016 vorzubereiten (BAMF 4.11.2024b, S. 6). Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis darstellt, um die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung festzustellen. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018, S. 8). Trotzdem urteilte das Verfassungsgericht im Juni 2020 anlässlich eines Beschwerdeverfahrens, dass die Benutzung von ByLock als ausreichender Beweis für die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung gilt (Ahval 27.6.2020; vgl. BAMF 4.11.2024b, S. 6). Allerdings hatte die Generalversammlung des Verfassungsgerichts zuvor in seiner Entscheidung vom 20.6.2017 festgehalten, dass die Verbindung einer Person zur Gülen-Bewegung im Falle der Nutzung von Bylock mit Beweisen in Form von technischen Daten unterlegt werden müsse. Das Verfassungsgericht geht von einer ByLock-Nutzung aus, wenn ein Abgleich von User-ID und Einträgen des Telekommunikationsanbieters positiv ausfällt (BAMF 4.11.2024b, S. 6). Im Jahr 2021 legte schließlich auch das Kassationsgericht Leitlinien für die Anwendung des ByLock-Kriteriums fest. Dieses Kriterium kann nur dann gegen Verdächtige verwendet werden, wenn schlüssige Beweise dafür vorliegen, dass sie selbst die Anwendung verwendet haben und nicht jemand anderes. Trotzdem haben sich fallweise Gerichte unterer Instanzen nicht an diese Leitlinie gehalten. Infolgedessen wurden die Urteile gegen zahlreiche Personen, die der Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung für schuldig befunden wurden, später entweder vom Kassationsgericht oder vom Verfassungsgericht aufgehoben (MBZ 31.8.2023, S. 23; vgl. BAMF 4.11.2024b, S. 7).
Die Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen zur willkürlichen Inhaftierung gab im Oktober 2019 eine Stellungnahme ab, wonach die Nutzung von ByLock unter das Recht auf freie Meinungsäußerung fällt. Solange die türkischen Behörden nicht offen erklären würden, wie die Verwendung von ByLock einer kriminellen Aktivität gleichkommt, wären Verhaftungen aufgrund der Benutzung von ByLock willkürlich (TM 15.10.2019; vgl. UNHRC 18.9.2019).
Am 20.7.2021 entschied der EGMR, dass sich der betroffene ehemalige Polizist, Tekin Akgün, zu Unrecht seit 2016 wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung in Untersuchungshaft befindet, und zwar, weil die Festnahme lediglich auf der Benutzung von ByLock fußt. Laut Urteil des EGMR verfügte das türkische Gericht nicht über ausreichende Informationen zu ByLock, um zu dem Schluss zu kommen, dass diese Messenger-Anwendung ausschließlich von Mitgliedern der Gülen-Bewegung zu Zwecken der internen Kommunikation verwendet wurde. In Ermangelung anderer Beweise oder Informationen könne das fragliche Dokument, in dem lediglich festgestellt werde, dass der Kläger ein Nutzer von ByLock sei, für sich genommen nicht darauf hindeuten, dass ein begründeter Verdacht bestehe, dass er ByLock tatsächlich in einer Weise nutzte, die den vorgeworfenen Straftaten gleichkommen könne. Der EGMR stellte dahingehend eine Verletzung von Artikel 5 § 1 (Recht auf Freiheit und Sicherheit), von Artikel 5 § 3 (Recht auf ein Gerichtsverfahren innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Freilassung bis zur Gerichtsverfahren) und eine Verletzung von Artikel 5 § 4 (Recht auf eine zügige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung) der Europäischen Menschenrechtskonvention fest (ECHR 20.7.2021, S. 1).
Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) entschied im September 2023 neuerlich in einem Fall (Yüksel Yalçınkaya vs. Türkei), dass die Verurteilung eines Lehrers wegen seiner Verbindungen zur Gülen-Bewegung und somit als Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer Haftstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt durch ein türkisches Gericht aufgrund von Aktivitäten wie der Nutzung von ByLock oder eines Kontos bei der Asya-Bank rechtswidrig war. Das EGMR kritisierte die Verwendung der verschlüsselten Messaging-App "ByLock" als Beweismittel durch die Türkei als weitreichend und willkürlich und ohne die notwendigen Garantien für ein faires Verfahren. Darüber hinaus wies das Gericht auf erhebliche Verfahrensmängel im Prozess hin, darunter die Tatsache, dass ihm kein Zugang zu Beweismitteln gewährt und keine unabhängige Prüfung von Daten gestattet wurde (TM 26.9.2023; vgl. SCF 23.7.2024, BAMF 29.7.2024, S. 10). Nichtsdestotrotz werden vermeintliche Gülen-Anhänger weiterhin wegen einstiger Verwendung von Bylock oder des Besitzes eines Kontos bei der Asya Bank verhaftet, so im Juli 2024 (BAMF 29.7.2024, S. 10). Im Falle des Beispiels von Yüksel Yalçınkaya setzte sich bei der Neuverhandlung des Verfahrens im September 2024 das 2. Landgericht in Kayseri über den EGMR hinweg und verurteilte Yalçınkaya erneut aufgrund derselben Anklage (TALI 15.9.2024; vgl. HRW 16.1.2025).
Asya Bank
Die von Gülen-Anhängern betriebene und getragene "Bank Asya" kam nach dem gescheiterten Putschversuch zunehmend unter Druck und wurde ab 22.7.2016 gänzlich unter Verwaltung des Staates gestellt. In vielen Fällen reichte es, über ein Konto bei der Asya Bank zu verfügen, um wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung angeklagt zu werden. Viele Angeklagte wurden jedoch nicht verurteilt, wenn keine weiteren Indizien vorlagen. Allerdings konnte die bloße Einzahlung von Geld bei der Asya-Bank nach dem 25.12.2013 zu einer Suspendierung von Beamten aus dem öffentlichen Dienst führen (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 29). Das Kassationsgericht entschied 2018, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fethullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt hatten, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018).
Gülen-Schulen
Die Gülen-Bewegung betrieb einst Schulen rund um den Globus (BBC 21.7.2016). Die Schließung der Schulen stellt(e) die Gülen-Bewegung vor große Herausforderungen, da sie eine wichtige Rolle bei der Finanzierung und der Anwerbung neuer Anhänger spielten. Um den Zugang des türkischen Staates zu verhindern, erklärten sich viele Schulen nicht mehr als türkische, sondern als lokale Institutionen. Durch eine Mischung aus politischem Druck und wirtschaftlichen Anreizen hat die Türkei versucht, die Gastländer davon zu überzeugen, die Gülen-Schulen, Schülerwohnheime und Universitäten an die Maarif-Stiftung zu übergeben (NZZ 14.2.2020), oder auf der Basis von bilateralen Abkommen mit den jeweiligen Ländern zu schließen bzw. anderen Eigentümern zu übertragen (SCF 5.2.2019; vgl. DS 31.7.2018). Wann immer die Interventionen der türkischen Regierung, die Gülen-Schulen zu schließen, sich nicht als erfolgreich erweisen, strebt sie über die Maarif-Stiftung die Eröffnung eigener Schulen an (NZZ 14.2.2020). 2024 betrieb gemäß Eigenangaben die Maarif-Stiftung 460 Bildungseinrichtungen mit 50.000 Schülern in 52 Ländern (Maarif 2024; vgl. DS 5.1.2024).
Verfolgung im Ausland: Auslieferungsanträge und Entführungen
Im Ausland lebende türkische Staatsangehörige, die mutmaßlich Verbindungen zur Gülen-Bewegung haben, können überwacht und observiert werden, insbesondere wenn sie bekannt sind und nachweislich die Gülen-Bewegung unterstützen. Die Überwachung kann online oder physisch erfolgen, auch durch Personen, die für den türkischen Staat oder in dessen Auftrag handeln (DFAT 16.5.2025, S. 22).
Laut Medienberichten wurden weltweit 1.774 Auslieferungsanträge für 1.637 Personen an 115 Länder gesendet. 132 Personen wurden an die Türkei ausgeliefert oder abgeschoben (TR-Today 15.7.2024). Es gibt glaubwürdige Berichte, wonach die Regierung versucht, mit Hilfe von sog. INTERPOL-Red Notices bestimmte Personen außerhalb des Landes ins Visier zu nehmen, denen ohne Beweise Verbindungen zum Terrorismus unterstellt werden (USDOS 22.4.2024). Die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (INTERPOL) lehnte es laut dem Leiter der INTERPOL-Abteilung des türkischen Innenministeriums in 773 Fällen ab, eine sogenannte Red Notice für Personen mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung auszustellen, nachdem INTERPOL diese Anträge als politisch eingestuft hatte (SCF 4.6.2021; vgl. Ahval 5.6.2021). Das Europäische Parlament verurteilte im Juni 2022 (wie schon zuvor im Mai 2021) die Auslieferung durch Drittstaaten bzw. Entführung türkischer Staatsangehöriger aus politischen Gründen unter Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31).
Das Amt für Auslands-Türken (YTB) sowie die Türkische Agentur für Kooperation und Koordination (TİKA) sind ebenfalls aktiv an den verdeckten Geheimdienstoperationen in aller Welt beteiligt gewesen. Auch die Direktion für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) wirkt mit, unter Auslands-Türken Regierungskritiker ausfindig zu machen. Nicht zuletzt sammeln staatlich finanzierte private Denkfabriken und Organisationen wie die Union der Europäisch-Türkischen Demokraten (UETD) und die Stiftung für politische, wirtschaftliche und soziale Forschung (SETA) Informationen über Regierungskritiker [Anm.: nicht nur über Gülen-Mitglieder] (AST 1.9.2020).
Amnestie - Rehabilitierung - Haftentlassungen
Die Erfahrungen der Entlassenen sind nicht einheitlich. Einige entlassene Beamte wurden wieder in hohe Positionen berufen, andere sind in der Privatwirtschaft erfolgreich. Es gibt rechtliche Mechanismen, mit denen angeklagte Gülen-Anhänger politisch rehabilitiert oder rehabilitiert werden können, insbesondere wenn ihre Verbindungen zur Gülen-Bewegung nur geringfügig oder zufällig waren, wie beispielsweise das bloße Herunterladen der Bylock-App. Die entsprechenden Quellen betonten jedoch, dass diese Verfahren willkürlich, zeitaufwendig und nicht immer erfolgreich seien (DFAT 16.5.2025, S. 22).
Allein in Ankara kamen laut Meldung der Polizei vom Februar 2022 1.244 vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung in den Genuss einer Amnestie, da aufgrund der Aussagen von Verdächtigen 19.856 weitere Gülen-Mitglieder identifiziert werden konnten. Darüber hinaus identifizierte die Polizei in der Hauptstadt aufgrund der Informationen insgesamt 4.780 bislang unbekannte Gülen-Mitglieder (AnA 17.2.2022).
Die Zahl der Inhaftierten vermeintlichen Gülenisten ist gesunken. - So befanden sich im November 2021 noch 22.340 Gülenisten in Untersuchungshaft oder im Gefängnis. Bis Juli 2022 war diese Zahl bereits auf 19.252 gesunken und schrumpfte Mitte Juli 2024 auf 13.251. Dieser Rückgang ist darauf zurückzuführen, dass immer mehr Gülenisten ihre Haftstrafen bereits verbüßt haben. Denn die durchschnittliche Strafe betrug 7,5 Jahre, die sich überdies bei "guter Führung" um ein Sechstel reduzieren ließ. Hinzukommt, dass sich die Anzahl der Verhaftungen reduzierte, von rund 22.500 im Jahr 2021 auf etwas mehr als 9.600 im Jahr 2023 (MBZ 2.2025a, S. 46f.).
II.1.6.2.2. Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Selbstauflösung der PKK und Beendigung des bewaffneten Kampfes
"[...] Aufruf zur Beteiligung am Prozess für Frieden und demokratische Gesellschaft
Die Entscheidung unseres Kongresses, die PKK aufzulösen und die Methode des bewaffneten Kampfes zu beenden, schafft eine starke Grundlage für dauerhaften Frieden und eine demokratische Lösung. Die Umsetzung dieser Entscheidungen erfordert, dass Rêber Apo den Prozess führen und lenken kann, das Recht auf demokratische Politik anerkannt wird und eine umfassende, rechtsverbindliche Absicherung gewährleistet ist. [...]" [Zitat aus der deutschen Fassung des Abschlusskommuniqués des 12. PKK-Kongresses; Anm.: Mit Rêber Apo ist Abdullah Öcalan gemeint.] (ANF 12.5.2025).
Am 12.5.2025 gab die PKK nach der Abhaltung ihres 12. Parteikongresses vom 5.-7. Mai an zwei geheimen Orten im Nordirak ihre Auflösung und das Ende des bewaffneten Kampfes bekannt (ICG 16.5.2025; vgl. ANF 12.5.2025, BPB 16.6.2025). Im Einklang mit Öcalans Aufruf vom Februar 2025 zur Auflösung betonte die PKK in ihrer Erklärung vom 12. Mai, dass ihre "historische Mission" erfüllt sei: Sie habe die jahrzehntelange Verleugnung der kurdischen Frage durchbrochen und diese dauerhaft auf die politische Agenda gebracht. Der bewaffnete Kampf gelte nun als überholt; künftig solle daher der Einsatz für kurdische Rechte zivil, demokratisch und gleichberechtigt erfolgen (BPB 16.6.2025; vgl. ANF 12.5.2025). Für die PKK war laut der International Crisis Group die freiwillige Auflösung zweifellos ein schwieriger Schritt, aber einer, der nicht als explizite militärische Niederlage gewertet werden konnte und daher einen etwas gesichtswahrenden Ausweg aus einer sich verschlechternden Situation bot. Im Rahmen ihrer neuen Bemühungen um eine Einigung mit der PKK scheint die Türkei der Gruppe eine Wahl gestellt zu haben: Auflösung und mögliche positive Schritte seitens der Türkei oder Ablehnung und anhaltender militärischer Druck – der auch nach der einseitigen Waffenruhe seitens der PKK Ende Februar 2025 nach dem Aufruf Öcalans fortgesetzt wurde (ICG 16.5.2025).
Offen bleiben [Stand: Anfang Juli 2025] die Fragen hinsichtlich der Übergabe der Waffen - wann, wo, unter wessen Aufsicht? - die mögliche Rückkehr bzw. Integration der PKK-Kämpfer und die Zukunft der Führungskader sowie jene Öcalans selbst (TM 15.5.2025; vgl. TNA 21.5.2025).
Struktur und Ideologie
Die marxistisch orientierte Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê - PKK) wird nicht nur in der Türkei, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft (ÖB Ankara 4.2025, S. 27; vgl. EC 30.10.2024, S. 38). Ursprüngliches Ziel ihres Kampfes war die Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates. Seit 1995 strebt die Organisation jedoch Autonomie und kulturelle Rechte für Kurden innerhalb der Türkei an und hat ihre Unabhängigkeitsforderung zugunsten der Forderung nach einem System der Selbstverwaltung (DW 25.10.2024; vgl. BMI-D 10.6.2025 S. 259, ÖB Ankara 4.2025) auch im Nordirak und im Norden Syriens an. Hierzu bediente sich die PKK des bewaffnet geführten Kampfes, zu dem ihr Gründer Abdullah Öcalan bereits 1984 aufgerufen hatte (BMI-D 10.6.2025, S. 259f.). Die PKK ist laut deutschem Verfassungsschutz streng hierarchisch aufgebaut und auf ihre Führungsspitze hin ausgerichtet. Die Strukturen in Europa sind nahtlos in den PKK-Aufbau eingegliedert und setzen die von der PKK-Führungsspitze vorgegebenen Ziele ohne eigenverantwortlichen Entscheidungsspielraum um (BMI-D 10.6.2025, S. 261). Es wird vermutet, dass die PKK eine Mitgliederbasis von etwa 60.000 Personen hatte, darunter aktive Kämpfer, Unterstützer und Sympathisanten (DW 25.10.2024). Trotz seiner seit 1999 fortbestehenden Inhaftierung in der Türkei ist Abdullah Öcalan weiterhin die unumstrittene Führungs- und Symbolfigur innerhalb der PKK (BMI-D 10.6.2025, S. 260).
Entwicklungen bis zur formalen Selbstauflösung der PKK
Anmerkung: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Anfang Juli 2025) kann nicht abgeschätzt werden, ob und in welchem Ausmaß die Informationen hinsichtlich (weiterer) Verhaftungen von PKK-Mitgliedern und -Unterstützern in der Türkei und im Ausland und das Vorgehen gegen deren Familienangehörige noch zutreffen, dies trotz der Auflösung der PKK. Ebenso unklar bleibt die Frage nach der Selbstauflösung der KCK sowie der PKK-Schwesterorganisationen in Syrien, dem Irak (und Iran) bzw. das Vorgehen der türkischen Behörden gegen diese Organisationen und deren Mitglieder und Anhänger.
Ein von der PKK angeführter Aufstand zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 hatte schätzungsweise 40.000 Menschen das Leben gekostet. Ein Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zur Wiederentfachung von Feindseligkeiten führte (DFAT 16.5.2025, S. 4). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB Ankara 4.2025, S. 28; vgl. DW 25.10.2024). Zu weiteren aktuellen Zahlen und Details siehe das Kapitel: Sicherheitslage.
Die International Crisis Group verzeichnet seit 2015 mit Stand 4.6.2025 4.851 getötete PKK-Kämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe. - Mitte 2023 gaben die türkischen Behörden an, dass seit der Wiederaufnahme der Feindseligkeiten im Juli 2015 fast 40.000 Militante "neutralisiert" wurden (entweder getötet, gefangen genommen oder sich ergeben haben) (ICG 5.6.2025).
Trotz der sich abzeichnenden Auflösung der PKK kam es auch noch 2025 zu Festnahmen. - Mitte Februar wurden bei großangelegten Razzien 282 Personen in 51 Provinzen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur PKK festgenommen. Den Festgenommenen wurde laut Innenminister Ali Yerlikaya vorgeworfen, dass sie für die PKK Propaganda betrieben, sie finanziell unterstützt, Mitglieder angeworben oder an gewalttätigen Straßenprotesten teilgenommen hätten (BAMF 24.2.2025, S. 7; vgl. DS 18.2.2025).
Während das Hauptquartier der PKK in den irakischen Kandil-Bergen seit der Erklärung der Waffenruhe durch die PKK nicht mehr von der Türkei bombardiert wurde, erhöhte sich die Zahl der Angriffen seitens der Türkei in der Provinz Dohuk in der autonomen Kurdischen Region des Iraks (KRI), insbesondere in Metina and Zap,, im Mai (Rudaw 5.6.2025; vgl. Rudaw 7.7.2025, Shafaq 15.5.2025, ICG 6.2025). Und im Juni bombardierte die türkische Armee mehrmals Positionen in der Provinz Erbil (Rudaw 7.7.2025). Trotzalledem wurde für Juli 2025 eine erste symbolische Vernichtung von PKK-Waffen in Raperin, Sulaimaniyah zwischen der Türkei und der PKK vereinbart (Rudaw 7.7.2025; vgl. Zeit Online 1.7.2025).
Angehörige von PKK-Migliedern
Familienmitglieder von mutmaßlichen PKK-Mitgliedern sind mitunter mit, zum Teil gewaltsamen, Hausdurchsuchungen konfrontiert oder ihnen wird von den Behörden auf andere Weise das Leben schwer gemacht. So kamen beispielsweise Familienangehörige von PKK-Mitgliedern nicht für staatliche Stellen infrage. Familienmitglieder von PKK-Gefangenen werden vom Sicherheitsapparat überwacht, inhaftiert und/oder gezwungen, Informationen über PKK-Gefangene zu liefern. Wenn Familienmitglieder Geld an politische Gefangene schickten, können sie wegen finanzieller Unterstützung der PKK strafrechtlich verfolgt werden. Unklar bleibt der Umfang dieser Praktiken und welche Familienmitglieder unter welchen Umständen ins Visier der Behörden geraten (MBZ 2.2025a, S. 66).
Personen mit Wohnsitz im Ausland
In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein, oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit "gefällt mir" markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB Ankara 4.2025, S. 29).
Die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK)
Anfang der 2000er-Jahre versuchte die PKK sich neue Organisationsformen zu geben, begleitet von zahlreichen Umbenennungen, an deren Ende die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK), stand. 2005 gab sich die PKK im Rahmen des sogenannten KCK-Abkommens diese neue Organisationsform. Die Kontinuität PKK - KCK wurde im Abkommen festgeschrieben, wodurch jeder, der im Rahmen des KCK-Systems tätig ist, auch die ideologischen und moralischen Maßstäbe der PKK anwenden muss. So gesehen ist die KCK die ideologische und organisatorische Ummantelung der PKK (Posch 10.2.2016, S. 140f.). Bei der KCK handelt es sich um einen kurdischen Dachverband, dem neben der PKK auch ihre Schwesterparteien im Irak, im Iran und in Syrien sowie verschiedene gesellschaftliche Gruppen angehören (BMIBH 15.6.2021, S. 261, FN 92). Die Türkei hat in den letzten Jahren zahlreiche kurdische Politiker, Aktivisten und Journalisten wegen ihrer angeblichen Verbindungen zur KCK inhaftiert und verurteilt (Rudaw 3.10.2021).
"Schwesterorganisationen" der PKK in Syrien, Iran und dem Irak
Der türkische Staat sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien, die PJAK in Iran und die "Tawgari Azadî" im Irak als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TRMFA 2022; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 28) hinzukommen auch die irakisch-jesidischen Widerstandseinheiten Shingal - YBŞ (TRMFA 12.3.2025). Die genannten Organisationen werden im Unterschied zur PKK und den Kurdistan Freiheitsfalken (TAK) seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 31.1.2025).
II.1.6.3. Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
Allgemeine Situation der Rechtsstaatlichkeit und des Justizwesens
Der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit der Justiz ist eines der größten Probleme in der Türkei. Die Exekutive bzw. die Regierung übt eine erhebliche Kontrolle über die Justiz aus und mischt sich häufig in gerichtliche Entscheidungen ein, wodurch die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz immer weiter zurückgedrängt werden. Die Justiz ist nach wie vor ein zentrales Instrument der Regierung, um die Opposition zum Schweigen zu bringen und Andersdenkende zu inhaftieren (BS 19.3.2024, S. 12f.; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 11f., CAT 14.8.2024, S. 11, AI 29.4.2025, EP 7.5.2025, Pt. 8). Zudem ist die Justiz auch bei der Untersuchung und Verfolgung größerer Korruptionsfälle der Einmischung der Regierung ausgesetzt (USDOS 22.4.2024, S. 58). Insbesondere infolge der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 6524 im Jahr 2014 und der Verfassungsänderungen von 2017 hat die Kontrolle der Exekutive über die Justiz drastisch zugenommen, dies trotz der Bestimmungen von Art. 138 der Verfassung und Art. 4 des Gesetzes Nr. 2802, die beide die Unabhängigkeit der Judikative betreffen (UNHRCOM 28.11.2024, S. 9). - Das Europäische Parlament sah zuletzt im Mai 2025 u. a. den kritischen Zustand des Justizwesens – einschließlich der mangelnden Achtung der Urteile des Verfassungsgerichts – als einen der Hauptgründe für die katastrophale Lage der Rechtsstaatlichkeit und sprach hierbei von der "Untergrabung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei durch die türkische Regierung" (EP 7.5.2025, G, R).
Die ernsten Bedenken der EU über die anhaltende Verschlechterung der demokratischen Standards, der Rechtsstaatlichkeit, der Unabhängigkeit der Justiz und der Achtung der Grundrechte wurden laut Europäischer Kommission nicht berücksichtigt (EC 30.10.2024, S. 3; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 1, 11f.). Ende November 2024 kam auch Kritik seitens des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen, und zwar in Hinblick auf die Umsetzung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (International Covenant on Civil and Political Rights - ICCPR). - Der Ausschuss war der Auffassung, "dass die im April 2017 während des Ausnahmezustands vorgenommenen Verfassungsänderungen die Befugnisse der Exekutive auf Kosten des Parlaments und der Justiz unverhältnismäßig gestärkt haben, was berechtigte Bedenken hinsichtlich einer mangelnden Rechenschaftspflicht und Gewaltenteilung im Vertragsstaat aufkommen lässt, insbesondere im Hinblick auf die Verabschiedung von Gesetzen ohne Beteiligung des Parlaments und die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten ohne wirksame Kontrollverfahren (Art. 4). [...] Der Vertragsstaat sollte in Erwägung ziehen, seine Gesetzgebung zu überarbeiten, um die Rechenschaftspflicht zu gewährleisten und den Grundsatz der Gewaltenteilung strikt einzuhalten, insbesondere in Bezug auf die Judikative. Ferner sollte er in Gesetz und Praxis die volle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz gewährleisten" [Originalzitat auf Englisch] (UNHRCOM 28.11.2024, S. 2).
Justizreformen
Strategische Reformdokumente sind zwar vorhanden, reichen aber nicht aus, um die erheblichen Mängel zu beheben. Die Strategie für die Justizreform 2019-2023 geht nicht in vollem Umfang auf Mängel des Justizwesens ein. Das achte Justizreformpaket wurde im März 2024 angenommen, geht aber ebenfalls nicht angemessen auf die strukturellen Mängel des Justizsystems ein (EC 30.10.2024, S. 25, S. 19). Die im Jänner 2025 veröffentlichte Justizreformstrategie (2025-2029) fokussiert auf die Beschleunigung von Gerichtsverfahren. Maßnahmen zur Stärkung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz, welche die zentralen Mängel des türkischen Justizsystems angehen, werden ausschließlich im Rahmen einer möglichen Verfassungsreform behandelt. Die Strategie enthält keine konkreten Vorschläge zur Lösung der von der Venedig-Kommission identifizierten Probleme (ÖB Ankara 4.2025, S. 18). So bedauerte das Europäische Parlament im Mai 2025 "zutiefst, dass sich die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei trotz einer Reformstrategie, die neun Pakete von Justizreformen umfasst, nach wie vor in einem desolaten Zustand befindet, nachdem die Regierung systematisch in das Justizsystem eingegriffen und es politisch instrumentalisiert hat" (EP 7.5.2025, Pt. 8).
Die Korrektur der Anti-Terror-Gesetzgebung stand im Zentrum des achten Reformpaketes. - Die umstrittenste Bestimmung des Pakets betraf nämlich den Straftatbestand der "Begehung von Straftaten im Namen einer terroristischen Vereinigung, ohne deren Mitglied zu sein", der in Artikel 220/6 des türkischen Strafgesetzbuchs (TCK) geregelt war, aber im September 2023 vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig aufgehoben worden war. In der Begründung für seine einstimmige Entscheidung erklärte das Verfassungsgericht, dass die Bestimmung "nicht klar und vorhersehbar genug ist, um willkürliche Praktiken von Behörden zu verhindern, und nicht den Kriterien der Rechtmäßigkeit entspricht" (EI 4.4.2024; vgl. AI 29.4.2025, MLSA 23.2.2024). Die Änderung von Artikel 220/6 trägt allerdings den bereits bestehenden Bedenken in Bezug auf Klarheit und Vorhersehbarkeit zum besseren Schutz der Menschenrechte von Personen, die einer Straftat beschuldigt werden, nicht in vollem Umfang Rechnung, da der vorgeschlagene Artikel nach wie vor keine klaren Kriterien dafür enthält, wann die Begehung einer Straftat im Namen einer bewaffneten Organisation unter Strafe gestellt werden kann, womit das Gesetz keine auf internationalen Standards basierenden Garantien gegen willkürliche Eingriffe durch staatliche Behörden bietet (AI 29.2.2024, S. 2f.; vgl. UNHRCOM 28.11.2024, S. 4). Das heißt, mit dem Justizreformpaket 2024 wurde die Vorschrift über die "Begehung von Straftaten im Namen einer Organisation, ohne Mitglied zu sein", trotz vorhergehender Aufhebung und des Auftrages durch das Verfassungsgericht an den Gesetzesgeber innert vier Monaten die Mängel im Gesetzestext zu beheben, unverändert übernommen. Die gleiche Bestimmung gilt auch für "bewaffnete kriminelle Organisationen" gemäß Artikel 314 des Strafgesetzbuches (MLSA 23.2.2024).
Auswirkungen der Anti-Terror-Gesetzgebung
Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählt insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch ist vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung (ÖB Ankara 4.2025, S. 8f.). Das Europäische Parlament (EP) "betont, dass die Anti-Terror-Bestimmungen in der Türkei immer noch zu weit gefasst sind und nach freiem Ermessen zur Unterdrückung der Menschenrechte und aller kritischen Stimmen im Land, darunter Journalisten, Aktivisten und politische Gegner, eingesetzt werden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 29) "unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen", und "fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen" (EP 19.5.2021, S. 9, Pt. 14).
In ähnlicher Weise äußerte sich Ende November 2024 der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen, indem er seiner Besorgnis über die mangelnde Vereinbarkeit des rechtlichen Rahmens zur Terrorismusbekämpfung mit dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) äußerte, wobei explizit das Antiterrorgesetzes (Nr. 3713), wo die Begriffe "Terrorismus" und "terroristischer Straftäter" weit gefasst werden. Der Ausschuss war auch besorgt über das Gesetz Nr. 7262 über die Verhinderung der Finanzierung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Während das Ziel des Gesetzes die Bekämpfung der Geldwäsche und der Finanzierung des Terrorismus war, wurde es Berichten zufolge dazu benutzt, zivilgesellschaftliche Organisationen ins Visier zu nehmen und sie einer strengen Überwachung und Kontrolle, dem Einfrieren von Vermögenswerten und der Einschränkung ihrer Rechte zu unterwerfen, so der Ausschuss (UNHRCOM 28.11.2024, S. 4). Sie hierzu auch das Kapitel: Nichtregierungsorganisationen (NGOs).
Auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht (EP 19.5.2021, S. 16, Pt. 40). Das EP verurteilte so wie 2021 in seiner Entschließung vom Juni 2022 neuerlich "aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Auslieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. "Red Notices" bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S. 44).
Die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten, Margaret Satterthwaite, äußerte im Juni 2024 ihre tiefe Besorgnis über die Verschlechterung der Unabhängigkeit der Justiz und der Menschenrechte in der Türkei. Vorliegende Informationen würden ferner darauf hindeuten, dass der Rechtsrahmen zur Terrorismusbekämpfung der Regierung Befugnisse über die Justiz einräumt und damit deren Unabhängigkeit untergräbt. - Das Gesetz Nr. 7145 gebe der Regierung die Befugnis, jeden Beamten, Richter oder Staatsanwalt zu entlassen, und zwar ausschließlich auf der Grundlage einer Bewertung ihrer Kontakte zu terroristischen Organisationen oder Strukturen, Einrichtungen oder Gruppen und nicht auf der Grundlage von Beweisen. Der Nationale Sicherheitsrat (MGK) sei als Sicherheitsorgan in der Lage, solche Entscheidungen ohne richterliche Aufsicht und Überprüfung zu treffen. Um die Entlassung eines Richters zu rechtfertigen, verlange das Gesetz lediglich eine "Verbindung", "Vereinigung" oder "Zugehörigkeit" zu einer "Struktur, Formation oder Gruppe", die der Nationale Sicherheitsrat der Türkei als "gegen die nationale Sicherheit des Staates gerichtet" eingestuft hat. Diese vage und zu weit gefasste Formulierung schaffe ein großes Potenzial für die willkürliche Entlassung von Richtern unter Verletzung der Garantien der richterlichen Unabhängigkeit (OHCHR 21.6.2024, S. 1f.).
Verfolgung von Strafverteidigern bei Terrorismusverfahren
Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 20.3.2023 S. 11, 19). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (USDOS 20.3.2023, S. 11; vgl. TT/Perilli 2.2021, S. 41, HRW 13.1.2021). Beispielsweise gab ein von Pro Asyl befragter Rechtsanwalt an, dass gegen ihn fünf Ermittlungsverfahren wegen Terrorismusdelikten liefen, die alle im Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit stünden (Pro Asyl 9.2024, S. 75).
Das EP zeigte sich entsetzt "wonach Anwälte, die des Terrorismus beschuldigte Personen vertreten, wegen desselben Verbrechens, das ihren Mandanten zur Last gelegt wird, oder eines damit zusammenhängenden Verbrechens strafrechtlich verfolgt wurden, das heißt, es wird ein Kontext geschaffen, in dem ein eindeutiges Hindernis für die Wahrnehmung des Rechts auf ein faires Verfahren und den Zugang zur Justiz errichtet wird" (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 15). Auch der UN-Menschenrechtsausschuss war besorgt aufgrund der sehr hohen Zahl von Rechtsanwälten, gegen die insbesondere während des Ausnahmezustands wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung gemäß Art. 314/2 des Strafgesetzbuchs ermittelt wurde, die verhaftet oder in Untersuchungshaft genommen wurden, nur weil sie ihren Beruf als Rechtsanwalt ausübten (UNHRCOM 28.11.2024, S. 9).
Im Februar 2024 erhob die Generalstaatsanwaltschaft Anklage gegen zehn Rechtsanwälte in Diyarbakır unter dem Vorwurf der "Mitgliedschaft in einer bewaffneten/terroristischen Organisation" gemäß Artikel 314 des Strafgesetzbuches, weil sie "als Verteidiger für inhaftierte Personen tätig waren, die an illegalen organisatorischen Handlungen und Aktivitäten teilgenommen haben". Die Anklagen stützten sich auf die Aussagen eines Zeugen und die Anwesenheit der angeklagten Anwälte bei der Vernehmung von Gefangenen, gegen die "ein Gerichtsverfahren wegen Straftaten im Zusammenhang mit einer illegalen Organisation" läuft. Die Staatsanwaltschaft wertete die Anwesenheit der Anwälte bei den Verhören als Beweis dafür, dass die Anwälte als Verteidiger "auf Anweisung einer illegalen Organisation" an diesen Verhören teilnahmen. Die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten zeigte sich dementsprechend äußerst besorgt über Berichte, wonach die Staatsanwaltschaft die Tätigkeit als Verteidiger von Personen, gegen die ein Gerichtsverfahren wegen Straftaten im Zusammenhang mit einer illegalen Organisation läuft, mit der Tätigkeit als Anwalt im Auftrag einer illegalen Organisation gleichsetzt. Internationale und regionale Standards verbieten, so die Sonderberichterstatterin, ausdrücklich die Identifizierung von Anwälten mit ihren Mandanten oder deren Anliegen bei der Ausübung ihrer beruflichen Pflichten (OHCHR 21.6.2024, S. 8, 11).
Am 16.1.2025 äußerte die UN-Sonderberichterstatterin für die Situation von Menschenrechtsverteidigern, Mary Lawlor, ihre tiefe Besorgnis über die anhaltende Langzeitinhaftierung von neun prominenten Menschenrechtsverteidigern und Anwälten, die alle im Zusammenhang mit ihrer friedlichen Arbeit willkürlich verhaftet und in unfairen Prozessen unter fadenscheinigen Anschuldigungen im Zusammenhang mit Terrorismus verurteilt wurden. Acht sind Mitglieder der Progressiven Anwaltsvereinigung (Çağdaş Hukukçular Derneği - ÇHD), die Opfer von Polizeigewalt und Folter sowie Bürgerinnen und Bürger vertritt, die wegen ihrer Meinung verfolgt werden. Sie wurden zwischen 2018 und 2019 verhaftet und wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" angeklagt; zwei von ihnen wurden auch wegen "Propaganda für eine terroristische Vereinigung" angeklagt. Sie wurden in einem als ÇHD II-Prozess bekannten Verfahren, das nicht den internationalen Standards für faire und ordnungsgemäße Gerichtsverfahren entsprach, zu bis zu 13 Jahren Haft verurteilt. Alle neun Menschenrechtsverteidiger befinden sich in geschlossenen Hochsicherheitsgefängnissen (OHCHR 16.1.2025).
Im Mai (2023) erklärte der damalige Innenminister Soylu: "Wenn die Anwälte der PKK eingesperrt werden, dann wird es in der Türkei keine PKK mehr geben. Sie sind das Ziel ... Die PKK vergiftet die Türkei über die Anwälte" (USDOS 22.4.2024, S. 9).
Statistiken der Anti-Terror-Gesetzgebung
Laut Statistiken des türkischen Justizministeriums wurden zwischen 2016 und 2020 mehr als 265.000 Personen wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Im Juni 2022 lag die Gesamtzahl der von der Justiz eingeleiteten Gerichtsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bei über zwei Millionen. In Anbetracht der großen Zahl der strafrechtlich verfolgten Personen gehen Schätzungen davon aus, dass mehr als vier Millionen Menschen in der türkischen Gesellschaft direkt betroffen sind bzw. waren (OHCHR 21.6.2024, S. 4).
Der offiziellen Statistik des türkischen Justizministeriums für das Jahr 2021 [Anm.: Danach gab es keine detaillierteren Aufschlüsselungen in den Statistiken] zufolge wurden 7.059 Strafurteile gem. Art. 220 und 44.042 gem. Art. 314 des Strafgesetzbuches (Gesetz Nr. 5237) gefällt. 3.057 wurden nach Art. 220 und 18.816 nach Art. 314 zu Haftstrafen verurteilt. 1.912 (Art. 220) bzw. 12.093 (Art. 314) fielen in die Kategorie "sonstige Verurteilungen". 7.098 Angeklagte nach Artikel 220 und 17.970 nach Artikel 314 wurden freigesprochen [Anm.: der Rest fällt in diverse andere Kategorien, welche hier nicht speziell angeführt werden]. 2021 gab es nach dem Anti-Terror-Gesetz (Gesetz Nr. 3713) 2.892 Verurteilungen, davon 1.149 Haftstrafen und 210 bedingte Haftstrafen. Die Zahl der sonstigen Verurteilungen von Angeklagten vor Strafgerichten nach dem Anti-Terror-Gesetz betrug 751 (MoJ - GDJR S 2022, S. 95, 98, 102, 112, 154, 157, 163, 166, 181, 184; S. 63, 113, 122, 140, 158, 167).
Verfolgt werden Personen auch nach dem Gesetz Nr. 6415 (2003), dem Gesetz zur Verhinderung der Finanzierung des Terrorismus'. 2024 wurden laut offizieller Statistik gegen fast 11.000 Verdächtige ermittelt. Gerichtlich verfolgt wurden 2024 810 Personen (MoJ - GDJR S 3.2025, S. 76f.). Im Oktober 2024 wurde beispielsweise Hatice Onaran, Mitglied des Gefängnisausschusses des türkischen Menschenrechtsvereins İHD, gemäß dem Gesetz Nr. 6415 zu vier Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt. Grund dafür war, dass sie acht Personen, die sich wegen terrorismusbezogener Straftaten in Haft befanden, kleinere Geldsummen zur Deckung persönlicher Bedürfnisse überwiesen hatte (AI 29.4.2025; vgl. ANF 15.4.2025).
Faires Verfahren
Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und Organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2024 betrafen von den 73 Urteilen, wobei 67 hiervon zumindest eine Verletzung umfassten, des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 19 das "Recht auf Freiheit und Sicherheit" und 13 das "Recht auf ein faires Verfahren" (ECHR 22.1.2025). Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obgleich dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist (ÖB Ankara 4.2025, S. 10f.).
Bereits im Juni 2020 wies der damalige Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, Zühtü Arslan [Anm.: am 21.3.2024 aus dem Amt geschieden], darauf hin, dass die Mehrzahl der Rechtsverletzungen (52 %) auf das Fehlen eines Rechts auf ein faires Verfahren zurückzuführen ist, was laut Arslan auf ein ernstes Problem hinweise, das gelöst werden müsse (Duvar 9.6.2020). 2022 zitiert das Europäische Parlament den Präsidenten des türkischen Verfassungsgerichtes, wonach mehr als 73 % der über 66.000 im Jahr 2021 eingereichten Gesuche sich auf das Recht auf ein faires Verfahren beziehen, was den Präsidenten veranlasste, die Situation als katastrophal zu bezeichnen (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 16).
Einschränkungen für den Rechtsbeistand
Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte bis zur Anklageerhebung keine Akteneinsicht nehmen können (AA 20.5.2024, S. 12; vgl. AI 26.10.2020). Gerichtliche Geheimhaltungsbeschlüsse werden regelmäßig ohne konkrete Begründung erteilt, vor allem fehlt ihnen die notwendige Abwägung zwischen den Grundrechten des Beschuldigten und der Gefährdung des Untersuchungszwecks. Teilweise wird nicht einmal Akteneinsicht in jene Teile der Ermittlungsakte gewährt, die nach der gesetzlichen Regelung nicht von der Akteneinsicht ausgeschlossen werden dürfen (Pro Asyl 9.2024, S. 7). Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 20.5.2024, S. 12; vgl. AI 26.10.2020). Einerseits werden oftmals das Recht auf Zugang zur Justiz und das Recht auf Verteidigung aufgrund der vorgeblichen Vertraulichkeit der Unterlagen eingeschränkt, andererseits tauchen gleichzeitig in den Medien immer wieder Auszüge aus den Akten der Staatsanwaltschaft auf, was zu Hetzkampagnen gegen die Verdächtigten/Angeklagten führt und nicht selten die Unschuldsvermutung verletzt (ÖB Ankara 4.2025, S. 12).
Einschränkungen für den Rechtsbeistand ergeben sich auch bei der Festnahme und in der Untersuchungshaft. - So sind die Staatsanwälte beispielsweise befugt, die Polizei mit nachträglicher gerichtlicher Genehmigung zu ermächtigen, Anwälte daran zu hindern, sich in den ersten 24 Stunden des Polizeigewahrsams mit ihren Mandanten zu treffen, wovon sie laut Human Rights Watch auch routinemäßig Gebrauch machen. Die privilegierte Kommunikation von Anwälten mit ihren Mandanten in der Untersuchungshaft wurde faktisch abgeschafft, da es den Behörden gestattet ist, die gesamte Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant aufzuzeichnen und zu überwachen (HRW 10.4.2019; vgl. Pro Asyl 9.2024, S. 111). Laut von Pro Asyl befragten Rechtsanwälten besteht der Hauptzweck der Einschränkung des Zugangs zu einem Rechtsbeistand in den ersten 24 Stunden darin, zu erreichen, dass Beschuldigte in informellen Vernehmungen gegen sich selbst und gegen andere aussagen, oder auch die Person durch Beeinflussung zu "tätiger Reue" zu bewegen und sie zu einem "geheimen Zeugen" zu machen (Pro Asyl 9.2024, S. 109).
Ein prominentes Beispiel hierfür: In seinem Urteil vom 6.6.2023 in der Rechtssache Demirtaş und Yüksekdağ Şenoğlu [seit November 2016 in Haft] gegen die Türkei entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrheitlich (mit 6 gegen 1 Stimme), dass ein Verstoß gegen Artikel 5 Absatz 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf eine rasche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung) vorliegt. Die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP beschwerten sich darüber, dass sie keinen wirksamen Rechtsbeistand erhalten hatten, um gegen ihre Untersuchungshaft zu klagen, da die Gefängnisbehörden ihre Treffen mit ihren Anwälten überwacht und die mit ihnen ausgetauschten Dokumente beschlagnahmt hatten. Der EGMR war der Ansicht, dass die nationalen Gerichte keine außergewöhnlichen Umstände dargelegt hatten, die eine Abweichung vom Grundprinzip der Vertraulichkeit der Gespräche der Beschwerdeführer mit ihren Rechtsanwälten rechtfertigen könnten, und dass die Verletzung des Anwaltsgeheimnisses den Beschwerdeführern einen wirksamen Beistand durch ihre Rechtsanwälte im Sinne von Artikel 5 § 4 der Konvention vorenthalten hatte. In Anbetracht der in seinen früheren Urteilen getroffenen Feststellungen war der Gerichtshof außerdem der Ansicht, dass es nicht möglich war, das Vorliegen solcher Umstände nachzuweisen, da der Gerichtshof das Argument der türkischen Regierung vormals zurückgewiesen hatte, dass sich die Beschwerdeführer wegen terrorismusbezogener Straftaten in Untersuchungshaft befunden hätten. Schließlich stellte das Gericht fest, dass die nationalen Behörden keine detaillierten Beweise vorgelegt hatten, die die Verhängung der angefochtenen Maßnahmen gegen die Kläger im Rahmen des Notstandsdekrets Nr. 676 rechtfertigen könnten. Das Gericht entschied, dass die Türkei den Klägern jeweils 5.500 Euro an immateriellem Schaden und zusammen 2.500 Euro an Kosten und Auslagen zu zahlen hat (ECHR 6.6.2023).
Geheime bzw. anonyme Zeugen
Das Thema der geheimen Zeugenaussagen kam mit dem 2008 verabschiedeten Zeugenschutzgesetz auf die Tagesordnung. Trotz dutzender Skandale fällen die Gerichte nach wie vor Urteile auf der Grundlage der Aussagen anonymer bzw. geheimer Zeugen, bzw. sehen diese kritisch als ein politisches Instrument (Mezopotamya 2.8.2022; vgl. TM 26.11.2020). Die Entscheidung, die Identität eines Zeugen geheim zu halten, wird regelmäßig entgegen der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts und des EGMR nicht mit konkreten und objektiven Tatsachen begründet. In Terrorismusverfahren können die abstrakten und allgemeinen Aussagen solcher geheimer Zeugen jedoch zur wesentlichen und entscheidenden Grundlage für Verhaftungs- und Verurteilungsentscheidungen werden (Pro Asyl 9.2024, S. 84).
Ein Zeuge mit dem Codenamen "Garson" (Kellner) ist wahrscheinlich der bekannteste, da er Zeuge in einem Fall war, an dem rund 4.000 Polizisten, vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung, beteiligt waren. Problematisch sind insbesondere Fälle, bei denen sich herausstellt, dass die anonymen Zeugen gar nicht existieren. Etwa wurden die Aussagen des anonymen Zeugen "Mercek" zur Begründung für die Verurteilung vieler Politiker herangezogen, u. a. auch gegen den seit 2016 inhaftierten, ehemaligen Ko-Vorsitzenden der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş. Später stellte sich jedoch heraus, dass es diese Person gar nicht gab (Mezopotamya 2.8.2022; vgl. TM 26.11.2020). Mitunter geben die Behörden zu, dass es keine anonymen Zeugen gibt. So musste die Polizeibehörde von Diyarbakır 2019 eingestehen, dass eine anonyme Zeugin mit dem Codenamen "Venus", deren Aussage zur Festnahme und Inhaftierung zahlreicher Personen führte, in Wirklichkeit nicht existierte (NaT 19.2.2019). Im seit 2022 laufenden Verbotsverfahren gegen die HDP wurde zumindest ein anonymer Zeuge gehört, der laut der HDP-Parlamentarierin, Meral Danış-Beştaş, der Generalstaatsanwaltschaft Auskunft über die Parteifinanzen erteilte, was vermeintlich zur Sperrung der Parteienförderung für die HDP führte (Bianet 30.1.2023).
Im Februar 2022 stellte das Verfassungsgericht fest, dass die Aussagen geheimer Zeugen, die konkrete Tatsachen enthalten, als "starke Indizien für eine Straftat" akzeptiert werden können, ohne dass sie durch andere Beweise gestützt werden, und dass die auf diese Weise vorgenommenen Verhaftungen im Einklang mit dem Gesetz stehen würden (DW 17.2.2022; vgl. Duvar 18.2.2022). Allerdings liegt die Betonung auf "konkrete Tatsachen", denn das Urteil war die Folge einer laut Verfassungsgericht rechtswidrigen Verhaftung eines Gemeinderates in Diyarbakır-Eğil im Jahr 2020 und basierte auf einer geheimen Zeugenaussage, mit welcher der Gemeinderat der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" beschuldigt wurde. Diese Aussage war rechtswidrig weil "abstrakt" und eben nicht "konkret". Kritiker der Hinzuziehung geheimer bzw. anonymer Zeugen betrachten diese Praxis als Instrument, Zeugenaussagen zu fälschen und abweichende Meinungen und Widerstand zum Schweigen zu bringen (Duvar 18.2.2022).
Im Gegensatz zum Verfassungsgericht hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits Mitte Oktober 2020 entschieden, dass geheime Zeugenaussagen, welche die türkischen Gerichte insbesondere in Prozessen gegen politische Dissidenten als Beweismittel akzeptiert haben, nicht als ausreichendes Beweismaterial für eine Verurteilung angesehen werden können. Wenn die Verteidigung die Identität des Zeugen nicht kennt, wird ihr nach Ansicht des EGMR in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit genommen, die Glaubwürdigkeit des Zeugen infrage zu stellen oder in Zweifel zu ziehen. Infolgedessen können geheime Zeugenaussagen allein keine rechtmäßige Verurteilung begründen, es sei denn, eine Verurteilung stützt sich noch auf andere solide Beweise (SCF 26.11.2022; vgl. TM 26.11.2020).
Beleidigung des Präsidenten sowie die Herabwürdigung des türkischen Staates und der türkischen Nation als Strafbestand
"[E]ntsetzt über den grob missbräuchlichen Rückgriff auf Artikel 299 des Strafgesetzbuchs der Türkei über Beleidigungen des Präsidenten, die eine Haftstrafe zwischen einem und vier Jahren nach sich ziehen können", forderte das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 7.6.2022, "das Gesetz über die Beleidigung des Staatspräsidenten gemäß den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu ändern" (EP 7.6.2022, S. 10, Pt. 13). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Artikel 299 erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert. Dieses Privileg steht im Widerspruch zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in seiner Stellungnahme vom 19.10.2021 (Fall Vedat Şorli vs. Turkey) feststellte, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsieht, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (LoC 7.11.2021).
Die Zahl der Personen, gegen die nach den Artikeln 299 und 301 (Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen) des Strafgesetzbuches ermittelt wurde, stieg im Jahr 2022 laut den Statistiken des Ministeriums auf 16.753 von zuvor 12.304 im Jahr 2021 (TM 14.3.2024). Im Einzelnen wurden im Jahr 2021 gemäß Artikel 299 1.239 Personen zu Haftstrafen verurteilt, darunter nur zwei Minderjährige im Alter zwischen 15 und 17. 38 Personen wurden gemäß Artikel 300, der Herabwürdigung staatlicher Symbole, und 111 Personen (darunter auch ein Minderjähriger in der Altersklasse 12-14) laut Artikel 301 zu Gefängnisstrafen verurteilt. Sonstige Strafen gem. Artikel 299 wurden gegen 1.130, gem. Artikel 300 gegen 24 und dem Artikel 301 folgend gegen 87 Individuen verfügt [Anm.: Neuere Statistiken differenzieren nicht mehr nach einzelnen Artikeln des Strafgesetzbuches] (MoJ - GDJR S 2022, S. 120, 156).
Tabelle 1: MoJ – GDJR S 2022, S.97, 111, 120, 165, 181
Im Jahr 2024 wurden laut offizieller Statistik gemäß den Artikeln 299-301 des türkischen Strafgesetzbuches in Summe 6.124 Personen angeklagt, davon wurden 1.658 verurteilt (Anmerkung: Details zur Anzahl der Haftstrafen fehlen) und 1.807 freigelassen. Der Rest entfiel auf verschobene bzw. andersartige Urteile. 44 der Verurteilten waren Minderjährige, bei 299 minderjährigen Angeklagten (MoJ - GDJR S 3.2025, S. 100, 109).
Politisierung der Justiz - Vorgehen gegen Anwälte, Richter und Staatsanwälte
Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diesen vom Präsidenten zu ernennenden Gouverneuren der 81 Provinzen werden weitreichende Kompetenzen eingeräumt. Gesetz Nr. 7145 stärkt die Stellung der Gouverneure in ihrer jeweiligen Provinz. Sie können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten und auch Versammlungen untersagen. Sie haben zudem großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richter (ÖB Ankara 4.2025, S. 9; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 38, 42).
Berichten zufolge wurde mit dem Anwaltsgesetz von 2020 (Nr. 7249) ein weiterer Versuch unternommen, Anwälte zum Schweigen zu bringen. Damit wurde die Möglichkeit geschaffen, in großen Städten konkurrierende Anwaltskammern zu gründen, was zu einer Politisierung der Anwaltskammern und zur Schwächung der einheitlichen Stimme der Anwälte führte, die die Menschenrechte verteidigen und die Exekutive kritisieren (OHCHR 21.6.2024, S. 2; vgl. HRW 13.1.2021, UNHRCOM 28.11.2024, S. 9). Auch das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, S. 10, Pt. 19).
Das EGMR in Straßburg urteilte am 22.10.2024, dass die Türkei das Recht von zehn Richtern und Staatsanwälten auf ein faires Verfahren verletzt habe. Das Gericht stellte fest, der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) [inzwischen umbenannt in: Rates der Richter und Staatsanwälte - HSK] habe es versäumt, ausreichende Verfahrensgarantien wie formelle Anhörungen, Regeln für die Beweisführung und eine ausführliche Begründung seiner Entscheidungen in Bezug auf die zehn Antragsteller einzuhalten. In dem Fall "Şişman und andere gegen die Türkei" ging es um die unfreiwillige Versetzung (2014-2015) durch den HSYK in andere Städte oder in einem Fall um die Degradierung in derselben Stadt. Die türkische Regierung bestritt die Zuständigkeit des EGMR mit dem Argument, dass die Kläger während des innerstaatlichen Verfahrens keinen ausdrücklichen Antrag auf Zugang zu einem Gericht gestellt hätten. Außerdem seien die Kläger nach dem Putschversuch vom 15.07.2016 wegen angeblicher Anhängerschaft zur Gülen-Bewegung entlassen worden, was den Ausschluss einer gerichtlichen Überprüfung aus Gründen der nationalen Sicherheit rechtfertige. Der EGMR wies diese Argumente zurück und betonte, dass der HSYK aufgrund der Verfahrensmängel in seinem Prozess nicht als Gericht angesehen werden könne (BAMF 28.10.2024, S. 11; ECHR 22.10.2024).
Die Säuberungen im Justizwesen hatten am 14.1.2025 erneut Konsequenzen für die Türkei. Der EGMR gab der Klage von 42 ehemaligen Richtern und Staatsanwältin recht und verurteilte Ankara zu einem Schadensersatz zu je 7.800 Euro pro Kläger. Auch muss die Türkei zusätzlich insgesamt rund 80.000 Euro an Verfahrenskosten zahlen. Die Betroffenen waren beim damaligen Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte – HSYK (türkisch: Hakimler ve Savcılar Yüksek Kurulu) beschäftigt und wurden 2014 entlassen, ohne dass ihnen der Rechtsweg offen stand. Dies geschah vermeintlich als Reaktion auf den Korruptionsskandal vom Dezember 2013. Ermittler hatten damals Dutzende Geschäftsleute aus dem Umfeld von Präsident Recep Tayyip Erdogan, damals noch Ministerpräsident, festgenommen. Erdogan nannte das Vorgehen der Ermittler damals einen Putsch (FR 15.1.2025; vgl. TM 14.1.2025). - Im Mittelpunkt des Verfahrens stand das im Februar 2014 erlassene Gesetz Nr. 6524, mit dem der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK), der Vorgänger des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der die Ernennungen und die Disziplin der Richter überwacht, überarbeitet wurde. Das Gesetz von 2014 sah unter anderem vor, dass wichtige Mitarbeiter des HSYK, darunter Generalsekretäre, stellvertretende Sekretäre und Mitglieder des Inspektionsausschusses, ihre Posten aufgeben mussten. Obwohl das türkische Verfassungsgericht die Bestimmung später mit der Begründung aufhob, die Rechte der Richter seien verletzt worden, wurde das Urteil nicht rückwirkend angewandt, sodass die entlassenen Beamten weder wieder eingestellt noch entschädigt wurden (TM 14.1.2025).
Im vom "World Justice Project" jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2024 so wie im Vorjahr auf Rang 117 von 142 Ländern. Der statistische Indikator stagniert bei 0,42 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,31 (Rang 133 von 142), "zivile Gerichtsbarkeit" mit 0,40 (Rang 122 von 142), "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,29 (Platz 135 von 142) sowie bei der "Strafjustiz" mit 0,34 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,72, der dem globalen Durchschnitt entsprach (WJP 10.2024).
Konflikte der Höchstgerichte und deren Politisierung
Am 25.10.2023 entschied das Verfassungsgericht, dass der inhaftierte TİP-Politiker Can Atalay, der bei den Parlamentswahlen im Mai zum Abgeordneten gewählt worden ist, in seinem Recht zu wählen und gewählt zu werden sowie in seinem Recht auf persönliche Sicherheit und Freiheit verletzt wurde. Das Verfassungsgericht ordnete die Freilassung Atalays an. Das zuständige Strafgericht setzte dieses Urteil nicht um, sondern verwies den Fall an das Kassationsgericht. Dieses wiederum entschied am 9.11.2023 in Überschreitung seiner Zuständigkeit, dass das Urteil des Verfassungsgerichts nicht rechtserheblich und daher nicht umzusetzen sei, mit der Begründung, dass das Verfassungsrecht seine Kompetenzen überschritten habe. Überdies verlangte das Kassationsgericht, ein Strafverfahren gegen jene neun Richter des Verfassungsgerichts einzuleiten, welche für die Freilassung Atalays gestimmt hatten. Die Begründung des Kassationsgerichts hierfür lautete, dass diese Richter gegen die Verfassung verstoßen und ihre Befugnisse überschritten hätten. Staatspräsident Erdoğan unterstützte die Entscheidung des Kassationsgerichts, das Urteil des Verfassungsgerichts nicht umzusetzen. Er und andere AKP-Politiker junktimieren diese Frage mit dem prioritären Ziel der Regierung, eine neue Verfassung zu verabschieden, mit der Begründung, dass zur Lösung dieses Kompetenzkonfliktes eine Verfassungsreform nötig sei. Durch die Kritik Erdoğans am Verfassungsgericht wird die Umsetzung von Verfassungsgerichtsurteilen, insbesondere wenn diese der Umsetzung von EGMR-Urteilen dienen, und das Vertrauen in Unabhängigkeit der Justiz weiter geschwächt (ÖB Ankara 4.2025, S. 13; vgl. FH 26.2.2025, LTO 29.11.2023, Standard 9.11.2023). Erdoğans Regierungspartner Devlet Bahçeli, Chef der ultranationalistischen MHP, bezeichnete den Präsidenten des Verfassungsgerichts als Terrorist und verlangte, dass das Verfassungsgericht entweder geschlossen oder umstrukturiert werden muss. Passend dazu hatte kurz vorher die regierungstreue Zeitung Yeni Şafak mit Fotos der neun umstrittenen Verfassungsrichter getitelt und ihnen vorgeworfen, die "Pforte für Terroristen geöffnet" zu haben. - Anwälte verwiesen auf die türkische Verfassung, wonach Entscheidungen des Verfassungsgerichts endgültig sind und die gesetzgebenden, exekutiven und judikativen Organe sowie die Verwaltungsbehörden und natürliche, wie juristische Personen binden (Absatz 6). Für die Einleitung einer Untersuchung der Richter bräuchte es die Genehmigung der fünfzehnköpfigen Generalversammlung des Verfassungsgerichts, die für eine abschließende Entscheidung eine Zweidrittelmehrheit benötigt (LTO 29.11.2023). Richter des Verfassungsgerichts bekräftigten gegenüber dem Ko-Berichterstatter des Europarates im Juni 2024, dass das Urteil des Verfassungsgerichts bindend und die Nichteinhaltung auf die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts zurückzuführen sei, das sich geweigert habe, den Fall wieder aufzunehmen (CoE-PACE/MonComm 11.9.2024, Pt. 14). Das Parlament stimmte dafür, Atalay seinen Parlamentsstatus abzuerkennen, doch das Verfassungsgericht erklärte diesen Schritt im August 2024 für ungültig. - Insgesamt hatte das Verfassungsgericht in drei aufeinanderfolgenden Entscheidungen seine Freilassung angeordnet. - Atalay blieb (mit Stand Juli 2025) im Gefängnis, da die Pattsituation weiter anhielt und Berichten zufolge gegen mehrere Richter des Verfassungsgerichts strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet wurden (FH 26.2.2025, F1; vgl. AI 29.4.2025, BirGün 13.5.2025).
Infragestellung der Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte
Die Unzulänglichkeiten in Bezug auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz wurden nicht behoben. Der Grundsatz der Gewaltenteilung und der richterlichen Unabhängigkeit ist in der Verfassung und anderen Rechtsvorschriften verankert, die Politisierung der Justiz hat jedoch zugenommen. Erklärungen hochrangiger Regierungsvertreter zu laufenden Verfahren, öffentliche Angriffe auf Angeklagte und unzulässiger Druck auf Richter und Staatsanwälte hindern die Mitglieder der Justiz daran, ihre Aufgaben im Einklang mit den EU-Standards wahrzunehmen (EC 30.10.2024, S. 25).
Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme, wie Druck auf Richter und Staatsanwälte, unterlaufen (ÖB Ankara 4.2025, S. 10; vgl. EC 30.10.2024, S. 5). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (Hakimler ve Savcilar Kurumu - HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 11, CoE-PACE/MonComm 11.9.2024, Pt. 13). Mit der Verfassungsreform 2017 (Gesetz Nr. 6771) wurde der HSK auf 13 Mitglieder reduziert (von zuvor 22 Mitgliedern). Der HSK ist für die allgemeinen Aufgaben im Zusammenhang mit der Organisation und Funktionsweise des Justizwesens zuständig, einschließlich Ernennungen, Versetzungen, Beförderungen, Sanktionen und Entlassungen (OHCHR 21.6.2024, S. 2; vgl. SCF 3.2021, S. 5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019). Infolgedessen sind Staatsanwälte und Richter häufig auf der Linie der Regierung. Richter, die gegen den Willen der Regierung entscheiden, wurden abgesetzt und ersetzt, während diejenigen, die Erdoğans Kritiker verurteilen, befördert wurden (FH 26.2.2025, F1).
Sami Selçuk, vormaliger und Ehrenpräsident des Kassationsgerichts, kritisierte Ende Mai 2024 die in der Türkei weitverbreitete Praxis der Ersetzung von Richtern, insbesondere in politisch motivierten, kritischen Prozessen, wie z. B. in den Verfahren gegen Osman Kavala, den oppositionellen Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, und pro-kurdische Parlamentarier, darunter der inhaftierte Selahattin Demirtaş. Dementsprechen erklärte Selçuk, dass 99 Prozent der Gerichtsurteile in der Türkei "null und nichtig" seien. Die Kritik steht in einer Linie mit einer früheren Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats an die Mitgliedstaaten, wonach die Unabhängigkeit der Justiz davon abhängt, dass die Richter eine sichere Amtszeit haben, unabsetzbar sind, und eine Entlassung nur bei schwerwiegenden Verstößen gegen das Gesetz oder bei Unfähigkeit zulässig ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte in einem früheren Urteil festgestellt, dass Richter im türkischen Rechtsrahmen weder über eine solche Garantie noch über einen wirksamen Rechtsbehelf verfügen, um Entscheidungen über ihre Versetzung anzufechten, die sie nicht beantragt haben (TM 30.5.2024; vgl. SCF 30.5.2024).
Der Staatsrat (Verwaltungsgerichtshof) entschied im Oktober 2022 zugunsten der Wiedereinsetzung von 178 Richtern und Staatsanwälten, die im Rahmen der Notstandsdekrete von 2016 wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen worden waren, und begründete dies damit, dass die ihnen zur Last gelegten Handlungen nicht ausreichten, um ihre Verbindungen zur Bewegung zu beweisen. Der Staatsrat ordnete außerdem an, dass der Staat den Richtern und Staatsanwälten Entschädigung und Schadenersatz zahlen muss. Bis März 2023 waren 3.683 der Entlassungsverfahren abgeschlossen und die Verfahren liefen noch. 845 entlassene/suspendierte Richter und Staatsanwälte wurden wieder in ihr Amt eingesetzt (EC 8.11.2023, S. 26). Allerdings kritisierte Präsident Erdoğan Anfang 2024 die Entscheidung des Staatsrats, 387 Richter und Staatsanwälte - Erdoğan bezeichnete diese als "Fliegen" aus dem "FETÖ-Sumpf" - wiedereinzustellen. Daraufhin kündigte Justizminister Yılmaz Tunç an, dass die Entscheidung des Staatsrats vom HSK überprüft werde (HRW 16.6.2025; vgl. HDN 19.2.2024).
Das Fehlen objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und vorab festgelegter Kriterien für die Einstellung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten gibt weiterhin Anlass zur Sorge (EC 8.11.2023, S. 5, 24). Das System zur Auswahl, Einstellung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten ist nicht transparent. (EC 30.10.2024, S. 26). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2025-2029 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt. Es wurden (Stand: Dez. 2023) keine Maßnahmen gesetzt, um den Empfehlungen der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 nachzukommen. Diese hatte festgestellt, dass die Entscheidungsprozesse betreffend die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten unzulänglich seien und jede Entlassung eines Richters individuell begründet und auf verifizierbare Beweise abgestützt sein müsse (ÖB Ankara 4.2025, S. 11). Häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten beeinträchtigte weiterhin die Qualität der Justiz, ebenso wie die Ernennung von neu eingestellten und weniger erfahrenen Richtern und Staatsanwälten an den Strafgerichten (EC 8.11.2023, S. 26; vgl. EC 30.10.2024, S. 27). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignorierten (ÖB Ankara 4.2025, S. 13; vgl. EC 19.10.2021, S. 23). So wurden nach der Entlassung eines Drittels der Richterschaft nach Angaben des Hohen Justizrats der Türkei seit Juli 2016 9.914 Richter und Staatsanwälte von der Regierung eingestellt. Die Informationen deuten laut Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen darauf hin, dass sich die Situation abschreckend auf die Justiz ausgewirkt hat und dass das Ausmaß der Massenentlassungen und Neueinstellungen Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit der neuen Richter und Staatsanwälte aufkommen lässt, die offenbar in aller Eile rekrutiert wurden. Die verbleibenden Richter und Staatsanwälte üben sich möglicherweise in einem allgemeinen Klima der Angst in Selbstzensur (OHCHR 21.6.2024, S. 2).
Während kein Mitglied des HSK tatsächlich von Richtern oder Staatsanwälten ernannt wird, nominiert der Präsident der Republik vier Mitglieder aus den Reihen ordentlicher Richter und Staatsanwälte und das Parlament wählt sieben Mitglieder aus dem Kreise des Kassationsgerichtshofs (3), des Staatsrats [Anm.: entspricht dem Verwaltungsgerichtshof] (1) sowie Rechtswissenschaftler oder Juristen (3). Der vom Präsidenten der Republik ernannte Justizminister und sein Unterstaatssekretär bilden die beiden verbleibenden Mitglieder, wobei der Minister den Vorsitz im HSK führt. Da fast die Hälfte des Rates vom Präsidenten der Republik ernannt wird und das Justizministerium den Vorsitz im Rat führt, stehen die Karrieren von Richtern und Staatsanwälten im ganzen Land de facto unter der Kontrolle der Exekutive, wodurch die unabhängige Rechtsprechung der Justiz gefährdet wird (OHCHR 21.6.2024, S. 2f.; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 11, SCF 3.2021, S. 46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus (ÖB Ankara 4.2025, S. 11). Das European Network of Councils for the Judiciary (ENCJ) setzte den Beobachterstatus des (Hohen) Rates für Richter und Staatsanwälte im Dezember 2016 aus, da er die ENCJ-Satzung nicht mehr erfüllte, die vorschreibt, dass er als eine von der Exekutive und Legislative unabhängige Institution fungiert (OHCHR 21.6.2024, S. 3; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 11, UNHRCOM 28.11.2024, S. 9).
Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB Ankara 30.11.2021, S. 7f). - Die Amtszeit der 15 Mitglieder des Gerichts ist auf zwölf Jahre begrenzt. Zwölf Mitglieder werden vom Präsidenten aus einer Liste von Kandidaten ernannt, die von obersten Gerichten oder aus dem Kreis hochrangiger Bürokraten vorgeschlagen werden, während drei Mitglieder vom Parlament ernannt werden, das derzeit von Erdoğans regierender AKP dominiert wird. - Mit der Nominierung von Metin Kıratlı, eines Spitzenbürokraten aus dem Präsidentenpalast, zum Verfassungsrichter im Juli 2024, hat Staatspräsident Erdoğan mittlerweile zehn der 15 Verfassungsrichter ernannt (TM 18.7.2024). Das Verfassungsgericht hat seit 2019 zwar eine gewisse Unabhängigkeit gezeigt, doch ist es nicht frei von politischer Einflussnahme und fällt oft Urteile im Sinne der Interessen der regierenden AKP (FH 26.2.2025, F1). Siehe hierzu Beispiele in diversen Kapiteln!
Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB Ankara 4.2025, S. 11f.).
Aufbau des Justizsystems
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Höchstgerichte sind gemäß der Verfassung das Verfassungsgericht (auch Verfassungsgerichtshof bzw. Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) als oberste Instanz in Verwaltungsangelegenheiten, der Kassationsgerichtshof (Yargitay) als oberste Instanz in zivil- und strafrechtlichen Angelegenheiten [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB Ankara 4.2025, S. 9).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Da die Friedensrichter als von der Regierung selektiert und ihr loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Venedig-Kommission des Europarates forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z. B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sondern wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurden, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden (ÖB Ankara 4.2025, S. 9f.). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten ist für einen bestimmten Katalog von Straftaten bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, S. 24; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 10).
Rolle des Verfassungsgerichts
Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde (bireysel başvuru) beim Verfassungsgericht. Die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden kann durch Ausschüsse einer Vorprüfung unterzogen werden. Sie ist nur gegen Gerichtsentscheidungen letzter Instanz, nicht gegen Gesetze statthaft (RRLex 7.2023, S. 4; vgl. AA 20.5.2024, S. 5), eingeführt u. a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Die Individualbeschwerde hat große Akzeptanz gefunden, ist jedoch stark formalisiert und leidet unter langer Verfahrensdauer (RRLex 7.2023, S. 4).
Infolge der teilweise sehr lang andauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge Mahkemeleri) eingerichtet worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Denn große Teile der Richterschaft arbeiten unter erheblichen Druck, um die Rückstände bei den Verfahren aufzuarbeiten bzw. laufende Verfahren abzuschließen (ÖB Ankara 4.2025 S. 10).
Der Widerstand der türkischen Gerichte oder auch des Parlaments, sich an die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zu halten, ist ein Problem, was durch wiederholte verbale Angriffe von Amtsträgern auf das Verfassungsgericht noch verstärkt wird (CoE-PACE/MonComm 11.9.2024, Pt. 14). Das heißt, untergeordnete Gerichte ignorieren mitunter die Umsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts oder verzögern sie erheblich. Das Ministerkomitee des Europarats berichtete, dass die meisten EGMR-Entscheidungen zur Gedanken-, Meinungs- und Pressefreiheit nicht umgesetzt wurden (USDOS 22.4.2024, S. 13; vgl. EC 30.10.2024, S. 20, 25f.). Das Verfassungsgericht hat aber auch uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).
Abgesehen vom Ignorieren von Urteilen des Verfassungsgerichtes und des EGMR durch untergeordnete Gerichte ignorierten auch die Behörden weiterhin bindende Gerichtsentscheidungen zu Verletzungen der Standards für ein faires Gerichtsverfahren (AI 29.4.2025).
Präsidentendekrete
Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war [Siehe auch Kapitel: Politische Lage]. Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen gewisse Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).
Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft
Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB Ankara 4.2025, S. 13f.). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welches ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 12.10.2022, S. 43). Auf Basis des Anti-Terrorgesetzes Nr. 3713 kann der Zugang einer in Polizeigewahrsam befindlichen Person zu einem Rechtsvertreter während der ersten 24 Stunden eingeschränkt werden (ÖB Ankara 4.2025, S. 14).
Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre). Die Gründe für eine Untersuchungshaft sind in der türkischen Strafprozessordnung (StPO) festgelegt: Fluchtgefahr; Verhalten des Verdächtigen/Beschuldigten (Verdunkelungsgefahr und Beeinflussung von Zeugen, Opfer etc.) sowie Vorliegen dringender Verdachtsgründe, dass eine der in Art. 100 (3) StPO taxativ aufgezählten Straftaten begangen wurde, wie zum Beispiel Genozid, Schlepperei und Menschenhandel, Mord, sexueller Missbrauch von Kindern. Zu den im vierten Justizreformpaket von Juli 2021 angenommenen Änderungen betreffend die Verhaftung aufgrund von Verbrechen, die unter sog. "Katalogverbrechen" fallen und bei denen jedenfalls die Notwendigkeit einer Untersuchungshaft angenommen wird, zählen z. B. Terrorismus und organisiertes Verbrechen (ÖB Ankara 4.2025, S. 14).
Beschwerdekommission zu den Notstandsmaßnahmen (OHAL)
Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es laut offiziellen Angaben zur unehrenhaften Entlassung oder Suspendierung per Dekret von 125.678 öffentlich Bediensteten, darunter ein Drittel aller Richter 15.000 und Staatsanwälte. Deren Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht (ÖB Ankara 4.2025, S. 20).
Bis Jänner 2023 waren laut Beschwerdekommission die Klassifizierung, Registrierung und Archivierung von insgesamt fast einer halben Million Akten, darunter Personalakten, die von ihren Institutionen übernommen wurden, Gerichtsakten und frühere Bewerbungen, abgeschlossen. Bis zum 12.1.2023 waren 127.292 Anträge gestellt worden. Davon hat die Kommission seit ihrer Errichtung im Dezember 2017 alle Anträge bearbeitet, wobei lediglich 17.960 positiv gelöst wurden. 72 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen, Schulen, Zeitungen und Fernsehstationen (ICSEM 1.2023; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 20). Es bestehen nach wie vor große Bedenken hinsichtlich der Qualität der Arbeit der Untersuchungskommission, auch wenn sie die Prüfung aller Fälle abgeschlossen hat. Bezweifelt wird, ob die Fälle einzeln geprüft und die Verteidigungsrechte gewahrt wurden und ob das Bewertungsverfahren internationalen Standards entsprach (EC 8.11.2023, S. 23; vgl. UNHRCOM 28.11.2024, S. 10f.).
Die Beschwerdekommission stand in der internationalen Kritik, da es ihr an genuiner institutioneller Unabhängigkeit mangelt. Sämtliche Mitglieder wurden von der Regierung ernannt (ÖB Ankara 4.2025, S. 20). Betroffene hatten keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrechterhalten wurde, stützte sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zog an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 20; vgl. EC 12.10.2022, S. 23). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird (bzw. wurde) auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen kritisiert (ÖB Ankara 4.2025, S. 20).
Missachtung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR)
Die Entscheidungen der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte zur Umgehung von Urteilen des EGMR zeigen zwei Haupttendenzen: Staatsanwälte und Richter in den türkischen Gerichten der ersten Instanz, dem Obersten Gerichtshof und dem Verfassungsgericht setzen viele Urteile des EGMR einfach nicht um, ignorieren diese vollständig und verfolgen und verurteilen Personen weiterhin genau aus den Gründen, in Anbetracht derer der EGMR systemische Probleme festgestellt und allgemeine Maßnahmen angeordnet hat. Eine weitere Umgehungstaktik besteht darin, dass Staatsanwälte und Richter mehrmals sich überschneidende Strafanzeigen und Verfahren auf der Grundlage derselben oder ähnlicher faktischer und rechtlicher Gründe einleiten. Diese Taktik wurde in den Rechtssachen Kavala gegen Türkei und Selahattin Demirtaş gegen Türkei ausführlich dokumentiert, in denen die Justizbehörden im Wesentlichen dieselben Tatsachen als neue "Straftaten" einstuften, um die fortdauernde Inhaftierung zu rechtfertigen (HRW 16.6.2025).
Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei (AA 20.5.2024, S. 16). EGMR stellte in neuen Urteilen Verstöße gegen die EMRK fest. Diese betrafen hauptsächlich das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, übermäßige Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte, ungerechtfertigte Inhaftierung, das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht auf Freiheit und Sicherheit sowie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Derzeit (Stand November 2024) stehen 185 Fälle gegen die Türkei unter verstärkter Überwachung durch das Ministerkomitee des Europarates. Im Juni 2024 forderte das Ministerkomitee des Europarats die türkische Regierung erneut auf, den Urteilen des EGMR nachzukommen und den ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Demirtaş und den Menschenrechtsverteidiger Kavala freizulassen. Im April 2024 gewährte der EGMR einem zweiten von Osman Kavala eingereichten Fall den Status der Priorität (EC 30.10.2024, S. 29).
Zuletzt forderten die Ko-Berichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarates - PACE (Lord David Blencathra und Stefan Schennach) anlässlich einer Fact-Finding-Mission in der Türkei im Juni 2025 die Behörden erneut auf, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den Fällen Osman Kavala, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ Şenoğlu unverzüglich umzusetzen. Diese Personen sind seit fast oder mehr als acht Jahren inhaftiert, was einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention darstellt. Die Umsetzung der Urteile des Straßburger Gerichtshofs ist keine Option, sondern eine in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte rechtliche Verpflichtung, so die Ko-Berichterstatter (CoE-PACE 23.6.2025).
Das vom Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren läuft ebenso weiter (AA 20.5.2024, S. 16) wie das Monitoring durch die Parlamentarische Versammlung des Europrates (EC 30.10.2024, S. 29).
II.1.6.4. Sicherheitsbehörden
Die Regierung (Exekutive) verfügt zwar weiterhin über weitreichende Befugnisse gegenüber den Sicherheitskräften, aber die zivile Aufsicht über die Sicherheitsorgane bleibt unvollständig. Zudem fehlt es an wirksamen Kontrollmechanismen etwa hinsichtlich Verantwortung und Rechenschaft. Die parlamentarische Aufsicht über die Sicherheitsinstitutionen muss laut Europäischer Kommission gestärkt werden. In den Sicherheits- und Nachrichtendiensten herrscht nach wie vor eine Kultur der Straflosigkeit, da das Personal in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung de facto gerichtlichen und administrativen Schutz genießt (EC 30.10.2024, S. 21). Bei der strafrechtlichen Verfolgung von Militärangehörigen und der obersten Kommandoebene werden weiterhin rechtliche Privilegien gewährt. Die Untersuchung mutmaßlicher militärischer Straftaten, die von Militärangehörigen begangen wurden, erfordert die vorherige Genehmigung entweder durch militärische oder zivile Vorgesetzte (EC 8.11.2023, S. 17). Es gibt zwar offizielle Stellen, bei denen Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen und missbräuchliche Behandlung durch die Polizei und andere Sicherheitsbehörden eingereicht werden können, doch aufgrund der vorherrschenden Kultur der Straflosigkeit ist es unwahrscheinlich, dass eine Beschwerde einer gefährdeten Gruppe, wie einer ethnischen Minderheit oder politischen Aktivisten, zur Strafverfolgung eines Angehörigen der Sicherheitskräfte führt (DFAT 16.5.2025, S. 38).
Das Militär ist zuständig für die territoriale Verteidigung und trägt die Gesamtverantwortung für die Grenzsicherheit (DFAT 16.5.2025, S. 38; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 1). Seit 2003 jedoch wurden die Befugnisse des Militärs schrittweise beschränkt und hohe Positionen innerhalb der Streitkräfte im Laufe der Zeit durch regierungsnahe Persönlichkeiten ersetzt. Diese Politik hat sich seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016, nach dem 29.444 Angehörige aus den türkischen Streitkräften (hier allein: 15.000), der Gendarmerie und der Küstenwache entlassen wurden, noch einmal verstärkt. Die Einschränkung der Macht des Militärs wurde in der Bevölkerung und der Politik zum Teil sehr begrüßt. Allerdings zeigt sich gegenwärtig, dass mit diesem Prozess nicht die Stärkung der demokratischen Institutionen einhergeht. Die Umstrukturierung der Streitkräfte soll den Einfluss des Militärs nochmals einschränken, u. a. durch den Ausbau politischer Kontrollmechanismen. Der geplante Einflussverlust etwa des Generalstabs macht sich daran fest, dass einerseits einige seiner Kompetenzen an das Verteidigungsministerium übergehen und dass der Generalstab, wie auch andere militärische Institutionen, andererseits vermehrt mit ideologisch und persönlich loyalen Personen besetzt werden soll. Während die drei Teilstreitkräfte nun dem Verteidigungsministerium direkt unterstellt sind, sind die paramilitärischen Einheiten dem Innenministerium angegliedert. Auch der Hohe Militärrat, die Kontrolle der Militärgerichtsbarkeit, das Sanitätswesen der Streitkräfte und das militärische Ausbildungswesen werden zunehmend zivil besetzt (BICC 2.2025, S. 2, 18., 25).
Die Polizei und die Gendarmerie (türk.: Jandarma), die dem Innenministerium unterstellt sind, sind für die Sicherheit in städtischen Gebieten (Polizei) respektive in ländlichen und Grenzgebieten (Gendarmerie) zuständig (ÖB Ankara 4.2025, S. 21; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 1). Die Gendarmerie ist für die öffentliche Ordnung in ländlichen Gebieten, die nicht in den Zuständigkeitsbereich der Polizeikräfte fallen, sowie für die Gewährleistung der inneren Sicherheit und die allgemeine Grenzkontrolle zuständig. Die Verantwortung für die Gendarmerie wird jedoch in Kriegszeiten dem Verteidigungsministerium übergeben (BICC 2.2025, S. 18; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 21, DFAT 16.5.2025, S. 39).
Die Polizei ist für die Strafverfolgung in der Türkei zuständig. Die Polizei untersteht zwar letztlich dem Innenministerium, führt ihre Aufgaben jedoch unter der Leitung und Kontrolle der Zivilbehörden, darunter Gouverneure und Leiter der Bezirksverwaltungen, aus. Gemäß dem Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei (2004) besteht die Hauptaufgabe der Polizei darin, Straftaten zu verhindern, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten, Personen und Eigentum zu schützen sowie Straftäter zu ermitteln, festzunehmen und zu überstellen und Beweismittel an die zuständigen Justizbehörden zu übergeben (DFAT 16.5.2025, S. 38). Die Polizei weist eine stark zentralisierte Struktur auf. Durch die polizeiliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Innenministerium untersteht sie der Kontrolle der jeweiligen Regierungspartei. Wechselnde Regierungen versuchten, mittels Stärkung der Polizei die eigene Macht gegenüber dem Militär auszubauen. Nach Ermittlungen der Polizei wegen Korruption und Geldwäsche gegen ranghohe AKP-Funktionäre 2013, insbesondere aber seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden massenhaft Polizisten entlassen (BICC 2.2025, S. 2). Die Polizei hatte 2023 einen Personalstand von fast 339.400 (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21).
Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (AnA 27.3.2015).
Die Gendarmerie mit einer Stärke von - je nach Quelle - zwischen 152.100 und 275.000 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21; vgl. BICC 2.2025, S. 17, DFAT 16.5.2025, S. 39). Selbiges gilt für die 4.700 Mann starke Küstenwache (BICC 2.2025, S. 17).
Das Generalkommando der Gendarmerie beaufsichtigt auch die sogenannten Dorfschützer (Köy Korucusu), 2017 in Sicherheitswächter (Güvenlik Korucusu) umbenannt. Diese sind paramilitärische Einheiten [oft kurdischer Herkunft], welche vornehmlich in ländlichen Regionen im Südosten der Türkei hauptsächlich zur Bekämpfung der PKK eingesetzt werden (DFAT 16.5.2025, S. 39; vgl. BAMF 2.2023, S. 1). Das System der Dorfschützer behindert allerdings weiterhin die Rückkehr vertriebener Dorfbewohner und stellt ein Hindernis für eine politische Lösung der kurdischen Frage dar. Einige Dorfschützer wurden mit Menschenrechtsverletzungen und übermäßiger Gewaltanwendung gegen die kurdische Bevölkerung in Verbindung gebracht (EC 30.10.2024, S. 22).
Gemäß einer Studie sollen Dorfbewohner dem Dorfschützersystem in der Vergangenheit zwangsweise als Teil ihres Clans, aus finanzieller Notwendigkeit oder aufgrund von Zwangsrekrutierungen durch staatliche Sicherheitskräfte beigetreten sein (BAMF 2.2023; vgl. JSPP/Acar Y.G. 18.12.2019). Sowohl die Dorfschützer als auch die Opfer von Dorfschützern erzählten Ähnliches über den Druck, Dorfschützer zu werden, und die Räumung der Dörfer: Die Sicherheitskräfte betraten das Dorf und sagten den Dorfbewohnern, dass sie Dorfschützer werden oder ihr Dorf verlassen müssen. Wenn die Dorfbewohner nicht in der Lage waren, sich zwischen der Ablehnung oder der Annahme, Dorfwächter zu werden, zu entscheiden, räumten die Soldaten ihr Dorf (JSPP/Acar Y.G. 18.12.2019). In den letzten Jahren wurden keine Berichte über Zwangsrekrutierungen bekannt. Inzwischen können sich Personen, die sich für eine Einstellung als Dorfschützer interessieren, bei der Dorfverwaltung bewerben (BAMF 2.2023).
Einige der traditionellen Militäraufgaben sollen durch die Polizei, die zunehmend mit schweren Waffen ausgestattet wird, übernommen werden. Diese Reformen setzen einen Trend fort, der sich schon in den kurdisch dominierten Gebieten im Südosten der Türkei abgezeichnet hat. Sichtbar wurde dies auch im Rahmen von Militärintervention "Olivenzweig" in der nordsyrischen Provinz Afrin im Jänner 2018 (BICC 2.2025, S. 18).
Polizei, Gendarmerie und auch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen (AA 20.5.2024, S. 6).
Die 2008 abgeschaffte "Nachbarschaftswache" alias "Nachtwache" (türk.: Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Von 29.000 mit Stand Herbst 2020 (TM 28.11.2020) ist die ihre Zahl (mit Beginn 2023) auf rund 40.000 angewachsen. Das türkische Innenministerium will 1.200 neue "Bekçis" einstellen. Dabei handelt es sich um Wachleute, die, bewaffnet mit Waffe und Schlagstock, vor allem nachts für Ordnung sorgen sollen. Die neuen Sicherheitskräfte sollen in 26 Provinzen zum Einsatz kommen (FR 20.1.2023). Sie werden nach nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt (BIRN 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse erweitert (BIRN 10.6.2020; vgl. Spiegel 9.6.2020). Das neue Gesetz gibt ihnen die Befugnis, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, Identitätskontrollen durchzuführen, Personen und Autos zu durchsuchen sowie Verdächtige festzunehmen und der Polizei zu übergeben (MBZ 2.3.2022; S. 19; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 20). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKP-Miliz" kritisiert, und sollen für ihre Aufgaben kaum ausgebildet sein (AA 20.5.2024, S. 6; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 20, BIRN 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Vor allem kritisiert die Opposition, dass Erdoğan ein ihm loyal verbundenes Gegengewicht zur Gendarmerie und Polizei aufbaut (FR 20.1.2023). Den Einsatz im eigenen Wohnviertel sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Mit der Gesetzesänderung tauchten u. a. Bilder auf, wie die neuen Sicherheitskräfte willkürlich Personen kontrollieren und Gewalt ausüben (FR 20.1.2023). Laut Informationen des niederländischen Außenministeriums handeln die Bekçi in der Regel nach ihren eigenen nationalistischen und konservativen Normen und Werten. So griffen sie beispielsweise ein, wenn jemand auf Kurdisch öffentlich sang, einen kurzen Rock trug oder einen "extravaganten" Haarschnitt hatte. Wenn die angehaltene Person nicht kooperierte, wurden ihr Handschellen angelegt und sie wurde der Polizei übergeben (MBZ 2.3.2022, S. 19). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weitverbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). Beispiele für Übergriffe der Nachtwache: Im August 2021 wurden drei Journalisten von Mitgliedern der Nachtwache attackiert, weil sie über das nächtliche Verschwinden eines, später tot aufgefundenen, Kleinkindes im Istanbuler Ortsteil Beylikdüzü berichteten (SCF 19.8.2021). Im Mai 2022 wurde angeblich eine 16-Jährige durch Angehörige der Nachtwache in Istanbul verhaftet und sexuell belästigt (SCF 11.5.2022). Und Mitte Juli 2022 wurden drei Transfrauen in der westtürkischen Provinz Izmir von Mitgliedern der Nachtwache im Rahmen einer Ausweiskontrolle mit Tränengas besprüht, geschlagen und in Handschellen auf die Polizeistation gebracht (Duvar 18.7.2022).
Das Verfassungsgericht entschied mit seinem am 1.6.2023 veröffentlichten Urteil, dass Nachbarschaftswachen nicht mehr befugt sind, Maßnahmen zu ergreifen, um Demonstrationen zu verhindern, die die öffentliche Ordnung stören könnten. Derartige Befugnisse würden einen Verstoß gegen das Versammlungs- und Demonstrationsrecht darstellen. Das Verfassungsgericht bestätigte allerdings, dass die Nachbarschaftswachen weiterhin befugt sind, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen sowie Identitätskontrollen durchzuführen (MBZ 31.8.2023, S. 20).
Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichten- und Geheimdienststellen. Ebenso unterhält die Gendarmerie einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte gesetzliche Immunität. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB Ankara 4.2025, S. 22f.).
Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei [Anm.: Generaldirektion für Sicherheit - Emniyet Genel Müdürlüğü/ EGM] und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die Türkischen Streitkräfte (TSK), EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vgl. Ahval 7.1.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich über die neuen Rechtsvorschriften besorgt (EP 19.5.2021, S. 15, Pt. 38).
Das türkische Verfassungsgericht hat mehrere Artikel zweier Gesetze über den Ausnahmezustand im Jänner 2023 für nichtig erklärt. Unter anderem erklärte es eine Bestimmung für nichtig, wonach Angehörige der türkischen Streitkräfte (TSK), des Generalkommandos der Gendarmerie, des Kommandos der Küstenwache und der Generaldirektion für Sicherheit wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation aus dem Dienst entfernt werden können, ohne dass eine Untersuchung gegen sie durchgeführt wird. Überdies wurde eine Verordnung, die vorsah, dass der türkische Geheimdienst (MİT) ohne Ausnahmen vom Geltungsbereich des Gesetzes Nr. 4982 über das Recht auf Information ausgenommen wird, für ungültig erklärt, da sie "die Möglichkeit, das Recht auf Information auszuüben, vollständig abschafft" (TM 16.1.2023).
II.1.6.5. Folter und unmenschliche Behandlung
Rechtsrahmen
Die Verfassung und das Gesetz verbieten Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (USDOS 22.4.2024, S. 4). Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 20.5.2024, S. 16). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (Optional Protocol to the Convention Against Torture/ OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB Ankara 4.2025, S. 44). Das Anti-Folter-Komitee der Vereinten Nationen (Committee against Torture - CAT) zeigte sich jedoch im August 2024 besorgt, dass Artikel 94 des Strafgesetzbuches die in der Konvention enthaltene Definition von Folter nicht vollständig umfasst (CAT 14.8.2024, S. 2).
Entwicklungen und aktuelle Situation
Insbesondere nach dem Wiederaufflammen des Konflikts [Anm.: zwischen dem türkischen Staat und der PKK] im Juli 2015 und nach dem Putschversuch verhängten Ausnahmezustand (2016) sind Folter und andere Formen der Misshandlung an offiziellen Haft- und Internierungsorten, einschließlich Gefängnissen, sowie bei Eingriffen von Strafverfolgungsorganen bei friedlichen Versammlungen und Demonstrationen, aber auch an inoffiziellen Haftorten und in Umgebungen außerhalb von Haftanstalten, auf der Straße und auf offenem Gelände oder in Bereichen wie Wohnungen und Arbeitsplätzen auf ein außerordentliches Niveau gestiegen (TİHV/HRFT 11.2024, S. 17; vgl. EC 30.10.2024, S. 30, ÖB Ankara 4.2025, S. 44, İHD/HRA/TİHV/HRFT/TMA/TTB 26.6.2024, S. 2, MBZ 2.2025a, S. 43).
Mehr als 40 NGOs hatten während der 80. Sitzung des UN-Komitees gegen Folter (CAT) vom 8. bis 26.7.2024 Berichte vorgelegt, in denen sie sowohl systematische Folterungen und Misshandlungen, das Verschwindenlassen von Personen, extralegale Hinrichtungen als auch die weitestgehend vorhandene Straffreiheit für Sicherheitskräfte, die mit Folter und Misshandlungen in Verbindung stehen sollen, kritisierten. Die türkischen Behörden wurden beschuldigt, Folter als Mittel einzusetzen, um Geständnisse zu erzwingen oder politische Aktivistinnen und Aktivisten, Medienschaffende und Angehörige der kurdischen Minderheit einzuschüchtern (SCF 12.7.2024; vgl. BAMF 9.9.2024, S. 11).
Einschätzungen zum Ausmaß von Folter und Misshandlungen
Während die NGO Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) wie bereits in ihren früheren Berichten davon spricht, dass systematische Folter und andere Formen der Misshandlung angewendet werden (TİHV/HRFT 11.2024, S. 17), sieht sowohl die ÖB Ankara als auch das deutsche Außenamt hingegen keine Anhaltspunkte zu systematischer Folter (ÖB Ankara 4.2025, S. 44; vgl. AA 20.5.2024).
Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) weist in seinem Bericht über den Besuch in der Türkei im Mai 2019 auf Vorfälle von übermäßiger Gewaltanwendung durch Beamte gegenüber Festgenommenen mit dem Ziel von Geständnissen oder als Strafe hin (die Berichte über den Besuch im Jänner 2021 und über den Ad-hoc-Besuch im September 2022 und Februar 2024 wurden auf Betreiben der Türkei bislang nicht veröffentlicht). Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibeamte abgenommen (ÖB Ankara 4.2025, S. 44). Hierzu äußerten sich im September 2022 die Experten des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter (SPT) nach ihrem zweiten Besuch im Land. Demnach muss die Türkei weitere Maßnahmen ergreifen, um Häftlinge vor Folter und Misshandlung zu schützen, insbesondere in den ersten Stunden der Haft, und um Migranten in Abschiebezentren zu schützen (OHCHR 21.9.2022).
In Bezug auf die Türkei zeigte sich 2024 auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) "alarmiert über glaubwürdige Berichte, die darauf hindeuten, dass Folter und andere Formen der Misshandlung in [...] der Türkei tendenziell systematisch und/oder weit verbreitet sind [und] besorgt über Berichte, die darauf hinweisen, dass trotz der "Null-Toleranz"-Botschaft der Behörden die Anwendung von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnis in den letzten Jahren zugenommen hat und die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich überschattet. Die Versammlung begrüßt die jüngsten Entscheidungen des Verfassungsgerichts, in denen Verstöße gegen das Verbot von Misshandlungen festgestellt und neue Untersuchungen von Beschwerden angeordnet wurden, und ermutigt andere nationale Gerichte, dieser Rechtsprechung zu folgen" [Anm.: Originalzitat englisch] (CoE-PACE 24.1.2024, S. 2).
Ebenso äußerte sich das Anti-Folter-Komitee der Vereinten Nationen - CAT im Sommer 2024 "[...] besorgt über die Vorwürfe, dass Folter und Misshandlung im Vertragsstaat weiterhin in allgemeiner Form vorkommen, insbesondere in Haftanstalten, einschließlich der Vorwürfe von Schlägen und sexuellen Übergriffen und Belästigungen durch Strafverfolgungs- und Geheimdienstbeamte sowie des Einsatzes von Elektroschocks und Waterboarding in einigen Fällen" [Anm.: Originalzitat englisch] (CAT 14.8.2024, S. 6).
Trotz der Zusicherungen der Türkei bezüglich ihrer Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter bekräftigte der UN-Menschenrechtsausschuss Ende November 2024 (im Rahmen des zweiten periodischen Berichtes zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte - ICCPR) seine Besorgnis über die allgemeine Art und Weise, in der Folter und Misshandlung angeblich in Polizeigewahrsam und Gefängnissen stattfinden, sowie über die Zunahme von Folter- und Misshandlungsvorwürfen in den letzten Jahren (UNHRCOM 28.11.2024, S. 6).
Straflosigkeit bzw. Strafmilderung bei staatlicher Gewalt
Anstatt den Strafbestand der "vorsätzliche Tötung und Folter" anzuwenden, werden Sicherheitsorgane gerichtlich wegen "vorsätzlicher Körperverletzung mit Todesfolge" oder "rücksichtsloser Tötung" verurteilt, was mildere Strafen etwa in Form einer schnelleren Entlassung aus der Haft nach sich zieht. Zudem bestimmt das am 14.7.2016 erlassenen Gesetz Nr. 6722, dass Untersuchung gegen Militärpersonal, welches an Einsätzen, welche Foltervorwürfe und andere Misshandlungen nach sich zogen, einem besonderen Genehmigungsverfahren unterworfen sind. Und rückwirkend wurde eine Straflosigkeit eingeführt (İHD/HRA/TİHV/HRFT/TMA/TTB 26.6.2024, S. 11).
Die letzten Jahre verzeichneten nicht nur einen Anstieg der Fälle von Folter und Misshandlungen. Hinzukam das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen. Dies führte zu einer weitverbreiteten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzuführen, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/HRA/OMCT/CİSST/TİHV/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021). Allerdings sind Personen, denen eine Verbindung zur PKK oder zur Gülen-Bewegung nachgesagt wird, mit größerer Wahrscheinlichkeit Misshandlungen ausgesetzt. Ebenso sind laut Berichten Übergriffe in Polizeieinrichtungen in Teilen des Südostens häufiger als anderenorts (USDOS 22.4.2024, S. 4).
Der UN-Menschenrechtsausschuss äußerte 2024 seine Besorgnis über das Fehlen einer angemessenen Überwachung von Polizeigewahrsam und Gefängnissen, eines sicheren und wirksamen Beschwerdemechanismus und unparteiischer, unabhängiger und gründlicher Ermittlungen, Strafverfolgungen und Sanktionen, die der Schwere der Straftat für die Täter angemessen sind, was zu einer Situation der faktischen Straflosigkeit führt (UNHRCOM 28.11.2024, S. 6; vgl. HRW 11.1.2024).
In einer Entschließung vom 7.6.2022 wiederholte das Europäische Parlament (EP) "seine Besorgnis darüber, dass sich die Türkei weigert, die Empfehlungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe umzusetzen" und "fordert die Türkei auf, bei Folter eine Null-Toleranz-Politik walten zu lassen und anhaltenden und glaubwürdigen Berichten über Folter, Misshandlung und unmenschliche oder entwürdigende Behandlung in Gewahrsam, bei Verhören oder in Haft umfassend nachzugehen, um der Straflosigkeit ein Ende zu setzen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 32). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte (HRW 12.1.2023). Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weitverbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 11.1.2024).
Laut der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) sollen zwischen 2018 und 2021 in der Türkei mindestens 13.965 Menschen unter Folter und Misshandlung festgenommen worden sein. Von diesen gewaltsamen Verhaftungen erfolgten 3.997 im Jahr 2018, 4.253 im Jahr 2019, 2.014 im Jahr 2020 und 3.701 im Jahr 2021 (Duvar 22.3.2022). 2022 berichtete der damalige Innenminister Süleyman Soylu infolge einer parlamentarischen Anfrage, dass lediglich zwölf von 2.594 Polizeioffizieren, welche in den vergangenen fünf Jahren verdächtigt wurden, exzessive Gewalt angewendet zu haben, in irgendeiner Weise bestraft wurden (TM 21.1.2022). Nach Angaben der Menschenrechtsvereinigung (İHD/HRA) wurden im Jahr 2023 insgesamt 5.312 Menschen durch Sicherheitskräfte gefoltert oder misshandelt. 348 Fälle von Folter fanden in Polizeihaft und weitere 733 außerhalb von Hafteinrichtungen statt. 594 Fälle wurden aus den Gefängnissen gemeldet. 3.487 Personen wurden anlässlich von Protesten durch Sicherheitskräfte geschlagen und verwundet (BAMF 9.9.2024, S. 11; vgl. İHD/HRA 23.8.2024).
Urteile der Höchstgerichte
Das Verfassungsgericht urteilte 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten von Klägern, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Beide wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021; vgl. SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verabsäumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022). In einem Urteil vom 25.3.2025 stellte das Verfassungsgericht fest, dass die Behörden im Fall von Zabit Kişi, einem vermeintlichen Mitglied der Gülen-Bewegung, welcher 2017 aus Kasachstan entführt und in der Türkei geheim inhaftiert worden war, gegen die Verfahrensgarantien des Verbots der Misshandlung verstoßen hatten. Das Gericht entschied einstimmig, dass Kişi eine wirksame Untersuchung seiner Vorwürfe der rechtswidrigen Entführung, der verlängerten Isolationshaft und der schweren Folter verweigert wurde (NM 30.5.2025; vgl. TALI 4.6.2025). Die Entscheidung räumte zwar einen Verfahrensfehler ein, umging jedoch bewusst die Frage der tatsächlichen Folter. Trotz überwältigender Beweise, darunter übereinstimmende Zeugenaussagen und medizinische Unterlagen, entschied sich das Verfassungsgericht, die tatsächliche Folter nicht anzuerkennen, sondern lediglich das Versäumnis, sie zu untersuchen (TALI 4.6.2025).
Im Oktober 2024 bestätigte das Kassationsgericht den Freispruch von 16 Männern, die in einem Verfahren gegen JİTEM, eine Spezialeinheit der Gendarmerie für Nachrichtenbeschaffung, in Ankara wegen "vorsätzlicher Tötung im Rahmen von Handlungen einer bewaffneten Organisation, die zur Begehung einer Straftat gegründet wurde" angeklagt worden waren. Unter den Freigesprochenen befanden sich auch ehemalige Staatsbedienstete. Der Fall bezog sich auf Fälle des Verschwindenlassens und außergerichtliche Hinrichtungen zwischen 1993 und 1996 (AI 29.4.2025).
Institutionen
Die Opfer von Misshandlungen oder Folter können sich zwar an formelle Beschwerdeverfahren wenden, doch sind diese Mechanismen nicht besonders wirksam. Dies gab Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Autonomie staatlicher Stellen wie der Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu (Menschenrechts- und Gleichstellungsbehörde der Türkei, TİHEK, engl. Abk.: HREI) und der Ombudsperson. So ist die TİHEK mehreren Quellen zufolge bei der Bearbeitung von Berichten über Misshandlungen und Folter weder effizient noch autonom (MBZ 31.8.2023, S. 40; vgl. CAT 14.8.2024, S. 3). Die TİHEK führt zwar offizielle Besuche in den Gefängnissen durch, doch geht es dabei in erster Linie um hygienische Fragen und nicht um Fälle von Misshandlung und Folter. Die Beamten auf den Polizeidienststellen zeigen häufig kein Interesse an der Bearbeitung von Beschwerden im Zusammenhang mit staatlich geförderter Gewalt. Die Opfer haben bessere Erfolgsaussichten, wenn sie ihre Beschwerden direkt bei der Staatsanwaltschaft einreichten, vor allem, wenn sie durch stichhaltige Beweise wie medizinische Berichte oder Videomaterial untermauert waren. Derselben Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge riskieren Bürger, die Vorfälle staatlich geförderter Gewalt meldeten, wegen Verleumdung angeklagt zu werden (MBZ 31.8.2023, S. 40). Auch die Europäische Kommission stellte im Oktober 2024 fest, dass, obwohl mit der Rolle des Nationalen Präventionsmechanismus (NPM) betraut, die TİHEK/ HREI nicht die wichtigsten Anforderungen des Fakultativprotokolls zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (OPCAT) erfüllt und Fälle, die an sie verwiesen wurden, nicht wirksam bearbeitet (EC 30.10.2024, S. 30; vgl. EC 8.11.2023, S. 31).
Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter nicht nur wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen, sondern es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (MBZ 18.3.2021, S. 34; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 32f.). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S. 30).
II.1.6.6. Korruption
Rechtsrahmen
Die Türkei ist ein Vertragsstaat der UN-Konvention gegen Korruption (2006), der OECD-Konvention gegen Bestechung, des Strafrechtsübereinkommens und des Zivilrechtsübereinkommens des Europarates über Korruption. Der Rechtsrahmen zur Korruptionsbekämpfung ist in mehreren nationalen Gesetzen enthalten (DFAT 16.5.2025, S. 9; vgl. USDOS 17.7.2024). Zudem beteiligt sich die Türkei an regionalen Initiativen zur Korruptionsbekämpfung wie der G20-Arbeitsgruppe zur Korruptionsbekämpfung (USDOS 17.7.2024). Das türkische Strafgesetzbuch (Artikel 247 und 252) stellt verschiedene Formen der Korruption unter Strafe, darunter aktive und passive Bestechung, versuchte Korruption, Erpressung, Bestechung eines ausländischen Beamten, Geldwäsche und Amtsmissbrauch. Die Strafe für Bestechung kann eine Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Jahren umfassen (DFAT 16.5.2025, S. 9; vgl. GAN 5.11.2020). Unternehmen müssen mit der Beschlagnahme von Vermögenswerten und dem Entzug staatlicher Betriebsgenehmigungen rechnen. Schmiergeldzahlungen und Geschenke sind zwar illegal, kommen aber dennoch häufig vor (GAN 5.11.2020).
Strukturelle Defizite und behördliches Vorgehen gegen Korruptionsberichterstattung
Das Land hat keine Schritte unternommen, um einen Rahmen für die Prävention und Kontrolle zu schaffen oder Korruptionsbekämpfungsstellen gemäß den zivil- und strafrechtlichen Übereinkommen des Europarats über Korruption, den Empfehlungen der Gruppe der Staaten gegen Korruption (GRECO) und dem UN-Übereinkommen gegen Korruption einzurichten (EC 30.10.2024, S. 5). Der Rechtsrahmen und die institutionelle Struktur müssen laut Europäischer Kommission verbessert werden, um unzulässige politische Einflussnahme bei der Verfolgung und Entscheidung von Korruptionsfällen zu begrenzen. Die öffentlichen Einrichtungen müssen ihre Rechenschaftspflicht und Transparenz verbessern (EC 30.10.2024, S. 5). Wie in der OECD-Konvention zur Bekämpfung der Bestechung dargelegt, hatte die Türkei mehrere Strategien zur Korruptionsbekämpfung entwickelt, diese jedoch nicht beibehalten oder aktualisiert. Viele davon sind nicht mehr in Kraft und wurden nicht ersetzt, was zu einem Mangel an nationalen strategischen Maßnahmen sowohl zur Bekämpfung der Korruption im Inland als auch der Bestechung im Ausland führt. Darüber hinaus hat das Land auch keine Fortschritte bei der Einführung von Gesetzen zum Schutz von Whistleblowern erzielt (OECD 10.4.2025, S. 122; vgl. EC 30.10.2024, S. 28).
Die Türkei erfüllt 27 % der Kriterien hinsichtlich der Qualität des strategischen Rahmens gemäß den OECD-Standards und 13 % hinsichtlich der Umsetzung der Strategie, verglichen mit dem OECD-Durchschnitt von 45 % bzw. 36 %. Gemessen an den OECD-Standards für das Risikomanagement, das interne Kontrollen und interne Revisionen umfasst, erfüllt die Türkei 56 % der Kriterien für Vorschriften und 26 % für die Praxis, verglichen mit dem OECD-Durchschnitt von 67 % bzw. 33 %. Die Türkei erfüllt keine Kriterien hinsichtlich der Vorschriften und Praktiken zur Minderung von Korruptionsrisiken im Zusammenhang mit Lobbyismus, da es in diesem Bereich keine Rechtsvorschriften gibt. Gemessen an den OECD-Standards zu Interessenkonflikten erfüllt die Türkei 56 % der Kriterien in Bezug auf Vorschriften, erfasst jedoch die erforderlichen Daten in der Praxis nicht. Im Durchschnitt erfüllen die OECD-Länder 76 % der Kriterien für Vorschriften und 40 % für die Praxis. Gemessen an den OECD-Standards zur politischen Finanzierung erfüllt die Türkei 40 % der Kriterien in Bezug auf Vorschriften und 43 % in Bezug auf die Praxis, verglichen mit dem OECD-Durchschnitt von 73 % bzw. 58 %. Gemessen an den OECD-Standards zur Information der Öffentlichkeit, die den Zugang zu Informationen und offenen Daten umfassen, erfüllt die Türkei 44 % der Kriterien für Vorschriften und 54 % für die Praxis, verglichen mit dem OECD-Durchschnitt von 67 % bzw. 62 % (OECD 16.3.2024, S. 4-9):
OECD 16.3.2024, S. 3
Die Financial Action Task Force on Money Laundering (FATF) bescheinigte Ende Juni 2024 der Türkei, dass sie die Wirksamkeit ihres Systems zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung gestärkt habe, um die in ihrem Aktionsplan eingegangenen Verpflichtungen in Bezug auf die von der FATF im Oktober 2021 festgestellten strategischen Schwachstellen zu erfüllen. Infolgedessen hob die FATF die verstärkte Überwachung (increased monitoring) auf (FATF 28.6.2024; vgl. REU 28.6.2024). Allerdings bleibt die Kritik von Wirtschaftswissenschaftlern aufrecht, wonach die Türkei aufgrund der tief verwurzelten Korruption, der wiederholten Amnestieprogramme und der unzureichenden Durchsetzung der Finanzvorschriften zu einer wichtigen Drehscheibe für Geldwäsche geworden ist, wodurch Milliarden von Dollar an illegalen Geldern ins Land gelangen. Ein Schlüsselfaktor für die Verwandlung der Türkei in ein Zentrum der Geldwäsche sei die Aufhebung eines Gesetzes aus dem Jahr 2003, das von Einzelpersonen verlangte, die rechtmäßige Herkunft großer finanzieller Gewinne nachzuweisen. Der ehemalige Vorsitzende der Ermittlungsbehörde für Finanzkriminalität (MASAK), Ramazan Başak, erklärte, dass die Abschaffung des Gesetzes es ermöglicht habe, dass riesige Mengen an nicht-zurückverfolgbarem Vermögen unkontrolliert in das Finanzsystem gelangen konnten. Seit 2008 wurden überdies wiederholt Gesetze zur Vermögensamnestie eingeführt, jüngste Version, im Juli 2022 verabschiedet, blieb bis März 2023 in Kraft. Diese Gesetze, die ursprünglich der wirtschaftlichen Erholung dienen sollten, wurden weithin dafür kritisiert, dass sie den Fluss illegaler Gelder ins Land ermöglichen (TM 17.1.2025).
Die Antikorruptionsgesetze werden nicht konsequent durchgesetzt, und die Antikorruptionsbehörden sind ineffektiv oder politisiert (FH 26.2.2025, C2; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 58f., USDOS 17.7.2024), was eine Kultur der Straflosigkeit hervorruft (FH 26.2.2025, C2; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 58). In der Türkei gibt es nach wie vor kein ständiges, funktional unabhängiges Gremium zur Korruptionsbekämpfung. Die Koordinierung zwischen den verschiedenen Präventionsstellen ist nach wie vor unzureichend. Der staatliche Aufsichtsrat (State Supervisory Council), der für die Korruptionsbekämpfung zuständig ist, arbeitet nicht als unabhängige Korruptionsbekämpfungsbehörde, da es ihm an funktionaler Unabhängigkeit mangelt (EC 30.10.2024, S. 28; vgl. OECD 10.4.2025, S. 122, BS 23.2.2022, S. 35). Kritiker behaupten, dass Regierungsbeamte weiterhin große Aufträge an Firmen vergeben, die mit der regierenden Partei AKP befreundet sind, insbesondere für große öffentliche Bauprojekte (USDOS 17.7.2024).
Das Parlament betraute den Rechnungshof mit der Rechenschaftspflicht in Bezug auf die Einnahmen und Ausgaben der staatlichen Stellen. Außerhalb dieses Rechnungsprüfungssystems gibt es aber keine spezielle Behörde, die ausschließlich für die Untersuchung und Verfolgung von Korruptionsfällen zuständig ist (USDOS 22.4.2024, S. 58). Offizielle Aufsichtsorgane wie der Rechnungshof und die Ombudsperson veröffentlichen Berichte oft verspätet und decken nur selten Korruptionsvorwürfe ab (DFAT 10.9.2020).
Sorge besteht auch hinsichtlich der Unparteilichkeit der Justiz in der Handhabe von Korruptionsfällen, die Justiz ist auch bei den Ermittlungen und der Strafverfolgung in großen Korruptionsfällen der Einmischung der Regierung ausgesetzt (USDOS 22.4.2024, S. 58.)
Die Regierung bestraft Strafverfolgungsbeamte, Richter und Staatsanwälte, die korruptionsbezogene Ermittlungen oder Fälle gegen Regierungsbeamte eingeleitet haben, und behauptet, dass Erstere dies auf Veranlassung der Gülen-Bewegung taten (USDOS 12.4.2022, S. 63f.). Die Bilanz der Ermittlungen, Strafverfolgungen und Verurteilungen in Korruptionsfällen ist, insbesondere bei Korruptionsfällen auf höchster Ebene, an denen Politiker und Beamte beteiligt sind, nach wie vor schlecht. Die Urteile sind milde und haben keine abschreckende Wirkung (EC 8.11.2023, S. 27; vgl. UNHRCOM 28.11.2024, S. 5). Es gibt nur vereinzelte offizielle Untersuchungen der Korruption in der Regierung (USDOS 22.4.2024, S. 58f.). Gesetzliche Privilegien für Beamte, wie z. B. das Erfordernis einer vorherigen Genehmigung durch ihre Vorgesetzten, bevor eine Untersuchung gegen sie wegen eines mutmaßlichen Fehlverhaltens eingeleitet wird, bieten nach wie vor Schutz bei Ermittlungen zur Korruptionsbekämpfung und behindern somit effektiv die Ermittlungen (EC 30.10.2024, S. 28).
Kritische Berichte über Korruptionsfälle in der Regierung ziehen im negativen Sinne die Aufmerksamkeit der türkischen Behörden auf sich (MBZ 2.3.2022, S. 25). Journalisten und zivilgesellschaftliche Organisationen berichten, dass sie Vergeltungsmaßnahmen für ihre Berichterstattung über Korruption befürchten (USDOS 22.4.2024, S. 59). So wurde am 1.11.2023 der Journalist Tolga Şardan wegen des Verdachts der Verbreitung von Desinformationen festgenommen. Der Journalist hatte in einem Artikel über mögliche Korruption in der Justiz berichtet. Dabei bezog er sich u. a. auf einen Bericht des Geheimdienstes MİT (Duvar 6.11.2023). Gerichte und der Oberste Radio- und Fernsehrat (RTÜK) blockierten regelmäßig den Zugang zu Presseberichten über Korruptionsvorwürfe (USDOS 22.4.2024, S. 59).
Verbreitung und Ausmaß von Korruption
Trotz eines strengen Rechtsrahmens berichten internationale und inländische Beobachter, dass Korruption im öffentlichen und privaten Sektor der Türkei weit verbreitet ist und sich in den letzten Jahren verschlimmert hat (DFAT 16.5.2025, S. 9; vgl. FH 26.2.2025, C2), auch auf den höchsten Ebenen der Regierung (FH 26.2.2025, C2). Sichtbar wurde die weitverbreitete Korruption angesichts des Erdbebens im Februar 2023 (EP 13.9.2023, Pt. 3). Darüber hinaus sind die Finanzierung der politischen Parteien, die Justiz und die öffentliche Verwaltung, die Gemeinden, die Landverwaltung, die Raumordnung und das Bauwesen weiterhin anfällig für Korruption (EC 30.10.2024, S. 28).
Obwohl der Umfang der informellen Wirtschaft in den letzten Jahren zurückgegangen ist, macht sie immer noch einen erheblichen Teil der Wirtschaftstätigkeit aus. Die Regierung hat die Umsetzung ihres Aktionsplans zur Bekämpfung der Schattenwirtschaft (2023-2025) fortgesetzt, aber das Fehlen von Leistungsindikatoren erschwert die Überwachung der Fortschritte bei der Umsetzung (EC 30.10.2024, S. 46). Anderen Quellen zufolge soll die Schattenwirtschaft in den letzten Jahren enorm expandiert sein. Der Anstieg der illegalen Einnahmen stammt nicht nur aus dem Untergrundsektor wie Prostitution, Drogenhandel und Kraftstoffschmuggel, sondern auch aus der Einflussnahme durch Bestechung bei öffentlichen Ausschreibungen und Schmiergeldzahlungen ausländischer Unternehmen, die in der Türkei Geschäfte machen wollen. Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 ist der Fluss illegaler Gelder um einen weiteren Aspekt erweitert worden. Im Rahmen der politischen Säuberungsaktionen wurden Unternehmen, die sich im Besitz von Gülenisten befanden, beschlagnahmt und dann verkauft, meist an Freunde der regierenden AKP. Wie sich später herausstellte, zahlten viele Geschäftsleute, denen Verbindungen zu den Gülenisten nachgesagt wurden, hohe Bestechungsgelder, um einer Untersuchung oder einem Prozess zu entgehen (AlMon 21.5.2021).
Transparency International reihte die Türkei im Korruptionswahrnehmungsindex 2024 wie 2023 mit einem Punktewert von 34 von 100 (bester Wert) auf Platz 107 (2023: 115) von 180 untersuchten Ländern und Territorien ein. Den besten Wert in der vergangenen Dekade erreichte das Land 2013 mit 50 von 100 Punkten (TI 11.2.2025; vgl. TI 30.1.2024). World Justice Project verlieh der Türkei für das Jahr 2024 einen Skalenwert von 0,45 (1 = statistischer Bestwert), welcher unter dem globalen Durchschnittswert von 0,51 lag, wodurch das Land auf Rang 78 von 142 Ländern rangierte (WJP 10.2024).
II.1.6.7. Wehrdienst
Allgemeines
In den Artikeln 2, 25 und 26 des türkischen Wehrdienstgesetzes heißt es, dass jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet ist und sich ab dem 1. Jänner des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, melden muss. Der Militärdienst gilt nicht für Frauen. Wehrpflichtiger bleibt man bis zum 1. Jänner des Jahres, in dem man 41 wird. Im Falle einer Mobilmachung können Männer bis zu ihrem 65. Lebensjahr zum Militärdienst einberufen werden (MBZ 11.7.2019). Mit dem Gesetz Nr. 7179 vom Juni 2019 wurde der Wehrdienst auf sechs Monate verkürzt (ÖB Ankara 4.2025, S. 24). Dem Staatspräsidenten obliegt es, die Dauer festzulegen. Allerdings dürfen die sechs Monate nicht unterschritten werden (HDN 25.6.2019). Die Möglichkeit einer Entbindung von der Wehrpflicht aus Gewissensgründen besteht nicht (PMRT-OSCE 29.7.2024, S. 20; vgl. CoE 5.2024). Der Einsatzort für den Wehrdienst wird durch das Los bestimmt (ÖB Ankara 4.2025, S. 23). Die Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt (MBZ 11.7.2019). Eine Einberufung hat keinen Einfluss auf eine beantragte Passausstellung, etwa im Sinne einer Verweigerung des Passes (VB Istanbul 7.8.2024).
Menschenrechtsverletzungen
Einige Wehrpflichtige sind Berichten zufolge schweren Schikanen, körperlichen Misshandlungen und Folter ausgesetzt, die mitunter zum Tod oder Selbstmord führen. Menschenrechtsgruppen berichten über verdächtige Todesfälle beim Militär, insbesondere unter Wehrpflichtigen, die der alevitischen und kurdischen Minderheit angehören. Die Regierung hat solche Vorfälle nicht systematisch untersucht und gibt auch keine Daten darüber heraus (USDOS 20.3.2023, S. 8). Das Verteidigungsministerium vermeidet es, die Zahl der verdächtigen Todesfälle von Soldaten zu melden. Die letzten vom Ministerium gemeldeten Daten beziehen sich auf den Zeitraum zwischen 2000 und 2012, in dem nach offiziellen Angaben 934 Soldaten unter verdächtigen Umständen starben. Laut der Stiftung "Şüpheli Ölümler ve Mağdurları Derneği" [Vereinigung für verdächtige Todesfälle und Opfer], die sich für die Opfer verdächtiger Todesfälle beim Militär einsetzt, starben zwischen 2000 und 2020 mehr als 3.000 Soldaten unter verdächtigen Umständen in Militärkasernen (SCF 14.4.2021). Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD) vermeldete für das Jahr 2021 mindestens 22 Todesfälle während der Dienstausübung (İHD/HRA 6.11.2022a, S. 9).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte die Türkei Anfang Juli 2023 im Fall eines Soldaten, der 2013 während seines Militärdienstes in der südöstlichen Provinz Şırnak im Bezirk Uludere Selbstmord begangen haben soll, zur Zahlung von 27.000 Euro Entschädigung an dessen Mutter. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass die Türkei gegen Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf Leben) verstoßen und es versäumt hat, eine effektive Untersuchung des Todesfalls durchzuführen (Duvar 5.7.2023).
II.1.6.7.1. Kurdisch-stämmige Rekruten in der Armee
Das Gesetz in der Türkei macht keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dies gilt auch für die Vorschriften über den Militärdienst und die Rekrutierung (MBZ 11.7.2019). Die Wehrpflichtigen werden nach dem Zufallsprinzip über die gesamte Türkei verteilt. Folglich ist es nicht ausgeschlossen, dass kurdische Wehrpflichtige im Südosten der Türkei stationiert werden. Grundsätzlich werden Wehrpflichtige nicht in Konfliktgebieten wie dem Nordirak und Syrien eingesetzt, wo die türkischen Streitkräfte aktiv sind. Prinzipiell werden Wehrpflichtige auch nicht bei Anti-Terror-Operationen und in Hochrisikogebieten entlang der türkisch-irakischen Grenze eingesetzt, wo es zu Gefechten zwischen türkischen Streitkräften und der PKK kommen kann. Dem niederländischen Außenministerium lagen (im Berichtszeitraum Sept. 2023 – 20.2.2025) keine Informationen über Gewalt gegen kurdische Wehrpflichtige oder den möglichen Einsatz kurdischer Wehrpflichtiger gegen die PKK im Südosten der Türkei vor (MBZ 2.2025a, S. 93). Es liegen laut niederländischem Außenamt keine Informationen darüber vor, ob kurdische Wehrpflichtige den Einsatz in der Südosttürkei verweigern dürfen und wenn sie dies tun, welche Strafe dafür vorgesehen ist (MBZ 2.3.2022, S. 64f.; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 76).
Nach vorliegenden Informationen besteht keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten, wie der kurdischen, im Militär. Es gibt aber Einzelfälle. Zudem ist ein Aufstieg im System für Mitglieder von Minderheiten schwierig (ÖB Ankara 4.2025, S. 27). Während der Direktor der türkischen Menschenrechtsorganisation Hafiza Merkez in einem Interview mit dem UK Home Office meinte, dass der Militärdienst im Allgemeinen schon nicht schön, aber für Kurden noch schwieriger sei, sah ein Menschenrechtsanwalt den Militärdienst als Erniedrigung für Kurden, da der kurdische Alltag von vielen Zwischenfällen mit der Armee und der Polizei geprägt sei. Im Unterschied zu den Türken ist der Militärdienst für die Kurden nicht mit Stolz verbunden (UKHO 10.2019b). Auch laut Kontaktpersonen der NGO Schweizerische Flüchtlingshilfe sei es schwierig, zu sagen, ob Angehörige von Minderheiten im Militärdienst systematisch misshandelt würden, jedoch gebe es zahlreiche Einzelbeispiele für solche Misshandlungen. Der Militärdienst sei jedenfalls ein gefährliches Umfeld für Angehörige von Minderheiten (SFH 16.9.2020). So wurde ein kurdischsprachiger Wehrpflichtiger von seinen Vorgesetzten in der Provinz Van im Mai 2018 schwer misshandelt, nachdem er auf Kurdisch gesungen hatte. Er erlitt schwere Verletzungen an seinem Gesicht und seinen inneren Organen. Bei einem weiteren Vorfall in der Provinz Gaziantep wurde ein Soldat von anderen Soldaten angegriffen, weil er ein Foto von Selahattin Demirtaş auf seinem Smartphone hatte, dem inhaftierten ehemaligen Ko-Vorsitzenden der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) (MBZ 11.7.2019; vgl. Mezopotamya 14.9.2020). Mitte August 2020 wurde ein kurdisch-stämmiger Rekrut von seinen türkischen Kameraden zusammengeschlagen und als Terrorist beschimpft, nachdem dieser zuerst Kurdisch sprach und hernach die Verwendung des Kurdischen im Bildungssystem propagierte (Mezopotamya 14.9.2020). In einer Anfrage an den türkischen Verteidigungsminister anlässlich der Misshandlungsfälle erklärte der HDP-Parlamentarier Lezgin Botan, dass Wehrpflichtige Gefahr laufen, festgenommen, inhaftiert, Gewalt ausgesetzt, schikaniert, beleidigt oder diskriminiert zu werden, nur weil sie kurdische Musik hören, auf Kurdisch singen oder sprechen oder mit Familienmitgliedern telefonieren, die kein Türkisch sprechen (MBZ 11.7.2019). Nach Angaben von Şüpheli Ölümler ve Mağdurları Derneği, einer Stiftung, die sich für die Opfer verdächtiger Todesfälle im Militär einsetzt, starben zwischen 2000 und 2020 mehr als 3.000 Soldaten unter verdächtigen Umständen in Kasernen. Laut den Sprecher der Stiftung, Riza Doğan, waren etwa 80 % der Soldaten, die unter verdächtigen Umständen in der türkischen Armee starben, Kurden oder Aleviten (TM 14.4.2021; vgl. USDOS 2.6.2022).
II.1.6.8. Allgemeine Menschenrechtslage
Der innerstaatliche rechtliche Rahmen sieht Garantien zum Schutz der Menschenrechte vor (ÖB Ankara 4.2025, S. 43; vgl. EC 8.11.2023, S. 6, 38). Gemäß der türkischen Verfassung besitzt jede Person mit ihrer Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen und nur durch Gesetze beschränkt werden. Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus (ÖB Ankara 4.2025, S. 43). Im Rahmen der 2018 verabschiedeten umfassenden Anti-Terrorgesetze schränkt die Regierung unter Beeinträchtigung der Rechtsstaatlichkeit die Menschenrechte und Grundfreiheiten weiter ein. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des Strafgesetzbuches, wie z. B. die Beleidigung des Staatsoberhauptes, zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (USDOS 20.3.2023, S. 1, 21; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 43). Auch das Europäische Parlament sah im Juni 2025, "dass in der türkischen Verfassung zwar ein ausreichender Schutz der Grundrechte vorgesehen ist, dass jedoch die Vorgehensweise der Institutionen in der Praxis und der kritische Zustand des Justizwesens – einschließlich der mangelnden Achtung der Urteile des Verfassungsgerichts – die Hauptgründe für die katastrophale Lage der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte im Land sind" (EP 7.5.2025, Pt. G).
Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen äußerte Ende November 2024 in Hinblick auf die Umsetzung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte seine Besorgnis, dass der Rechtsrahmen der Türkei keinen vollständigen Schutz vor Diskriminierung aus allen vom Pakt erfassten Gründen bietet, einschließlich der Diskriminierung von LGBTQ-Personen, Menschen mit Behinderungen und Angehörigen ethnischer Minderheiten, wie etwa Mitgliedern der kurdischen Gemeinschaft. Dieser Kritik folgte die Aufforderung, umfassende Rechtsvorschriften zu erlassen, die jedwede Diskriminierung, auch im öffentlichen und privaten Sektor, und aus allen nach dem Pakt verbotenen Gründen zu verbieten; die wirksame Umsetzung und Anwendung der Rechtsvorschriften und den Zugang zu wirksamen und angemessenen Rechtsbehelfen für die Opfer sicherzustellen (UNHRCOM 28.11.2024, S. 3).
Laut Europäischer Kommission (EK) hat sich die allgemeine Menschenrechtslage im Land nicht verbessert. Die Rechtsvorschriften und ihre Umsetzung müssen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des EGMR in Einklang gebracht werden. Die Türkei sollte laut EK vor allem seine Anti-Terror-Gesetzgebung und deren Umsetzung sowie die Praktiken zur Terrorismusbekämpfung an die europäischen Standards, die EMRK, die Rechtsprechung des EGMR und die Empfehlungen der Venedig-Kommission sowie an den EU-Besitzstand und die EU-Praktiken anpassen und weiters den Rechtsrahmen und dessen Umsetzung verbessern, um alle Formen von Gewalt gegen Frauen; alle Formen von Rassismus und Diskriminierung, auch gegenüber LGBTIQ-Personen, wirksam zu bekämpfen und den Schutz von Minderheiten zu gewährleisten. Hierzu gehört die vorrangige Umsetzung der Urteile des EGMR, das heißt insbesondere die sofortige Freilassung des ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und des Menschenrechtsverteidigers Osman Kavala (EC 30.10.2024, S. 5f., 29). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 20.5.2024, S. 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S. 10).
Das Europäische Parlament urteilte in einer Entschließung vom Juni 2025, dass seit dem [zuvor genannten] Fortschrittsbericht der Kommission vom 30.10.2024 sich die Lage in Bezug auf Demokratie und Grundrechte weiter verschlechtert hat, welche "von einer anhaltenden Anwendung von Gesetzen und Maßnahmen zur Einschränkung der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte, der Grundfreiheiten und der bürgerlichen Freiheitsrechte geprägt ist" (EP 7.5.2025, Pt. C).
Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) überwacht weiterhin (mittels ihres speziellen Monitoringverfahrens) die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei (EC 8.11.2023, S. 6, 28; vgl. EC 30.10.2024, S. 29). Beispielsweise sahen die Ko-Berichterstatter der PACE zur Türkei nach ihrer Fact-Finding-Mission im Juni 2025 hierzu das Land an einem Scheidepunkt, indem sie sich nicht nur ernsthaft besorgt über Menschenrechtsverletzungen zeigten, sondern auch darüber, dass die gesamte Rechtsstaatlichkeit bedroht ist (CoE-PACE 23.6.2025).
Am Vorabend der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 verzeichnete die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, in einer Stellungnahme, eine Verschärfung des Drucks auf die wichtigen Akteure der demokratischen Gesellschaft sowie eine Verschlechterung der Menschenrechtslage, insbesondere der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Die türkischen Behörden wurden aufgefordert, das feindselige Umfeld für Menschenrechtsverteidiger, Journalisten, NGOs und Anwälte zu beenden und sie nicht länger durch administrative und gerichtliche Maßnahmen zum Schweigen zu bringen. Die öffentliche Verwendung hasserfüllter Rhetorik gegen Minderheiten, LGBTI-Personen und Migranten, auch durch hochrangige Beamte, hat laut Mijatović ein alarmierendes Ausmaß erreicht und die bestehende Polarisierung in der Gesellschaft verstärkt, in einem Umfeld, das bereits von zunehmender Gewalt und hasserfüllten Verbrechen gegen Angehörige dieser Gruppen geprägt ist (CoE-CommDH 5.5.2023).
Zu den maßgeblichen Menschenrechtsproblemen gehören glaubwürdige Berichte über: Verschwindenlassen; Folter oder grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch die Regierung oder im Auftrag der Regierung; willkürliche Verhaftung oder Inhaftierung; schwerwiegende Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; politische Gefangene oder Inhaftierte; grenzüberschreitende Repressionen gegen Personen in einem anderen Land; schwerwiegende Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung und der Medienfreiheit, einschließlich Gewalt und Androhung von Gewalt gegen Journalisten, ungerechtfertigte Verhaftungen oder strafrechtliche Verfolgung von Journalisten, Zensur oder Durchsetzung oder Androhung der Durchsetzung von Gesetzen zur strafrechtlichen Verfolgung wegen Verleumdung, um die Meinungsäußerung einzuschränken; schwerwiegende Einschränkungen der Internetfreiheit; erhebliche Eingriffe in die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit, einschließlich übermäßig restriktiver Gesetze hinsichtlich der Organisation, Finanzierung oder Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen und Organisationen der Zivilgesellschaft; Beschränkungen der Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit im Hoheitsgebiet eines Staates und des Rechts, das Land zu verlassen; Zurückweisung von Flüchtlingen in ein Land, in dem ihnen Folter oder Verfolgung drohen, einschließlich schwerwiegender Schäden wie Bedrohung des Lebens oder der Freiheit oder anderer Misshandlungen, die eine gesonderte Menschenrechtsverletzung darstellen würden; schwerwiegende staatliche Beschränkungen oder Schikanen gegenüber inländischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen; umfassende geschlechtsspezifische Gewalt, einschließlich häuslicher oder intimer Partnergewalt, sexueller Gewalt, Gewalt am Arbeitsplatz, Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratung, weiblicher Genitalverstümmelung/-beschneidung, Femizid und anderer Formen solcher Gewalt; Gewaltverbrechen oder Gewaltandrohungen gegen Angehörige nationaler und ethnischer Gruppen, wie der kurdischen Minderheit, sowie Flüchtlinge; und Gewaltverbrechen oder Gewaltandrohungen gegen Mitglieder sexueller Minderheiten (LGBTQI+). Hinzukommen glaubwürdige Berichte über willkürliche oder unrechtmäßige Tötungen durch die Vertreter der Staatsmacht, so etwa durch Sicherheitskräfte, Polizei und Gefängniswärter. (USDOS 22.4.2024, S. 1-3; vgl. AI 29.4.2025, EEAS 29.5.2024, S. 23). In diesem Kontext unternimmt die Regierung nur begrenzte Schritte zur Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung von Beamten und Mitgliedern der Sicherheitskräfte, die der Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden. Die diesbezügliche Straflosigkeit bleibt ein Problem (USDOS 22.4.2024, S. 2; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 43).
Laut Europäischer Kommission gab es keine Fortschritte bei den Rechtsvorschriften zur Nichtdiskriminierung und deren Umsetzung, um die Angleichung an europäische Standards oder die Ratifizierung des Protokolls Nr. 12 zur EMRK, das ein allgemeines Diskriminierungsverbot vorsieht, zu gewährleisten. Die Rechtsvorschriften über Hassverbrechen, einschließlich Hassreden, stehen noch immer nicht im Einklang mit internationalen Standards und umfassen keine Hassverbrechen aufgrund der sexuellen Ausrichtung, der Geschlechtsidentität und des Geschlechtsausdrucks, der ethnischen Herkunft oder des Alters. Es wurden weiterhin Fälle von Diskriminierung und Hassverbrechen aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Religion und sexueller Orientierung gemeldet (EC 30.10.2024, S. 33).
Mit Stand Mai 2025 waren 21.200 Verfahren (31.8.2024: 24.200) aus der Türkei beim EGMR anhängig, das waren 35,2 % aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 6.2025; vgl. ECHR 9.2024), was eine Abnahme bedeutet. Anfang 2025 stellte der EGMR für das Jahr 2024 bei 73 Urteilen in 19 Fällen das Recht auf Freiheit und Sicherheit und in 13 Fällen das Recht auf ein faires Verfahren verletzt (ECHR 22.1.2025).
Das Recht auf Leben
Was das Recht auf Leben betrifft, so gibt es immer noch schwerwiegende Mängel bei den Maßnahmen zur Gewährleistung glaubwürdiger und wirksamer Ermittlungen in Fällen von Tötungen durch die Sicherheitsdienste. Es wurden beispielsweise keine angemessenen Untersuchungen zu den angeblichen Fällen von Entführungen und gewaltsamem Verschwindenlassen durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen durchgeführt, die seit dem Putschversuch vermeldet wurden. Mutmaßliche Tötungen durch die Sicherheitskräfte im Südosten, insbesondere während der Ereignisse im Jahr 2015, wurden nicht wirksam untersucht und strafrechtlich verfolgt (EC 8.11.2023, S. 30f.). Unabhängigen Daten zufolge wurde im Jahr 2021 das Recht auf Leben von mindestens 2.964 (3.291 im Jahr 2020) Menschen verletzt, insbesondere im Südosten des Landes (EC 12.10.2022, S. 33). Auch 2024 stellte die Europäische Kommission fest, dass keine Schritte unternommen wurden, um die Situation in Bezug auf das Recht auf Leben zu verbessern und die Straflosigkeit der Sicherheitsorgane zu beenden (EC 30.10.2024, S. 30).
Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022a).
II.1.6.9. Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
Allgemeine Situation der Meinungs- und Pressefreiheit
Die Türkei befindet sich laut Europäischer Kommission hinsichtlich der Meinungsfreiheit noch in einem frühen Stadium. Die in den letzten Jahren beobachteten gravierenden Rückschritte haben sich fortgesetzt. Die Umsetzung der Strafgesetze in Bezug auf die nationale Sicherheit und die Terrorismusbekämpfung verstößt weiterhin gegen die EMRK und weicht von der Rechtsprechung des EGMR ab. Es kommt weiterhin zu Fällen von Verurteilungen von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Rechtsanwälten, Schriftstellern, Oppositionspolitikern, Studenten, Künstlern und Nutzern sozialer Medien. Die Verbreitung oppositioneller Stimmen und das Recht auf freie Meinungsäußerung wird durch den zunehmenden Druck und die restriktiven Maßnahmen beeinträchtigt (EC 8.11.2023, S. 33f.; vgl. EEAS 29.5.2024, S. 23, UNHRCOM 28.11.2024, S. 12).
Nach den Wahlen von 2023 wurden Gewalt und Massenverhaftungen zu den häufigsten Mitteln, um Medienvertreter zu unterdrücken, die über Kundgebungen und Proteste berichteten. Die fast systematische Online-Zensur, willkürliche Gerichtsverfahren gegen kritische Medien und die Ausnutzung des Justizsystems haben bislang nicht zu einer Erholung der Beliebtheitswerte des "Hyperpräsidenten" geführt, der weiterhin in einen großen Fall von politischer Klientelpolitik verwickelt ist (RSF 2.5.2025).
Hart fällt die Beurteilung der Menschenrechtskommissarin des Europarates aus. Die Kommissarin, Dunja Mijatović, stellte Anfang März 2024 [Anm. kurz vor dem Ende ihres Mandates] in einem mehrseitigen Memorandum fest, "dass die ablehnende Haltung der türkischen Behörden gegenüber der freien Meinungsäußerung und der Medienfreiheit sowie das hohe Maß an Intoleranz gegenüber legitimer Kritik an den Handlungen der Behörden und der gewählten Vertreter ein neues, besorgniserregendes Niveau erreicht haben und sich weiterhin durch systematischen Druck und rechtliche Maßnahmen gegen Journalisten, Menschenrechtsaktivisten, die Zivilgesellschaft und einfache Menschen äußern. Dies hat zu einem erschreckenden Ausmaß an Selbstzensur und einem Mangel an Pluralismus geführt" (CoE-CommDH 5.3.2024, S. 2).
Und in einer (jüngsten) Entschließung vom Mai 2025 bedauert das Europäische Parlament (EP) "die anhaltende Strafverfolgung, Zensur und Schikanierung von Journalisten und unabhängigen Medien [...]; fordert die türkischen Staatsorgane auf, von weiteren Angriffen auf unabhängige Medien abzusehen und die Grundrechte und bürgerlichen Freiheiten wie die Rede- und Pressefreiheit zu wahren; ist nach wie vor zutiefst besorgt über die bestehenden Rechtsvorschriften, die ein offenes und freies Internet verhindern, wobei lange Haftstrafen für Beiträge in den sozialen Medien verhängt werden und zahlreiche Zugangssperren und Anordnungen zur Entfernung von Inhalten erlassen wurden, sowie über die fortgesetzte Nutzung des Obersten Rundfunk- und Fernsehrats (RTÜK), die dazu dient, Kritik in den Medien zu unterbinden oder sogar gegen Medien vorzugehen, die beschuldigt werden, "Pessimismus" anstelle positiver Nachrichten zu verbreiten" (EP 7.5.2025, Pt. 17).
Die Türkei [Anm.: als Beitrittskandidat] muss laut EU ihre Strafgesetze überarbeiten, insbesondere das Antiterrorgesetz, das Strafgesetzbuch, das Datenschutzgesetz, das Internetgesetz, das neue Mediengesetz in Bezug auf die Definition von "Fake News" und das Gesetz über den Obersten Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK), um sicherzustellen, dass sie den europäischen Standards entsprechen und in angemessener Weise umgesetzt werden, ohne die Meinungsfreiheit einzuschränken (EEAS 29.5.2024, S. 23).
Nach einer Verbesserung von 2023 auf 2024 (RSF 3.5.2024), verschlechterte sich die Position der Türkei im World Press Freedom Index 2025 wieder geringfügig, verglichen zum Jahr 2024 von Rang 158 auf 159 [1. Rang = bester Rang] innerhalb der Rangordnung der angeführten 180 Länder. Leicht verschlechtert hat sich auch der absolute Wert von 31,6 auf 29,4 [100 ist der beste, statistisch zu erreichende Wert]. Das Bild der fünf Teilkategorien bzw. "Indikatoren" stellt sich ambivalenter dar. - Während sich der Rang beim "Sicherheitsindikator" von 155 auf 149, der "politische Indikator" von Platz 165 auf Platz 162 und der "ökonomische Indikator" von Platz 165 auf Platz 163 verbessert haben, verschlechterte sich der "soziale Indikator" von 150 auf 154 und der "legislative Indikator" von Rang 150 auf Rang 158 der Länderwertung (RSF 2.5.2025).
PRESSE- und MEDIENFREIHEIT
Medien als Instrument der Regierung
Die türkischen Mainstream-Medien, die einst für einen lebhafteren Ideenkonflikt sorgten, sind zum Glied einer straffen Befehlskette mit von der Regierung genehmigten Schlagzeilen, Titelseiten und Themen für Fernsehdebatten geworden. Die größten Medienmarken werden von Unternehmen und Personen kontrolliert, die Staatspräsident Erdoğan und seiner AK-Partei (AKP) nahestehen, nachdem diese seit 2008 eine Reihe von Übernahmen getätigt haben. Sie beeinflussen wesentlich die Berichterstattung. Der Trend verstärkte sich im Zuge des gescheiterten Putschversuches vom Juli 2016, als danach 150 vermeintlich der Gülen-Bewegung nahestehende Media-Outlets liquidiert wurden (REU 31.8.2022). - Erdoğan schuf ein Finanzsystem, das Medienunternehmen übernahm, die Schwierigkeiten hatten, ihre Schulden an den Staat zurückzuzahlen, und diese Medienunternehmen schließlich an mit der Regierung verbündete Unternehmen aus dem Privatsektor veräußerte (RSF 10.8.2024; vgl. Migrationsverket 9.4.2024, S. 11f.). Insgesamt wurden seit Juli 2016 knapp 200 Medienorgane geschlossen. Somit gelten gegenwärtig 85-90 % der türkischen Medien (Print, Rundfunk, Fernsehen) personell und/oder finanziell mit der Regierungspartei AKP verbunden. Die restlichen 10 % werden finanziell ausgehungert, indem ihnen staatliche Werbeanzeigen entzogen werden (AA 20.5.2024, S. 9; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 30, FH 26.2.2025, D1, RSF 10.8.2024). Wirtschaftseliten mit engen Verbindungen zu Erdoğan werden beschuldigt, Journalisten zu bestechen und eine negative Presse gegen die Opposition zu inszenieren (FH 26.2.2025, D1).
Da an die 90 % der nationalen Medien inzwischen von der Regierung kontrolliert werden, hat sich die Öffentlichkeit in den letzten fünf Jahren an den Rest der kritischen oder unabhängigen Medien verschiedener politischer Couleur gewandt, um sich über die Auswirkungen der wirtschaftlichen und politischen Krise auf das Land zu informieren. Dazu gehören lokale Fernsehsender wie Fox TV, Halk TV, Tele1 und Sözcü sowie internationale Nachrichten-Websites wie BBC Turkish, Voice of America (VOA) Turkish und die Deutsche Welle Turkish (RSF 2.5.2025).
Der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat (Radyo ve Televizyon Üst Kurulu - RTÜK), die Regulierungsbehörde für den privaten Rundfunk, wurde zu einem Überwachungs- und Kontrollinstrument umfunktioniert. Lizenzen und Genehmigungen, die von Medien beantragt werden, müssen vom RTÜK abgesegnet werden (DW 4.5.2021). Die Mitglieder des RTÜK werden vom AKP-kontrollierten Parlament ernannt (FH 26.2.2025, D1).
Ein weiteres Instrument der Druckausübung ist die staatliche Presse-Anzeigenagentur [auch: Pressewerberat] (Basın İlan Kurumu - BİK). Diese ist für die Vergabe staatlicher Anzeigen nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel an die Printmedien und seit 18.10.2022 auch an digitale Medien zuständig, eine wichtige Einnahmequelle für die Medien. Medien sind vor allem nach kritischer Berichterstattung gegen Regierungsmitglieder immer wieder von Anzeigensperren betroffen (ÖB Ankara 4.2025, S. 48). D. h., die Regierung und mit ihr verbündete Unternehmen aus der Privatwirtschaft gefährden den Medienpluralismus, indem sie Werbeanzeigen und Subventionen an Medienkanäle lenken, die ihnen wohlwollend gegenüberstehen. Die BİK nutzt die Vergabe staatlicher Werbegelder, um Druck auf widerspenstige Tageszeitungen auszuüben, während der RTÜK durch die Verhängung astronomischer Geldstrafen dazu beiträgt, kritische Fernsehsender finanziell zu schwächen (RSF 2.5.2025; vgl. EP 19.5.2021, S. 12, Pt. 27).
Zwischen 1.1.2023 und 30.6.2024 verhängte der RTÜK Geldstrafen in Höhe von insgesamt 124 Millionen Lira (4,5 Millionen US-Dollar) gegen Rundfunkanstalten und erließ 1.357 Sendeunterbrechungen (MLSA 20.12.2024; vgl. RSF 2.5.2025, FH 26.2.2025, D1). Laut Journalistengewerkschaft wurden zwischen April 2023 und April 2024 38 separate Verwaltungsstrafen gegen Medienunternehmen verhängt, die sich auf insgesamt fast 40,8 Millionen Lira [1,16 Mio. Euro, Stand Juni 2024] beliefen. Die höchste dieser Geldbußen war eine einzelne Verwaltungsstrafe in Höhe von rund 13,4 Millionen Lira, die gegen Fox TV (später Now TV) verhängt wurde. TELE1 erhielt mit zwölf die höchste Anzahl an Verwaltungsstrafen. Es wurden darüberhinaus 16 temporäre Sendeverbote verhängt (tgs 6.2024, S. 29; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 48).
Anlässlich der Festnahme des Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, hat der RTÜK mehrere Sender wegen Berichten über die Festnahme bestraft. Die Sender wurden mit Bußgeldern belegt, zwei mussten zusätzlich ihr Programm aussetzen (DlF 20.3.2025). Betroffen war z. B. der Sender "Süzcü TV", welcher laut RTÜK mit einem zehntägigen Sendeverbot belegt wurde, weil dem Sender die "Anstiftung der Öffentlichkeit zu Hass und Feindseligkeit" bei der Berichterstattung über die anhaltenden Massenproteste vorgeworfen wurde (SBN 27.3.2025).
Anweisungen an die Nachrichtenredaktionen kommen, auch via Telefon oder Whatsapp, oft von Beamten aus der Direktion für Kommunikation (İletişim Başkanlığı), die für die Beziehungen zu den Medien zuständig ist. Gegründet wurde sie auf der Basis eines Präsidialdekretes vom 24.7.20218 (PRT-DC o.D.) Sie beschäftigt rund 1.500 Mitarbeiter. 48 Auslandsbüros in 43 Ländern beobachten überdies, wie im Ausland über die Türkei berichtet wird (REU 31.8.2022). Mit dem Ziel, "die Marke Türkei zu stärken", koordiniert die Direktion für Kommunikation die Kommunikationsmaßnahmen aller staatlichen Stellen im Rahmen einer ganzheitlichen Kommunikationsstrategie und arbeitet mit anderen Behörden und Organisationen zusammen, die einen Mehrwert für die Türkei schaffen, so die Selbstdefinition der Institution (PRT-DC o.D.). Bei wichtigen Nachrichten, die Erdoğan oder seine Regierung in Bedrängnis bringen könnten - insbesondere bei Ereignissen, die die Wirtschaft oder das Militär betreffen - setzt sich die Direktion regelmäßig mit Redakteuren und leitenden Korrespondenten in Verbindung, um einen Plan für die Berichterstattung aufzustellen (REU 31.8.2022). Dass die Agenda der Direktion für Kommunikation auch die mediale Verfolgung von Kritikern miteinbeziehen kann, zeigte eine Ankündigung Ende Dezember 2023, wonach "virtuelle Patrouillen" eingesetzt werden sollen, um gegen Inhalte in sozialen Medien vorzugehen, die als terroristische Propaganda oder provokativ eingestuft werden (FH 16.10.2024, C5). Oppositionspolitiker bezeichneten die Behörde als "Propaganda-Direktion" und erklärten, dass die Direktion ihre umfangreichen Mittel dazu genutzt habe, die Positionen der regierenden AKP zu verbreiten und insbesondere in den Monaten vor den Parlamentswahlen 2023 Falschinformationen über Oppositionsparteien zu verbreiten. Das Verfassungsgericht entzog im Sommer 2024 der Direktion die Befugnis, "Maßnahmen gegen jegliche Art von Manipulation und Desinformation" zu ergreifen, da das Gericht diese als "verfassungswidrig" erachtete und davon ausging, dass zu den Aufgaben dieser Direktion auch Vorschriften über verbotene Bereiche gehören, die nicht durch einen Präsidialerlass geregelt werden können (Duvar 2.8.2024).
Druck auf Medien und strafrechtliche Verfolgung von Journalisten und anderen Kritikern
Obwohl einige unabhängige Zeitungen und Webseiten weiterhin tätig sind, stehen sie unter enormen politischen Druck und werden routinemäßig strafrechtlich verfolgt (FH 26.2.2025, D1; vgl. BS 19.3.2024, S. 11). Die Behörden ordnen regelmäßig die Sperrung von Websites und Plattformen oder die Entfernung von kritischen Online-Inhalten oder negativer Berichterstattung über Amtsträger, Unternehmen, den Präsidenten und seine Familie sowie Mitglieder der Justiz an. Als Gründe führen sie in der Regel unspezifische Bedrohungen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung oder Verletzungen der Persönlichkeitsrechte an (HRW 16.1.2025).
Die Pressefreiheit ist ständig bedroht, da die Regierung weiterhin gegen abweichende Meinungen vorgeht, umfassende Zensurmaßnahmen ergreift und rechtliche Schritte gegen Journalisten einleitet. Die von der Europäischen Kommission finanzierte Medienbeobachtungsplattform Mapping Media Freedom (MFRR) verzeichnete für das Jahr 2024 insgesamt 135 Verstöße gegen die Pressefreiheit, von denen 317 Personen oder Einrichtungen aus dem Medienbereich betroffen waren. Strafanzeigen, Ermittlungen, Verhöre und Zivilklagen wurden wiederholt eingesetzt, um Journalisten einzuschüchtern und kritische Berichterstattung zu unterbinden (EFJ/IPI/ECPMF 11.2.2025, S. 47f.). Strafverfahren gegen Journalisten werden oft mit der "Beleidigung des Staatspräsidenten und der türkischen Nation", mit Terrorpropaganda (AA 20.5.2024, S. 9; vgl. EFJ/IPI/ECPMF 11.2.2025, S. 48, ÖB Ankara 4.2025, S. 48), "provokativen Inhalten" (AA 20.5.2024, S. 9), "Beleidigung von Amtsträgern" (EFJ/IPI/ECPMF 11.2.2025, S. 48) und "offene Aufstachelung zum Hass und zur Feindschaft" begründet (EFJ/IPI/ECPMF 25.10.2023, S. 12).
Journalisten und Medienmitarbeiter befinden sich in Untersuchungshaft oder verbüßen Strafen, da deren journalistische Tätigkeiten als terrorismusbezogene Vergehen gewertet wurden (HRW 16.1.2025; vgl. IPI 30.11.2020). So wurden (2024) lange Haftstrafen von bis zu sechs Jahren und drei Monaten wegen terroristischer Straftaten unter anderem gegen acht Journalisten der Nachrichtenagentur Mezopotamya, die Reporterin Hamdiye Çiftçi Öksüz, den Journalisten Erdem Gül sowie die Journalisten Ahmet Altan, Nazlı Ilıcak und Fevzi Yazıcı verhängt (EFJ/IPI/ECPMF 11.2.2025, S. 48). Die Repressionen gegen Journalisten beziehen sich längst nicht nur auf Inhaftierungen. Auch gerichtliche Auflagen sind Teil eines repressiven Systems, das kritische Stimmen systematisch zum Schweigen bringen soll. Kontrollmaßnahmen wie Hausarrest, Ausreisesperren und regelmäßige Meldepflichten werden zunehmend als Druckmittel eingesetzt (DW 3.5.2025, vgl. Migrationsverket 9.4.2024). Beispielsweise wurden laut Medienberichten bei Razzien in Istanbul, Ankara und Urfa am 23.4.2024 neun Journalistinnen und Journalisten festgenommen, die für pro-kurdische Nachrichtenmedien arbeiten. Im Nachgang der Festnahme schränkten die Behörden einen Kontakt der Inhaftierten mit ihren Anwälten ein. Im Polizeibericht hieß es, dass die Journalistinnen und Journalisten Verbindungen zur PKK hätten (BAMF 29.4.2024).
Darüber hinaus gibt es Druck insbesondere auf Journalistinnen und Journalisten, die etwa negativ über nationalistische Gruppieren recherchieren oder (AA 20.5.2024, S. 9) über Korruption berichten (REU 31.8.2022; vgl. FH 26.2.2025, D1). Am 1.11.2023 sind zum Beispiel die beiden Journalisten Tolga Şardan und Dinçer Gökçe wegen des Vorwurfs der "Verbreitung falscher Informationen" getrennt voneinander vorübergehend festgenommen und angeklagt worden. Einen Tag später verhaftete die Polizei den Online-Kolumnisten Cengiz Erdinç wegen desselben mutmaßlichen Tatbestands (Erdinç wurde am 3.11.2023 unter der gerichtlichen Auflage eines Ausreiseverbotes entlassen). Die drei Medienschaffenden hatten zuvor über Korruption in der türkischen Justiz berichtet, und das unter Berufung auf einen geheimen Bericht hierzu des Nachrichtendienstes MİT (BAMF 31.12.2023, S. 5; vgl. BIRN 2.11.2023, CPJ 2.11.2023, EI 16.12.2024).
Der Druck auf Journalisten dauert an. Ihre Arbeitssituation ist schwierig, die Arbeitslosigkeit in dieser Berufsgruppe sowie im Medienbereich allgemein hoch. Zukunftsängste und mangelnde Jobsicherheit begünstigen ebenso die Selbstzensur (ÖB Ankara 4.2025, S. 48; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 30) wie die Furcht vor Repressionen durch rechtliche und wirtschaftliche Schritte im Falle von Kritik an der Regierung (USDOS 22.4.2024, S. 27). Laut einer Studie der Europäischen Journalistenvereinigung (2023) gaben 50 % der befragten Journalisten an, dass politischer Druck ein Haupthindernis für ihre Arbeit darstelle, und 43 % erlebten irgendeine Form von Zensur (USDOS 22.4.2024, S. 30).
Ein Beispiel, dass nicht nur gegen Journalisten und Oppositionelle rechtlich seitens der Staatsorgane vorgegangen wird, ist jenes führender Vertreter des TÜSİAD, des Türkischen Industrie- und Wirtschaftsverbandes. - Mitte Februar 2025 kritisierte der Vorsitzende des Hohen Beirats von TÜSİAD, Omer Aras, dass in den Wochen zuvor Hunderte Personen, darunter Politiker und Journalisten, festgenommen wurden. Solche Fälle hätten das Vertrauen der Gesellschaft in den Staat erschüttert und bedeuteten eine Schwächung der türkischen Demokratie. Es folgte scharfe Kritik seitens Staatspräsident Erdoğan am TÜSİAD, wonach der Verband voller Geschäftsleute sei, die im Schatten unfairer Profite und Privilegien zum Schaden der Nation gewachsen seien. Unmittelbar nach Erdoğans Kritik teilte die Istanbuler Staatsanwaltschaft mit, dass gegen Aras und den TÜSIAD-Präsidenten Orhan Turan Ermittlungen wegen des "Versuchs der Beeinflussung eines fairen Gerichtsprozesses" und wegen "Verbreitung von irreführenden Informationen" Ermittlungen eingeleitet wurden (FAZ 20.2.2025; vgl. BIRN 14.2.2025). Über die beiden wurden infolge gerichtliche Kontrollmaßnahmen verhängt, darunter ein internationales Reiseverbot (Duvar 8.3.2025; vgl. HDN 7.3.2025). Die Staatsanwaltschaft schloss am 7.3.2025 die Ermittlungen gegen Turan und Aras ab. In der Anklageschrift wurden Haftstrafen zwischen einem Jahr und zehn Monaten und fünfeinhalb Jahren wegen "fortgesetzter öffentlicher Verbreitung irreführender Informationen in Presse und Rundfunk" gefordert (Duvar 8.3.2025; vgl. BirGün 7.3.2025, HDN 7.3.2025).
Heikle Themen
Medienkanäle werden mit Geldstrafen belegt und Journalisten strafrechtlich verfolgt, weil sie über Themen wie die Kritik am Gezi-Prozess, Kindesmissbrauch in privaten Koranschulen, Gewalt gegen Frauen (BS 19.3.2024, S. 11), Angriffe auf den Säkularismus, den Einfluss religiöser Gruppen (Tarikat) oder regionale dschihadistische Organisationen (RSF 2.5.2025) und oppositionelle Proteste berichten (BS 19.3.2024; vgl.FH 28.2.2022, D1, RSF 2.5.2025).
Journalisten, welche vormalige Aktionen der Regierung, die angeblich der Unterstützung des sogenannten Islamischen Staates dienten - z. B. militärischen Aktivitäten der Türkei in Syrien oder Libyen - oder Missstände bei den Sicherheitskräften untersuchen, werden systematisch der "Spionage", der "terroristischen Propaganda", der "Diffamierung" des Justizsystems oder der Sicherheitskräfte oder sogar des "Angriffs auf einen Anti-Terror-Agenten" beschuldigt (RSF 15.6.2021; vgl. IPI 30.11.2020). Dies gilt auch für die Gegenwart. - So stellte am 21.12.2024 ein Istanbuler Gericht die Journalistin Özlem Gürses wegen des Verdachts der Verunglimpfung des türkischen Militärs unter Hausarrest, nachdem sie sich auf ihrem YouTube-Kanal über die militärische Präsenz der Türkei in Syrien kritisch geäußert hatte (CPJ 23.12.2024; vgl. Duvar 23.12.2024).
Auch die Kritik an der Wirtschaftspolitik kann zur Verhaftung führen. Am 12.12.2021 wurden drei Youtube-Journalisten in der türkischen Provinz Antalya verhaftet, nachdem sie Passanten auf der Straße zu deren Meinung zur Wirtschaftskrise in der Türkei interviewt hatten. Bei Razzien in ihren Wohnungen wurden Mobiltelefone und Computer beschlagnahmt. Den festgenommenen Personen wird vorgeworfen, "den Staat und die Regierung zu verunglimpfen". Sie wurden zwischenzeitlich wieder freigelassen, jedoch unter Hausarrest gestellt (BAMF 20.12.2021, S. 12; vgl. Independent 13.12.2021). Der Präsident der staatlichen türkischen Medienaufsicht RTÜK hat nun das Format der Straßeninterviews ins Visier genommen, weil sie "Desinformation" und "Manipulation der öffentlichen Meinung" bewirken können. Bürgerinnen und Bürger, die Gegenstand dieser Interviews waren, wurden belangt, insbesondere diejenigen, die sich kritisch oder negativ über die regierende AKP und Präsident Erdoğan äußerten (Duvar 8.8.2024).
Zu den heiklen Themen gehört auch der Völkermord an den Armeniern. - Die Rundfunkregulierungsbehörde RTÜK hatte Açık Radyo im Mai 2024 wegen der Äußerungen eines Gastes bestraft, der am 24. April in einer Sendung von Açık Radyo die Bezeichung Genozid für die Deportationen und das Massaker an den Armenieren auf osmanischem Boden verwendete und auf das Verbot von diesbezüglichen Gedenkveranstaltungen hinwies. RTÜK hatte dem Sender gemäß Rundfunk- und Fernsehgesetz (Nr. 6112) eine Geldstrafe und ein fünftägiges Sendeverbot auferlegt, weil der Sender angeblich "die Öffentlichkeit zu Hass und Feindseligkeit aufstachelt oder Hassgefühle in der Gesellschaft hervorruft." Açık Radyo hatte die Geldstrafe bezahlt, sendete aber weiter. Nachdem der RTÜK festgestellt hatte, dass die in der Sanktion genannten Bedingungen nicht eingehalten worden waren, beschloss er im Juli 2024, Açık Radyo die Sendelizenz zu entziehen. Gemäß der Entscheidung wurde der terrestrische Sendebetrieb des Senders am 16.10.2024 eingestellt (FH 18.10.2024; vgl. Politico 16.10.2024, FES 11.12.2024, AI 29.4.2025). Ein anderes Beispiel hierzu aus dem Bereich Meinungsfreiheit sind Eren Keskin, der Ko-Vorsitzende der Menschenrechtsvereinigung (İHD), und Güllistan Yarkın, Mitglied einer İHD-Kommission, die gegen Rassismus und Diskriminierung kämpft. Sie wurden nach dem umstrittenen Artikel 301 des Strafgesetzbuches angeklagt, der die Beleidigung der türkischen Nation, des Parlaments, der Regierung oder des Türkentums betrifft, und zwar im Zusammenhang mit einer von der İHD im Jahr 2021 abgehaltenen Gedenkveranstaltung zum Gedenken an die Opfer der Massendeportation von Armeniern unter osmanischer Herrschaft während des Ersten Weltkriegs, bei der sieden Massenmord an den Armeniern in den letzten Tagen des Osmanischen Reiches als "Völkermord" bezeichnet hatten. 2024 wurden die beiden Aktivisten vom Vorwurf der Beleidigung des türkischen Volkes und der türkischen Regierung schlussendlich freigesprochen (TM 4.5.2024; vgl. Bianet 2.5.2024).
Verhaftet wegen Terrorunterstützung werden jedoch nicht nur Journalisten. - So wurde etwa die Vorsitzende des medizinischen Berufsverbands TTB, Şebnem Korur Fıncancı, nach einem TV-Interview der Terrorpropaganda beschuldigt und verhaftet, weil sie Aufklärung zu möglichen Chemiewaffen-Einsätzen der türkischen Armee im Nordirak forderte, nachdem eine Delegation der Organisation "Internationale Ärzt:innen für die Verhütung des Atomkrieges" Ende September im Nordirak vermeintlich einige indirekte Indizien für mögliche Verletzungen der Chemiewaffenkonvention gefunden hatte. Staatspräsident Erdoğan beschuldigte Fincanci ihr Land beleidigt zu haben und "die Sprache der Terrororganisation" PKK zu sprechen (FR 27.10.2022; vgl. AP 27.10.2022). Am 11.1.2023 verurteilte das Gericht die Medizinerin zu zwei Jahren, acht Monaten und 15 Tagen Gefängnis. Allerdings wurde Fincanci im Anschluss an die Urteilsverkündung umgehend freigelassen. Haftstrafen von weniger als drei Jahren werden in der Türkei selten vollstreckt (Standard 11.1.2023; vgl. DW 11.1.2023).
Gewalt gegen Journalisten
Journalisten sehen sich Einschüchterungen, Festnahmen, Anklagen, Zensur, Androhung oder Anwendung von Verleumdungsgesetzen, Gewalt und Gewaltandrohungen sowie Entlassungen ausgesetzt. Auch werden immer wieder gewaltsame Übergriffe gegen Journalisten verzeichnet, welche oftmals nicht geahndet werden (USDOS 22.4.2024, S. 1, 28f.; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 48), BS 19.3.2024; S. 11). Für das Jahr 2024 verzeichnete beispielsweise die Medienbeobachtungsplattform Mapping Media Freedom elf Morddrohungen gegen Journalisten (EFJ/IPI/ECPMF 11.2.2025, S. 48). Ein weiteres Problem ist eine Art "Kartellbildung" der Medieninstitutionen – wer in einer Institution "überflüssig" wurde, wird von anderen nicht mehr eingestellt (ÖB Ankara 4.2025, S. 48). Tätlich angegriffen werden vor allem diejenigen, die über Politik, Korruption oder Verbrechen berichten (FH 26.2.2025, D1).
Polizeibrutalität und tätliche Angriffe von Zivilisten auf Journalisten sind zu einem chronischen Problem geworden, das sich auch auf die Atmosphäre der Pressefreiheit in der Türkei (EI 8.2024, S. 3; vgl. SZ 21.2.2022). In seltenen Fällen auch mit tödlichen Folgen. - Im Februar 2022 wurde Güngör Arslan, Eigentümer und Chefredakteur einer Lokalzeitung, vor seinem Büro in İzmit erschossen. Er prangerte die örtliche Korruption und die Mafia an (SZ 21.2.2022). Die NGO "Expression Interrupted" berichtete für das zweite Quartal 2024 von mindestens 34 Fällen von gewaltsamen Polizeieinsätzen, körperlichen Angriffen, Drohungen und gezielter Gewalt gegen Journalisten. Im zweiten Quartal des Jahres gehörte die Straflosigkeit zugunsten der Täter, die Journalisten drohten oder angriffen, weiterhin zu den Problemen, mit denen Journalisten häufig konfrontiert sind (EI 8.2024, S. 5).
Kurdische Journalisten und Medien
Kurdische Journalisten und Nachrichtenagenturen sowie Reporter, die über kurdische Themen berichteten, wurden wiederholt von Behörden, aber auch von Privatpersonen angegriffen (EFJ/IPI/ECPMF 11.2.2025, S. 49; vgl. AI 26.12.2024, UNESCO 13.1.2025). Die Regierung verweigert türkischen Staatsbürgern, die für internationale Medien arbeiten, routinemäßig die Presseakkreditierung, wenn sie mit privaten kurdischsprachigen Medien in Verbindung stehen (USDOS 22.4.2024, S. 29). (Befristete) Publikationsverbote mit Verweis auf die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" oder "Gefährdung der nationalen Einheit" treffen, mitunter wiederholt, vor allem kurdische Zeitungen oder solche des linken politischen Spektrums (AA 20.5.2024, S. 9). Berichte zum Konflikt zwischen der PKK und dem türkischen Staat ziehen die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich. Betroffen hiervon ist beispielsweise die kurdische Nachrichtenplattform "Mezopotamya Agency", laut deren Leiter jeder Mitarbeiter zumindest einmal festgenommen wurde (MBZ 2.3.2022, S. 23).
Kurdische Journalisten sind in unverhältnismäßiger Weise von Verfolgung betroffen. Beispiele: Im Juli 2024 wurden bei einem Prozess in Ankara gegen elf kurdische Journalisten acht von ihnen wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" zu jeweils sechs Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Sie haben gegen die Urteile Berufung eingelegt. In Diyarbakır wurde der Prozess gegen 20 kurdische Journalisten und Medienmitarbeiter wegen der gleichen Vorwürfe fortgesetzt (HRW 16.1.2025). Im Dezember (2024) wurden die Journalisten Nazım Daştan und Cihan Bilgin, die für die kurdische Nachrichtenagentur Hawar News Agency (ANHA) berichteten, bei der Berichterstattung über die jüngsten militärischen Zusammenstöße im Norden und Osten Syriens bei einem mutmaßlichen türkischen Drohnenangriff getötet. Der Vorfall löste breite Empörung aus, und die Polizei nahm fast 40 Journalisten fest, die gegen die Tötung ihrer Kollegen protestierten (EFJ/IPI/ECPMF 11.2.2025, S. 49). Die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft hat eine Untersuchung gegen den Präsidenten der Istanbuler Rechtsanwaltskammer, İbrahim Kaboğlu, und Mitglieder des Kammervorstands eingeleitet, da diese die gezielten Angriffe auf Journalisten in Konfliktgebieten als einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und die Genfer Konvention darstellten. Die Generalstaatsanwaltschaft wirft ihnen "Propaganda für eine illegale Organisation" und "Verbreitung irreführender Informationen in der Öffentlichkeit" vor (BAMF 23.12.2024, S. 6; vgl. CPJ 23.12.2024). Am 17.1.2025 wurden in Istanbul, Van und Mersin sechs Journalisten unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation verhaftet. Die Verhaftungen erfolgten aufgrund ihrer Nachrichtenberichte und Diskussionssendungen (Mezopotamya 20.1.2025; vgl. SCF 20.1.2025b). Für weitere Beispiele: Siehe vormalige Länderinformationen zur Türkei!
Beweise zur Rechtfertigung von Untersuchungshaft und terroristischer Anschuldigungen bestehen in erster Linie aus Produkten journalistischer Arbeit, einschließlich veröffentlichter Artikel und Fotos, Kontakten zu Quellen, Social Media-Posts oder TV-Auftritten (SCF 3.1.2022).
Urteile des Verfassungsgerichts
Am 8.4.2021 hob das türkische Verfassungsgericht einen Artikel eines Regierungsdekrets auf, das nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 erlassen wurde und zur Schließung von Dutzenden von Medienhäusern führte. Die Begründung hierfür und die anschließende Beschlagnahmung des Eigentums war die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" (CoE-PACE 22.4.2021, S. 4; vgl. CCRT 8.4.2021, TM 8.4.2021). Unbenommen der rechtlich möglichen Einschränkungen der Grundfreiheiten während des Ausnahmezustandes sah das Verfassungsgericht infolge der Beendigung des Letzteren die verfassungsmäßig garantierten grundlegenden Freiheiten ab diesem Zeitpunkt als verletzt an (CCRT 8.4.2021).
Das Verfassungsgericht entschied in seinem Piloturteil vom August 2022, welches mehrere Klagen der Zeitungen Sözcü, Cumhuriyet, BirGün und Evrensel bewertete, dass die von der staatlichen BİK verhängten Strafen gegen die Meinungs- und Pressefreiheit verstoßen hatten. Den betroffenen Zeitungen mussten jeweils 10.000 Lira [ca. 550 Euro] Entschädigung gezahlt werden. Das Verfassungsgericht stellte zudem fest, dass die Verhängung von Geldstrafen für Werbung durch erstinstanzliche Gerichte ein systematisches Problem darstelle, und forderte infolgedessen das Parlament auf, sich mit dem entsprechenden Gesetzesartikel zu befassen, um dieses grundlegende Problem zu lösen (EI 13.8.2022; vgl. REU 31.8.2022). Als Folge gab die BİK bekannt, dass sie die Verhängung von Strafen für Verstöße gegen die Berufsethik ausgesetzt habe. Die Regierung schwieg zum Urteil des Verfassungsgerichts (REU 31.8.2022).
Am 10.1.2024 entschied das Verfassungsgericht, dass die Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (BTK) nicht das Recht hat, Online-Inhalte zu blockieren, da dies gegen die Verfassung verstößt. Die fraglichen Vorschriften würden die Meinungsfreiheit einschränken, indem sie es erlaubten, den Inhalt von im Internet veröffentlichten Publikationen von der Veröffentlichung zu entfernen und/oder den Zugang zu diesen Publikationen zu sperren, und diese Publikation auch eine solche im Rahmen des Online-Journalismus sein kann (BIRN 10.1.2024; vgl. CPJ 11.1.2024, HRW 16.1.2025). Das Urteil des Verfassungsgerichts annullierte ebenso die Möglichkeit lokaler Gerichte, Online-Nachrichten entfernen zu lassen (CPJ 11.1.2024).
MEINUNGSFREIHEIT
Das Europäische Parlament (EP) bekräftigte im Mai 2022 seine ernste Besorgnis über die unverhältnismäßigen und willkürlichen Maßnahmen, die das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränken (EP 7.6.2022, S. 10, Pt. 13). In vielen Fällen können Einzelpersonen den Staat oder die Regierung nicht öffentlich kritisieren, ohne das Risiko zivil- oder strafrechtlicher Klagen bzw. Ermittlungen in Kauf zu nehmen. Die Regierung schränkt die Meinungsfreiheit von Personen ein, die bestimmten religiösen, politischen oder kulturellen Standpunkten wohlwollend gegenüberstehen. Sich zu heiklen Themen oder in regierungskritischer Weise zu äußern, zieht mitunter Ermittlungen, Geldstrafen, strafrechtliche Anklagen, Arbeitsplatzverlust und Haftstrafen nach sich. Auf regierungskritische Äußerungen reagiert die Regierung häufig mit Strafanzeigen wegen angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, Terrorismus oder sonstiger Gefährdung des Staates. Die Regierung hat Hunderte von Personen wegen der Ausübung ihrer Meinungsfreiheit verurteilt und bestraft (USDOS 22.4.2024, S. 27). Im Jahr 2021 betrafen laut Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte allein 31 von insgesamt 76 Fällen von Verletzungen der EMRK durch die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung (ECHR 1.2022). Allerdings reduzierte sich der Anteil im Jahr 2024 auf nur mehr 15 von 73 Fällen (ECHR 22.1.2025).
Auslegung des Terrorismusbegriffs in der Anti-Terror-Gesetzgebung
Die Rückschritte im Bereich Meinungsfreiheit seit 2025 sind Ausfluss des weit ausgelegten Terrorismusbegriffs in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelner Artikel des türkischen Strafgesetzbuches (z. B. Art. 301 – Verunglimpfung/ Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes [hierzu siehe nächsten Absatz]). Diese Bestimmungen werden in den letzten Jahren häufiger herangezogen, um gegen kritische Stimmen vorzugehen. In der Justizreformstrategie 2025-2029 wird allgemein festgehalten, dass Schutz und Weiterentwicklung der Meinungsfreiheit unverzichtbare Prioritäten sind. Als Maßnahmen sind jedoch nur sehr vage die Ausarbeitung neuer Maßnahmen und Praktiken vorgesehen, um die Standards der Meinungs- und Pressefreiheit zu erhöhen. Im Lichte der Zielsetzung der vorangegangenen Justizreformstrategie, dass die Äußerung von Gedanken, die nur der Berichterstattung und/oder der Kritikausübung dienen, kein Vergehen mehr darstellen sollte, wurde zwar eine Änderung von Art. 7(2) Antiterrorgesetz vorgenommen, der geänderte Gesetzeswortlaut wird aber weiterhin als zu vage gesehen und begünstigt willkürliche Auslegungen, da der Begriff "terroristische Propaganda" nicht klar definiert wird (ÖB Ankara 4.2025, S. 46). Problematisch ist die sehr weite Auslegung des Terrorismusbegriffs durch die Gerichte. So können etwa öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdisch geprägten Gebieten der Südosttürkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 20.5.2024, S. 9).
Die geltenden Gesetze zur Terrorismusbekämpfung, zum Internet, zu den Nachrichtendiensten und das Strafgesetzbuch behindern die freie Meinungsäußerung und stehen im Widerspruch zu europäischen Standards, so die Europäische Kommission. Die selektive und willkürliche Anwendung von Rechtsvorschriften gibt überdies weiterhin Anlass zur Sorge, da sie gegen die Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit und des Rechts auf ein faires Verfahren verstößt. Trotz gesetzlicher Änderungen, mit denen die Notwendigkeit einer soliden Beweisgrundlage bei "Katalogdelikten" eingeführt wurde, werden Fälle im Zusammenhang mit der freien Meinungsäußerung weiterhin in die Kategorie der Straftaten zugeordnet, die automatisch eine "Untersuchungshaft" erfordern (EC 8.11.2023, S. 34f.). Zwar stellt nunmehr Art. 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes klar, dass Meinungsäußerungen, welche die Grenze der Berichterstattung nicht überschreiten, keine Straftat darstellen, doch dies hat die politische Verfolgung unliebsamer Äußerungen in der Praxis nicht eingeschränkt (AA 20.5.2024, S. 8f.).
Eines der prominentesten Beispiele war die Verurteilung von vier Menschenrechtsverteidigern, darunter der ehemalige Vorsitzende von Amnesty International Türkei, Taner Kılıç, wegen der Unterstützung einer terroristischen Organisation im Juli 2020 (FH 3.3.2021; vgl. FH 29.2.2024, E2). Die Behörden hatten Kılıç im Juni 2017 unter dem Vorwurf festgenommen, Verbindungen zu Fethullah Gülen zu unterhalten. Der EGMR entschied Ende Mai 2022 einstimmig, d. h. inklusive des türkischen Richters, dass die Türkei bei der Inhaftierung von Kılıç rechtswidrig gehandelt hatte. Das Gericht fand keine Beweise dafür, dass Kılıç eine Straftat begangen hat. Das Gericht entschied außerdem, dass seine spätere Verurteilung wegen anderer Anschuldigungen in direktem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger stehe und sein Recht auf freie Meinungsäußerung beeinträchtigt wurde (DW 31.5.2022; vgl. AP 31.5.2022). Nach fast acht Jahre dauernden Gerichtsverfahren wurde Kılıç im Februar 2025 freigesprochen. Der Freispruch erfolgte, nachdem das Kassationsgericht die Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft gegen die frühere Entscheidung des Kassationsgerichts, die unbegründete Verurteilung Taners aufzuheben, zurückgewiesen hatte (AI 27.3.2025; vgl. TM 27.2.2025).
Im März 2025 verlangte der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates anlässlich der Verhaftungswelle gewählter Bürgermeister, dass die Verfolgung und Inhaftierung gewählter Vertreter von Oppositionsparteien auf der Grundlage einer breiten Auslegung und Anwendung der Straftatbestände des Terrorismus oder der Verleumdung, insbesondere im Zusammenhang mit Wahlen, einzustellen sind (CoE-CLRA 27.3.2025, Pt. 13c).
Beleidigung des Präsidenten, staatlicher Würdenträger, des türkischen Staates und der Nation
Mehrere Artikel des Strafgesetzbuches verbieten die Verleumdung, definiert als Beleidigung, des türkischen Staates, seiner Symbole und seiner Vertreter. Artikel 299 sieht eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu drei Jahren für Beleidigungen der türkischen Nation, des Staates oder der Großen Nationalversammlung vor bzw. für diejenigen, welche die Regierung, Justizorgane, das Militär oder Sicherheitsorganisationen öffentlich herabwürdigen. Andere Artikel stellen das Verbrennen der türkischen Flagge, die Herabwürdigung der Nationalhymne, die Beleidigung eines öffentlichen Ausschusses und die Beleidigung des Andenkens einer verstorbenen Person unter Strafe. Die Beleidigung des Präsidenten wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu vier Jahren bestraft, die um ein Sechstel erhöht wird, wenn die Straftat öffentlich begangen wird. Regierungsbeamte können im Namen des Präsidenten Anklage erheben. Die meisten Verleumdungsklagen richten sich gegen Journalisten, aber auch gegen Schriftsteller, Politiker, Sportler, Studenten, Akademiker und Schüler wurden Verfahren eingeleitet. Die meisten Fälle, die nach Artikel 299 des Strafgesetzbuches verfolgt werden, führen nicht zu Freiheitsstrafen, obwohl viele der Angeklagten in Untersuchungshaft sitzen (DFAT 16.5.2025, S. 20f.; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 33). Insbesondere Oppositionspolitiker, darunter gewählte Mandatare sehen sich mit Strafverfolgung und Verurteilung wegen Beleidigung von staatlichen Würdenträgern oder des türkischen Staates bzw. des Türkentums konfrontiert (FH 3.3.2021; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 33, Duvar 8.12.2022, HRW 14.12.2022, Evrensel 14.12.2022). Im umgekehrten Falle, nämlich der Beleidigung von Oppositionellen, AKP-Mitglieder und Regierungsbeamte nur selten strafrechtlich verfolgt werden (USDOS 22.4.2024, S. 33). Auch gewöhnliche Staatsbürger werden wegen Unruhestiftung oder Beleidigung des Präsidenten strafrechtlich verfolgt. - Während die Bürger ihre Meinung weiterhin privat äußern, sind viele bei ihren öffentlichen Äußerungen vorsichtig (FH 26.2.2025, D4)..
Soziale Medien und Internet
Am 1.10.2020 trat in der Türkei das Gesetz Nr. 7253 über die Beschränkung von sozialen Medien in Kraft. Es zwingt Betreiber von Plattformen mit mehr als einer Million Nutzer täglich, mindestens einen Repräsentanten in der Türkei zu ernennen. Dieser muss türkischer Staatsbürger sein und seine Daten müssen auf der Webseite angegeben sein. Bei Nicht-Einhaltung der Vorgaben drohen Geldstrafen, Bandbreitenreduktion oder auch Verbot von Werbeanzeigen. Bei Anträgen von Einzelnen betreffend die Entfernung von Inhalten oder Zugriffsblockierung wegen Verletzungen der Privatsphäre muss der Provider dem Antragsteller innerhalb von längstens 48 Stunden antworten, andernfalls kann die Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologie eine Strafe von fünf Mio. Lira verhängen. Wenn ein Gericht oder Richter feststellt, dass ein veröffentlichter Inhalt das Gesetz verletzt, und der Provider innerhalb von 24 Stunden den Inhalt nicht entfernt oder nicht sperrt, haftet er für die entstandenen Schäden. Das Gesetz fordert, dass Unternehmen alle Daten türkischer Kunden in der Türkei speichern müssen (ÖB Ankara 4.2025, S. 46f.). Die betroffenen Online-Plattformen sind gezwungen, Berichte an die türkische Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (Bilgi Teknolojileri ve İletişim Kurumu - BTK) über ihre Reaktion auf Anfragen von Verwaltungs- oder Justizbehörden hinsichtlich Zensur oder Sperrung des Zugangs zu Online-Inhalten zu senden. Auf Anordnung eines Richters oder der BTK ist die Union der Zugangsanbieter (ESB) auch verpflichtet, Internet-Hosts oder Suchmaschinen anzuweisen, Entscheidungen über Zugangssperren innerhalb von vier Stunden unter Androhung einer Verwaltungsstrafe zu vollstrecken. Empfindliche Geldstrafen drohen auch, wenn die Internet-Plattformen Benutzerdaten nicht speichern (RSF 1.10.2020).
Die Bedingungen für ein offenes und freies Internet sind laut Europäischer Kommission in der Türkei nicht gegeben. Websites und soziale Medien werden häufig für Personen gesperrt, die sich kritisch über die Regierung äußern (EC 8.11.2023, S. 37). Die Internetfreiheit steht nach wie vor unter Druck. So hat beispielsweise das Ausmaß gesperrter Webseiten zugenommen (MBZ 2.2025a, S. 33). Herausstechend sind nach wie vor lange Haftstrafen für Beiträge in sozialen Medien, zahlreiche Zugangssperren und Anordnungen zur Entfernung von Inhalten sowie die Verbreitung von Falschinformationen. Die regierende AKP hat mehrere Gesetze erlassen, die die Zensur und Überwachung verschärfen und Online-Äußerungen kriminalisieren. Online-Troll-Netzwerke verbreiten weiterhin regierungsnahe Desinformationen, und Journalisten, Aktivisten und Nutzer sozialer Medien werden nach wie vor wegen ihrer Online-Inhalte angeklagt. Die Türkei erreichte 2024 nur 31 von 100 möglichen Punkten und gilt weiterhin als "unfrei" (FH 16.10.2024).
Kritische und uneinsichtige Nutzer sozialer Nutzer sozialer Medien werden häufig überprüft, strafrechtlich verfolgt und verurteilt (EC 8.11.2023, S. 37; vgl. MBZ 2.2025a, S. 35). Alles, vom banalen Teilen bis hin zum Liken von Inhalten in sozialen Medien, die von anderen geteilt werden, kann zu strafrechtlichen Ermittlungen und/oder einer Strafverfolgung etwa wegen Beleidigung des Staatspräsidenten führen (ARTICLE19 8.4.2022). Die türkische Polizei überwachte die sozialen Medien in großem Stil. Zu diesem Zweck verfügte sie über eine spezielle Cyber-Abteilung namens Siberay. Diese Abteilung beschränkte sich nicht nur auf die Social-Media-Konten bekannter Journalisten und Aktivisten, sondern überwacht auch jene von "normalen" Social-Media-Nutzern (MBZ 2.2025a, S. 35).
Dem niederländischen Außenministerium zufolge ziehen folgende kritische Berichte in den sozialen Medien eine negative Aufmerksamkeit der türkischen Behörden nach sich: Präsident Erdoğan und seine Familie, die Coronavirus-Politik der Regierung, die militärischen Operationen der Türkei im In- und Ausland, die politischen und kulturellen Rechte der kurdischen Minderheit, der Konflikt zwischen der PKK und der türkischen Regierung, Gülen und seine Bewegung, der Islam und sexuelle Minderheiten. Beiträge dieser Art werden gesperrt oder entfernt, und jeder, der solche Nachrichten veröffentlicht oder weiter gibt, muss mit einem Strafverfahren rechnen (MBZ 31.8.2023, S. 25; vgl. FH 16.10.2024). Nutzer sozialer Medien wissen nicht immer, wo die Regierung die Grenze zieht. Dies liegt daran, dass die Gesetze und Vorschriften in Bezug auf Terrorpropaganda und Desinformation allgemein und vage formuliert sind. Infolgedessen steht der Staatsanwaltschaft eine Vielzahl von Rechtsgrundlagen zur Verfügung, um eine strafrechtliche Untersuchung oder ein Strafverfahren einzuleiten. Wenn die Message ein Thema betrifft, das gerade im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht, leiten die Behörden schnell eine strafrechtliche Untersuchung ein. Wenn "normale" Bürger vormals über Themen berichteten, die wenig Aufmerksamkeit erhalten hatten, können strafrechtliche Untersuchungen manchmal im Nachhinein um mehrere Jahre verzögert eingeleitet werden (MBZ 2.2025a, S. 35).
Websites können wegen "Obszönität" gesperrt werden oder wenn sie als verleumderisch für den Islam angesehen werden, was auch Inhalte einschließt, die den Atheismus fördern. Zusätzlich zu den weitverbreiteten Sperrungen fordern staatliche Behörden proaktiv die Löschung oder Entfernung von Inhalten. Die meisten Sperrungsverfügungen werden von der Telekommunikationsbehörde BTK und nicht von den Gerichten erlassen. - Das Mandat der BTK umfasst die Vollstreckung gerichtlicher Sperrverfügungen, sie kann aber auch Verwaltungsanordnungen für ausländische Websites erlassen. - Die Verfahren im Zusammenhang mit Sperrungen sind undurchsichtig und stellen diejenigen, die Rechtsmittel einlegen wollen, vor erhebliche Herausforderungen. Die Begründung für Gerichtsentscheidungen wird in den Bescheiden zur Sperrung nicht angegeben, und die entsprechenden Bescheide sind nicht leicht zugänglich. Infolgedessen ist es für Website-Betreiber schwierig festzustellen, warum ihre Website gesperrt wurde, und welches Gericht die Anordnung erlassen hat (FH 4.10.2023).
Im Jahr 2023 wurde laut der NGO "Free Web Turkey" der Zugang zu 219.059 URLs gesperrt. Gesperrt wurden u. a. 197.907 Domainnamen, 5.641 Social-Media-Beiträge und 743 Social-Media-Konten. Der Bericht hebt hervor, dass zu den zensierten URLs weiters auch 14.680 Nachrichtenartikel gehörten, die sich am häufigsten (5.881 gesperrte Artikel) mit Korruptionsvorwürfen und Fehlverhalten befassten, und zwar oft mit Bezug auf Beamte und Personen mit engen Verbindungen zur regierenden Partei AKP. - Verbrechen gegen Frauen und Kinder folgten mit 2.256 gesperrten Artikeln und 1.733 Artikeln über Organisierte Kriminalität. Blockiert wurden auch 646 Artikel über Präsident Erdoğan und seine Familie. Der Hauptgrund für die Sperrung von Artikeln gemäß türkischen Behörden war die "Verletzung der Persönlichkeitsrechte", und zwar in 14.332 Fällen, gefolgt von 344 Sperren wegen der Gefährdung der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung (FW-TR 3.9.2024; vgl. SCF 16.7.2024).
Das sog. "Desinformationsgesetz" Nr. 7418 (2022)
Im Oktober 2022 verschärfte die Regierung ihr ohnehin hartes Vorgehen gegen die Medien. Unter massivem Protest der Opposition hat das Parlament das sog. Gesetz gegen "Desinformation" beschlossen. Am 18.10.2022 trat es als Gesetz Nr. 7418 zur Änderung des Pressegesetzes in Kraft. Das Gesetz sieht Haftstrafen von ein bis zu drei Jahren für die Verbreitung "falscher oder irreführender Nachrichten" vor. Täter können akkreditierte Journalisten sowie normale Mediennutzer sein. Sogar für einen Retweet sind bis zu drei Jahre Haft möglich. Gemäß der einschlägigen Vorschrift ist eine Freiheitsstrafe für diejenigen vorgesehen, die falsche Informationen über die innere und äußere Sicherheit, die öffentliche Ordnung und die allgemeine Gesundheit des Landes öffentlich verbreiten mit dem Motiv, Angst oder Panik in der Öffentlichkeit zu erzeugen, in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören (RIW 12.2022; vgl. DW 14.10.2022, ÖB Ankara 4.2025, S. 47). Die Bewertung, ob eine "Des- oder Falschinformation" vorliegt, obliegt den Gerichten (ÖB Ankara 4.2025, S. 47; vgl. DW 14.10.2022, Guardian 13.10.2022). Im Gleichklang wurde das Strafgesetzbuch durch die Bestimmungen des Artikels 217 A vom 13.10.2022 ergänzt, wobei Absatz 2 vorsieht, dass das Strafausmaß um die Hälfte erhöht wird, wenn der Täter die Tat unter Verheimlichung seiner wahren Identität oder im Rahmen der Tätigkeit einer Organisation verübt. Und Artikel 218 des Strafgesetzbuches sieht vor, so Straftaten durch Presse und Rundfunk begangen werden, die zu verhängende Strafe ebenfalls um bis zur Hälfte erhöht wird. Meinungsäußerungen, die den Rahmen der Berichterstattung nicht überschreiten und dem Zweck der Kritik dienen, stellen jedoch keine Straftat dar, so der selbige Artikel des Strafgesetzbuches (MBS 5.4.2023; vgl. tgs 6.2024, S. 23).
Das Desinformationsgesetz richtet sich neben Zeitungen, Radio und Fernsehen vor allem gegen Online-Netzwerke und Onlinemedien. Sie sind verpflichtet, Nutzer, denen die Verbreitung von Falschnachrichten vorgeworfen wird, an die Behörden zu melden und deren Daten weiterzugeben (Zeit Online 14.10.2022). Das Gesetz verpflichtet auch Messenger-Dienste, wie WhatsApp, dazu, dem Staat Nutzerdaten zur Verfügung zu stellen, wenn die staatliche Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien dies verlangt. Emre Kızılkaya, Leiter des türkischen Zweigs des Internationalen Presseinstituts mit Sitz in Wien, nimmt an, dass dieses Gesetz auch digitale Plattformen wie Google News oder Facebook dazu zwingen wird, der Regierung ihre Algorithmen offenzulegen (Guardian 13.10.2022). Journalistenverbände warnten, der Gesetzentwurf könne zu einem der strengsten Zensur- und Selbstzensurmechanismen in der türkischen Geschichte werden (Zeit Online 14.10.2022). Auf dringendes Ersuchen des Monitoring-Ausschusses der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) hatte die Venedig-Kommission eine Stellungnahme zu den Änderungsentwürfen des Gesetzes veröffentlicht. Die Venedig-Kommission sah einen Eingriff in das durch Artikel 10 EMRK geschützte Recht auf freie Meinungsäußerung vorliegen und wies darauf hin, dass es alternative, weniger einschneidende Maßnahmen als die strafrechtliche gibt, um das Delikt der Verbreitung von Falschinformationen zu bekämpfen (CoE 10.10.2022).
Cybersicherheitsgesetz Nr. 7545 (2025)
Am 12.3.2025 verabschiedete das türkische Parlament das Cybersicherheitsgesetz (Gesetz Nr. 7545), das die "falsche" Berichterstattung oder Weitergabe von Informationen über Online-Datenlecks unter Strafe stellt. Das Gesetz sieht eine Strafe von bis zu fünf Jahren Gefängnis für jeden vor, der wissentlich vermeintlich falsche Inhalte über ein Cybersicherheitsdatenleck erstellt oder verbreitet, insbesondere wenn die Absicht besteht, in der Öffentlichkeit Angst, Furcht oder Panik zu erzeugen oder Institutionen oder Einzelpersonen ins Visier zu nehmen. Das verabschiedete Gesetz zielt darauf ab, die Cybersicherheit zu stärken, indem ein Rechtsrahmen für eine neue Cybersicherheitsbehörde und eine Cybersicherheitskommission mit weitreichenden Befugnissen in Bezug auf die Datenerhebung, die Durchsetzung der Cybersicherheit und den legalen Zugang zu in der Türkei gespeicherten digitalen Informationen geschaffen wird, sofern dies durch einen Gerichtsbeschluss genehmigt wird. Das Gesetz folgt auf ein Eingeständnis der Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (BTK) im September 2024, dass die persönlichen Daten von 108 Millionen Bürgern von Regierungsservern gestohlen wurden. Oppositionsparteien kündigten an, das Gesetz vor dem Verfassungsgericht anzufechten. Verbände, die sich für Pressefreiheit einsetzen, haben Bedenken geäußert und argumentiert, dass das Gesetz den Behörden den Zugriff auf private Informationen ohne angemessene Schutzmaßnahmen ermöglichen könnte, und kritisierten die vagen Bestimmungen des Artikels, der die Verbreitung falscher Informationen über Cyber-Vorfälle unter Strafe stellt (CoE-SJP 17.3.2025; vgl. CPJ 13.3.2025, TM 13.3.2025). Die Cybersicherheitskommission, welche die Umsetzung des Gesetzes überwacht, setzt sich aus hochrangigen Regierungsbeamten zusammen, darunter der Präsident, der Vizepräsident und die Leiter wichtiger Ministerien und Sicherheitsbehörden. Mitglieder der Opposition argumentierten, dass diese Struktur die Cybersicherheitspolitik effektiv unter die direkte Kontrolle des Präsidenten stellt und eine unabhängige Aufsicht ausschließt (TM 13.3.2025). Das neue Gesetz zur Cybersicherheit könnte die legitime Berichterstattung über Cybersicherheitsvorfälle kriminalisieren, da es zu weit gefasst und vage formuliert ist, so z. B. das Komitee zum Schutz von Journalisten – CPJ. Das neue Cybersicherheitsgesetz könnte laut Özgür Öğret, Türkei-Vertreter des CPJ, nicht nur die Berichterstattung über cybersicherheitsbezogene Datenlecks unterbinden, sondern die Regierung ermächtigen, zu entscheiden, ob ein Leck tatsächlich aufgetreten ist oder nicht, was das Risiko einer umfassenderen Zensur in sich birgt (CPJ 13.3.2025). Der Türkische Journalistenverband (TGS) kritisierte auch die weitreichenden Befugnisse, die der Cybersicherheitskommission (Cybersecurity Board) gewährt werden, und die vage Sprache im Gesetz und argumentierte, dass sein Hauptzweck darin bestehe, die Wahrheit zu vertuschen und Journalisten zum Schweigen zu bringen (TM 13.3.2025).
Urteile des Verfassungsgerichts
Klagen gegen Internetzensur vor dem Verfassungsgericht werden meist zugunsten der Kläger entschieden, jedoch fällt das Verfassungsgericht jährlich nur wenige Urteile. Darüber hinaus besteht das Problem darin, dass der vom Verfassungsgericht entwickelte prinzipielle Ansatz im Sinne der Meinungs- und Pressefreiheit von den Friedensrichtern in Strafsachen in deren Rechtssprechung ignoriert wird. Diese verhängen Sperren regelmäßig so, als ob das Verfassungsgericht kein Urteil zu irgendeiner Praxis in dieser Angelegenheit erlassen hätte (IFÖD 10.2021, S. 101-104; vgl. LoC 7.1.2022).
Die Generalversammlung des Verfassungsgerichts stellte allerdings am 7.1.2022 fest, dass die Regierung das verfassungsmäßige Recht auf freie Meinungsäußerung und das verfassungsmäßige Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf betreffend die Sperrung des Zugangs zu Online-Nachrichten-Webseiten durch untergeordnete Gerichte verletzt hatte. Das Verfassungsgericht konsolidierte neun Fälle, in denen insgesamt 129 URL-Adressen durch Entscheidungen von Friedensrichtern gemäß Artikel 9 des Gesetzes Nr. 5651 gesperrt worden waren. In allen neun Fällen hatten die Richter den Zugang zu den betreffenden Nachrichtenartikeln aufgrund von Beschwerden jener Personen gesperrt, die Gegenstand der Nachrichtenartikel waren und die geltend machten, dass bestimmte Aussagen in den Nachrichtenartikeln ihren Ruf und ihr Ansehen unrechtmäßig schädigten. - Die Problematik des Artikels 9, u. a. von der Venedig Kommission des Europarates beanstandet, liegt darin, dass eine diesbezügliche Sperrung durch den Spruch eines Friedensrichters, zeitlich unbegrenzt und ohne Anhörung, erfolgt, nur auf Einspruch hin von einem anderen Friedensrichter überprüft, jedoch nicht bei höheren Gerichten angefochten werden kann. Der einzige Rechtsbehelf ist eine Individualbeschwerde vor dem Verfassungsgericht (LoC 7.1.2022). In seinem Urteil stellte das Verfassungsgericht nicht nur einen offensichtlichen Eingriff in die durch Artikel 26 und 28 der Verfassung geschützte Meinungs- und Pressefreiheit durch die Sperrung des Zugangs zu den betroffenen Nachrichtenseiten fest, sondern auch die unverhältnismäßige und unbegründete Blockierung der Inhalte auf unbestimmte Zeit sowie die Nicht-Beachtung der verfassungsrechtlichen Grundsätze durch die Vorinstanzen. Außerdem beklagte das Verfassungsgericht den Mangel an Rechtsmitteln. In Anbetracht der Tatsache, so das Verfassungsgericht, dass die Entscheidungen der untergeordneten Gerichte auf das Vorhandensein eines systematischen Problems hinweisen, das unmittelbar durch eine gesetzliche Bestimmung verursacht wurde, ist es offensichtlich, dass das derzeitige System überdacht werden muss, um ähnliche Verstöße zu verhindern. Deshalb wurde seitens des Gerichts ein sogenanntes Pilotverfahren (pilot judgment) beschlossen (CCRT 7.1.2022). - Das Verfahren wird angewandt, wenn das Gericht feststellt, dass die Verletzung eines Grundrechts in einem bestimmten Fall auf ein strukturelles Problem zurückzuführen ist, das bereits zu anderen Anträgen geführt hat und von dem zu erwarten ist, dass es in Zukunft zu weiteren Anträgen führen wird. Wenn das Gericht beschließt, über einen Antrag im Rahmen des Piloturteilsverfahrens zu entscheiden, kann es alle anderen bei ihm anhängigen Verfahren, die dasselbe strukturelle Problem betreffen, aussetzen. Sobald ein Piloturteil ergangen ist, müssen die Verwaltungsbehörden das Urteil in den entsprechenden Anträgen, die bei ihnen eingereicht werden, anwenden, oder bei Fällen, die das Verfassungsgericht erreichen, kann das Gericht die Fälle zusammenfassen und im Einklang mit dem Piloturteil entscheiden (LoC 7.1.2022).
Publikationsverbote
In der Türkei gibt es Anzeichen dafür, dass unter Präsident Erdoğan die staatliche Zensur, auch von Büchern zunimmt. 2020 wurden beispielsweise zwei von Amnesty International Türkei herausgegebene Bücher verboten, die sich um das Thema Feminismus drehen. Mit einem Publikationsverbot wurden ebenso zweier Bücher des CHP-Parteiverlages belegt, die Korruptionsaffären beleuchteten. Auch zahlreiche Kinderbücher wurden (2020) verboten, u. a. die türkische Übersetzung des deutschen Sexual-Aufklärungsbuches für Vier- bis Siebenjährige: "Woher die kleinen Kinder kommen". Das Buch wurde von der türkischen Regierung als "obszön" eingestuft. Dem Übersetzer und dem Verleger der türkischen Ausgabe drohten bis zu zehn Jahre Gefängnis (FR 12.2.2021). Und im Herbst 2022 verbot ein Gericht den Vertrieb und Verkauf eines Buches der ehemaligen, inhaftierten HDP-Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ mit dem Titel "Mauern werden eingerissen", in dem es u. a. um die Ausgangssperren im Sommer 2015 geht, und zwar wegen "Propaganda für eine terroristische Organisation" (NaT 10.9.2022; vgl. Mezopotamya 8.9.2022).
II.1.6.10. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
Die Verfassung garantiert Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit. In der Praxis sind diese Rechte jedoch stark beschränkt. Die Freiheit, auch ohne vorherige Genehmigung unbewaffnet und gewaltfrei Versammlungen abzuhalten, unterliegt Einschränkungen, soweit Interessen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, die Vorbeugung von Straftaten bzw. die allgemeine Gesundheit oder Moral betroffen sind (AA 20.5.2024, S. 8; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 9, 19). Restriktive und vage formulierte Gesetze, z. B. Vorgaben des Gesetzes 2911 über Veranstaltungen und Demonstrationen, erlauben es den Behörden, unverhältnismäßige Maßnahmen zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit zu verhängen und sogar die legitime Ausübung dieses Rechts durch einen Diskurs zu stigmatisieren, der Demonstranten immer wieder mit Extremismus und gewalttätigen Gruppen in Verbindung bringt (FIDH/OMCT/İHD/HRA 5.2021, vgl. UNHRCOM 28.11.2024, S. 13).
Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung stehen nicht im Einklang mit den europäischen Standards und den internationalen Konventionen, denen die Türkei beigetreten ist (EC 30.10.2024, S. 33), auch nicht mit der türkischen Verfassung (EC 8.11.2023, S. 6, 37f.). - Die Gesetze erlauben es den Behörden, Versammlungen und Demonstrationen auf der Grundlage vager, willkürlicher Kriterien zu verbieten. Verbote friedlicher Versammlungen sind weit verbreitet, und öffentliche Veranstaltungen werden häufig mit unverhältnismäßiger Gewaltanwendung durch die Polizei aufgelöst. Eine positive Entwicklung war die Aufhebung des 2018 ausgesprochenen Verbots von Protesten der Samstagsmütter, auf dem Istanbuler Galatasaray-Platz, durch den Innenminister im November 2023. Die Gerichtsverfahren gegen Menschenrechtsverteidiger werden jedoch fortgesetzt (EC 30.10.2024, S. 33; vgl. EP 7.6.2022, S. 9, Pt. 12). Gegen Demonstranten werden zudem häufig Ermittlungen, Gerichtsverfahren und Bußgelder wegen des Vorwurfs des Terrorismus oder des Verstoßes gegen das Gesetz über Demonstrationen und Aufmärsche eingeleitet (EP 7.6.2022, S. 9, Pt. 12). Infolgedessen haben viele Menschen in der Türkei Angst davor, den öffentlichen Raum für die Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung zu beanspruchen (FIDH/OMCT/İHD/HRA 5.2021). Beispielsweise intervenierten die Sicherheitskräfte laut Jahresstatistik 2023 der türkischen Menschenrechtsvereinigung bei 256 Demonstrationen und Versammlungen (2022: 571), wobei 3.487 Personen (2022: 4.553) durch das gewaltsame Einschreiten geschlagen und verletzt wurden (İHD/HRA 23.8.2024; vgl. İHD/HRA 27.9.2023b, S. 4, 6).
Jüngstes Beispiel sind die Massenproteste gegen die Absetzung des CHP-Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem İmamoğlu. - In dem Schreiben von Human Rights Watch, Amnesty International und 13 weiteren Organisationen hieß es, man sei alarmiert "über die jüngste Eskalation des staatlichen Vorgehens gegen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit nach der Verhaftung des Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu". Die Menschenrechtsorganisationen beklagten in ihrer Stellungnahme, die Proteste seien mit "ungerechtfertigter und unrechtmäßiger Polizeigewalt beantwortet" worden. Menschen seien mit Schlagstöcken geschlagen und getreten worden, wenn sie am Boden lagen. Polizisten hätten wahllos Pfefferspray, Tränengas, Plastikgeschosse und Wasserwerfer gegen die Demonstranten eingesetzt, was zu zahlreichen Verletzungen geführt habe. Pauschale Demonstrationsverbote wie in Istanbul, Ankara, Antalya und Izmir seien unverhältnismäßig und nicht zu rechtfertigen (Tagesschau 28.3.2025; vgl. WOZ 1.4.2025). Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) "verurteilt[e] aufs Schärfste die ungerechtfertigten Festnahmen und Inhaftierungen von Demonstranten sowie die unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt durch die Strafverfolgungsbehörden während der Proteste und Fälle von Misshandlungen oder anderen Menschenrechtsverletzungen an inhaftierten Personen [...] Ebenso [brachte] die Versammlung ihre Besorgnis über Berichte über tätliche Angriffe auf Journalisten und Medienmitarbeiter während der Berichterstattung über die Proteste sowie über deren Festnahmen und Inhaftierungen im Zusammenhang mit ihrer Berichterstattung zum Ausdruck. Mindestens 20 Lokaljournalisten wurden während der Berichterstattung über die Proteste von der Polizei oder von Demonstranten tätlich angegriffen und mindestens zehn von ihnen wurden inhaftiert" [Anm.: Originalzitat aus dem Englischen] (CoE-PACE 9.4.2025, Pt. 5 u.6). Im gleichen Sinne äußerte sich das Europäische Parlament und "fordert[e] die türkischen Staatsorgane nachdrücklich auf, alle Vorwürfe der Schikanierung und der übermäßigen Anwendung von Gewalt gegen Demonstranten unverzüglich und wirksam zu untersuchen und die Versammlungs- und Protestfreiheit zu wahren" (EP 7.5.2025, Pt. 23). - Nach den Protesten erhob die Staatsanwaltschaft in Istanbul Anklage gegen 819 Personen. Ihnen wurde die Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen vorgeworfen. 278 Festgenommene waren in Untersuchungshaft. Einigen Protestierenden drohten bis zu fünf Jahre und in einem Fall bis zu neun Jahre Haft (Zeit Online 8.4.2025; vgl. SRF 23.3.2025).
Anlässlich der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu am 19.3.2025 verabschiedete der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates am 27.3.2025 eine Deklaration, in welcher u. a. auf starken Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit in den letzten Monaten hingewiesen wird. Der Kongress verurteilte insbesondere den Rückgriff auf pauschale Verbote öffentlicher Demonstrationen, wie sie in Gemeinden verhängt wurden, in denen Bürgermeister abgesetzt oder verhaftet wurden, darunter Istanbul. Dem folgend verlangte der Kongress, den übermäßig weit gefassten Einschränkungen der Versammlungs- und Meinungsfreiheit ein Ende zu setzen, die den politischen Pluralismus einschränken, die Menschenrechte verletzen und die Grundlagen der Demokratie untergraben und sich nachteilig auf die lokale Selbstverwaltung in der Türkei auswirken (CoE-CLRA 27.3.2025, Pt. 7, 13b). Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) sah ein generelles Verbot von Demonstrationen als unverhältnismäßig und nicht zu rechtfertigen (CoE-PACE 9.4.2025, Pt. 8). Die Sprecherin des Büros des Hochkommissars für Menschenrechte (OHCHR) nannte das generelle behördliche Verbot von Protesten in drei türkischen Städten als rechtswidrig (OHCHR 25.3.2025).
Während regierungskritische Versammlungen routinemäßig verboten werden, dürfen regierungsfreundliche Kundgebungen stattfinden (FH 26.2.2025, E1).
Polizeiliche Gewalt bei Versammlungen
Die Polizei geht häufig mit Gewalt gegen friedliche Proteste vor. In den letzten Jahren haben die Sicherheitskräfte Tränengas, Pfefferspray und andere gewalttätige Maßnahmen eingesetzt, um Proteste zum 1. Mai, Gedenkfeiern zu den Gezi-Park-Protesten 2013, LGBT+-Paraden, Feiern zum Frauentag, Märsche gegen geschlechtsspezifische Gewalt, Proteste gegen Preiserhöhungen und die steigende Inflation, Mahnwachen für die Opfer des Militärputsches von 1980 und andere Versammlungen aufzulösen (FH 26.2.2025, E1). Einige konkrete Beispiele der letzten Monate: In Istanbul gingen Bereitschaftspolizisten mit Pfefferspray gegen Teilnehmerinnen einer Demonstration anlässlich des Internationalen Frauentages 2023 vor (Spiegel 8.3.2023). Mindestens 50 Personen wurden am 25.6.2023 während der jährlichen Pride-Parade in Istanbul von der Polizei festgenommen. Die Demonstration wurde von der Polizei gewaltsam aufgelöst. In Izmir nahm die Polizei mindestens 44 Personen fest, nachdem die Behörden den Pride-Marsch verboten hatten (BAMF 12.6.2023, S. 12; vgl. Zeit Online 25.6.2023).
Die Istanbuler Polizei nahm während der Maidemonstrationen (2024) in der ganzen Provinz mehr als 200 Menschen fest, als sie die Menschenmenge daran hinderte, den Istanbuler Taksim-Platz zu erreichen, einen symbolischen Ort für den Internationalen Tag der Arbeit. Die Bereitschaftspolizei setzte Pfefferspray und Gummigeschosse ein, um Zehntausende zu vertreiben, die sich im Istanbuler Stadtteil Sarachane versammelt hatten, nachdem Demonstranten versucht hatten, zum Taksim-Platz zu marschieren. Dutzende Personen wurden verletzt, und Aufnahmen vom Tatort zeigten, wie die Polizei Demonstranten misshandelte. In einer Live-Übertragung war zu hören, wie ein Polizeibeamter andere Beamte anwies, "die Presse" aus dem Gebiet zu entfernen, was bei Menschenrechtsgruppen Empörung auslöste (AlMon 1.5.2024; vgl. Stern 1.5.2024, REU 1.5.2024, SWI 2.5.2024, AI 29.4.2025). 2023 hatte das türkische Verfassungsgericht eigentlich entschieden, dass die Abriegelung des Taksim-Platzes zur Verhinderung von Demonstrationen rechtswidrig sei. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte die Entscheidung bestätigt (Stern 1.5.2024; vgl. SWI 2.5.2024, AI 29.4.2025).
Die Mahnwachen der Samstagsmütter, einer Gruppe von Menschenrechtsverteidigerinnen und Angehörigen von Opfern des Verschwindenlassens, werden weiterhin durch Einschränkungen behindert. Beispielsweise durften sie sich maximal zu zehnt versammeln. Für die 1000. Mahnwache im Mai 2024 wurden diese Einschränkungen ausnahmsweise aufgehoben. Im Oktober 2024 sprach ein erstinstanzliches Gericht 20 Personen frei, die während der 950. Mahnwache der Samstagsmütter/-menschen im Juni 2023 willkürlich inhaftiert und wegen "Verstoßes gegen das Versammlungs- und Demonstrationsgesetz" strafrechtlich verfolgt worden waren (AI 29.4.2025).
Versammlungsverbote durch die Gouverneure
Seit 2015 gab es im Bereich der Versammlungsfreiheit Rückschritte, insbesondere durch die während des Ausnahmezustands erfolgte Ausweitung der Befugnisse der Gouverneure, öffentliche Versammlungen untersagen zu können. Der breite Ermessensspielraum der Gouverneure wird für weitere Einschränkungen genutzt, sodass mittlerweile auch friedliche Kundgebungen mit langer Tradition verboten werden. Zahlreiche Demonstrationen und Zusammenkünfte werden entweder mit einem Blanko-Bann von vornherein untersagt bzw. unter Anwendung von Polizeigewalt aufgelöst (ÖB Ankara 4.2025, S. 48f.; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 38). Die Provinzbehörden verbieten regelmäßig Proteste und Versammlungen von regierungskritischen Gruppen, wobei sie sich häufig über die Urteile der nationalen Gerichte hinwegsetzen, die solche Verbote als unverhältnismäßig einstufen (HRW 16.1.2025). Das Versammlungs- und Demonstrationsgesetz erlaubt es der Verwaltung, Versammlungen und Demonstrationen auf der Grundlage von vagen, ermessensabhängigen und willkürlichen Kriterien zu verbieten (EC 12.10.2022, S. 39; vgl. EP 7.6.2022, Pt. 12). Beispielsweise verbot der Gouverneur von Istanbul einen Nachtmarsch, der am 25.11.2024 anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen stattfinden sollte. Die Ordnungskräfte setzten unverhältnismäßige Gewalt gegen jene ein, die sich trotz des Verbots versammelten und nahmen mindestens 169 Menschen willkürlich in Gewahrsam, darunter auch mehrere Unbeteiligte (AI 29.4.2025; vgl. TR-Today 26.11.2024).
Sicherheitsgesetz 2015, Strafgesetz und Urteile der Höchstgerichte
Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen "Propagandamarsch" für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (AnA 27.3.2015). Das Gesetz erlaubt es der Polizei, nicht nur gefärbtes Wasser zur späteren Identifikation von Demonstranten anzuwenden, sondern auch Personen ohne Genehmigung eines Staatsanwalts in "Schutzhaft" zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Bedrohung für sich selbst oder die öffentliche Ordnung darstellen (USDOS 22.4.2024, S. 38).
Die extensive Auslegung des unklar formulierten Art. 220 des Strafgesetzbuches hinsichtlich krimineller Vereinigungen durch den Kassationsgerichtshof führte zur Kriminalisierung von Teilnehmern an Demonstrationen, bei denen auch PKK-Symbole gezeigt wurden bzw. zu denen durch die PKK aufgerufen wurde, unabhängig davon, ob dieser Aufruf bzw. die Nutzung dem Betroffenen bekannt war. Teilnehmer müssen, auch bei Demonstrationen im Ausland, mit einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung rechnen (AA 20.5.2024, S. 8). [Anm.: Die diesbezüglichen rechtlichen Auswirkungen der Auflösung der PKK sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehbar.]
Urteile des Verfassungsgerichtes
Im September 2019 kam das Verfassungsgericht in seinem Urteil zur Demonstration am 1.5.2009 zu dem Schluss, dass die Versammlungsfreiheit der Demonstranten verletzt wurde. Dies war das erste innerstaatliche Urteil des Gerichtshofs zur willkürlichen Verhinderung der Gedenkfeiern zum 1. Mai (EC 6.10.2020, S. 37). In einem weiteren Fall urteilte das Verfassungsgericht am 8.9.2021, dass das vom Gouverneursamt verhängte Verbot aller Proteste in der südöstlichen Stadt Kahramanmaraş das verfassungsmäßige Recht der Kläger auf Versammlung und Demonstration verletzt habe. Das Verfassungsgericht ordnete zudem eine Schadensersatzzahlung an jeden der vier Kläger an, welche eine Klage beim Verfassungsgericht einbrachten, nachdem andere Rechtsmittel nicht dazu geführt hatten, dass die Entscheidung des Gouverneursamtes von Kahramanmaraş, alle Proteste in der Stadt für einen Monat zu verbieten und anschließend viermal zu verlängern, aufgehoben wurde (BAMF 13.9.2021, S. 16f; vgl. TM 8.9.2021).
Das Verfassungsgericht hob im Frühjahr 2024 jenen den Artikel des Hochschulgesetzes auf, der Disziplinarstrafen für das Verteilen von Flugblättern und das Aufhängen von Plakaten oder Bannern an Universitäten sowie die Organisation von Versammlungen ohne Genehmigung vorsah. Die Sanktion der Organisation von Versammlungen in geschlossenen oder offenen Räumen von Hochschuleinrichtungen ohne Genehmigung der Behörden, die eine temporäre Suspendierung von der Schule vorsah, wurde ebenfalls für verfassungswidrig erklärt. In der Entscheidung wurde betont, dass diese Vorschrift das Recht der Hochschulstudierenden einschränke, Versammlungen und Demonstrationen zu organisieren. Außerdem erklärte das Verfassungsgericht hierbei, dass die bisherigen Sanktionen nicht mit den Erfordernissen einer demokratischen Gesellschaftsordnung vereinbar gewesen seien (BAMF 30.6.2024, S. 7; vgl. Duvar 19.4.2024).
VEREINIGUNGSFREIHEIT
Das Gesetz sieht zwar die Vereinigungsfreiheit vor, doch die Regierung schränkt dieses Recht weiterhin ein. Die Regierung nutzt Bestimmungen des Anti-Terror-Gesetzes, um die Wiedereröffnung von Vereinen und Stiftungen zu verhindern, die sie zuvor wegen angeblicher Bedrohung der nationalen Sicherheit geschlossen hatte. Vertreter von Anwaltskammern und Organisationen der Zivilgesellschaft berichten, dass die Polizei manchmal an Vereinstreffen teilnimmt und diese aufzeichnet, was die Vertreter der Vereinigungen als einen Versuch sie einzuschüchtern interpretieren (USDOS 22.4.2024, S. 40).
Die Verordnung von 2018 und das geänderte Gesetz, das im März 2020 im Rahmen eines Omnibus-Gesetzes verabschiedet wurde, machen es für alle Vereinigungen zur Pflicht, alle ihre Mitglieder und nicht nur ihre Vorstandsmitglieder im Informationssystem des Innenministeriums zu registrieren. Diese gesetzliche Verpflichtung steht nicht im Einklang mit den Richtlinien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarates hinsichtlich der Vereinigungsfreiheit (EC 6.10.2020, S. 15). Diese Gesetzesänderung verpflichtet die Vereine, die lokalen Verwaltungsbehörden innerhalb von 30 Tagen über Änderungen in der Mitgliedschaft zu informieren, sonst drohen Strafen (USDOS 30.3.2021, S. 44). Auch der UN-Menschenrechtsausschuss zeigte sich "besorgt über die Bestimmungen des Gesetzes Nr. 7262, die dem Innenministerium einen weiten Ermessensspielraum einräumen, um die Aktivitäten unabhängiger Organisationen einzuschränken, sie auf der Grundlage vager Risikobewertungskriterien und schwacher Beweisstandards zu prüfen und Vorstandsmitglieder zu suspendieren, was eine abschreckende Wirkung hat, die Einzelpersonen davon abhält, in Vorständen mitzuarbeiten oder Mitglieder dieser Organisationen zu werden" [Übersetzung des englischen Originalzitates] (UNHRCOM 28.11.2024, S. 14).
Gesetze und Verordnungen erlegen Vereinigungen zahlreiche administrative Anforderungen auf. Komplexe Bestimmungen, die unterschiedlich ausgelegt werden können und über verschiedene Rechtsvorschriften verstreut sind, sowie der Mangel an Fachleuten, die sich mit diesem Bereich befassen, führen dazu, dass Vereinigungen in ihrem Bemühen um die Einhaltung der Gesetze in einem Zustand der Unsicherheit verharren. Die Vereinigungen unterliegen der Prüfung durch mehrere Behörden, darunter das Finanzamt, die Nationale Bildungsdirektion, die zuständigen Gouvernements sowie die Direktion für Zivilgesellschaft, zuständig für Vereinigungen im Innenministerium sowie die Generaldirektion für Stiftungen im Kulturministerium (FIDH/OMCT/İHD/HRA 5.2021, S. 26).
Laut Abschlussbericht der Berufungskommission zum Ausnahmezustand [türk. OHAL] betrafen mit Jahresende 2022 von 17.960 aller positiven Entscheidungen der Kommission 72 die Wiedereröffnung geschlossener Institutionen, wie Vereinigungen und Stiftungen (ICSEM 1.2023, S. 9/ Tab, 26). Berufungsverfahren von Einrichtungen, die Rechtsmittel gegen die Schließung einlegten, verliefen intransparent und blieben unwirksam (USDOS 20.3.2023, S. 54). Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen zeigte sich ob dieser Entwicklungen besorgt, dass nämlich die große Mehrheit der Organisationen geschlossen bliebt, deren "Schließung auf der Grundlage vager, in Notstandsverordnungen festgelegter Kriterien und ohne wirksame richterliche Aufsicht oder die Einhaltung der Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren erfolgten" (UNHRCOM 28.11.2024, S. 14).
II.1.6.10.1. Opposition
Der politische Pluralismus wird weiterhin dadurch untergraben, dass die Justiz gegen Oppositionsparteien und Parlamentsabgeordnete vorgeht (EC 30.10.2024, S. 19). Obwohl Verfassung und Gesetze den Bürgern die Möglichkeit bieten, ihre Regierung durch Wahlen zu wechseln, schränkt die Regierung den fairen politischen Wettbewerb ein. Unter anderem werden die Aktivitäten oppositioneller politischer Parteien und deren Anführer und Funktionäre limitiert. Dies geschieht zudem durch die Begrenzungen der grundlegenden Versammlungs- und Meinungsfreiheit, aber auch durch Verhaftungen. Mehrere Parlamentarier sind nach der Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität im Jahr 2016 weiterhin der Gefahr einer möglichen Strafverfolgung ausgesetzt (USDOS 22.4.2024, S. 55). Anfang Juli 2025 drohten den Vorsitzenden von drei der fünf größten Parteien im Parlament – politischen Gegnern der AKP-Regierung – eine Haftstrafe (YR 3.7.2025).
Bereits im März 2025 verlautbarte der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates angesichts der Verhaftungen bzw. Absetzungen mehrerer demokratisch gewählter Bürgermeister eine Deklaration, dass diese "der lokalen Demokratie weiteren Schaden zufügen und dass das Land derzeit von demokratischen Normen und Standards abweicht.[...] Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Ereignisse letztendlich darauf abzielen, den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken, die den Kern des Konzepts einer demokratischen Gesellschaft bildet" (CoE-CLRA 27.3.2025, Pt. 8). Im Mai 2025 verurteilte das Europäische Parlament aufs Schärfste die demokratisch gewählten Bürgermeister ihrer Ämter zu entheben und an ihrer Stelle vom Innenministerium ernannte Treuhänder einzusetzen und "fordert[e] die HR/VP erneut auf, die Verhängung restriktiver Maßnahmen gegen türkische Amtsträger, die die Rolle eines Treuhänders übernehmen, sowie gegen diejenigen, die sie ernennen, zu erwägen" [HR/VP ist die Hohe Repräsentantin und Vizepräsidentin für die externen Beziehungen der EU, z. Z. Kaja Kallas](EP 7.5.2025, S. 22).
Während das Europäische Parlament (EP) im Juni 2022 und September angesichts der anhaltenden Übergriffe auf die Oppositionsparteien sich insbesondere über die Unterdrückung der pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker - Halkların Demokratik Partisi) und das anhaltende harte Vorgehen gegen kurdische Politiker besorgt zeigte (EP 7.6.2022, S. 16f., Pt. 22; vgl. EP 13.9.2023, Pt. 13), lag in der Entschließung des EP vom Mai 2025 der Schwerpunkt der Kritik an den Repressionen gegenüber der Republikanischen Volkspartei - CHP, der größten Oppositionspartei des Landes. - Das EP "verurteilt[e] aufs Schärfste die kürzlich erfolgte Verhaftung und Absetzung des Bürgermeisters der Großstadtverwaltung Istanbul, Ekrem İmamoğlu, von der Partei CHP sowie der Bürgermeister von Şişli und Beylikdüzü [und] fordert[e] die türkischen Staatsorgane nachdrücklich auf, die Unterdrückung der politischen Opposition unverzüglich einzustellen und rückgängig zu machen" (EP 7.5.2025, Pt. 27,28).
Vorgehen gegen die CHP
Die CHP, derzeit größte Oppositionspartei, steht seit Monaten unter zunehmendem politischem und juristischem Druck (TA 1.7.2025). Im Rahmen der Ermittlungen gegen CHP-Gemeinden wurden zahlreiche CHP-Bürgermeister ihres Amtes enthoben. Dutzende weitere Beamte aus CHP-regierten Orten wurden inhaftiert und warten auf ihren Prozess (Zeit Online 11.6.2025; vgl. AP 5.6.2025). Und Anfang Juli 2025 wurde ein Antrag des Staatspräsidenten auf Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 61 der 135 CHP-Abgeordneten im türkischen Parlament eingereicht (TM 7.7.2025a; vgl. Evrensel 7.7.2025).
Vorgehen gegen Ekrem İmamoğlu, Istanbuler Bürgermeister und Präsidentschaftskandidat
Schon Anfang November 2024 hatte Staatspräsident Erdoğan İmamoğlu wegen unbegründeter Anschuldigungen einschließlich Verleumdungen verklagt. Auch der CHP-Parteichef Özgür Özel wurde von Erdoğan wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt (VOA 1.11.2024; vgl. Duvar 3.11.2024, NTV 1.11.2024). İmamoğlu wurde überdies seitens des Büros des Generalstaatsanwalts vorgeworfen, er habe Beamte, die sich im mutmaßlichen Kampf gegen den Terrorismus befinden würden, ins Visier genommen und den Staatsanwalt bedroht (BAMF 27.1.2025, S. 12; vgl. SCF 20.1.2025a).
Am 23.3.2025 haben die Behörden den Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu suspendiert, nachdem ein Istanbuler Gericht seine formelle Verhaftung wegen Korruptionsvorwürfen anordnete. Das Gericht führte jedoch nicht die vermeintliche Unterstützung einer terroristischen Organisation als Grund für eine Festnahme an. Somit war formal die Einsetzung eines Treuhänders der Regierung rechtlich ausgeschlossen. Die Festnahme löste landesweite Massenproteste aus, dies trotz eines behördlichen Demonstrationsverbotes. Die Behörden hatten seit der Inhaftierung von İmamoğlu am 19.3.2025 etliche hundert Demonstranten in mehreren Provinzen festgenommen nebst Personen, die in den sozialen Medien aktiv waren. Einen Tag vor der Inhaftierung annullierte die Universität Istanbul İmamoğlus Hochschulabschluss. Ein gültiger Hochschulabschluss ist in der Türkei eine verfassungsrechtliche Voraussetzung für Präsidentschaftskandidaten. Das Innenministerium gab bekannt, dass nebst İmamoğlu auch zwei weitere Istanbuler Bezirksbürgermeister suspendiert wurden (AlMon 23.3.2025; vgl. Standard 23.3.2025, FAZ 19.3.2025, Soufan 27.3.2025). - Der Bürgermeister von Beylikdüzü, Mehmet Murat Çalık, wurde wegen der Korruptionsvorwürfe in einem anhängigen Verfahren suspendiert und in Folge inhaftiert, während anstelle des Bürgermeisters von Şişli, Resul Emrah Şahan, der im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen verhaftet wurde, ein Treuhänder ernannt wurde (Bianet 23.3.2025; vgl. HDN 23.3.2025). Überdies wurden gegen über 100 Personen, darunter städtische Beamte, Ermittlungen wegen Terrorismus einerseits und Korruption, Bestechung, Erpressung sowie Veruntreuung andererseits eingeleitet (Bianet 23.3.2025). Die Anschuldigungen im Zusammenhang mit Terrorismus gehen auf die Zusammenarbeit der CHP mit der "Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker" - der DEM-Partei bei den Kommunalwahlen im Jahr 2024 zurück. Die Staatsanwaltschaft leitete Ermittlungen zu dieser Zusammenarbeit ein und behauptete, dass sie von der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) organisiert worden sei. Als Grundlage für die Anschuldigungen führte die Staatsanwaltschaft Aussagen von PKK-Führern aus der Wahlperiode an, in denen die DEM-Partei zur Zusammenarbeit mit der Opposition ermutigt wurde (Bianet 21.3.2025). Verhaftet wurden auch mehrere Journalisten, darunter ausländische, sowohl bei den Demonstrationen vor Ort als auch bei Razzien an deren Wohnadressen (Bianet 24.3.2025; vgl. SZ 25.3.2025, Soufan 27.3.2025, Monde 28.3.2025).
Am 26.3.2025 wählte der von der CHP dominierte Stadtrat von Istanbul Nuri Aslan zum Interims-Bürgermeister. Nur 176 der 185 CHP-Mandatare konnten abstimmen, da sich die neun restlichen in Untersuchungshaft befanden (TM 26.3.2025; vgl. AJ 26.3.2025). Am 14.4.2025 lehnte das Istanbuler Strafgericht die Haftentlassung İmamoğlus ab (DlF 14.4.2025; vgl. AP 14.4.2025). 100 Tage nach der Verhaftung İmamoğlus haben Zehntausende seiner Unterstützer gegen die türkische Regierung demonstriert und diese zum Rücktritt aufgefordert (Tagesschau 1.7.2025; vgl. BIRN 2.7.2025). 42 Personen wurden festgenommen. Ihnen wurden Beleidigung von Staatspräsident Erdoğan und Widerstand gegen die Sicherheitskräfte vorgeworfen (Standard 2.7.2025; vgl. BIRN 2.7.2025).
Vorgehen gegen Özgür Özel, CHP-Parteivorsitzender
Im April 2025 wurde gegen Özel eine Klage wegen Präsidentenbeleidigung mit einer Schadenersatzforderung von 12.000 Euro eingebracht, weil Özel angeblich Staatspräsident Erdoğan als "Junta-Chef" bezeichnet hatte (HB 8.4.2025). Anfang Juli wurden dem Parlament Präsidialdekrete übermittelt, um die parlamentarische Immunität von Özel und dem CHP-Abgeordneten Tuncay Özkan aus İzmir aufzuheben und sie vor Gericht zu stellen. Der Grund dafür ist ihre Anschuldigung gegen Mitglieder des Kassationsgerichts, einen Putsch gegen das Verfassungsgericht im Fall von Can Atalay inszeniert zu haben, was der Beleidigung von Amtsträgern gleichkommt. Nach dem Strafgesetzbuch wird diese Straftat mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu zwei Jahren geahndet (YR 3.7.2025; vgl. FAZ 3.7.2025). Anfang Juli 2025 erfolgten neuerliche Ermittlungen wegen Präsidentenbeleidigung seitens der Generalstaatsanwaltschaft. Die Vorwürfe beziehen sich auf Äußerungen des CHP-Chefs bei einer Pressekonferenz am 5.7.2025. Özel habe dabei nicht nur Staatspräsident Erdoğan beleidigt, sondern auch Drohungen gegen Entscheidungsträger in Behörden ausgestoßen (Standard 7.7.2025; vgl. TM 7.7.2025c).
Die CHP als Ganzes betreffen die im Februar 2025 aufgenommenen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in Ankara wegen des Vorwurfs des Stimmenkaufs am CHP-Parteitag, auf dem Ögür Özel Kemal Kılıçdaroğlu besiegte (DS 30.6.2025). CHP-Chef Özel wird beschuldigt, Delegierte beim Parteitag im Herbst 2023 mit Geld bestochen zu haben, damit sie für ihn stimmen. Die Staatsanwaltschaft fordert ein bis drei Jahre Haft sowie ein Politikverbot für Özel. Zudem droht der Partei eine Zwangsverwaltung oder aber die Rückkehr ihres vorherigen Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu (RND 2.7.2025; vgl. SRF 30.6.2025, DS 30.6.2025).
Verfolgung von lokalen CHP-Amtsträgern
2024: Die Generalstaatsanwaltschaft in Istanbul gab am 30.10.2024 die Verhaftung des CHP-Bürgermeisters der Istanbuler Gemeinde Esenyurt, Ahmet Özer, bekannt. Die Staatsanwaltschaft führte Telefonaufzeichnungen, Überwachungen und Finanzdaten als Beweis für Özers "intensive und anhaltende organische Verbindungen" mit der PKK an. In einer Erklärung hieß es außerdem, Özer habe in den letzten zehn Jahren mehrfach mit Remzi Kartal, dem Ko-Vorsitzenden der PKK-nahen Organisation KONGRA-GEL, gesprochen und sei an Diskussionen über das "demokratische Autonomieprojekt" der PKK beteiligt gewesen. Der stellvertretende Gouverneur von Istanbul, Can Aksoy, wurde als Treuhänder von Esenyurt ernannt. (HDN 31.10.2024; vgl. Evrensel 31.10.2024, Bianet 31.10.2024). Danach wurden auch alle bis auf einen gewählten Gemeinderat durch Treuhänder in Form von Beamten des Gouverneuramtes ersetzt (Duvar 5.11.2024; vgl. Haberler 4.11.2024). Am 6.11.2024 wies das 11. Strafgericht erster Instanz in Istanbul die Berufung zur Enthaftung Ahmet Özers zurück (Duvar 7.11.2024).
Im November 2024 wurde der CHP-Bürgermeister von Ovacık (in der Provinz Tunceli/Dersim), Mustafa Sarıgül, wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der einer terroristischen Organisation zu sechs Jahren und drei Monaten verurteilt (Duvar 21.11.2024; vgl. ANF 20.11.2024a, Cumhuriyet 20.11.2024, Rudaw 22.11.2024).
2025: Die Behörden haben am 13.1.2025 Jänner den CHP-Bürgermeister des Istanbuler Bezirks Beşiktaş, Rıza Akpolat, festgenommen. In Istanbul wurde eine strafrechtliche Untersuchung gegen ein Verbrechersyndikat eingeleitet, dem vorgeworfen wird, Bürgermeister und hochrangige Kommunalbeamte bestochen zu haben, um Ausschreibungsverfahren zu manipulieren und sicherzustellen, sodass Aufträge an ihre eigenen Unternehmen vergeben werden (Duvar 14.1.2025; vgl. Spiegel 13.1.2025, BIRN 13.1.2025). Anfang März 2025 wurde der CHP-Bürgermeister des Istanbuler Stadtteils Beykoz, Alaattin Köseler, inhaftiert und abgesetzt. Laut Innenministerium werde Köseler Einflussnahme auf Ausschreibungen vorgeworfen (FR 4.3.2025; vgl. HDN 4.3.2025). Mitte April wurden elf städtische Beamte im von der CHP regierten Istanbuler Stadtteil Beşiktaş wegen mutmaßlicher Angebotsabsprachen zugunsten krimineller Netzwerke festgenommen, darunter auch der stellvertretende Bürgermeister von Beşiktaş, Ali Rıza Yılmaz (TM 17.4.2025; vgl. TR-Today 17.4.2025).
Nachdem am 26.4.2025 die Behörden Haftbefehle gegen 53 Personen im Rahmen der Korruptionsermittlungen erlassen hatten, wurden unmittelbar danach bei Razzien in Istanbul, Ankara und der nordwestlichen Provinz Tekirdağ 52 Personen verhaftet, darunter Mitarbeiter und Funktionäre der CHP-geführten Istanbuler Stadtverwaltung (AlMon 28.4.2025; vgl. Zeit Online 26.4.2025, Spiegel 27.4.2025). Zur gleichen Zeit hat die Staatsanwaltschaft in Istanbul 25, im März 2025 festgenommene, ehemalige und amtierende städtische Beamte aus vier von der CHP geführten Gemeinden (Ataşehir, Maltepe, Sarıyer und Şişli) wegen Terrorismusfinanzierung angeklagt, weil sie zwischen 2014 und 2016 die Revolutionäre Volksbefreiungspartei/Front (DHKP/C) finanziell unterstützt hätten. Den Angeklagten drohten Haftstrafen zwischen sieben und 15 Jahren. Zu den Angeklagten gehören der ehemalige Bürgermeister von Sarıyer, Şükrü Genç, der ehemalige Bürgermeister von Şişli, Hayri İnönü, der ehemalige stellvertretende Bürgermeister von Ataşehir, Abdullah Der, sowie die ehemaligen stellvertretenden Bürgermeister von Şişli, Emir Sarıgül und Erdoğan Yıldız (TM 28.4.2025; vgl. Hürriyet 29.4.2025).
Anfang Juni 2025 enthob das Innenministerium fünf CHP-Bürgermeister ihres Amtes, nachdem im Rahmen von Korruptionsermittlungen Haftbefehle gegen sie erlassen wurden. Betroffen waren die Bürgermeister der Istanbuler Bezirke Avcilar, Büyükçekmece, Gaziosmanpaşa sowie die Bezirksbürgermeister von Ceyhan und Seyhan aus der südlichen Provinz Adana (L'essentiel 5.6.2025; vgl. AP 5.6.2025, Zeit Online 11.6.2025).
Bei einem groß angelegten Einsatz gegen die CHP geführte Stadtverwaltung von Izmir wurden Anfang Juli 2025 126 Personen festgenommen, darunter der ehemalige Oberbürgermeister Tunç Soyer sowie der CHP-Provinzvorsitzende Şenol Aslanoğlu. Insgesamt wurden 157 Haftbefehle im Rahmen von Korruptionsermittlungen der Staatsanwaltschaft Izmir angeordnet (TA 1.7.2025; vgl. HDN 1.7.2025, Standard 1.7.2025a). Und am 5. Juli sind drei weitere CHP-Bürgermeister festgenommen worden. Der Bürgermeister von Antalya, Muhittin Böcek, kam wegen Korruptionsermittlungen in Gewahrsam. Die Bürgermeister der südtürkischen Großstädte Adana, Zeydan Karalar, und Adıyaman, Abdurrahman Tutdere, sind wegen des Vorwurfs der Erpressung festgenommen worden, teilte die Generalstaatsanwaltschaft in Istanbul mit (DW 5.7.2025; vgl. FAZ 5.7.2025, MEE 5.7.2025).
Vorgehen gegen die DEM-Partei und ihre Vorgängerin HDP
Angesichts des Wiederaufflammens des Konflikts mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begannen 2016 Staatspräsident Erdoğan und seine Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vermehrt die HDP zu bezichtigen, der verlängerte Arm der PKK zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt (NZZ 7.1.2016). Beispielsweise bezeichnete Erdoğan im November 2020 den inhaftierten Ex-Ko-Vorsitzenden, Selahattin Demirtaş, als Terroristen (TM 25.11.2020) und Anfang November 2021 als Marionette der PKK (Ahval 6.11.2021). Der damalige Innenminister Süleyman Soylu bezichtigte die HDP, dass sie ihre Parteibüros als Rekrutierungsstellen für die PKK nütze und mit dieser in stetem Kontakt stünde (DS 30.12.2019). Dazu beigetragen hat, dass sich Vertreter der HDP sowohl gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte in den Kurdenregionen der Türkei als auch gegen die ersten militärischen Interventionen in Syrien geäußert hatten. Die Behörden leiteten infolgedessen Ermittlungen gegen HDP-Politiker ein und begannen, diese systematisch aus ihren politischen Ämtern zu entfernen (MEI/Koontz 3.2.2020).
Regierungsnahe Medien, wie beispielsweise die Tageszeitung "Daily Sabah" oder das staatliche Fernsehen TRT haben, auch unter Berufung auf Regierungsvertreter, die HDP und ihre gewählten Vertreter als Unterstützer der PKK und terroristischer Aktivitäten dargestellt. Daily Sabah verwendete durchgehend die Bezeichnung "pro-PKK HDP" (DS 3.4.2023; vgl. TRT 25.1.2018). Auch die Grüne Linkspartei (YSP) und die DEM-Partei als Nachfolgerin der HDP wurden als "pro-PKK" dargestellt (DS 3.4.2024; vgl. DS 5.11.2024).
Mehr als 15.000 HDP-Mitglieder wurden seit 2015 inhaftiert und etwa 5.000 befinden sich noch immer in Haft (Medya 3.7.2022; vgl. EC 8.11.2023, S. 14, AA 20.5.2024, S. 7), gemäß dem jüngsten Bericht der Europäischen Kommission sogar 8.000 (EC 30.10.2024, S. 19). Eine Quelle des niederländischen Außenministeriums schätzt die Zahl der Inhaftierten nunmehrigen DEM-Partei-Mitglieder ebenfalls auf 7.000 bis 8.000. Anfang Jänner 2025 hatte die DEM-Partei 14.741 Mitglieder. Dies würde bedeuten, dass etwa 47 - 54 % der DEM-Mitglieder inhaftiert waren (MBZ 2.2025a, S. 63).
Razzien in DEM-Partei-Büros
Die Behörden gehen mitunter auch gegen die Einrichtungen DEM-Partei vor. - So wurde am 24.4.2024 im Provinzbüro der DEM-Partei in Batman eine Polizeirazzia durchgeführt. Bei der etwa vierstündigen Durchsuchung sollen Dokumente und Fotos einiger getöteter PKK-Kämpfer beschlagnahmt worden sein (BAMF 29.4.2024; vgl. Bianet 24.4.2024). In den frühen Morgenstunden des 18.11.2024 stürmte die Polizei das Bezirksbüro der DEM-Partei im Istanbuler Stadtteil Esenyurt. Medienberichten zufolge drangen die Beamten gewaltsam für mehrere Stunden in das Gebäude ein und beschlagnahmte einige Bücher und Fotografien. Nach der Razzia wurden die Ko-Vorsitzenden der DEM-Partei im Bezirk, Rojda Yılmaz und Abdullah Arınan, zur Polizei in Istanbul vorgeladen, um Aussagen zu tätigen (Bianet 18.11.2024; vgl. DW 18.11.2024, Duvar 19.11.2024, Hürriyet 18.11.2024). Danach wurden die beiden festgenommen. Die Behörden erklärten, die Festnahmen seien Teil der von der Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft geführten Ermittlungen zur Aufdeckung von Aktivitäten der PKK (Duvar 19.11.2024; vgl. Mezopotamya 19.11.2024, DW 18.11.2024, Hürriyet 18.11.2024). Regierungsfreundliche Medien zitierten das Ermittlungsbüro für terroristische Straftaten der Generalstaatsanwaltschaft Istanbul, wonach im Büro der DEM-Partei eine Gedenkveranstaltung für die 1995 "neutralisierte" PKK-Terroristin Gülşen Atalmış stattfand und dass PKK-Fotos ausgetauscht wurden (Hürriyet 18.11.2024; vgl. DW 18.11.2024).
Vorgehen gegen einfache HDP- und DEM-Partei-Mitglieder und deren Familienangehörige
Eine Mitgliedschaft in der HDP allein ist kein Grund für die Einleitung strafrechtlicher Maßnahmen. Die Aufnahme von strafrechtlichen Ermittlungen ist immer einzelfallabhängig (AA 20.5.2024, S. 7; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 47). Faktoren, die zu negativer Aufmerksamkeit seitens der türkischen Behörden führen können, haben sich nicht geändert und gelten dementsprechend nach der Umbenennung der HDP auch für die DEM-Parteimitglieder und -Unterstützer: Posten, Teilen und Liken von DEM-freundlichen Beiträgen in sozialen Medien; Teilnahme an Demonstrationen (z. B. gegen die Einsetzung von Treuhändern); Abgabe von oder Teilnahme an Presseerklärungen; das Senden von Geld an inhaftierte Familienmitglieder (Letzteres kann als finanzielle Unterstützung der PKK angesehen werden). Die Liste kann keineswegs als erschöpfend angesehen werden. Die Anti-Terror-Gesetzgebung ist weit gefasst und vage formuliert, sodass die Behörden eine Vielzahl von Umständen und Aktivitäten heranziehen können, um ein DEM-Mitglied oder einen Unterstützer ins Visier zu nehmen (MBZ 2.2025a, S. 64f.).
Auch nach Umbenennung der HDP bleibt die Situation für Angehörige von nunmehrigen DEM-Mitgliedern unverändert. So kommt es beispielsweise vor, dass Angehörige eines DEM-Mitglieds keine staatliche Stelle bekommen. Wenn sie einem inhaftierten Verwandten, der DEM-Mitglied war, Geld schickten, laufen sie Gefahr, selbst wegen finanzieller Unterstützung der PKK strafrechtlich verfolgt zu werden. Familienangehörige von DEM-Mitgliedern können von der Polizei oder den Sicherheitskräften verfolgt, festgenommen und/oder verhört werden. Es kommt auch vor, dass Verwandte von DEM-Mitgliedern unter Druck gesetzt werden, gegen andere DEM-Mitglieder auf freiem Fuß auszusagen. Darüber hinaus kommt es vor, dass Einzelpersonen Stipendien, Darlehen, Krankenversicherungen oder Sozialleistungen verweigert wurden, weil ein Familienmitglied DEM-Mitglied war. Die genannten Formen der Repression werden hauptsächlich gegen Eltern, Ehepartner, Geschwister und Kinder von DEM-Mitgliedern eingesetzt. Unklar bleibt, in welchem Umfang diese Praktiken stattfinden und welche Familienmitglieder unter welchen Umständen ins Visier der Behörden geraten (MBZ 2.2025a, S. 65).
Behördliches Vorgehen gegen Parlamentarier insbesondere der HDP
Die Justiz ist systematisch gegen Mitglieder der Oppositionsparteien im Parlament, insbesondere der HDP, wegen angeblicher terroristischer Straftaten vorgegangen. Die ehemaligen Ko-Parteivorsitzenden Demirtaş und Yüksekdağ sind weiterhin inhaftiert [Stand: Anfang Juli 2025]; sie besitzen keinen Abgeordnetenstatus mehr (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 48). Im Mai 2024 wurden mehrere ehemalige HDP-Abgeordnete und die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden (Demirtaş und Yüksekdağ) der Partei zu langen Haftstrafen verurteilt, obwohl der EGMR ihre sofortige Freilassung angeordnet hatte (EC 30.10.2024, S. 19).
Seit der Verfassungsänderung vom 20.5.2016, welche die vollständige Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Abgeordneten ermöglichte, wurden mehr als 600 Anklagen gegen Parlamentarier der HDP erhoben. Anklagen erfolgten wegen terrorismusbezogener Taten, Verleumdung des Präsidenten, der Regierung oder des Staates. Seit 2018 wurden mehr als 30 Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu Freiheitsstrafen verurteilt. Mindest 15 HDP-Abgeordnete hatten ihr Mandat verloren (IPU 9.4.2025, S. 2). Die Anzahl der Inhaftierten hat sich durch Entlassungen verringert. - Mitte Oktober 2022 wurde Gülser Yıldırım entlassen. Sie war am 4.11.2016 verhaftet und wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Gemäß Gesetz (Nr. 7242) hätte sie nach Zwei-Drittel der Strafverbüßung entlassen werden sollen, doch wurde sie erst vier Monate später enthaftet (Bianet 18.10.2022). Anfang April 2023 wurde der ehemalige HDP-Abgeordnete İdris Baluken nach fast sieben Jahren Haft wegen Terrorismus-Unterstützung freigelassen (Duvar 5.4.2023; vgl. NTV 5.4.2023). Andererseits verurteilte das Gericht in Diyarbakır im Oktober 2022 die ehemalige Parlamentarierin, Leyla Güven, die bereits 2018 festgenommen und 2020 nach Entzug ihrer parlamentarischen Immunität verurteilt wurde, zu elf Jahren und sieben Monaten Gefängnis wegen terroristischer Propaganda für die PKK in einem halben Dutzend Reden, die sie als Abgeordnete der HDP zwischen 2015 und 2019 gehalten hatte. In Summe büßt die 58-Jährige eine 22-jährige Gefängnisstrafe wegen zweier getrennter Delikte ab (Ahval 17.10.2022).
Sechs ehemalige Parlamentarier haben sich im Frühjahr 2025 noch in Haft befunden, darunter die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sowie Leyla Güven, Semra Güzel, Nazmi Gür und Can Atalay [Anm.: von der Arbeiterpartei der Türkei - Türkiye İşçi Partisi - TİP] (IPU 9.4.2025, S. 2).
Seit 2015 bis Ende 2022 sollen laut Eigenangaben der HDP mindestens 340 physische Angriffe auf Gebäude, Stände, Kundgebungen und Demonstrationen der HDP in den Provinzen und Bezirken sowie auf die für diese Veranstaltungen verantwortlichen Personen verübt worden sein (HDP 10.12.2022). HDP-Parlamentarier waren auch von physischen Übergriffen durch die Polizei nicht ausgenommen. - Am 9.10.2022 demonstrierten die HDP und einige Verbände in verschiedenen Provinzen gegen die Isolation des inhaftierten Führers der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan. Die Demonstranten sahen sich mit harter Polizeigewalt konfrontiert, wobei es zu mehreren Festnahmen kam und dem Abgeordneten Habip Eksik hierbei ein Bein gebrochen wurde (Duvar 10.10.2022; vgl. Ahval 10.10.2022).
Lokale Ebene: behördliches Vorgehen insbesondere gegen Mandatare der HDP und der DEM-Partei
Die Regierung suspendierte demokratisch gewählte Bürgermeister, basierend auf deren angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen. Diese wurden durch staatliche "Treuhänder" ersetzt. Dieses Vorgehen richtete sich in der Vergangenheit am häufigsten gegen Politiker und Politikerinnen der HDP und ihrer lokalen Schwesterpartei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP). Die Regierung suspendierte 81 % der HDP-Bürgermeister, die bei den Lokalwahlen 2019 gewählt worden waren (USDOS 20.3.2023, S. 73). 48 HDP-Bürgermeister waren seit den Lokalwahlen 2019 wegen angeblicher terrorismusbezogener Aktivitäten ihres Amtes enthoben worden (EC 8.11.2023, S. 15; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 21). Von diesen 48 suspendierten Bürgermeistern wurden 39 in den Arrest verbracht (USDOS 20.3.2023, S. 21).
Der Bürgermeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, seit Oktober 2019 in Haft, wurde im Frühjahr 2020 zu neun Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt (BAMF 14.10.2024; vgl. Bianet 9.3.2020), ehe er Ende September 2021 vom Vorwurf der "Propaganda für eine Terrororganisation" freigesprochen wurde (Bianet 30.9.2021). Ein türkisches Gericht hat Mızraklı allerdings Ende November 2023 in einem Wiederaufnahmeverfahren wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" zu neun Jahren, vier Monaten und 15 Tagen Haft verurteilt (Duvar 30.11.2023; vgl. EUTCC 30.11.2023). - Das Urteil wurde am 9.10.2024 vom Oberste Berufungsgericht bestätigt (BAMF 14.10.2024, S. 7f.). - Und am 26.1.2023 fand vor dem Schweren Strafgericht Nr. 2 in Hakkâri die letzte Verhandlung im Fall von Cihan Karaman, dem HDP-Bürgermeister von Hakkâri, der durch einen Treuhänder ersetzt wurde, statt. Das Gericht verurteilte Karaman wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu einer Haftstrafe von zehn Jahren und sechs Monaten (TİHV/HRFT 26.1.2023; vgl. Sabah 26.1.2023).
Seit den Lokalwahlen vom 31.3.2024 kam es zur Absetzung, Verurteilung und Ersetzung gewählter Bürgermeister, zumal aus den Reihen der pro-kurdischen DEM-Partei (Nachfolgerin der HDP), aber auch der CHP (Rudaw 22.11.2024). Es begann mit dem Bürgermeister von Hakkâri. Am 2.6.2024 führte die Polizei eine Razzia in der Stadtverwaltung von Hakkâri durch, wobei Bürgermeister Mehmet Sıddık Akış verhaftet und anschließend durch einen von der Regierung ernannten Treuhänder ersetzt wurde. Das Innenministerium beschuldigte Akış, eine hochrangige Position in der PKK innezuhaben. Trotz Demonstrationsverbotes durch das Büro des Gouverneurs kam es vor dem Gouverneursamt dennoch zu Sitzprotesten, an denen sich Abgeordnete der DEM-Partei und eine Delegation der Republikanischen Volkspartei (CHP) beteiligt hatten. Am 4. Juni kam es zu weiteren Protesten in Hakkâri, bei denen die Polizei mit Pfefferspray und Gummigeschossen eingriff. Auch in Istanbul, Ankara und Diyarbakir wurde gegen die Ernennung des Treuhänders in Hakkâri demonstriert (BAMF 10.6.2024, S. 9f.; vgl. Duvar 9.6.2024, Presse 5.6.2024). Ursprünglich wegen "Führung einer bewaffneten terroristischen Vereinigung" zu einer Haft von 19 1/2 Jahren verurteilt (BAMF 10.6.2024, S. 9f.), wurde Akış im November 2024 im Letzturteil zu insgesamt neun Jahren Haft verurteil - zu siebeneinhalb Jahren wegen "Begehung von Straftaten im Namen einer illegalen Organisation, ohne Mitglied dieser Organisation zu sein" und zu eineinhalb Jahren wegen "Widerstands gegen das Gesetz über Versammlungen und Demonstrationen" (5 Ocak 20.11.2024; vgl. ANF 20.11.2024b).
Die Regierung entließ Anfang November 2024 die DEM-Bürgermeister von zwei Großstädten, Ahmet Turk in Mardin und Gülistan Sonuk in Batman, und ersetzte sie durch Treuhänder. Mehmet Karayilan, DEM-Bürgermeister von Halfeti, einem Unterbezirk der Provinz Şanliurfa, wurde ebenfalls entlassen. Das Innenministerium begründete ihre Absetzung mit laufenden Terrorismusvorwürfen gegen sie. Turk ist eine führende Persönlichkeit der kurdischen Bewegung in der Türkei und ein starker Befürworter des Friedens zwischen dem Staat und der PKK. Er wurde bereits zweimal gewaltsam aus dem Amt entfernt (AlMon 4.11.2024; vgl. Duvar 4.11.2024a, DW 4.11.2024). Infolge kam es in allen drei betroffenen Gemeinden, aber beispielsweise auch in Van, zu Protesten, bei denen die Polizei gewaltsam eingriff und zahlreiche Demonstrierende festnahm (TM 4.11.2024; vgl. Duvar 4.11.2024b).
Das Innenministerium ersetzte am 29.11.2024 den Ko-Bürgermeister der Gemeinde Bahçesaray im Bezirk Van, Ayvaz Hazır, aus den Reihen der DEM-Partei durch einen Treuhänder. Laut Innenministerium geschah dies, weil der Bürgermeister zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde, da dieser "Verbrechen im Namen der bewaffneten Terrororganisation PKK/KCK begangen hätte, ohne Mitglied zu sein", und aufgrund einer laufenden Untersuchung des 2. Hohen Strafgerichtshofs von Van wegen "Propaganda für die bewaffnete Terrororganisation PKK/KCK" (Duvar 30.11.2024; vgl. Rudaw 29.11.2024).
Im November 2024 wurde der Ko-Bürgermeister von Tunceli/Dersim aus den Reihen der DEM-Partei, Cevdet Konak, wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation zu sechs Jahren und drei Monaten verurteilt (Rudaw 22.11.2024; vgl. Duvar 21.11.2024, ANF 20.11.2024a, Cumhuriyet 20.11.2024).
Auch das Jahr 2025 begann mit der Verhaftung bzw. Absetzung von Bürgermeistern aus den Reihen der DEM-Partei. - Am 10.1.2025 wurden Hosyar Sariyildiz und Nuriye Aslan, die Ko-Bürgermeister des Bezirks Akdeniz in der Provinz Mersin verhaftet. Hinzugesellten sich auch vier Mitglieder des Gemeinderats von der DEM-Partei. Sie wurden wegen "Propaganda für eine terroristische Organisation", "Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation", "Verstößen gegen das Gesetz zur Verhinderung der Finanzierung des Terrorismus" und "Verstößen gegen das Gesetz über Versammlungen und Demonstrationen" festgenommen. Das Innenministerium entließ daraufhin die Ko-Bürgermeister und setzte einen Treuhänder anstatt ihrer ein (BIRN 10.1.2025; vgl. Duvar 10.1.2025). Ende Jänner wurde Sofya Alağaş, die Ko-Bürgermeisterin von Siirt aus den Reihen der DEM-Partei, aufgrund ihrer vormaligen Arbeit als Journalistin wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung", nämlich der PKK/KCK zu sechs Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Als Treuhänder wurde vom Innenministerium der Gouverneur von Siirt, Kemal Kızılkaya, ernannt (AnA 29.1.2025; vgl. Duvar 28.1.2025, SZ 29.1.2025).
Abdullah Zeydan, ehemaliger HDP-Abgeordneter, einst nach fünf Jahren Haft infolge der Aufhebung der Verurteilung wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und Verbreitung terroristischer Propaganda durch das Oberste Kassationsgericht entlassen (BAMF 10.1.2022, S. 15; vgl. Ahval 6.1.2022), wurde im Februar 2025 als Ko-Bürgermeister von Van aus den Reihen der DEM-Partei zu drei Jahren und neun Monaten Haft wegen Unterstützung und Propaganda für eine terroristische Organisation von einem Gericht in Diyarbakır verurteilt (Nach Zeydans überwältigendem Sieg bei den Gemeinderatswahlen 2024 entzog die Provinzwahlkommission auf Antrag des Justizministeriums Zeydan das Bürgermeistermandat und übertrug es dem Kandidaten der AKP) (Duvar 11.2.2025; vgl. DS 11.2.2025, Rudaw 11.2.2025, Medya 11.2.2025). Unmittelbar nach der Verurteilung kam es zu Massenprotesten in Van (Medya 11.2.2025; vgl. Rudaw 11.2.2025). Am 15.2.2025 ernannte das Innenministerium den Gouverneur von Van, Ozan Balcı, zum Treuhänder, was weitere Proteste hervorrief, bei denen 127 Personen festgenommen wurden, darunter vorübergehend auch der stellvertretenden Bürgermeister von Diyarbakır, Doğan Hatun (Duvar 16.2.2025; vgl. C8 16.2.2025).
Das Innenministerium ernannte am 24.2.2025 den Gouverneur des Bezirks Kağızman in der östlichen Provinz Kars zum Treuhänder der Gemeinde Kağızman, die von der DEM-Partei geführt wurde. In einer offiziellen Erklärung des Ministeriums hieß es, dass der Bürgermeister von Kağızman, Mehmet Alkan, vom 2. Hohen Strafgericht von Kars wegen "Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung" zu sechs Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt wurde, weshalb Alkan als Vorsichtsmaßnahme vom Dienst suspendiert wurde. Nach der Entscheidung des Ministeriums wurde das Rathaus unter starken Polizeischutz gestellt. Die Regierungsbehörden verhängten strenge Sicherheitsmaßnahmen und riegelten den Bezirk praktisch ab (Duvar 25.2.2025a; vgl. ANF 24.2.2025).
Der Kobanê-Massenprozess
Ende September 2020 hat der Generalstaatsanwalt von Ankara Haftbefehle gegen 82 Politiker der HDP ausgestellt und danach angekündigt, die Aufhebung der Immunität von sieben HDP-Abgeordneten zu beantragen. Die Generalstaatsanwaltschaft begründet die Festnahmen und das Vorgehen gegen die Abgeordneten mit den Protesten vom Oktober 2014, die sie rückwirkend, sechs Jahre nach den Ereignissen, als "Terrorakte" einstuft. Damals drohte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die umzingelte syrisch-kurdische Stadt Kobanê einzunehmen. Die HDP hatte dem türkischen Staat vorgeworfen, nichts zur Rettung von Kobanê zu unternehmen und den IS zu unterstützen, und rief daher zu Solidaritätskundgebungen auf. Vom 6. bis 8.10.2014 wurden bei blutigen Zusammenstößen rund 40 Menschen getötet (FAZ 27.9.2020; vgl. HRW 2.10.2020). Ein Gericht in Ankara bestätigte am 7.1.2021 die Anklage gegen 108 Personen, darunter gegen die inhaftierten ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (für die dies eine erneute Anklage darstellte), im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten von 2014. Die Anklageschrift beschuldigt die 108 Personen des Mordes und der Untergrabung der Einheit und territorialen Integrität des Staates. Das geforderte Strafausmaß für die Angeklagten beträgt 38 Mal lebenslänglich für jeden von ihnen (Duvar 7.1.2021; vgl. SZ 7.1.2021). Am 12.4.2022 ordneten die Behörden die Verhaftung von weiteren 91 Personen im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten an, darunter auch HDP-Mitglieder. Sie wurden beschuldigt an der finanziellen Organisierung der Vorfälle beteiligt gewesen zu sein und den Familien von toten oder verletzten PKK-Mitgliedern finanzielle Unterstützung zukommen gelassen zu haben (BIRN 12.4.2022; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 22).
Im Kobanê-Prozess sprach das Gericht am 16.5.2024 36 Urteile. Zwölf Personen wurden freigesprochen, doch 24 Angeklagte erhielten zum Teil sehr lange Haftstrafen. Bei 72 weiteren Personen stand das Urteil noch aus. Zu den Verurteilten zählte Selahattin Demirtaş. Er muss für 42 Jahre ins Gefängnis. Figen Yüksekdağ wurde zu 32 Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Der Bürgermeister der südosttürkischen Stadt Mardin, Ahmet Türk, der bei den Lokalwahlen im März 2024 wiedergewählt worden war, erhielt zehn Jahre (NZZ 17.5.2024; vgl. MLSA 18.5.2024, HRW 16.5.2024). Demirtaş wurde im Detail verurteilt zu: 20 Jahre wegen "Beihilfe zur Untergrabung der Einheit und Integrität des Staates", 4 1/2 Jahre wegen "Anstiftung zu einer Straftat" und 2 1/2 wegen einer Rede bei einer Newroz-Veranstaltung und zu weiteren sieben Strafen wegen "terroristischer Propaganda" bei verschiedenen Anlässen (Bianet 16.5.2024).
Die Inter-Parlamentarische Union zeigte sich 2025 "zutiefst besorgt über den Ausgang des Kobane-Prozesses, [und] ist der festen Überzeugung, dass diese Verurteilungen, darunter auch die von Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, offenbar weitgehend, wenn nicht sogar ausschließlich auf politischen Äußerungen und Vereinigungen beruhen und im Widerspruch zu den Urteilen und Rechtsnormen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stehen; ist der Ansicht, dass dieser Prozess ernsthafte Fragen hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz und der Nutzung des Strafrechtssystems zur Unterdrückung legitimer politischer Opposition aufwirft" [Zitat aus dem englischen Original] (IPU 9.4.2025).
Weiteres Urteil gegen Demirtaş
Am 19.7.2024 erhielt Demirtaş von einem Gericht in Mersin eine weitere Haftstrafe von 2 1/2 Jahren auferlegt, und zwar wegen "Öffentlicher Denunzierung der Regierung, der Justiz, des Militärs oder der Polizeiorganisation der Republik Türkei" und der "Anstiftung der Öffentlichkeit zu Hass und Feindseligkeit". Die Anklage gegen Demirtaş umfasste seine Äußerungen zwischen 2015 und 2017. Demzufolge beschuldigte Demirtaş Präsident Erdoğan und den damaligen Premierminister Davutoğlu, Organisationen wie an-Nusra, dem IS und Ahrar al-Sham materielle und moralische Hilfe, logistische Unterstützung, Waffen und Geld zur Verfügung gestellt zu haben und für die Vorfälle in der Türkei zwischen 2014 und 2016 verantwortlich zu sein (Duvar 20.7.2024; vgl. Rudaw 19.7.2024, Medya 21.7.2024).
Aktuelle Beispiele für Verhaftungen und Verurteilungen von HDP-Funktionären und einfachen HDP-Mitgliedern
Am Vorabend der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen wurden am 25.4.2023, je nach Quelle, bis zu 150 Personen, darunter Dutzende HDP-Mitglieder und hochrangige Funktionäre wie die stellvertretende Ko-Vorsitzende Özlem Gündüz, verhaftet. Doch gingen die Behörden auch gegen Anwälte und Zeitungs- sowie Agenturjournalisten vor. Nach HDP-Angaben wurden in 21 Provinzen Razzien im Rahmen einer Untersuchung der Staatsanwaltschaft Diyarbakır durchgeführt. Die Verhafteten wurden verdächtigt, die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu finanzieren, z. B. aus dem Gemeindebudget, oder neue Mitglieder für diese anzuwerben (DW 25.4.2023; vgl. WZ 25.4.2023, HDP 25.4.2023, FAZ 25.4.2023). In einer Aussendung vom 5.5.2023 sprach die HDP davon, dass es am Vorabend zu den Parlamentswahlen innerhalb eines Monats zu mindestens 295 Festnahmen bzw. 61 Verhaftungen von HDP-Mitgliedern kam, darunter auch Funktionäre, wie des stellvertretenden HDP-Vorsitzenden der Provinz Urfa (bereits am 4.3.2023) oder des Ko-Vorsitzenden des Distrikts Gebze, inklusive vier seiner Parteimitarbeiter (HDP 5.5.2023).
Die Polizei führte am 10.10.2024 eine Razzia in der Zentrale der DEM-Partei in der östlichen Provinz Iğdır durch und verhaftete den Ko-Vorsitzenden Mehmet Selçuk und acht Parteimitglieder. Die Razzia war Teil der laufenden Ermittlungen zu einem Bombenanschlag im Jahr 2015, bei dem 13 Polizisten getötet wurden. In der südöstlichen Provinz Antep nahm die Polizei am 11.10.2024 den Ko-Vorsitzenden der DEM-Partei des Bezirks Şahinbey, Mustafa Tuç, den pro-kurdischen Ko-Vorsitzenden der Partei der Demokratischen Regionen (DBP) in der Provinz, Mehmet Özkan, und den Ko-Vorsitzenden der DBP Şahinbey, Müslüm Denizhan, fest und überstellt sie anschließend an die Anti-Terror-Abteilung in Antep (Duvar 11.10.2024).
Wegen des Vorwurfs mutmaßlicher Verbindungen zu Terrororganisationen sind Ende November 2024 231 Personen in 30 Provinzen im Zuge der Operation "Gürz-27" festgenommen worden, darunter Journalisten, Dichter, Schriftsteller (Standard 27.11.2024; vgl. Medya 27.11.2024, MLSA 27.11.2024), Menschenrechtsaktivisten, u. a. der Mitbegründer der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) Nimet Tanrıkulu, aber auch Gewerkschaftler und Politiker aus den Reihen der DEM-Partei (Medya 27.11.2024; vgl. SCF 26.11.2024).
Verbotsverfahren gegen die HDP
Am 17.3.2021 gab der Generalstaatsanwalt des Obersten Kassationsgerichts, Bekir Şahin, bekannt, dass er beim Verfassungsgericht ex-officio den Antrag auf ein Verbot und die Auflösung der HDP gestellt habe (ÖB Ankara 18.3.2021; vgl. DS 18.3.2021). In der Anklageschrift werden Parteiführung und -mitglieder u. a. beschuldigt, durch ihre Handlungen gegen Gesetzte zu verstoßen, das Ziel verfolgend, die staatliche und nationale Integrität zu unterminieren und dabei mit der verbotenen PKK zu konspirieren (BAMF 22.3.2021; vgl. DS 18.3.2021). In ihrem umstrittensten Aspekt kriminalisiert die Anklageschrift jedoch den zweijährigen Friedensprozess zwischen Ankara und den Kurden, der 2015 zusammenbrach. An den Gesprächen waren der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan, die in den Kandil-Bergen im Nordirak ansässige PKK-Führung, Regierungsbeamte und HDP-Mitglieder beteiligt, die meist als Vermittler auftraten. Anhand von Protokollen der Treffen zwischen HDP-Mitgliedern und Öcalan stellte die Anklage die Bemühungen der HDP-Mitglieder als kriminelle Handlungen dar, für die die Partei verboten werden sollte, obwohl die Friedensinitiative von der regierenden AKP gestartet und unterstützt wurde (AlMon 9.4.2021).
In der ersten Reaktion der Regierung auf die Anklageschrift sagte Erdoğans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun, dass es eine unbestreitbare Tatsache sei, dass die HDP organische Verbindungen zur PKK habe (REU 18.3.2021). Die Vorgabe des Narrativs von höchster staatlicher Stelle möchte den Ausgang des Verfahrens weitgehend vorwegnehmen und bezeugt neuerlich, dass die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei nicht mehr gewährleistet ist (ÖB Ankara 18.3.2021).
Nachdem das Verfassungsgericht am 31.3.2021 die Anklageschrift wegen Formalfehler zur Überarbeitung an die Generalstaatsanwaltschaft zurück (Zeit Online 31.3.2021; vgl. AlMon 9.4.2021) verwiesen hatte, erfolgte am 7.6.2021 ein neuer Antrag zwecks Verbot der HDP, der Konfiszierung der Bankkonten der Partei sowie zwecks eines Politikverbots für mehrere Hundert Mitglieder der HDP (FAZ 8.6.2021; vgl. Duvar 7.6.2021a). Die 843-seitige Anklageschrift des Generalstaatsanwaltes forderte, dass nunmehr 451 Personen aus der Politik verbannt werden. Außerdem sind 69 HDP-Mitglieder wegen ihrer vermeintlichen Pro-Terror-Aussagen in der Anklageschrift namentlich aufgeführt (HDN 10.6.2021). Am 21.6.2021 nahm das Verfassungsgericht einstimmig die Anklage an, ohne jedoch dem Begehr der Generalstaatsanwaltschaft nach Schließung der HDP-Parteikonten nachzukommen (Duvar 21.6.2021).
Wie bereits im Juli 2021 (EP 8.7.2021, Pt. 2) verurteilte das Europäische Parlament "aufs Schärfste die vom Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts der Türkei eingereichte und vom Verfassungsgericht der Türkei im Juni 2021 einstimmig angenommene Anklageschrift, mit der die Auflösung der Partei HDP und der Ausschluss von 451 Personen vom politischen Leben, darunter die meisten derzeitigen Mitglieder der Führungsebene der HDP, angestrebt werden und durch die die betroffenen Personen daran gehindert werden, in den nächsten fünf Jahren irgendeiner politischen Tätigkeit nachzugehen" (EP 7.6.2022, S. 16, Pt. 23).
Für ein Verbot der HDP ist eine Zweidrittelmehrheit der 15 Richter erforderlich (FAZ 8.6.2021). Das Gericht kann je nach Schwere der Verstöße ein Verbot aussprechen oder davon absehen. Im zweiten Fall kann es anordnen, die Unterstützung im Rahmen der staatlichen Parteienfinanzierung teilweise oder vollständig zu versagen. Funktionären, wie in der Anklageschrift angestrebt, darf nur im Falle eines Parteiverbots untersagt werden, sich politisch zu betätigen (SWP/Can 10.6.2021, S. 4). In einer für den 11.4.2023 anberaumten Anhörung machte die HDP von ihrem Recht auf eine Stellungnahme vor dem Verfassungsgericht keinen Gebrauch, da sie den Fall als politisch motiviert bezeichnete. Es gibt keine Frist für eine Entscheidung des Gerichts (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 4/FN 4).
Im April 2025 forderte die Inter-Parlamentarische Union (IPU) das Verfassungsgericht auf, sein Urteil in strikter Übereinstimmung mit den Standards der Rechtsprechung des EGMR zu fällen, wobei die IPU sich besorgt zeigte, dass in den Begründungen für das Auflösungsverfahren weiterhin ohne stichhaltige rechtliche Begründung die HDP und die PKK vermischt werden. Die IPU bekräftigte, dass die HDP eine rechtmäßig gegründete politische Partei ist, die keine Gewalt befürwortet (IPU 9.4.2025).
Gewaltakte nicht-staatlicher Akteure gegen die HDP bzw. DEM-Partei und ihre Vertreter
Auf das Bezirksbüro der DEM-Partei in İnegöl, Bursa, wurde Anfang März 2024 ein Anschlag verübt. Während des Angriffs soll auch ein Parteimitglied außerhalb des Bezirksgebäudes vom Angreifer mit einer Axt verfolgt worden sein (Bianet 5.3.2024; vgl. TİHV/HRFT 5.3.2024). Anfang Mai 2024 wurde das Bezirksbüro der DEM-Partei in Birecik, in der südölstlichen Provinz Urfa angegriffen. Der Angriff auf das Parteibüro führte zu Schäden am Gebäude, wobei 14 Kugeln die Fenster trafen. Der Täter wurde festgenommen (Bianet 8.5.2024; vgl. Rudaw 8.5.2024). Am 28.9.2024 wurde ein örtliches Parteibüro der DEM in Istanbul im Stadtteil Sultangazi beschossen. Zum Zeitpunkt des Beschusses war niemand anwesend und es gab keine Verletzten. Zwei Verdächtige wurden festgenommen und die Behörden leiteten eine Untersuchung ein (Bianet 30.9.2024; vgl. ANF 29.9.2024). In der Nacht vom 24. auf den 25.10.2024 wurde die DEM-Zentrale in Ankara angegriffen. Dabei wurden u.a. Türen und Fenster beschädigt. Ein Verdächtiger wurde festgenommen (SCF 25.10.2024; vgl. TR-Today 25.10.2024).
Der bislang schwerwiegenste Angriff fand im Juni 2021 in Izmir statt, als Angreifer ein Büro der HDP gestürmt und dabei eine Mitarbeiterin erschossen haben (AlMon 17.6.2021; vgl. Zeit Online 17.6.2021).
Vorgehen gegen weitere Oppositions-Parteien (Beispiele)
Am 25.10.2023 entschied das Verfassungsgericht, dass der inhaftierte Politiker der TİP (Türkiye İşçi Partisi - Arbeiterpartei der Türkei) und Menschenrechtsanwalt Can Atalay, der bei den Parlamentswahlen im Mai 2023 zum Abgeordneten gewählt worden war, in seinem Recht zu wählen und gewählt zu werden, sowie in seinem Recht auf persönliche Sicherheit und Freiheit verletzt wurde und ordnete dessen Freilassung an. Das zuständige Strafgericht setzte das Urteil nicht um, sondern verwies den Fall an das Kassationsgericht. Dieses entschied am 9.11.2023 in Überschreitung seiner Zuständigkeit, dass das Urteil nicht rechtserheblich und daher nicht umzusetzen sei, mit der Begründung, dass das Verfassungsgericht seine Kompetenzen überschritten habe, und dass ein Strafverfahren gegen die neun Richter des Verfassungsgerichts, die für die Freilassung Atalays gestimmt hatten, durch die Generalstaatsanwaltschaft einzuleiten sei. Denn diese hätten gegen die Verfassung verstoßen und ihre Befugnisse überschritten (ÖB Ankara 4.2025, S. 13). Staatspräsident Erdoğan äußerte sich ähnlich und brachte eine Verfassungsreform ins Gespräch, um diese Justizkrise zu lösen. - Atalay war im April 2022 im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum Umsturzversuch zu 18 Jahren Haft verurteilt und inhaftiert worden. Trotzdem wurde er bei den Parlamentswahlen im Mai 2023 zum Abgeordneten gewählt. Dies war möglich, weil das oberste Berufungsgericht das Urteil zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestätigt hatte, und es somit noch nicht rechtskräftig war (Spiegel 31.1.2024). Die Anwälte von Can Atalay haben seinen Fall vor den EGMR gebracht, nachdem die türkischen Behörden einem Urteil des Verfassungsgerichts, das seine sofortige Freilassung forderte, nicht nachgekommen waren. Der EGMR hat den Fall am 27.8.2024 offiziell an die Türkei verwiesen u. a. mit der Frage, warum das Urteil des Verfassungsgerichts nicht vollstreckt wurde (MLSA 16.9.2024; vgl. ECHR 16.9.2024).
Die Behörden gehen laut Medienberichten traditionell auch gegen linksextreme, aber legale Kleinst-Parteien und Organisationen vor, beispielsweise gegen Mitglieder und Funktionäre der Sozialen Freiheitspartei - Toplumsal Özgürlük Partisi (TÖP). Anlass für das Vorgehen seitens der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Gerichte waren grosso modo öffentliche Versammlungen und Proteste, z. B. am 1. Mai. Verhaftungen gab es jedoch auch unter dem Verdacht der Verbindung mit terroristischen Organisationen. Beispiele: Im Nachgang zu den Demonstrationen zum 1. Mai 2023 nahm die Polizei u. a. auch Mitglieder der TÖP, der Volksbefreiungspartei (Halkın Kurtuluş Partisi - (HKP), der Vereinigten Revolutionären Partei - Birleşik Devrimci Parti (DP) und der Sozialistischen Partei der Unterdrückten - Ezilenlerin Sosyalist Partisi (ESP) fest, als diese versuchten Kundgebungen abzuhalten. Am 21.5.2024 wurden gemäß Angaben der Istanbuler Anwaltsvereinigung 27 Personen, die am 21. Mai bei Hausdurchsuchungen festgenommen worden waren, vor das Gericht gebracht, darunter Mitglieder der TİP, der TÖP, der Partei der Bewegung der Werktätigen - Emekçi Hareket Partisi (EHP) oder der Sozialistischen Arbeiterpartei - Sosyalist Emekçiler Partisi (SEP) (Evrensel 23.5.2024; vgl. Bianet 15.5.2024). Ende Jänner 2024 wurden Mitglieder der TÖP und der ESP in Izmir unter dem Vorwurf der "Finanzierung einer illegalen Organisation" (Bianet 30.1.2024; vgl. DTF 31.3.2024) und Anfang Februar 2024 ebensolche Mitglieder der TÖP und der DP aufgrund von Posts in sozialen Medien festgenommen (DTF 12.2.2024). In der zweiten Februarhälfte 2025 verurteilte ein Gericht den Vorsitzenden der HKP, Nurullah Efe Ankut, wegen Beleidigung des Staatspräsidenten zu einem Jahr und zwei Monaten Gefängnis, wegen einer Kolumne aus dem Jahr 2021, in der Ankut das Universitätsdiplom von Präsident Erdoğan infrage stellte (Duvar 25.2.2025b).
Anmerkung: Mit Stand Anfang Juli 2025 waren die rechtlichen Implikationen der Auflösung der PKK nicht abzusehen, ob diese z. B. auf laufende Verfahren, Gerichtsprozesse sowie gefällte Urteile im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft oder der Unterstützung der PKK als Terrororganisation hat oder haben wird. - Dies würde zahlreiche der hier genannten Personen und Personenkreise betreffen. Dies gilt ebenso für das Verbotsverfahren gegen die HDP und das mögliche Politikverbot gegen 451 Personen.
II.1.6.11. Haftbedingungen
Überblick: Zustand der Gefängnisse und externe Überprüfung
Allgemeingültige Aussagen zu den Haftbedingungen sind schwierig, da seit über fünf Jahren keine umfassende Bewertung der Situation in Gefängnissen durch einschlägige Nichtregierungsorganisationen durchgeführt werden konnte. Beurteilungen können sich daher lediglich auf Einzelberichte, Informationen von Inhaftierten sowie Beobachtungen von internationalen Organisationen oder Botschaften stützen. Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt (ÖB Ankara 4.2025, S. 15f.).
Es muss hinsichtlich der Haftbedingungen zwischen der Haft in Polizeigewahrsam und der Untersuchungshaft bzw. dem Strafvollzug unterschieden werden. Zum Polizeigewahrsam gibt es weiterhin glaubhafte Berichte, dass Mindestbedingungen der EMRK nicht in allen Fällen erfüllt werden, insbesondere Gewalt vorkommt, und Aussagen unter (psychischem) Druck aufgenommen werden. Es kann zudem nicht ausgeschlossen werden, dass einzelne Aussagen vor Polizei oder Untersuchungsrichter ohne rechtlichen Beistand durchgeführt oder in Unkenntnis darüber geführt werden, dass es sich um eine ermittlungsrelevante Aussage handelt (AA 20.5.2024, S. 17f.).
Die Haftbedingungen in der Straf- und Untersuchungshaft nach richterlichen Anordnung sind, abhängig vom Alter, Typ und Größe usw. der Anstalt unterschiedlich. Dabei bleibt die Überbelegung von Gefängnissen problematisch. Besondere Haftbedingungen gelten z. B. für Häftlinge, die nach Einschätzung der türkischen Justiz eine Gefahr für andere Häftlinge darstellen oder denen Straftaten mit (vermeintlichem) terroristischem Hintergrund zur Last gelegt werden. In vielen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen (AA 20.5.2024, S. 18; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 16). Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen nahm zwar die beträchtlichen Anstrengungen zur Kenntnis, die Kapazität des Strafvollzugs zu erhöhen, war jedoch darüber besorgt, dass die Gefängnisse nach wie vor überfüllt sind und insbesondere über Berichte hinsichtlich des mangelnden Zugangs zu angemessener medizinischer Versorgung, Trinkwasser, Nahrungsmitteln, Heizung, Belüftung und Beleuchtung sowie über schlechte sanitäre Bedingungen (UNHRCOM 28.11.2024, S. 7; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 40). Das Europäische Parlament brachte im Mai 2025 hingegen "[...] seine tiefe Besorgnis über die katastrophale Lage in türkischen Gefängnissen zum Ausdruck, die auf die starke Überbelegung und schlechte Lebensbedingungen zurückzuführen ist, wobei Berichten, auch des Europarats, zufolge Folter und Misshandlung weit verbreitet sind und der Zugang zu grundlegenden Bedürfnissen wie Hygiene und Informationen stark eingeschränkt ist; [...und war] besorgt über den fortgesetzten Einsatz von erniedrigenden Leibesvisitationen in Gefängnissen und anderen Haftanstalten" (EP 7.5.2025, Pt. 21).
Häftlingsstatistik
In der Türkei gibt es drei Kategorien von Häftlingen: verurteilte Häftlinge, Untersuchungshäftlinge und Häftlinge, die noch kein rechtskräftiges Urteil erhalten haben, aber mit der Verbüßung einer Haftstrafe im Voraus begonnen haben (CoE 30.3.2021, S. 38). Zum 1.1.2025 gab es insgesamt 405 Strafvollzugsanstalten, darunter 273 geschlossene und 99 offene Strafvollzugsanstalten, vier Kindererziehungszentren, zwölf geschlossene und acht offene Frauenvollzugsanstalten, und neun geschlossene Jugendvollzugsanstalten. Die Kapazität dieser Anstalten betrug 301.397 Plätze (ABC-TGM 1.1.2025). Die tatsächliche Zahl der Insassen betrug laut Behörden mit Stand 2.6.2025 416.927, davon waren 13,8 % Untersuchungshäftlinge (nur "pre-trial"). Mit Stand Juni 2025 ergab die Schätzung 488 Inhaftierte pro 100.000 Einwohner [zum Vergleich: Österreich: 104]. Die Belegung machte im April 2025 132,9 % [April 2024 noch 109,2 %] aus. Rund 57.700 Häftlinge befanden sich 2025 (2020: 41.890) in Untersuchungshaft oder einer anderen Form der Inhaftierung ohne abgeschlossenen Prozess. 4,5 % waren Frauen und 1 % Insassen unter 18 Jahren (ICPR 6.2025).
Menschenrechtssituation
Die auf Zuständen in Gefängnissen spezialisierte NGO Prison Insider stellte die Lage in den türkischen Gefängnissen 2024 zusammenfassend folgendermaßen dar: Fälle von Folter und Misshandlung wurden von Überwachungsorganen, der Zivilgesellschaft, den Medien sowie internationalen Organisationen und Institutionen umfassend dokumentiert. Diese Praktiken sind systemisch und weit verbreitet. Es werden hierbei verschiedene psychologische und physische Methoden angewendet. Die in der nationalen Gesetzgebung festgelegten Grundrechte werden nicht respektiert. Sie werden oft als Privilegien angesehen und Gefangenen, die sich nicht daran halten, willkürlich entzogen. Der Zugang zu einem Anwalt, Vertraulichkeit und das Recht auf Berufung können von den Behörden behindert werden. Es werden häufig willkürliche Sanktionen verhängt und Gefangene, die dagegen Beschwerde einlegen, können Repressalien ausgesetzt sein (Prison Insider 2024). Die Gefängnisse in der Türkei sind seit jeher Orte, an denen Folter und Misshandlung weit verbreitet sind. Der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) zufolge ist seit dem Wiederaufflammen des Konfliktes mit der PKK (2015) und dem Putschversuch (2016) und dem darauf folgenden Ausnahmezustand ein außerordentlicher Anstieg der Folter- und Misshandlungspraktiken gegenüber Gefangenen zu verzeichnen. Die TİHV gibt an, dass 2.729 von 5.553 ihrer Beschwerdeführer zwischen dem 1.1.2016 und dem 31.12.2023 in der Haft gefoltert und misshandelt wurden (TİHV/HRFT 11.2024, S. 23f.). Das Anti-Folter-Komitee der UNO zeigte sich 2024 besorgt über die Vorwürfe, dass Folter und Misshandlung weiterhin in großem Umfang vorkommen, insbesondere in Haftanstalten, einschließlich der Vorwürfe von Schlägen und sexuellen Übergriffen und Drangsalierungen durch Strafverfolgungs- und Geheimdienstbeamte sowie der Verwendung von Elektroschocks und Waterboarding in einigen Fällen (CAT 14.8.2024, S. 6). Nebst der Anwendung von Folter und Misshandlung gab es weitere Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte der Häftlinge, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, die Verhinderung offener Besuche und Isolationshaft (EP 7.6.2022, S. 19f., Pt. 32; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 16).
Die materiellen und hygienischen Bedingungen sind in mehreren Gefängnissen unzureichend. Zu den gemeldeten Problemen gehören u. a.: schlechter Zugang zu Belüftung, natürlichem Licht, Temperaturregelung, sauberem Trinkwasser und hochwertigen Lebensmitteln. Einige Einrichtungen sind von Nagetieren und Insekten befallen (Prison Insider 2024; vgl. UNHRCOM 28.11.2024, S. 6f.).
Als in vielen Aspekten, insbesondere aufgrund gravierender Menschenrechtsverletzungen, nicht den Erfordernissen der EMRK entsprechende Haftanstalten gelten u. a. die Einrichtungen in: Ankara Sincan (Strafvollzugsanstalt für Frauen, welche bei einer Kapazität von 400 Personen 700 Frauen und 46 Kinder beherberg), Amasya (Typ E), Aksaray (Typ T), Kayseri, Malatya, Mersin Tarsus (geschlossene Strafvollzugsanstalt für Frauen) und Van (Hochsicherheitsgefängnis). Die Strafvollzugsanstalten in Adana-Mersin, Elazığ, Izmir, Kocaeli Gebze, Maltepe, Osmaniye, Şakran, Silivri und Urfa sind wiederum chronisch überbelegt (ÖB Ankara 4.2025, S. 16).
Insbesondere werden von NGOs, aber auch von der Türkischen Medizinischen Vereinigung (TTB) die Zustände in den, oft neu errichteten, Gefängnissen der Typen S und Y sowie Hochsicherheitsgefängnissen angeprangert und deren Schließung gefordert, da diese berüchtigt für Folter, Misshandlungen und anderen Menschenrechtsverletzungen seien. In einer Erklärung vom 31.5.2024 wurde betont, dass diese Einrichtungen darauf ausgelegt sind, soziale Isolation und Entmenschlichung zu fördern, was sich stark auf die psychische und physische Gesundheit der Insassen auswirkt. Die Menschenrechtsvereinigung (İHD), die Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) und die Menschenrechtsabteilung der Türkischen Ärztekammer (TTB) verwiesen auf zahlreiche Berichte und Briefe von Gefangenen, in denen die harten Bedingungen wie der Mangel an Sonnenlicht, unzureichende Belüftung und extreme Isolation, die zu psychischen und physischen Gesundheitsproblemen führen, detailliert beschrieben werden. Prof. Dr. Fincancı von der TTB betonte, dass die Bedingungen in diesen Gefängnissen die Entwicklung von psychischen Störungen und anderen Gesundheitsproblemen begünstigen. Die Gefangenen verbringen bis zu 22,5 Stunden am Tag in Einzelhaft, was einer sensorischen Deprivation gleichkommt und zu einer schweren Verschlechterung der psychischen Gesundheit führt. Sie wies auch darauf hin, dass die Insassen oft Misshandlungen ausgesetzt sind, hinzu kommen die Verweigerung des Zugangs zu Büchern oder Aktivitäten im Freien, was die Isolation und den Stress der Häftlinge noch verstärkt (Medya 2.6.2024; vgl. İHD/HRA 31.5.2024).
Die Gefängnisse erfüllen im Allgemeinen die baulichen Standards, d. h. Infrastruktur und Grundausstattung, aber erhebliche Probleme mit der Überbelegung führen in vielen Gefängnissen zu Bedingungen, die nach Ansicht des Europäisches Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Committee for the Prevention of Torture - CPT) des Europarats als unmenschlich und erniedrigend angesehen werden können (USDOS 20.3.2023, S. 9). Diese Überbelegung führt zu Gesundheitsproblemen, einschließlich der Ausbreitung von Krankheiten wie Tuberkulose, Hepatitis, Hautkrankheiten und COVID-19 (MBZ 2.2025a, S. 39).
Kontrollorgane
Mehrere nationale und internationale Gremien verfügen über die Befugnis oder ein spezifisches Mandat zur Inspektion von Haftanstalten. Dazu gehören der Sonderberichterstatter, das CPT, Staatsanwälte, die Ombudsstelle und die Menschenrechts- und Gleichstellungsbehörde der Türkei (TİHEK, engl.: HREI). Polizeistationen und Arrestzellen unterliegen der Kontrolle durch Gouverneure, Bürgermeister und zivile Inspektoren. Häftlinge können sich beim Leiter ihrer Haftanstalt oder bei Institutionen wie dem Ombudsmann oder der TİHEK beschweren, obwohl laut Angaben nur selten auf diese Beschwerden reagiert wird (DFAT 16.5.2025, S. 41; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 15).
Im September 2022, beispielsweise, zeigten sich Experten des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter (SPT) nach ihrem Besuch besorgt wegen der Lebensbedingungen in Hafteinrichtungen, einschließlich der Überbelegung, sowie über die Situation von Migranten in Abschiebezentren (OHCHR 21.9.2022). Mitunter berichten auch zuständige türkische Institutionen über Missstände. - Zum Beispiel deckte der Bericht der TİHEK - siehe dazu Kapitel: Ombudsperson und die Nationale Institution für Menschenrechte und Gleichstellung - die Mängel im Gefängnis von Aydın auf, das eine starke Überbelegung und schlechte Lebensbedingungen aufweist. So sind aufgrund der Überbelegung einige Insassen gezwungen, auf dem Boden zu schlafen. Die Behörden haben außerdem eine Werkstatt auf dem Dachboden, die nicht ausreichend belüftet ist, in eine Krankenstation umgewandelt. In diesem Raum sind 37 Insassen untergebracht. TİHEK berichtete von alten, abgenutzten Betten und dem Fehlen einer Wäscherei für die Insassen. Darüber hinaus haben die Insassen nur zwei Stunden am Tag Zugang zu heißem Wasser. Die schlechten Bedingungen führten zu einem Ausbruch von Krätze. Die infizierten Insassen wurden nicht von den anderen isoliert, wodurch sich die Krankheit ausbreitete (SCF 8.8.2024; vgl. BirGün 4.8.2024). Zudem gab es Insektenbefall. - Mehrere Überwachungskameras funktionierten nicht, Aufnahmen gingen verloren und es gab örtlich tote Winkel (BirGün 4.8.2024). Der TİHEK-Bericht wies auf mehrere weitere Probleme hin, darunter die mangelnde Schulung des Personals in Menschenrechten und Kommunikation sowie die fehlende Schulung zum Verbot von Folter und Misshandlung (SCF 8.8.2024; vgl. BirGün 4.8.2024).
Bildungs-, Rehabilitations- und Resozialisierungsprogramme blieben begrenzt (EC 30.10.2024, S. 30f.). Praktiken wie das Verprügeln von Gefangenen aus verschiedenen Gründen, wie z. B. wegen Verweigerung der Leibesvisitation, medizinischen Untersuchungen in Handschellen, erzwungener Anwesenheit bei Standesappellen oder die Titulierung von Personen, die wegen politischer Vergehen inhaftiert wurden, als "Terroristen" und das Verprügeln aus diesem Grund haben, İHD zufolge, ein noch nie da gewesenes Ausmaß erreicht (İHD/HRA 6.11.2022b, S. 14). Laut Rechtsanwaltskammer Ankara sollen Festgehaltene in der Polizeidirektion Ankara regelmäßig Leibesvisitationen, Folter und Misshandlungen ausgesetzt sein. Das Verfassungsgericht stellte am 16.9.2024 im Fall Naif Bal fest, dass dieser einer mit der Menschenwürde unvereinbaren Behandlung durch Justizwachebeamte ausgesetzt war, und ordnete eine Schadenersatzzahlung in Höhe von 25.000 Lira (ca. 660 EUR) an (ÖB Ankara 4.2025, S. 16).
Mangel an unabhängiger Überwachung
Die Regierung gestattet es unabhängigen NGOs nicht, Gefängnisse zu inspizieren (USDOS 22.4.2024, S. 7; vgl. İHD/HRA 26.7.2024, S. 6, OMCT 2022). NGOs, wie die World Organisation Against Torture (OMCT), orten ein Fehlen einer unabhängigen Überwachung der Gefängnisse, wodurch die Situation in diesen verschleiert wird. Hinzu kommt, dass die verfügbaren nationalen Mechanismen wie die TİHEK, die die Türkei als nationalen Präventionsmechanismus (NPM) im Rahmen des OPCAT eingerichtet hatte, und die 2011 eingerichteten Gefängnisüberwachungsausschüsse, aufgrund der Defizite bei den Nominierungsverfahren ihrer Mitglieder und des Mangels an politischer Unabhängigkeit sowie einer soliden Methodik, unwirksam sind (OMCT 2022). Auch die Europäische Kommission charakterisierte die für die Gefängnisse vorgesehenen Monitoring-Institutionen als weitgehend wirkungslos und speziell die TİHEK als nicht voll funktionsfähig, wodurch es keine Aufsicht über Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen gibt. Obwohl mit der Rolle des Nationalen Präventionsmechanismus (NPM) betraut, erfüllt die TİHEK nicht die wichtigsten Anforderungen des Fakultativprotokolls zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (OPCAT) und hat Fälle, die an sie verwiesen wurden, nicht wirksam bearbeitet (EC 8.11.2023, S. 30f.).
Sanktionen und Diskriminierung bestimmter Gruppen
Disziplinarstrafen, einschließlich Einzelhaft, werden exzessiv und unverhältnismäßig eingesetzt (DIS 31.3.2021, S. 1; vgl. İHD/HRA 6.11.2022b, S. 14). Die Gefängnisverwaltungen reagieren auf alle Arten von Forderungen nach Rechten oder Reaktionen auf Rechtsverletzungen, indem sie Aufzeichnungen führen und Disziplinarverfahren einleiten. Als Ergebnis dieser Disziplinarverfahren können Gefangene Strafen erhalten, die ihr Recht auf Kommunikation verbieten oder sie in Einzelhaft stecken. Noch wichtiger ist jedoch, dass Gefangene unter dem Vorwand dieser Untersuchungen und Strafen nicht von einer bedingten Entlassung profitieren dürfen. Disziplinarstrafen sind zu einer Bedrohung geworden, insbesondere für benachteiligte Gefangene, wie Minderjährige, ältere und behinderte Gefangene. Sie haben es den Häftlingen erschwert, ihre Stimme gegen die Rechtsverletzungen zu erheben, denen sie in Gefängnissen ausgesetzt sind. Selbst der Versuch von Gefangenen, die Verletzung ihrer Rechte durch Briefe an die Außenwelt öffentlich zu machen, ist ein Grund für eine Disziplinarstrafe wegen "Schädigung des Rufs der Einrichtung" (İHD/HRA 26.7.2024, S. 25).
NGOs bestätigten, dass bestimmte Gruppen von Gefangenen diskriminiert werden, darunter Kurden, religiöse Minderheiten, politische Gefangene, Frauen, Jugendliche, LGBT-Personen, kranke Gefangene und Ausländer (DIS 31.3.2021, S. 1).
Die Überbelegung der Gefängnisse ist nicht nur problematisch in Hinblick auf den persönlichen Bewegungsfreiraum, sondern auch in Bezug auf die Aufrechterhaltung der persönlichen Hygiene. Darüber hinaus haben sich viele Gefangene über die Ernährung sowie über den Umstand beschwert, dass das Taggeld für die Gefangenen nicht ausreicht, um selbst eine gesunde Ernährung zu gewährleisten (DIS 31.3.2021, S. 1; vgl. EC 8.11.2023, S. 26). - Gefangene unterliegen strengen wöchentlichen Ausgabenbeschränkungen, die nicht die Kosten für ihre Grundbedürfnisse widerspiegeln. Sie müssen für Körperpflegeprodukte, Reinigungsmittel, Strom (außer für die Beleuchtung) und zusätzliche Lebensmittel aufkommen, falls die Portionen bei den Mahlzeiten nicht ausreichen. Bedürftige Gefangene erhalten keine finanzielle Unterstützung (Prison Insider 2024).
Kontakte zur Außenwelt
Im Allgemeinen haben die Gefangenen Kontakt zu ihren Familien und Anwälten, allerdings besteht die Tendenz, Personen weit entfernt von ihren Herkunftsregionen und in abgelegenen Gegenden zu inhaftieren, was den unmittelbaren Kontakt mit der Familie oder den Anwälten erschwert (DIS 31.3.2021, S. 1; vgl. EC 30.10.2024, S. 30, DFAT 16.5.2025, S. 40). Im September 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Überstellung von Häftlingen in weit von ihrem Wohnort entfernte Gefängnisse eine Verletzung der "Verpflichtung zur Achtung des Schutzes des Privat- und Familienlebens" darstellt (EC 6.10.2020, S. 32). Eines der prominentesten Beispiele ist der ehemalige Ko-Vorsitzende der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker - HDP, Selahattin Demirtaş, der seit 2016 im Gefängnis von Edirne in der Westtürkei sitzt, dass sich über 1.700 von seiner Heimatstadt Diyarbakır befindet (Stand: Juni 2025). Seine Frau Başak Demirtaş muss jede Woche 3.500 Kilometer für einen einstündigen Besuch zurücklegen (3Sat 6.5.2023; vgl. DTJ 4.12.2020).
Laut İHD können auch (potenzielle) Besucher Opfer von Behördenvorgehen werden. - Es kommt zu polizeilichen Untersuchungen über die Personen, die die Gefangenen sehen wollen, die mit einem Besuchsverbot enden können, wenn sie als "gefährlich" einstuft werden. In jüngster Zeit wurden zudem Entscheidungen gegen Personen gefällt, die Gefangene besucht und ihnen Geld überwiesen haben. Nicht nur, dass den Häftlingen externe Geldzuwendungen versperrt wurden, was zu körperlichen und psychischen Problemen führt, wurden mitunter Familienangehörige und Freunde wegen solcher (versuchter) Geldüberweisungen strafrechtlich verfolgt, inklusive Inhaftierung (İHD/HRA 26.7.2024, S. 29).
Politische Gefangene
Seit dem gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016 und dem darauf folgenden Ausnahmezustand wurden immer mehr Menschen nach dem ursprünglich 1991 eingeführten Anti-Terrorgesetz verurteilt. Zu diesen Gefangenen gehören ausgesprochene Regierungskritiker, politische Gegner, Aktivisten, Journalisten, Anwälte und kurdische Aktivisten. Schätzungen zufolge fallen mehr als 10 % der Gefängnisinsassen in diese Kategorie (Prison Insider 2024). Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge gab es mit Stand April 2024 zwischen 20.000 und 25.000 politische Gefangene, wobei die meisten Kurden - Schätzungen gehen von bis zu 80 % aus - (MBZ 2.2025a, S. 39f.). In diesem Sinne äußerte sich Ende November auch der UN-Menschenrechtsausschuss und fügte diesbezüglich seine Sorge über die lange Untersuchungshaft hinzu, einschließlich der langen Zeiträume, in denen die erwähnten Gruppen ohne Anklage inhaftiert sind. In diesem Zusammenhang brachte der Ausschuss seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass Strafverteidiger gezielt angegriffen werden, dass es schwierig ist, rechtswidrige Inhaftierungen anzufechten, dass Strafverteidiger Beschränkungen unterliegen, wenn sie sich mit ihren Mandanten treffen und Zugang zu den Fallakten erhalten wollen, und dass das Berufungsverfahren langwierig ist (UNHRCOM 28.11.2024, S. 6).
Lokale Quellen des australischen Außenministeriums besagen, dass wegen terroristischer Straftaten verurteilte Häftlinge, darunter auch politische Gefangene, in Hochsicherheitsgefängnissen festgehalten würden. Für politische Gefangene gelten besondere Bedingungen, ebenso wie für diejenigen, die zu "verschärfter lebenslanger Haft" verurteilt worden waren, darunter eingeschränkte Telefon- und Besuchsrechte und nur eine Stunde pro Tag für den Kontakt mit anderen Gefangenen (DFAT 16.5.2025, S. 40). Menschenrechtsorganisationen berichten, dass politische Gefangene häufiger in Einzelhaft gehalten werden und von den Initiativen der Regierung zur Verringerung der Gefangenenpopulation durch Amnestien und vorzeitige Entlassungen ausgeschlossen waren. Berichtet wird auch, dass die Aufsichtsgremien in den Gefängnissen die Entlassung von Gefangenen zum Zeitpunkt ihrer Bewährung häufiger mit der Begründung "mangelnder guter Führung" verweigern, obwohl ihre gerichtlich angeordneten bedingten Entlassungstermine bereits verstrichen sind (USDOS 22.4.2024, S. 16f.; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 16), EC 30.10.2024, S. 30, DFAT 16.5.2025, S. 40).
Laut NGO-Berichten haben Gefängnisbehörden seit 2021 (bis 2023) willkürlich die Bewährungsrechte von über 300 Insassen aberkannt. Insbesondere politische Gefangene sind von solchen Praktiken betroffen. Laut dem türkischen Strafgesetzbuch können auch Personen, die wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt wurden, nach Verbüßung von zwei Dritteln ihrer Strafe auf Bewährung entlassen werden. Anwälte berichten jedoch, dass viele politische Gefangene, die schon lange inhaftiert sind, bewusst von einer Freilassung ausgeschlossen werden (TM 29.8.2023; vgl. SCF 18.5.2021). Verwaltungs- und Beobachtungsausschüssen, die die bedingte Freilassung von Gefangenen genehmigen oder ablehnen sollen, fehlt es an institutioneller Unabhängigkeit, da sie hauptsächlich aus Gefängnispersonal bestehen und angeblich mit einem hohen Maß an Willkür arbeiten (CAT 14.8.2024, S. 4; vgl. İHD/HRA 26.7.2024, ÖB Ankara 4.2025, S. 17, MBZ 2.2025a, S. 41f.). In jedem Fall entscheidet ein Richter über die vorzeitige Entlassung, allerdings auf Grundlage eben jener ihm vorgelegten Gefängnisberichte. Gefangene haben behauptet, dass ihnen schlechte Verhaltensberichte u. a. auch für das Trinken von zu viel Wasser, den Besuch einer offenen Universität im Gefängnis, das Lesen zu vieler Bücher und das Treffen mit dem Imam des Gefängnisses ausgestellt wurden (BChalk 11.2023, S. 24; vgl. TM 29.8.2023, SCF 18.5.2021), oder umgekehrt weil der Häftling keine Literatur in der Gefängnisbibliothek liest, nicht an Gruppenaktivitäten teilnimmt oder den Gefängnis-Imam nicht besucht. Letzteres ist fallweise darauf zurückzuführen, dass nur sunnitische Imame zur Verfügung stehen, Vertreter anderer Religionen jedoch nicht (MBZ 2.2025a, S. 41f.). Bei Bewährungsanhörungen werden Gefangene ausführlich zu ihren politischen Ansichten und persönlichen Angelegenheiten befragt. Wenn sie aus politischen Gründen verhaftet wurden, werden sie gefragt, ob sie ihre Überzeugungen bereut haben, bzw. es wird verlangt, "Reue" zu deklarieren. - Aufgrund dieser Entscheidungen werden Hunderte von politischen Gefangenen ihres Rechts auf Bewährung und bedingte Entlassung beraubt (CAT 14.8.2024, S. 4; vgl. İHD/HRA 26.7.2024, ÖB Ankara 4.2025, S. 16, BChalk 11.2023, SCF 18.5.2021, MBZ 2.2025a, S. 41).
Die Behörden verwehren Menschenrechts- und humanitären Organisationen wie dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz den Zugang zu politischen Gefangenen. Es gibt glaubwürdige Berichte über Misshandlungen politischer Gefangener durch die Behörden, darunter lange Einzelhaft, unnötige Leibesvisitationen, strenge Beschränkungen der Bewegung im Freien und der Aktivitäten außerhalb der Zellen, Verweigerung des Zugangs zur Gefängnisbibliothek und zu den Medien, schleppende medizinische Versorgung und in einigen Fällen die Verweigerung medizinischer Behandlungen (USDOS 22.4.2024, S. 16f.). Bei politischen Gefangenen wird in den Krankenakten die Art des Verbrechens angegeben, für das sie verurteilt wurden. Es gibt Fälle aus kleineren Städten, in denen Ärzte mit nationalistischen Neigungen sich geweigert haben, Personen zu behandeln, die wegen Mitgliedschaft in der PKK verurteilt wurden (DIS 31.3.2021, S. 30, 50). - Es gibt auch Berichte, wonach die Behörden Besucher von politischen Gefangenen misshandeln, einschließlich Leibesvisitationen (USDOS 22.4.2024, S. 16f.).
Medizinische Behandlungen und Kontrollen
Im Strafvollzugssystem gibt es nicht genügend medizinisches Fachpersonal. Gefangene werden bei der Überführung in Gesundheitseinrichtungen und während ihrer Behandlung häufig gefesselt und unter unangemessenen Bedingungen festgehalten. Das CAT war auch besorgt über Informationen, die darauf hindeuteten, dass Entscheidungen über die Überweisung von Gefangenen in Krankenhäuser manchmal von Gefängnisverwaltungen und nicht von medizinischen Fachkräften getroffen werden (CAT 14.8.2024, S. 4), und dass Gefangenen mit lebensbedrohlichen Krankheiten die vorläufige Entlassung mit der Begründung verweigert wird, dass sie angeblich eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen (CAT 14.8.2024, S. 4; vgl. İHD/HRA 26.7.2024, S. 19f.).
Das Stockholm Center for Freedom hat insbesondere seit Oktober 2020 über eine Reihe von Fällen berichtet, in denen Gefangene mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung unzureichend behandelt wurden, was manchmal zum Tod oder zur Verschlechterung ihres Zustands führte (DIS 31.3.2021, S. 19). Das CAT zeigte sich 2024 besorgt über Informationen, wonach Todesfälle in Haft nur unzureichend untersucht werden, und es bei den durchgeführten Untersuchungen an einer sinnvollen Beteiligung von Familienangehörigen, den gesetzlichen Vertretern der Verstorbenen sowie einer unabhängigen Überwachung durch die Zivilgesellschaft mangelt (CAT 14.8.2024, S. 6).
Zwei Quellen des niederländischen Außenministeriums weisen darauf hin, dass einige Ärzte sich weigerten, tatsächliche oder angebliche Gülenisten und PKK-Mitglieder zu behandeln, aus Angst, mit der PKK oder der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht zu werden (MBZ 2.3.2022, S. 30; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 10). Infolgedessen sind die Opfer oft nicht in der Lage, medizinische Unterlagen zu erhalten, die ihre Behauptungen beweisen könnten (USDOS 20.3.2023, S. 10).
Das System der obligatorischen medizinischen Kontrollen ist laut dem CPT nach wie vor grundlegend fehlerhaft (CoE-CPT 5.8.2020). Ein Problem bei der strafrechtlichen Prüfung von Verdachtsfällen bleibt die Nachweisbarkeit von Folter und Misshandlungen (AA 20.5.2024, S. 17). Die Häftlinge können sich keiner unabhängigen medizinischen Untersuchung durch einen Arzt ihrer Wahl unterziehen, die medizinischen Untersuchungen sind in einigen Fällen oberflächlich und Spuren von Folter und Misshandlung werden nicht angemessen dokumentiert, und es wird berichtet, dass Polizeibeamte häufig bei medizinischen Untersuchungen anwesend sind, obwohl der untersuchende Arzt ihre Anwesenheit nicht angefordert hat, was einen Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht darstellt (CAT 14.8.2024, S. 3). Seit Januar 2004 gilt eigentlich die Regelung, dass außer auf Verlangen des Arztes Vollzugsbeamte nicht mehr bei der Untersuchung von Personen in Gewahrsam bzw. Haft anwesend sein dürfen. Dies wird eben nicht durchgehend angewandt so wie die direkte und versiegelte Übermittlung der Ergebnisse an die Staatsanwaltschaft. Überdies wird Menschenrechtsorganisationen zufolge Dritten der Zugang zu ärztlichen Berichten über den Zustand inhaftierter bzw. in Gewahrsam genommener Personen häufig verweigert, sodass eine unabhängige Überprüfung nur schwer möglich ist (AA 20.5.2024, S. 17). So kommt es, dass die Betroffenen keine Gelegenheit haben, mit dem Arzt unter vier Augen zu sprechen. Von der Delegation des CPT befragte Häftlinge gaben an, infolgedessen den Ärzten nicht von den Misshandlungen berichtet zu haben. Darüber hinaus gaben mehrere Personen an, dass sie von bei der medizinischen Kontrolle anwesenden Polizeibeamten bedroht worden seien, ihre Verletzungen nicht zu zeigen. Einige Häftlinge behaupteten, überhaupt keiner medizinischen Kontrolle unterzogen worden zu sein (CoE-CPT 5.8.2020).
Laut der Menschenrechtsvereinigung (İHD) ist eines der größten Probleme in den Gefängnissen die Verletzung der Rechte kranker Gefangener. Aus den bei der İHD eingegangenen Anträgen und den Gesprächen mit den Gefangenen geht hervor, dass die größten diesbezüglichen Probleme mehrdimensional und vielfältig sind. Es gibt Probleme wie überfüllte Stationen und Auferlegung von unnötigen Leibesvisitationen (inklusive der Mundhöhle) (İHD/HRA 26.7.2024, S. 19f.). - Trotz neuer Gesetze, die die Durchsuchung von Häftlingen regeln, werden manchmal routinemäßig und unter Missachtung der Gesetze Leibesvisitationen durchgeführt, z. B. wenn Häftlinge zwischen Einrichtungen oder in ein Krankenhaus verlegt werden oder wenn sie sich mit Anwälten oder Familienangehörigen treffen, ohne dass ein begründeter Verdacht auf Fehlverhalten besteht (CAT 14.8.2024, S. 4). - Es kommt weiters zur Ablehnung von Überführungen in Krankenhäuser. Und so es doch zu einer Überweisung kommt, besteht keine Möglichkeit, von Krankenstationen aus Ambulanzen aufzusuchen. Untersuchungen in Handschellen und die Anwesenheit von Exekutivbeamten und Wärtern im Untersuchungsraum kommen ebenso vor wie die Nichtüberstellung eines Gefangenen in ein anderes Gefängnis, obwohl das amtliche Institut für forensische Medizin (FMI) es aus gesundheitlichen Gründen für angebracht hält. Die Verbringung von Gefangenen mit Behinderungen und schwer kranke Gefangene, bei denen das Risiko eines Anfalls besteht und/oder die ihre eigenen (körperlichen) Bedürfnisse nicht erfüllen können, in Einzelhaft kommt ebenfalls vor. Daneben bestehen die allgemeinen Probleme mit der Frischluftzufuhr, dem eingeschränkten Zugang zu sauberen oder warmen Wasser und der Mangel an Diätmahlzeiten. Die Tatsache, dass das FMI politisch motivierte Entlassungsentscheidungen trifft, dass Krankenhausberichte vom FMI nicht akzeptiert werden und dass die Berichte oder getroffenen Entscheidungen aus "Sicherheitsgründen" nicht umgesetzt werden, verschlimmert die Situation schwer kranker und kranker Gefangener. Mit Stand Ende April 2022 konnte die İHD 1.517 kranke Gefangene dokumentieren. 651 von ihnen sollen sich in einem schlechten Zustand befunden haben. Im Jahr 2023 wurden von der İHD 6.639 Verstöße gegen das Recht auf Gesundheit festgestellt (İHD/HRA 26.7.2024, S. 19f.).
Der Ausschuss für Gerichtsmedizin - Adli Tıp Kurumu (ATK) ist befugt, ein Gutachten zu erstellen, das die vorzeitige Entlassung von Gefangenen aus medizinischen Gründen ermöglicht. Allerdings bestehen Bedenken hinsichtlich seiner Unabhängigkeit (MBZ 2.2025a, S. 40; vgl. SCF 19.4.2024). Mehrere Gefangene wurden hinter Gittern behalten, obwohl Krankenhausberichte sie als nicht haftfähig einstuften. Diese Berichte wurden vom ATK abgelehnt (SCF 19.4.2024). Die NGO CİSST berichtet, dass viele Gefangene nach solchen abgelehnten Anträgen gestorben sind (Prison Insider 2024).
Kurdische Häftlinge
Es gibt weiterhin Probleme wie beispielsweise die behördliche Ablehnung von Anträgen auf Verlegung seitens der Häftlinge (meist wegen der großen Distanz zum Heimatort bzw. zur Familie) und umgekehrt die Praxis der Zwangsverlegung entgegen den Forderungen der Gefangenen. Laut der NGO CİSST kam zu Zwangsverlegungen, die mit dem Ausnahmezustand begannen und zu einem Mittel der Schikanierung und Diskriminierung insbesondere kurdischer politischer Gefangener einsetzten (CİSST 2.4.2024, S. 28; vgl. CİSST 26.12.2022, S. 26). Kurdische Gefängnisinsassen haben behauptet, dass sie von den Gefängnisverwaltungen diskriminiert werden. So sei der Briefverkehr aus und in das Gefängnis unterbunden worden, weil die Briefe auf Kurdisch verfasst waren und es kein Gefängnispersonal gab, das Kurdisch versteht, um die Briefe für die Gefängnisleitung zu übersetzen (DIS 31.3.2021, S. 30, 68; vgl. İHD/HRA 26.7.2024, S. 28, CİSST 2.4.2024, S. 30). In manchen Gefängnissen ist der Briefverkehr erlaubt, so die Insassen für die Übersetzungskosten, zwischen 300 und 400 Lira pro Seite, aufkämen (Ahval 25.10.2020). Die Gefangenen beschwerten sich auch darüber, dass die Wärter Drohungen und Beleidigungen ihnen gegenüber äußerten, weil sie Kurden seien, etwa auch mit der Unterstellung Terroristen zu sein. Verboten wurde ebenfalls die Verwendung von Notizbüchern, sofern diese kurdische Texte beinhalteten (DIS 31.3.2021, S. 30, 68) sowie der Erwerb bzw. das Lesen von kurdischen Büchern, selbst wenn diese legal waren, und Zeitungen (DIS 31.3.2021, S. 30; 68; vgl. SCF 26.11.2020). Kurden, die im Westen des Landes inhaftiert sind, können sowohl von anderen Gefangenen als auch von der Verwaltung diskriminiert werden. Wenn ein Gefangener beispielsweise in den Schlafsälen Kurdisch spricht, kann er oder sie eine negative Behandlung erfahren (DIS 31.3.2021, S. 55). Ende August 2021 wurde die ehemalige HDP-Abgeordnete, Leyla Güven, mit Disziplinarmaßnahmen belegt, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde deswegen ein Disziplinarverfahren eingeleitet und ein einmonatiges Verbot von Telefongesprächen und Familienbesuchen verhängt (Duvar 30.8.2021). Im Sommer 2024 verbot der neue Gefängnisdirektor der geschlossenen Anstalt des Typus T in Şırnak laut dem Anwalt Fadıl Tay, Mitglied der Menschenrechtskommission der Anwaltskammer von Şırnak, den Gefangenen ihre Familienmitglieder zu umarmen und am Telefon Kurdisch zu sprechen (TR724 12.8.2024; vgl. SCF 12.8.2024).
Hochsicherheitsgefängnisse
In den Hochsicherheitsgefängnissen, einschließlich der F-Typ-, D-Typ- und T-Typ-Gefängnisse, sind Personen untergebracht, die wegen Verbrechen im Rahmen des türkischen Anti-Terror-Gesetzes verurteilt oder angeklagt wurden, Personen, die zu einer schweren lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, und Personen, die wegen der Gründung oder Leitung einer kriminellen Organisation verurteilt oder angeklagt wurden oder im Rahmen einer solchen Organisation aufgrund eines der folgenden Abschnitte des türkischen Strafgesetzbuches verurteilt oder angeklagt wurden: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Drogenherstellung und -handel, Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates und Verbrechen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und deren Funktionieren. Darüber hinaus können Gefangene, die eine Gefahr für die Sicherheit darstellen, gegen die Ordnung verstoßen oder sich Rehabilitationsmaßnahmen widersetzen, in Hochsicherheitsgefängnisse verlegt werden (DIS 31.3.2021, S. 11-13).
Laut den türkischen Soziologen Çağatay und Bekiroğlu basieren F-Typ-Gefängnis auf Isolation, Trennung und Reduzierung mit strengen Regeln und Vorschriften. Jede Zelle ist als ein isolierter und separater Ort mit seiner reduktiven Logik. Das Hauptmerkmal der F-Typ-Gefängnisse ist mitunter seine Architektur, die darauf abzielt, jede Art von Kommunikation zwischen den Insassen der verschiedenen Zellen zu verhindern. In diesem Sinne sind gemäß Çağatay und Bekiroğlu F-Typ-Gefängnisse ein direkter Angriff auf die soziale Existenz der Gefangenen (ACCORD 5.4.2023, S. 38). Die neuen Sicherheitsgefängnisse des Typs S führen zu einer verstärkten Isolation der Insassen. Gemeinsame Aktivitäten blieben begrenzt und willkürlich. Die Verlegung in abgelegene Gefängnisse wurde fortgesetzt, manchmal ohne Vorwarnung. Solche Verlegungen wirkten sich negativ auf Familienbesuche aus, insbesondere für arme Familien und jugendliche Gefangene (EC 8.11.2023, S. 31).
Isolationshaft
Die Einzelhaft wird durch das Strafvollzugsgesetz geregelt, das eine Vielzahl von Handlungen festlegt, die mit Einzelhaft disziplinarisch geahndet werden können. Das Gesetz legt außerdem eine Obergrenze von 20 Tagen Einzelhaft fest. Das CPT betonte allerdings, dass diese Höchstdauer überhöht ist, und nicht mehr als 14 Tage für ein bestimmtes Vergehen betragen sollte (DIS 31.3.2021, S. 26). Zur vermehrten Verhängung der Einzelhaft kommt es in den 14 F-Typ-, 13 Hochsicherheits- und fünf S-Typ-Gefängnissen (İHD/HRA 6.2022, S. 21). Bei der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) machten 2020 die Beschwerden hinsichtlich der Verhängung der Einzelhaft rund 11 % aller Gefängnisbeschwerden aus. Laut der NGO CİSST gibt es Fälle, in denen die Isolationshaft die gesetzlichen 20 Tage überschritten hat. Die İHD merkte an, dass Isolationshaft über Monate hinweg gegen Untersuchungshäftlinge verhängt werden kann, wenn gegen sie ein Verfahren läuft, welches eine erschwerte lebenslängliche Haftstrafe nach sich zieht. Darüber hinaus betrachtet es die İHD als Isolation, wenn Gefangene, einschließlich der zu schwerer lebenslanger Haft Verurteilten, in Hochsicherheitsgefängnissen des Typs F keine Gemeinschaftsräume nutzen dürfen bzw. nur für eine Stunde pro Woche (DIS 31.3.2021, S. 26). In einigen Gefängnissen wurden verschiedene Gruppen von Gefangenen ohne rechtliche Begründung in Einzelzellen verlegt. In einigen Fällen wurden sogar Gefangene mit einem ärztlichen Gutachten, dem zufolge sie nicht in Einzelhaft untergebracht werden können, in Ein-Personen-Zellen gesperrt (CİSST 26.3.2021, S. 25).
Die Haftbedingungen sind für diejenigen, die zu verschärfter lebenslanger Haft verurteilt wurden, am härtesten. Sie sind sozial isoliert, haben keinen Zugang zu Arbeit und nur eingeschränkten Zugang zu Aktivitäten und zur Kommunikation mit der Außenwelt. Manche betrachten ihre Strafe als eine Form der ewigen Folter (Prison Insider 2024; vgl. İHD/HRA 26.7.2024, S. 28). Sie dürfen beispielsweise nur alle zwei Wochen besucht werden (Prison Insider 2024). Das Anti-Folter-Komitee der UNO äußerte sich 2024 diesbezüglich mit "Besorgnis über das verschärfte Regime der lebenslangen Freiheitsstrafe, das in bestimmten Fällen nicht mit einer Aussicht auf Freilassung verbunden ist. Der Ausschuss ist besonders besorgt über die strengen Haftbedingungen für die etwa 4.000 Gefangenen, die solche Strafen verbüßen, die soziale Kontakte und Besuche stark einschränken, und darüber, dass diese Einschränkungen auch im Gesundheitswesen weiterhin gelten" (CAT 14.8.2024, S. 5).
Todesfälle in Gefängnissen
Auf eine parlamentarische Anfrage der Abgeordneten Newroz Uysal Aslan von der DEM-Partei gab das Justizministerium im Mai 2025 bekannt, dass zwischen Juli 2023 und Dezember 2024 1.026 Gefängnisinsassen verstarben. Für Aslan stellt dies den Beweis dar, dass Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen ein dringendes Problem sind, insbesondere die Verweigerung medizinischer Behandlung für kranke Häftlinge und die langwierigen Verzögerungen bei ihrer Entlassung. Außerdem wies Aslan auch darauf hin, dass Todesfälle in Gefängnissen – einschließlich der als "verdächtig" eingestuften – oft nicht untersucht werden. - Diese Todesfälle könnten nicht mehr als Einzelfälle betrachtet werden, sondern vielmehr das Ergebnis eines systemischen Problems, so Aslan (Velev 22.5.2025; vgl. SCF 22.5.2025).
II.1.6.12. Ethnische Minderheiten
Rechtslage und Rechtswirklichkeit
Die kemalistische Ideologie sah die Türkei als ein Land mit einer einzigen ethnischen Identität. Die Assimilationspolitik, die die Sprache, Kultur und Identität ethnischer Minderheiten unterdrückt, hat seit langem Ressentiments hervorgerufen, insbesondere unter den türkischen Kurden (DFAT 16.5.2025, S. 5). Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Apostolischen und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden (USDOS 22.4.2024, S. 67; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 30, 39) sowie der Bulgaren aufgrund des Türkisch-Bulgarischen Freundschaftsvertrages und der Assyrer aufgrund eines Gerichtsurteils (ÖB Ankara 4.2025, S. 39). Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Jafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 22.4.2024, S. 67; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 39). Allerdings wurden in den letzten Jahren Minderheiten in beschränktem Ausmaß kulturelle Rechte eingeräumt (ÖB Ankara 4.2025, S. 39). Dessen ungeachtet bedauerte der Menschrechtsausschuss der Vereinten Nationen Ende November 2024, dass die Türkei als Vertragsstaat des Internationaler Paktes über bürgerliche und politische Rechte (International Covenant on Civil and Political Rights - ICCPR) ihren Vorbehalt zu Artikel 27 aufrechterhält und empfiehlt gleichzeitig, diesen Vorbehalt zurückzuziehen. Der Artikel 27 des Paktes garantiert die Rechte der ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten (UNHRCOM 28.11.2024, S. 2). - Staatsangehörige nicht-türkischer Volksgruppenzugehörigkeit sind keinen staatlichen Repressionen aufgrund ihrer Abstammung unterworfen. Ausweispapiere enthalten keine Aussage zur ethnischen Zugehörigkeit (ÖB Ankara 4.2025, S. 39).
Obwohl die Türkei über einige gesetzliche Bestimmungen zum Schutz der Rechte von Minderheiten verfügt, bieten diese oft keinen umfassenden Schutz und gewährleisten keine Gleichstellung. Es besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem Rechtsrahmen zur Verhinderung von Diskriminierung und zum Schutz von Minderheitenrechten und deren praktischer Umsetzung. Die institutionellen Mechanismen sind ineffektiv. - Trotz der Einrichtung von Institutionen wie der Menschenrechts- und Gleichstellungsinstitution der Türkei (TİHEK) und der Ombudsmann-Institution (KDK) ist ihre Wirksamkeit bei der Bekämpfung der Diskriminierung von Minderheiten nach wie vor begrenzt, da sie Probleme nur ungern direkt ansprechen. Beide Institutionen sind befugt, im Rahmen ihres Mandats Diskriminierungsbeschwerden von Minderheiten zu bearbeiten. Obwohl es keinen spezifischen Verweis auf "Minderheit" als identifizierenden Begriff gibt, können sie sich indirekt mit der Diskriminierung jeder Gruppe aufgrund von Geschlecht, Rasse, Sprache, Religion und ethnischer Zugehörigkeit befassen, wie im Gesetz zur TİHEK festgelegt. Die TİHEK könnte im Rahmen ihres Mandats auch Rechtsverletzungen gegen diese Gruppen überwachen und darüber Bericht erstatten. Bisher hat sie jedoch noch keine proaktiven Maßnahmen in dieser Hinsicht ergriffen. Trotz der Zuständigkeit beider Institutionen ist die Zahl der Anträge im Zusammenhang mit Minderheiten nach wie vor gering, was hauptsächlich auf die offensichtliche Zurückhaltung dieser Institutionen bei der Behandlung des Themas zurückzuführen ist. Zwischen 2018 und 2022 erließ die TİHEK von insgesamt 43 Entscheidungen eine einzige, die sich mit ethnischer Diskriminierung befasste. Diese Entscheidung betraf jedoch nicht in der Türkei lebende Minderheiten, sondern einen Flüchtling (MRG 29.4.2024, S. 3, 11).
Demografie
Schätzungsweise 70 bis 75 % der Bevölkerung sind ethnische Türken. Etwa 19 % sind Kurden, der Rest setzt sich aus verschiedenen kleinen ethnischen Minderheiten zusammen (DFAT 16.5.2025, S. 5). Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren (rund 50.000) und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 20.5.2024, S. 10). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRG 6.2018b).
BMI/BMLVS 2017, S. 33f.
Intoleranz, Diskriminierung, Hassreden
Trotz der Tatsache, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Bürgerrechte haben und obwohl jegliche Diskriminierung aufgrund kultureller, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit geächtet ist, herrschen weitverbreitete negative Einstellungen gegenüber Minderheitengruppen. Das Maß an Vertrauen und Toleranz gegenüber ethnischen Minderheiten und Nicht-Muslimen hat abgenommen (BS 19.3.2024, S. 7, 17). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahin gehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (BPB 17.2.2018). Im Juni 2022 verurteilte das Europäische Parlament "die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, wozu auch das Verbot der gemäß der Verfassung der Türkei nicht als "Muttersprache" eingestuften Sprachen von Gruppen wie der kurdischen Gemeinschaft in der Bildung und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zählt" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).
Die Gesetzgebung zu Hassverbrechen, einschließlich Hassreden, entspricht immer noch nicht den internationalen Standards, was ein ernstes Problem darstellt. Hassreden und Hassverbrechen halten an, wobei die Hauptzielgruppen Kurden, Syrer (häufig Flüchtlinge), Griechen, Armenier, Juden und Aleviten waren (EC 30.10.2024, S. 21, 35). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S. 40).
Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Das armenische Patriarchat hat anonyme Drohungen rund um den Tag des armenischen Gedenkens erhalten. Staatspräsident Erdoğan bezeichnete den armenischen Parlamentsabgeordneten, Garo Paylan, als "Verräter", weil dieser im Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht hatte, der die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern gefordert hatte (USDOS 20.3.2023, S. 87). Die Massaker an den Armeniern in den Jahren 1915-1917 sind weiterhin ein heikles Thema. Als z. B. der Menschenrechtsverteidiger Öztürk Türkdoğan dazu aufforderte, die genannten Ereignisse als "Völkermord" anzuerkennen, wurde er nach Artikel 301 des Strafgesetzbuchs wegen Beleidigung der türkischen Nation angeklagt, im Juli 2023 allerdings freigesprochen, da sein Aufruf unter das Recht auf freie Meinungsäußerung fiel. Am 24.4.2024 bezeichnete ein Gastredner bei Açık Radyo die Ereignisse von 1915-1917 als Völkermord. Daraufhin verhängte der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) eine Geldstrafe gegen den Radiosender. Açık Radyo zahlte die Geldstrafe nicht, woraufhin der RTÜK die Sendelizenz widerrief (MBZ 2.2025a, S. 71).
Bildung und Kultur
Während des EU-Harmonisierungsprozesses wurde das Recht auf den Gebrauch von Minderheitensprachen in gewissem Umfang erweitert, obwohl der Begriff "Muttersprache" nicht verwendet wurde. Stattdessen wurde eine Definition wie "verschiedene Sprachen und Dialekte, die traditionell von türkischen Bürgern in ihrem täglichen Leben verwendet werden" angenommen, die mit Artikel 28 der Verfassung übereinstimmt, der festlegt, dass nur Türkisch als Muttersprache unterrichtet werden darf (MRG 29.4.2024, S. 16f.; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 67f.). Dies erfolgt unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden (USDOS 22.4.2024, S. 67f.). Diese Erweiterung erfolgte in drei wichtigen Bereichen. Erstens wurde das Erlernen dieser Sprachen trotz bürokratischer Hindernisse durch Online-Kurse und Initiativen von Organisationen der Zivilgesellschaft erleichtert, insbesondere während und nach der Pandemie. Zweitens wurde der Unterricht dieser Sprachen an Privatschulen genehmigt. Schließlich wurde 2012 "Lebende Sprachen und Dialekte" als Wahlfach in alle Lehrpläne der Sekundarstufe aufgenommen, darunter Adyghisch (i.e.Tscherkessisch), Abchasisch, Albanisch, Bosnisch, Georgisch, Kurmancî [Anm.: Hauptvariante des Kurdischen in der Türkei], Laz und Zazakî. Betrachtet man das Angebot an privaten Sprachkursen, so wird deutlich, dass Kurdisch weiterhin starker staatlicher Repression ausgesetzt ist (MRG 29.4.2024, S. 17). Allerdings wirken die Mindestanzahl von zehn Schülern für einen Kurs sowie der Mangel oder gar das Fehlen von Fachlehrern einschränkend auf die Möglichkeiten eines Unterrichts von Minderheitensprachen (EC 30.10.2024, S. 35). Trotz der Einrichtung von Fachbereichen an den Universitäten und der Anzahl der Absolventen, die diese Fachbereiche hervorbringen, wurden die erforderlichen Stellen für Lehrer für diese Kurse für fast jede Minderheitensprache weitgehend übersehen. Überdies behindern jedoch viele Schulleiter das Erlernen dieser Sprachen. Sie lassen sie von der Liste weg, warnen vor einer möglichen Stigmatisierung, indem sie bestehende Ängste der Eltern schüren, behaupten, dass die Sprachen für die Zukunft der Kinder unnötig seien, und lehnen manchmal Anträge ab oder bearbeiten sie nicht. Die Angst, aufgrund der historischen und bestehenden Diskriminierung von Minderheiten in der Türkei als solche abgestempelt zu werden, hält Eltern und Schüler ebenfalls davon ab, diese Kurse zu wählen (MRG 29.4.2024, S. 17f.). Universitätsprogramme sind in Kurdisch, Zazakî, Arabisch, Assyrisch und Tscherkessisch vorhanden (EC 8.11.2023, S. 44; vgl. EC 30.10.2024, S. 35).
Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten, insbesondere der Kurden, ausgewirkt (EC 8.11.2023, S. 44; vgl. EC 30.10.2024, S. 35).
Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt. Das Gesetz beschränkt den Gebrauch von anderen Sprachen als Türkisch in der Regierung und in öffentlichen Diensten (USDOS 22.4.2024, S. 67f.). Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz allerdings die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 4.2025, S. 39).
II.1.6.12.1. Kurden
Demografie und Selbstdefinition
Die kurdische Volksgruppe hat laut Schätzungen zwischen 15 und 20 % Anteil an der Gesamtbevölkerung und lebt zum Großteil im Südosten des Landes sowie in den südlich und westlich gelegenen Großstädten Adana, Antalya, Gaziantep, Mersin, Istanbul und Izmir (ÖB Ankara 4.2025, S. 39; vgl. MRG 2.2024, MBZ 31.8.2023, S. 47, UKHO 10.2023b, S. 6, DFAT 16.5.2025, S. 12). Traditionell konzentriert sich die kurdische Bevölkerung auf den Südosten Anatoliens, wo sie die größte ethnische Gruppe bilden, und auf den Nordosten Anatoliens, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellen. Der Osten und Südosten der Türkei sind historisch weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und geringeren staatlichen Investitionen. In den letzten Jahrzehnten sind viele Kurden in den Westen der Türkei migriert, um Konflikten zu entkommen und wirtschaftliche Chancen zu suchen. Einige Kurden führen einen traditionellen Lebensstil, insbesondere in ländlichen Gebieten, während andere stark assimiliert sind und sich kaum von anderen Türken unterscheiden (DFAT 16.5.2025, S. 12).
Die Kurden sind die größte ethnische Minderheit in der Türkei, jedoch liegen keine Angaben über deren genaue Größe vor. Dies ist auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen. - Erstens wird bei den türkischen Volkszählungen die ethnische Zugehörigkeit der Menschen nicht erfasst. Zweitens verheimlichen einige Kurden ihre ethnische Zugehörigkeit, da sie eine Diskriminierung aufgrund ihrer kurdischen Herkunft befürchten. Und drittens ist es nicht immer einfach zu bestimmen, wer zum kurdischen Teil der Bevölkerung gehört. So identifizieren sich Sprecher des Zazaki - einer Sprachvariante, die mit Kurmancî ("Kurdisch") verwandt ist - teils als Kurden und teils eben als eine völlig separate Bevölkerungsgruppe (MBZ 31.8.2023, S. 47).
Allgemeine Situation, politische Orientierung und Vertretung
Obwohl Kurden in allen Bereichen des öffentlichen Lebens vertreten sind und einige von ihnen hohe Positionen bekleiden, sind sie in Führungspositionen tendenziell unterrepräsentiert und zögern mitunter ihre kurdische Identität offenzulegen, falls sich dies als Hindernis erweisen sollte. Es gibt Hinweise auf anhaltende gesellschaftliche Diskriminierung von Kurden und zahlreiche Berichte über rassistische Übergriffe gegen Kurden. In einigen Fällen wurden diese Angriffe möglicherweise nicht ordnungsgemäß untersucht oder nicht als rassistisch anerkannt. Kurden, die in Städten im Westen der Türkei leben, haben fallweise Angst, ihre kurdische Identität preiszugeben oder in der Öffentlichkeit Kurdisch zu sprechen, und die Beschäftigungsmöglichkeiten für Kurden können begrenzt sein, insbesondere wenn sie in der kurdischen Politik aktiv sind oder sich offen für die kurdische Sache einsetzen. Die meisten politisch nicht aktiven Kurden und diejenigen, welche die AKP unterstützen, können in den Städten der Westtürkei ohne Diskriminierung leben. Es gibt Hinweise darauf, dass Kurden aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit der Zugang zu bestimmten Mietwohnungen verweigert wurde. Kurden, die kein Türkisch sprechen, können Schwierigkeiten beim Zugang zu Dienstleistungen, z. B. im Gesundheitsbereich, haben (UKHO 10.2023b, S. 8f.; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 12f.).
Die kurdische Gemeinschaft ist vielfältig und umfasst ein breites Spektrum politischer Ansichten und sozioökonomischer Hintergründe (DFAT 16.5.2025, S. 12; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 39). Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen sunnitischen Kurden, gibt es viele islamisch-konservative Wähler, welche die AKP oder die YRP (Yeniden Refah Partisi - Neue Wohlfahrtspartei) wählen. Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische DEM-Partei [Anm.: früher HDP] (ÖB Ankara 4.2025, S. 39; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 48). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Scharia eintritt. Zwar tritt sie wie die HDP für die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem ein, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den Präsidentschaftswahlen 2018 (MBZ 31.10.2019). Die Unterstützung wiederholte sich auch angesichts der Präsidenten- und Parlamentswahlen im Frühjahr 2023. - Bei den Parlamentswahlen 2023 zogen vier Abgeordnete der Hüda-Par über die Liste der AKP ins türkische Parlament ein. Möglich war das durch einen umfangreichen Deal mit Präsident Erdoğan. Für die vier sicheren Listenplätze erhielt dieser die Unterstützung der Hüda-Par bei den gleichzeitig stattfindenden Präsidentschaftswahlen (FR 19.5.2023; vgl. Duvar 9.6.2023). Die Hüda-Par gilt beispielsweise nicht nur als Gegnerin der Istanbuler Konvention, sondern generell der Frauenemanzipation. Die Frau ist für Hüda-Par in erster Linie Mutter. Die Partei möchte zudem außereheliche Beziehungen verbieten (FR 19.5.2023). Mit dem Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober 2023 stellte sich die Hüda-Par als Unterstützerin der HAMAS heraus, die in der EU, den USA und anderen Ländern, nicht jedoch in der Türkei, als Terrororganisation gilt. So empfing die Parlamentsfraktion der Hüda-Par bereits am 11.10.2023 eine Delegation der HAMAS im türkischen Parlament. Şehzade Demir, Abgeordneter der Hüda-Par, warf bei einer gemeinsamen Pressekonferenz, Israel nicht nur Kriegsverbrechen vor, sondern erklärte, dass "das zionistische Regime der gesamten islamischen Gemeinschaft und unseren heiligen Werten den Krieg erklärt" hätte (Duvar 12.10.2023). Zudem begrüßte Demir den HAMAS-Angriff vom 7.10.2023 und nannte Israel eine Terrororganisation, zu der alle diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen beendet werden sollten (FR 12.10.2023).
Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobanê-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (MBZ 31.10.2019; vgl. AI 7.7.2015, S. 5).
Religiöse und weltanschauliche Orientierung
In religiöser Hinsicht sind die Kurden in der Türkei nicht einheitlich. Nach einer Schätzung sind siebzig Prozent der Kurden Sunniten, die restlichen dreißig Prozent sind Aleviten und Jesiden [eine verschwindend geringe Zahl] (MBZ 31.8.2023, S. 48; vgl. MRG 2.2024). Die sunnitische Mehrheit unter den Kurden gehört allerdings in der Regel der Shafi'i-Schule an und nicht der Hanafi-Schule wie die meisten ethnischen Türken. Die türkischen Religionsbehörden betrachten beide Schulen als gleichwertig, und Anhänger der Shafi'i-Schule werden aus religiösen Gründen nicht unterschiedlich behandelt (DFAT 16.5.2025, S. 12). Laut einer Studie des Kurdish Studies Center vom Dezember 2023 definieren sich Kurden als fromme Muslime und Libertäre (özgürlükçülük). Je niedriger das Alter, desto libertärer, und je höher das Alter, desto stärker ist die muslimisch-religiöse Identität. Der Frieden zwischen der Religion und liberalen (liberären) Werten zeichnet die kurdische Identität aus. 53,5 % der Kurden (Mehrfachantworten waren möglich) sahen sich als Muslime und weitere 24,8 % als religiös, während 28,1 % sich als libertär bzw. werteliberal sahen. 11,9 % definierten sich als konservativ, 11,5 % als sozialistisch, 9,9 % als kurdisch-nationalistisch, 9,2 % als Demokraten, 8,4 % als Verteidiger der kurdischen Rechte und 8,0 % als Sozialdemokraten, nebst weiteren Kategorien (KSC 12.2023, S. 7).
Allgemeine Einschätzungen zur Lage der Kurden
Die "Kurdish Language Rights Monitoring and Reporting Platform" verzeichnete in ihrem Jahresbericht für 2024 zu "systematischen Verstößen gegen die kurdische Sprache und Kultur" 109 Vorfälle - im Bereich von Kunst und Kultur: 27, im öffentlichen Raum: 53, im Bereich der Medien: 11 und in den Gefängnissen: 18. - Zu den Verstößen im Bereich von Kunst und Kultur zählten die Absage oder das Verbot von Theaterstücken, Konzerten und kulturellen Veranstaltungen in Kurdisch durch Gouvernements oder Gemeinden; die Schließung von Social-Media-Konten von Schauspielern, Sängern und Schriftstellern; die Festnahme oder Inhaftierung von Mitgliedern von Musikgruppen bzw. Musikern; Ermittlungen und rechtliche Schritte gegen Kulturschaffende. Zu den Rechtsverletzungen im öffentlichen Raum zählten Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen im Parlament und die Entfernung von öffentlichen Schildern und Aufschriften in Kurdisch. 375 Personen wurden verhaftet, davon 47 Personen aufgrund des Vortragens kurdischer Lieder oder Tänze bei Hochzeiten. Es kam zu Entlassungen von Arbeitnehmern, weil sie Kurdisch gesprochen hatten, z. B. am Flughafen Bodrum und Istanbul. Zu den Diskriminierungen in den Bereichen Bildung und Gesundheit zählten laut Bericht die Reduzierung der Stellen für kurdischsprachige Lehrer auf zehn, die Verweigerung medizinischer Untersuchungen für Patienten, die kein Türkisch sprachen, sowie der anhaltende Druck auf Einrichtungen, die kurdischsprachigen Unterricht anbieten, sowie Verhaftung oder Kündigung von Lehrern. Angeführt wird als Hassverbrechen auch die Ermordung eines irakischen Bürgers aus der Kurdistan Region Irak in Istanbul, weil dieser in der Öffentlichkeit Kurdisch sprach. Zu den Verstößen im Feld der Medien zählten Internet- und Rundfunkzensur, z. B. Zugangsbeschränkungen zu den kurdischen Konten der Zeitung Xwebûn, der Agentur Mezopotamya und Jinnews; die Schließung von Social-Media-Konten und das Verbot von 120 kurdischen Büchern und Presseartikeln. In den Gefängnissen kam es zu Einschränkungen der Kommunikation: das Verbot für Gefangene, mit ihren Familien Kurdisch zu sprechen, und die Beschlagnahmung ihrer Briefe; die Unterbrechung von Telefongesprächen. Es gab Fälle von Strafen und Disziplinarmaßnahmen. Dazu gehörten die Verhängung von Einzelhaft für Gefangene, die auf Kurdisch sangen; Disziplinarverfahren wegen auf Kurdisch verfasster Gedichte sowie das Aushändigen von kurdischen Büchern gegen ein Übersetzungshonorar oder die schlichte Beschlagnahme von Büchern, die ins Kurdische übersetzt wurden (KurdLRMRP 2.2025, S. 4-6).
Das Europäische Parlament (EP) zeigte sich auch 2023 "besonders besorgt über das anhaltende harte Vorgehen gegen kurdische Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte und Künstler, einschließlich Massenverhaftungen vor den Wahlen [2023] sowie über das laufende Verbotsverfahren gegen die Demokratische Partei der Völker" (EP 13.9.2023, Pt. 13, 16). In einer Entschließung vom Mai 2025 bedauerte das Europäische Parlament erneut "die anhaltende politische Unterdrückung, Schikanierung durch die Justiz und Beschneidung der kulturellen und sprachlichen Rechte der kurdischen Bürger" (EP 7.5.2025, Pt. 28). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 19.5.2021, S. 17, Pt. 44). Laut Europäischer Kommission dauern Hassverbrechen und Hassreden gegen Kurden an (EC 30.10.2024, S. 21).
Kurdische Zivilgesellschaft
Es gab mehrere Angriffe gegen ethnische Kurden, die nach Ansicht von Menschenrechtsorganisationen rassistisch motiviert waren. Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt (USDOS 22.4.2024, S. 69). Hunderte von kurdischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.3.2023, S. 85). Kurdischsprachige Medien und Einrichtungen für kulturelle Rechte bleiben seit 2016 geschlossen (EC 30.10.2024, S. 21). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass Letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete. Allerdings wurde das Urteil des Verfassungsgerichts (mit Stand November 2023) nicht umgesetzt (EC 8.11.2023, S. 18f.; vgl. CCRT 8.4.2021).
Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes mit der Kurdischen Arbeiterpartei - PKK
Der Konflikt mit der PKK wird seitens der Regierung zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen gegen kurdische Bürgerinnen und Bürger herangezogen, darunter das Verbot kurdischer Feste. Gegen kurdische Schulen und kulturelle Organisationen, von denen viele während der Friedensgespräche eröffnet wurden, wird seit 2015 ermittelt oder sie wurden geschlossen. Die Behörden nehmen regelmäßig Massenverhaftungen in kurdisch dominierten Provinzen vor und beschuldigen die Verhafteten, die PKK zu unterstützen. Im September 2024 führten die Behörden eine Razzia bei einer Reihe kurdischer Organisationen und Kultureinrichtungen durch (FH 26.2.2025, F4). 2024 setzte sich auch die Verhaftung von Personen fort. Am 16.1.2024 nahm die Polizei beispielsweise bei mehreren Razzien in 28 Provinzen insgesamt 165 Personen fest, darunter Mitglieder der pro-kurdischen Partei für Demokratie und Gleichheit (DEM-Partei), wegen mutmaßlicher Verbindungen zu terroristischen Organisationen. Das Innenministerium erklärte, die Festgenommenen seien wegen mutmaßlicher Unterstützung der PKK oder wegen der Verbreitung von PKK-Propaganda in den sozialen Medien festgenommen worden. Unter den Festgenommenen waren mehrere Mitglieder der sog. Peace Mothers, eine Gruppe von Aktivistinnen, die sich für eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen dem Staat und der PKK einsetzt, sowie Mitglieder der Jugend- und Frauennetzwerke der DEM-Partei (BAMF 30.6.2024, S. 1).
Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 30.10.2024, S. 21). Bekundungen zur Unterstützung der Bevölkerung von Kobanê sowie Begriffe wie: Kurden, Kurdistan, Guerilla, Widerstand, Märtyrer sind Gegenstand umfangreicher Verfahren (Pro Asyl 9.2024, S. 99f.).
Kurdische Journalisten sind in unverhältnismäßiger Weise betroffen. Im Juli 2024 wurden bei einem Prozess in Ankara gegen elf kurdische Journalisten acht von ihnen wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" zu jeweils sechs Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. In Diyarbakır wurde der Prozess gegen 20 kurdische Journalisten und Medienmitarbeiter wegen der gleichen Vorwürfe fortgesetzt (HRW 16.1.2025; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Laut eigenen Angaben werden kurdische Journalisten schlicht wegen ihrer Berichte über die sich verschlimmernde Menschenrechtslage in den Kurdengebieten angeklagt (BIRN 8.12.2023). Die meisten der Journalisten, die sich in Untersuchungshaft befinden, sind kurdischer Herkunft. In den Strafverfahren würden, laut Quellen von Pro Asyl, angeklagte kurdische Journalisten von vornherein als Mitglieder einer Organisation wahrgenommen und so behandelt. Dementsprechend sei die Haltung der Richter in diesen Verfahren von Anfang an viel härter, was sich auch in einer besonders aggressiven Sprachwahl der Staatsanwälte in ihren Plädoyers zeige (Pro Asyl 9.2024, S. 40).
Vom Vorwurf der Terrorismusunterstützung sind nebst pro-kurdischen politischen Parteien [siehe hierzu das Unterkapitel Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit / Opposition] auch Vertreter kurdischer NGOs und Vereine betroffen. - So hat ein Gericht in Diyarbakır Narin Gezgör, ein Gründungsmitglied der "Rosa Frauenvereinigung", einer kurdischen Frauenrechtsgruppe, im September 2023 wegen Terrorismus zu sieben Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Zu den gegen Gezgör vorgebrachten Beweisen gehörten ihre Mitgliedschaft in der Vereinigung sowie ihre Medieninterviews und anonyme Zeugenaussagen, die sie belasteten (SCF 11.9.2023; vgl. ANF 11.9.2023).
Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S. 36f). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 20.5.2024, S. 8f.). Festnahmen von kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen geschehen regelmäßig anlässlich der Demonstrationen bzw. Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag (WKI 22.3.2022), am 1. Mai (WKI 3.5.2022) oder routinemäßig zum kurdischen Neujahrsfest Newroz (Duvar 20.3.2023). Am 19.3.2023 feierten Tausende Menschen in Istanbul das kurdische Neujahrsfest. Teilnehmer forderten in Sprechchören die Freilassung des ehemaligen HDP-Kovorsitzenden Demirtaş. Die Behörden nahmen mehr als zweihundert Personen fest. Sie hätten "illegale Transparente" getragen und "illegale Parolen" gerufen. Bei dem Feiern in Istanbul am 18.3.2024 wurden 70 Personen festgenommen, von denen laut Behörden drei ein Plakat des inhaftierten PKK Anführers Öcalan hochgehalten haben sollen (ÖB Ankara 4.2025, S. 40).
Gewaltsame Übergriffe und behördliches Vorgehen
Es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen, denen manche eine anti-kurdische Dimension zuschreiben (MBZ 2.2025a, S. 57; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 2). Auch in den Jahren 2023 und 2024 berichteten Medien immer wieder von Maßnahmen und Gewaltakten gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB Ankara 4.2025, S. 39).
Beispiele 2024: Ein kurdischer Betreiber eines Cafés in Diyarbakır wurde Ende Mai 2024 verhaftet, nachdem er anlässlich des Tages der kurdischen Sprache (15. Mai) angekündigt hatte, seine Kunden künftig ausschließlich auf Kurdisch zu bedienen. Die Behörden werfen dem Gastronomen vor, durch sein Vorhaben terroristische Propaganda zu betreiben, ein diesbezügliches Strafverfahren wurde eingeleitet. Zuvor war der Cafébesitzer bereits in den sozialen Medien angefeindet worden (BAMF 3.6.2024, vgl. BIRN 30.5.2024).
Im Sommer 2024 wurden an mehreren Orten Hochzeitsgäste, die kurdische Lieder sangen und kurdische Tänze tanzten von der Polizei verhaftet bzw. wurde Anklage wegen "Verbreitung von Terrorismuspropaganda" erhoben. Dieses Verbrechen kann mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte schon zuvor entschieden, dass das Singen von Volksliedern oder das Vortragen von Gedichten, das Rufen allgemeiner Slogans, auch bei öffentlichen Versammlungen, oder der Verweis auf den 40-jährigen Aufstand der bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gegen das türkische Militär rechtlich erlaubte Meinungsäußerungen darstellen. Denn der Inhalt der Lieder und Slogans auf den Hochzeitsfeiern und anderswo ruft weder zur Gewalt auf noch stellt er eine unmittelbare Gefahr für Personen dar, die eine strafrechtliche Verfolgung rechtfertigen könnte (HRW 15.8.2024). - Mehr als 30 Verhaftungen erfolgten im Juli in den Provinzen Istanbul, Aydın, Mersin, Ağrı, Siirt, Batman und Hakkâri. So wurden am 27.7.2024 Presseberichten zufolge insgesamt elf Personen verhaftet, die in Istanbul bei verschiedenen Hochzeiten laut eines Istanbuler Gerichts "Propaganda für terroristische Organisationen" betrieben haben sollen. In Hakkâri kam es am 28.7.2024 zu Razzien während Hochzeitsfeierlichkeiten, da auf jenen kurdische Lieder gespielt und dazu getanzt worden sei. Berichten zufolge sollen bei den Razzien eine nicht näher bekannte Anzahl an Musikern und Hochzeitsgästen ebenfalls unter dem Vorwurf der "Propaganda für eine terroristische Organisation" festgenommen worden sein. Am 5.8.2024 wurden fünf Personen festgenommen, da sie auf einer Hochzeit in der Provinz Osmaniye kurdischsprachige Lieder gesungen, den kurdischen Volkstanz "Halay" aufgeführt und die Hochzeitsfahrzeuge mit gelben und roten Luftschlangen geschmückt haben sollen. Unter den Festgenommenen waren auch die beiden Ko-Vorsitzenden der Partei für Gleichheit und Demokratie (DEM) des Bezirks Osmaniye (BAMF 12.8.2024, S. 7; vgl. Bianet 30.7.2024, MLSA 1.8.2024). Am 10.8.2024 führte die Istanbuler Polizei eine Razzia bei einer Hochzeit im Stadtteil Esenyurt durch, bei der acht Personen festgenommen wurden, darunter die Gastgeber der Hochzeit und Musiker. Die Razzia wurde Berichten zufolge durch das Abspielen "politischer Lieder" ausgelöst. Fünf der acht Personen, die wegen "Propaganda für eine terroristische Organisation" angeklagt waren, wurden nach ihrer Aussage auf dem Polizeirevier Kıraç wieder freigelassen. Drei Musiker, die nach ihrer Aussage an die Staatsanwaltschaft verwiesen wurden, wurden mit dem Antrag auf Freilassung auf Bewährung an das Gericht verwiesen, welches die Musiker in Folge auf Bewährung freiließ (Mezopotamya 12.8.2024; vgl. Bianet 12.8.2024). Und auch Ende Oktober 2024 wurde laut Medienberichten eine kurdische Familie, diesmal von türkischen Nationalisten, angegriffen, nachdem sie bei einer Hochzeit im türkischen Bezirk Çanakkale kurdische Musik gespielt hatte (SCF 28.10.2024; vgl. Medya 28.10.2024).
Stellung der kurdischen Sprache im Bildungssystem
Der Gebrauch des Kurdischen ist stark rückläufig, insbesondere unter der kurdischen Jugend, auch wenn es kein offizielles Verbot gibt. Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er-Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt. Die türkische Verfassung erkennt allerdings nur Türkisch als Amtssprache des Landes an. Somit genießt das Kurdische keinen rechtlichen Schutz (MBZ 2.2025a, S. 55; vgl. AA 20.5.2024, S. 10), so auch nicht als Unterrichtssprache (ÖB Ankara 4.2025, S. 40). Unterricht in kurdischer Sprache ist an öffentlichen Schulen seit 2012 im Ausmaß von zwei Stunden ab einer Schülerzahl von zehn (Duvar 5.12.2024; vgl. AA 20.5.2024) und an privaten Einrichtungen seit 2014 möglich (als Wahlpflichtfach). Der Unterricht wird in der Praxis aufgrund faktischer Barrieren aber oftmals nicht angeboten (AA 20.5.2024). Mit Stand Dezember 2024 gab es diese Möglichkeit jedoch nur in 13 Städten. Umfragen zeigen, dass es an Lehrkräften für den Kurdisch-Unterricht mangelt. In anderen Fällen wussten die Eltern nicht, dass ihr Kind Kurdischunterricht nehmen durfte. - 2020 wussten einer Umfrage zufolge nur 30 % der kurdischen Eltern, dass es die Möglichkeit zu Kurdischunterricht gibt. - Die Eltern trauten sich oft nicht zu fragen. In letzterem Fall befürchteten sie, mit der PKK in Verbindung gebracht zu werden (Duvar 5.12.2024; vgl. MBZ 2.2025a, S. 57). Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18 % der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift, wobei die Kurdischkenntnisse vor allem in den Großstädten zurückgehen (ÖB Ankara 4.2025, S. 40; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch (Kurmanci und Zazaki). Nur wenige politische Parteien haben muttersprachlichen Unterricht ausdrücklich in ihre Wahlprogramme aufgenommen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur wirken sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur aus, und eine Reihe von Kunst- und Kulturgruppen in kurdischer Sprache wurden von den Treuhändern entlassen (EC 8.11.2023; S. 44; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 40). Unzählige Konzerte, Festivals und kulturelle Veranstaltungen wurden von den Gouvernements und Gemeinden mit der Begründung "Sicherheit und öffentliche Ordnung" verboten. Kurdische Kultur- und Sprachinstitutionen, Medien und zahlreiche Kunsträume blieben größtenteils geschlossen, wie schon seit dem Putschversuch 2016 (EC 30.10.2024; S. 35). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern sowie deren Verteilung, oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB Ankara 4.2025, S. 40f.). 2024 führte die Entscheidung des Bildungsministeriums, von 20.000 neuen Lehrerstellen nur zehn Stellen für Kurdischlehrer (sechs Lehrer für den Kurmanci-Dialekt und vier für Zazaki) zu vergeben, zu heftigen Reaktionen von Politikern und Organisationen der Zivilgesellschaft, die argumentieren, dass dadurch das Recht der Kurden auf Bildung in ihrer Muttersprache untergraben wird (SCF 9.5.2024; vgl. VOA 9.5.2024).
Laut einem kürzlich vom Kurdish Studies Center veröffentlichten Bericht sprechen 30 % der Kurden Kurdisch auf einem fortgeschrittenen Niveau und 31 % auf einem mittleren Niveau. Für zwei von fünf Personen spielt die Sprache in ihrem Leben fast keine Rolle. Es besteht auch eine starke Korrelation zwischen der Stärke der kurdischen Identität und dem Niveau der kurdischen Sprachkenntnisse. Während bei denjenigen mit einer sehr starken kurdischen Identität der Anteil der Kurdisch Sprechenden 50 % erreicht, sprechen nur 7,5 % derjenigen mit einer schwachen kurdischen Identität gut Kurdisch (KSC 12.2023, S. 15). Dieselbe Studie zeigt auf, dass mehr als die Hälfte der Kinder kurdischsprachiger Eltern nicht gut Kurdisch sprechen (MRG 29.4.2024, S. 19).
Ab 2016 richtete sich der zunehmende Druck auf die kurdische politische Bewegung direkt gegen diese Sprachkurse und die Vereine, die sie anboten, was zu ihrer Schließung führte. Obwohl sowohl Präsenz- als auch Online-Kurse von neuen Vereinen wie der 2017 gegründeten Mesopotamian Language and Culture Research Association (MED-DER) angeboten werden, stehen diese Einrichtungen unter ständiger staatlicher Überwachung. Die Teilnehmer dieser Kurse laufen Gefahr, als verdächtig eingestuft zu werden, ohne die Möglichkeit zu haben, eine solche Profilerstellung vorherzusehen (MRG 29.4.2024, S. 17).
Verwendung des Kurdischen in den Medien, im Kulturbereich und Gefängnissen
Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache (ÖB Ankara 4.2025, S. 40; vgl. FES 11.12.2024). Nicht-staatliche kurdische Medien dagegen haben wirtschaftlich wie politisch große Schwierigkeiten (FES 11.12.2024). Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB Ankara 4.2025, S. 40). Allerdings wurden mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 viele Vereine, private Theater, Kunstwerkstätten, Medienunternehmen und ähnliche Einrichtungen, die im Bereich der kurdischen Kultur und Kunst tätig sind, geschlossen (İBV 7.2021, S. 8; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 40), bzw. wurden ihnen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen auferlegt (K24 10.4.2022). Beispiele von Konzertabsagen wegen geplanter Musikstücke in kurdischer Sprache sind ebenso belegt wie das behördliche Vorladen kurdischer Hochzeitssänger zum Verhör, weil sie angeblich "terroristische Lieder" sangen (AlMon 10.8.2022; vgl. KurdLRMRP 2.2025, S. 14-18).
Auch 2024 wurde im kulturellen Raum die kurdische Sprache beschnitten. Am 16.1.2024 untersagten die türkischen Behörden eine Theateraufführung in kurdischer Sprache (unter dem Titel "Qral û Travis" - "Der König und Travis") in der östlichen Stadt Patnos in der Provinz Ağrı. Dabei wurde vom Organisator seitens des Sicherheitsbüros neben dem Plakat und dem Skript des Stücks auch dessen Vorstrafenakte angefordert. Als einzigen Grund gaben die Behörden an, die Aufführung sei "unangemessen". Dies sorgte für Verwunderung, da die Aufführung bereits in anderen Teilen der Türkei aufgeführt worden war (Duvar 23.1.2024). Allerdings wurde die Aufführung selbigen Stückes im Februar 2024 in mehreren Städten ebenfalls verhindert. In Istanbul verbot die Bezirksverwaltung Şişli das Stück ohne Angabe von Gründen. Das Publikum wurde daran gehindert, den Saal zu betreten. Die Schauspieler wurden gewaltsam vom Veranstaltungsort entfernt. Schauspieler und andere, die gegen das Verbot protestierten, wurden festgenommen (KurdLRMRP 2.2025, S. 9). Am 21.2.2024, dem Internationalen Tag der Muttersprachen, untersagten die Behörden ein Konzert von Kemal Kahraman in kurdischer Sprache in der östlichen Stadt Bingöl. Die Behörden gaben keinen Grund dafür an (Bianet 22.2.2024; vgl. Rudaw 21.2.2024). Im Mai 2024 wurden mehrere Konzerte der kurdischen Sängerin Sasa Serap behördlich abgesagt (KurdLRMRP 2.2025, S. 9). Im September wurden drei Mitglieder der kurdischen Musikgruppe Koma Hevra festgenommen, weil sie in Diyarbakır kurdische Lieder während eines Konzertes, das von der Stadtverwaltung Diyarbakır organisiert wurde, am Dağkapı Square sangen. Den Mitgliedern wurde vorgeworfen, aufgrund des Inhalts der von ihnen vorgetragenen kurdischen Lieder "Propaganda für eine Organisation" zu machen. Nach einer Befragung bei der Anti-Terror-Abteilung der Polizeibehörde von Diyarbakır wurden sie noch am selben Tag wieder freigelassen (MLSA 1.10.2024; vgl. KurdLRMRP 2.2025, S. 10). Im Oktober 2024 entschied das türkische Ministerium für Kultur und Tourismus, dass der Film Rojbash nicht für den Vertrieb geeignet sei. In diesem Spielfilm spielte eine Gruppe kurdischer Schauspieler mit. In dem Film wurde hauptsächlich die kurdische Sprache vertont. Die Behörden gaben keinen konkreten Grund für diese Entscheidung an. Der Filmemacher interpretierte die Entscheidung als eine Maßnahme, um den Gebrauch des Kurdischen einzuschränken (MBZ 2.2025a, S. 56; vgl. MLSA 10.10.2024). Am 22.12.2024 gab YEWKURD, ein Verband kurdischer Verleger, bekannt, dass die Behörden in den drei Wochen zuvor 120 Bücher, Zeitschriften, Zeitungen und andere Veröffentlichungen in kurdischer Sprache verboten hatten. Einige Bücher befassten sich mit politisch sensiblen Themen, wie dem Verlauf des syrischen Bürgerkriegs in Afrin, einer Region, in der viele Kurden leben. Andere Bücher taten dies nicht, wurden aber ebenfalls verboten, wie etwa ein Buch über kurdische Mythologie (MBZ 2.2025a, S. 57; vgl. Duvar 22.12.2024).
Die Polizei nahm am 5.3.2025 im Rahmen einer laufenden Untersuchung unter der Leitung der Generalstaatsanwaltschaft Istanbul vier kurdische Buchautoren fest. Die Behörden gaben deren Beteiligung an der Erstellung von "Hînker", einem Lehrbuch in kurdischer Sprache, als Grund für ihre Festnahme an. Das Buch, das erstmals 2008 entwickelt wurde, wird von kurdischen Institutionen, darunter dem Kurdischen Institut Istanbul, in großem Umfang als Bildungsressource genutzt (Duvar 5.3.2025; vgl. C8 6.3.2025, Medya 6.3.2025). Die Staatsanwaltschaft gab an, dass die Autoren aufgrund des Inhalts des Buches, das "organisatorische Ideologie" enthalte, verhaftet wurden. Behauptet wird, dass die PKK das Buch verwendet habe, um ihren Mitgliedern die kurdische Sprache beizubringen (C8 6.3.2025; vgl. Medya 6.3.2025).
In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen auch in Gefängnissen zu Schwierigkeiten führen. - Gefangene im Typ-T-Gefängnis von Afyon berichteten im März 2024, dass die Gefängnisverwaltung bei denjenigen eingreift, die kurdische Musik hören. In ihrer Erklärung sagten die Gefangenen, dass die Wärter mit den Worten eingegriffen: "Ihr hört kurdische Lieder, schaltet keine kurdischen Lieder ein". Die Insassen beschwerten sich und bezeichneten die Vorgangsweise als Angriff auf ihre (kurdische) Sprache. Die Wärter sollen erwidert haben: "Hört keine kurdischen Lieder und keine kurdischen Nachrichten". Die Insassen berichteten auch, dass die von ihnen auf Kurdisch verfassten oder erhaltenen Briefe konfisziert wurden, mit der Rechtfertigung, dass es keinen Dolmetscher gebe. Insassen aus dem Hochsicherheitsgefängnis Tekirdağ (F-Typ), die sich an die Menschenrechtsvereinigung (İHD) wandten, gaben an, dass sie daran gehindert werden, Bücher zu bekommen, insbesondere auf Kurdisch, dass sie aufgefordert werden, für einen Übersetzer zu bezahlen, der die Bücher übersetzt, und dass ihnen keine Briefe und Schriften in kurdischer Sprache ausgehändigt werden. Auch Hochsicherheitsgefängnis Kırşehir wurde von den Insassen die Bezahlung für die Übersetzung kurdischer Bücher verlangt (KurdLRMRP 2.2025, S. 21). Ein Gefängnis in der türkischen Provinz Şırnak hat im August 2024 ein Verbot des Gebrauchs der kurdischen Sprache bei Telefongesprächen zwischen Insassen und ihren Familien verhängt (SCF 12.8.2024; vgl. TR724 12.8.2024). Familien wurden gezwungen, während offener Besuche im Erzincan L-Typ-Gefängnis "auf Türkisch zu sprechen" (KurdLRMRP 2.2025, S. 21).
Amtliche Verwendung des Kurdischen und dessen neuerliche Einschränkung
In den letzten Jahren haben die Behörden kurdische Ortsnamen in vielen Dörfern und Stadtvierteln wieder eingeführt, obwohl diese in einigen Fällen inzwischen wieder entfernt wurden (DFAT 16.5.2025, S. 12; vgl. MRG 29.4.2024, S. 19). Die vom Staat ernannten Treuhänder im Südosten änderten weiterhin die ursprünglichen (kurdischen) Straßennamen und Namen von Kulturzentren (EC 30.10.2024; S. 35). Im August 2024 sind in der Provinz Diyarbakır auf Anweisung des Gouverneursamtes zum wiederholten Male kurdischsprachige Verkehrsschilder entfernt worden. Das Innenministerium hatte zuvor eine Richtlinie erlassen, wonach alle Verkehrsschilder den von der türkischen Generaldirektion für Autobahnen (KGM) festgelegten Standards entsprechen müssten. Die KGM hatte die Entfernung der kurdischen Verkehrsschilder auf Anweisung des Ministeriums veranlasst, aber die Gemeinden hatten die Schilder zunächst in Van und anschließend in Diyarbakır, Batman und Mardin wieder aufgestellt. Die Schilder seien nun in Diyarbakır ein zweites Mal entfernt worden. Laut dem Vize-Vorsitzenden der Anwaltskammer von Diyarbakır gebe es keine rechtlichen Hindernisse, die Gemeinden daran hindern, öffentliche Dienstleistungen in verschiedenen Sprachen anzubieten und außerdem gebe es seit 15 Jahren Warnschilder auf Kurdisch in Diyarbakır (BAMF 12.8.2024, S. 7f., vgl. Bianet 31.7.2024a, MLSA 1.8.2024).
2013 wurde per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch, somit vor allem Kurdisch, vor Gericht und in öffentlichen Ämtern und Einrichtungen (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 4.2025, S. 41). Trotz einiger Fortschritte stellt das Fehlen von Übersetzungsdiensten für nicht-türkischsprachige Personen im öffentlichen Raum, insbesondere in wichtigen Bereichen wie dem Gesundheits- und Sozialwesen, nach wie vor eine große Herausforderung dar. Darüber hinaus werden trotz des bestehenden Rechtsrahmens keine Übersetzungsdienste vor Gericht angeboten (MRG 29.4.2024, S. 19). 2013 kündigte die türkische Regierung im Rahmen einer Reihe von Reformen ebenfalls an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022; vgl. MRG 29.4.2024, S. 19). Das Verfassungsgericht sah im diesbezüglichen Verbot durch ein lokales Gericht jedoch keine Verletzung der Rechte der Betroffenen (Duvar 25.4.2022).
Verwendung des Begriffes "Kurdistan"
Obwohl der einstige türkische Staatspräsident Abdullah Gül bei seinem historischen Besuch 2009 im Nachbarland Irak zum ersten Mal öffentlich das Wort "Kurdistan" in den Mund nahm, auch wenn er sich auf die irakische autonome Region bezog, galt dies damals als Tabubruch (FAZ 24.3.2009). Laut dem pro-kurdischen Internetportal Bianet lassen sich etliche Beispiele finden, wonach das Wort "Kurdistan" in der Türkei je nach der politischen Atmosphäre gesagt oder nicht gesagt werden kann. Das Wort "Kurdistan" zu sagen, kann eine Beleidigung sein oder auch nicht. Aber am gefährlichsten ist es immer, wenn Kurden "Kurdistan" sagen (Bianet 16.7.2019). - Während auch Erdoğan, damals Regierungschef, den Begriff anlässlich des Besuchs des Präsidenten der Kurdischen Region im Nordirak, Massoud Barzani, in Diyarbakır im Oktober 2013 verwendete (DW 19.11.2013), kam es kaum einen Monat später zu Spannungen im türkischen Parlament, weil in einem Bericht der pro-kurdischen BDP [Vorgängerpartei der HDP] zum Budgetentwurf der Regierung der Begriff "Kurdistan" zur Beschreibung der kurdischen Siedlungsgebiete in Ost- und Südostanatolien auftauchte. Die anderen Parteien im Parlament wandten sich gegen die Benutzung des Wortes, das bei türkischen Nationalisten als Ausdruck eines kurdischen Separatismus gilt. Während einer Debatte über den BDP-Bericht gingen Abgeordnete von BDP und ultra-nationalistischen MHP aufeinander los (Standard 10.12.2013). - Nach der parlamentarischen Geschäftsordnung können Abgeordnete wegen der Verwendung des Wortes "Kurdistan" oder anderer sensibler Begriffe im Plenum des Parlaments verwarnt oder vorübergehend aus dem Parlament ausgeschlossen werden. Die Behörden wendeten dieses Verfahren nicht einheitlich an (USDOS 22.4.2024, S. 28).
2019 sagte Binali Yıldırım, der AKP-Kandidat für das Amt des Bürgermeisters von İstanbul und ehemaliger Ministerpräsident, auf einer Kundgebung vor den Wahlen "Kurdistan", und als er darauf angesprochen wurde, antwortete er, dass das Wort Kurdistan jenes sei, welches Mustafa Kemal Atatürk für die Vertreter verwendet hatte, die während des Unabhängigkeitskampfes vor der Gründung der Republik aus dieser Region kamen. Für die "Vereinigung der Jugendbewegung Kurdistans" in Istanbul hingegen erklärte das Innenministerium, dass die Verwendung des Wortes "Kurdistan" ein Verstoß gegen Artikel 14 der Verfassung und Artikel 302 des türkischen Strafgesetzbuches sei. Es dürfe nicht im Namen einer Vereinigung verwendet werden. Es folgte eine Klage gegen den Verein (Bianet 16.7.2019). Und im Oktober 2021 verhaftete die Polizei in Siirt vorübergehend einen kurdischen Geschäftsmann, nachdem er während eines Streits mit einem nationalistischen Politiker seine Stadt als Teil von "Kurdistan" bezeichnet hatte. Ihm wurde vorgeworfen, Propaganda für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu machen (Rudaw 29.10.2021).
Die Auseinandersetzung hinsichtlich der Verwendung des Begriffes "Kurdistan" hat mittlerweile selbst den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erreicht. - Dieser entschied am 13.6.2023, dass die türkischen Behörden die Rechte des ehemaligen Abgeordneten der Demokratischen Volkspartei (HDP), Osman Baydemir, verletzt hatten, indem sie gegen ihn eine Strafe verhängten, weil er 2017 während einer Rede im Parlament den Begriff "Kurdistan" verwendet hatte. In seinem Urteil vom 13.6.2023 stellte der EGMR fest, dass Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über "Meinungsfreiheit" verletzt worden sei. Der EGMR verurteilte die Türkei zur Zahlung einer Entschädigung von fast 17.000 Euro an Baydemir (Duvar 13.6.2023; vgl. ECHR 13.6.2023).
Die Thematik bleibt allerdings aktuell. - So entschied das Verfassungsgericht zugunsten von Abdurrahim Kılıç, der zuvor wegen des Tragens eines T-Shirts mit dem Wort "Kurdistan" und dem Emblem der Mesopotamischen Sonne verurteilt worden war. Im Jahr 2016 verurteilte ihn das schwere Strafgericht Midyat wegen "terroristischer Propaganda" zu einer Geldstrafe von 7.300 Lira [Anm.: zum damaligen Kurs um die 2.200 Euro]. Infolge der Bestätigung des Urteils durch den Kassationsgerichtshof 2021 reichte Kılıç eine Individualbeschwerde beim Verfassungsgericht ein. Am 12.6.2024 entschied das Verfassungsgericht, dass Kılıçs Recht auf freie Meinungsäußerung, das durch Artikel 26 der Verfassung geschützt ist, verletzt worden war. In seinem ausführlichen Urteil kritisierte das Gericht die mangelnde Begründung der Vorinstanz für die Verurteilung von Kılıç und stellte fest, dass in dem Urteil weder die Bedeutung der Symbole auf dem T-Shirt noch ihre angebliche Verbindung zu einer terroristischen Organisation erläutert wurde. Darüber hinaus wies das Gericht darauf hin, dass nicht bewertet wurde, inwiefern das Tragen des T-Shirts zu Gewalt aufrief oder die öffentliche Ordnung bedrohte (Bianet 31.7.2024b; vgl. IFE 2.8.2024, Duvar 30.7.2024).
II.1.6.13. Relevante Bevölkerungsgruppen
II.1.6.13.1. Frauen
Allgemeiner Rechtsrahmen, Rechtsdefizite und die generelle Lage der Frauen
Die türkische Gesetzgebung verankert die Gleichheit von Mann und Frau in Art. 10 der Verfassung (ÖB Ankara 4.2025, S. 49; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 65f., DFAT 16.5.2025, S. 28). Frauen sind in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens vertreten. Dennoch bestehen nach wie vor erhebliche soziale, kulturelle und religiöse Hindernisse für die Gleichstellung der Geschlechter, und Männer dominieren in der Regel die Machtpositionen (DFAT 16.5.2025, S. 28; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 65f.). Frauen sehen sich de facto mit Hindernissen für die politische Teilhabe konfrontiert und sind in der Politik und in Führungspositionen der Regierung weiterhin unterrepräsentiert. Nach den Wahlen 2023 hielten Frauen etwa 20 % der Sitze in der Großen Nationalversammlung inne, ein leichter Anstieg gegenüber den Wahlen 2018 (FH 26.2.2025, B4; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 28). Frauen leiden Berichten zufolge unter geschlechtsspezifischer Diskriminierung und Gewalt, und trotz eines relativ fortschrittlichen rechtlichen Umfelds und der historischen Anerkennung der Gleichstellung der Geschlechter war der staatliche Schutz für Frauen nicht immer verfügbar oder wirksam (DFAT 16.5.2025, S. 28; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 65f.).
Gewalt gegen Frauen sowie sexuelle Übergriffe, inklusive Vergewaltigung - auch in der Ehe - sind unter Strafe gestellt (ÖB Ankara 4.2025, S. 49), und zwar mit zwei bis zehn Jahren Freiheitsentzug bei Verurteilung wegen versuchten sexuellen Missbrauchs und mindestens zwölf Jahren bei Verurteilung wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung (USDOS 22.4.2024, S. 63). Allerdings ist Gewalt gegen Frauen, inklusive Ehrenmorde, Zwangsehen sowie häusliche Gewalt, nach wie vor weit verbreitet, da es keine wirksamen und abschreckenden Strafen gibt, die Gesetze nur unzureichend umgesetzt werden und die Qualität der verfügbaren Unterstützungsdienste gering ist. Auch die Zahl der Femizide ist nach wie vor hoch. Tief verwurzelte kulturelle Normen und fortbestehende Geschlechterstereotypen behindern weiterhin Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter (EC 30.10.2024, S. 34; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 49, USDOS 22.4.2024, S. 63).
Zwar wurden in den letzten 15 Jahren zahlreiche neue Gesetze - insbesondere 2012 das Gesetz Nr. 6284 über den Schutz der Familie und die Verhütung von Gewalt - und politische Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen verabschiedet, inklusive der Bekämpfung häuslicher Gewalt, doch gibt es in fast allen Bereichen der Sozialpolitik, die mit Frauenrechten zu tun haben - von sexueller Gewalt über häusliche Gewalt bis hin zu Menschenhandel - erhebliche Umsetzungslücken, die weiterhin eine große Herausforderung darstellen. So werden im Strafgesetzbuch nicht alle Arten von Gewalt gegen Frauen als Straftaten definiert. Zwangsheirat oder psychische Gewalt werden nicht ausdrücklich unter Strafe gestellt. Besorgniserregend ist laut Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen der Vereinten Nationen auch die Unvereinbarkeit und mangelnde Harmonisierung der nationalen Gesetze der Türkei mit ihren internationalen Menschenrechtsverpflichtungen (OHCHR 27.7.2022a, S. 4). Das UN-Komitee für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW-Komitee) begrüßte 2022 die bedeutenden Rechtsreformen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, und dass das Gesetz Nr. 6284 aus dem Jahr 2012 über den Schutz der Familie und die Verhütung von Gewalt gegen Frauen einen wichtigen Rahmen für die Gewaltprävention und den Schutz der Opfer bildet. CEDAW stellte jedoch mit Besorgnis fest, dass sowohl der Geltungsbereich der bestehenden Rechtsvorschriften als auch ihre Umsetzung noch Lücken aufweisen (UN-CEDAW 12.7.2022, S. 7f.) bzw. die Umsetzung und Durchsetzung der bestehenden Rechtsmittel, wie sie im Schutzgesetz vorgesehen sind, weiterhin zu wünschen übrig lässt (MBZ 2.2025a, S. 79). Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte (European Committee of Social Rights) des Europarates stellte in seinem Länderbericht 2023 zur Türkei fest, dass die Situation in der Türkei nicht mit Artikel 16 der Charta vereinbar ist, und zwar weil nicht nachgewiesen wurde, dass Frauen in der Gesetzgebung und in der Praxis ein angemessener Schutz vor häuslicher Gewalt gewährleistet wird (CoE-ECSR 3.2024, S. 26).
Der UN-Ausschuss gegen Folter (CAT) zeigte sich im August 2024 hinsichtlich der Vorwürfe besorgt, dass präventive und schützende einstweilige behördliche Verfügungen nicht für einen ausreichenden Zeitraum gewährt werden, dass Beschwerden über geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt häufig abgewiesen werden, insbesondere in ländlichen Gebieten und wenn es um LGBT-Personen geht, und dass die Bereitstellung von Unterkünften diskriminierend ist für ältere Frauen und Frauen mit jugendlichen Söhnen oder Kindern mit Behinderungen (CAT 14.8.2024, S. 9/32). Entsprechend den Bedenken des Ausschusses, so die türkische Frauenrechtsorganisation Mor Çatı, sind die Verurteilungsraten bei Gewalt gegen Frauen niedrig, und es gibt große Probleme bei der Ermittlung von Fällen von Gewalt gegen Frauen und der Strafverfolgung der Täter (Mor Çatı 17.7.2024).
Der UN-Menschenrechtsausschuss zeigte sich im November 2024 besorgt über die sehr hohe Zahl von Femiziden und anderen Tötungen im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt und sogenannten Ehrenverbrechen sowie über das Fehlen wirksamer Präventions- und Schutzmaßnahmen, effektiver Ermittlungen und strafrechtlicher Verfolgung der Täter. Der Ausschuss war besorgt ob der Berichte über die Normalisierung von Gewalt gegen Frauen und glaubwürdige Berichte über Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, gegen Frauen in Haftanstalten und über den fehlenden Zugang zu medizinischer Versorgung von Frauen, die verdächtigt werden, mit der Gülen-Bewegung verbunden zu sein. Der Ausschuss war weiters besorgt darüber, dass Frauen, die Opfer jeglicher Art von Gewalt geworden sind, angesichts der Passivität der Behörden und des Risikos der Stigmatisierung und Reviktimisierung (UNHRCOM 28.11.2024, S. 4).
Zuletzt brachte das Europäische Parlament "seine tiefe Besorgnis über die Rückschritte bei den Frauenrechten, die geschlechtsspezifische Gewalt und die Zunahme von Femiziden in der Türkei im Jahr 2024 zum Ausdruck, die den höchsten Stand seit 2010 [...] erreichte [und] fordert[e] die türkischen staatlichen Stellen nachdrücklich auf, den Rechtsrahmen und seine Umsetzung zu verbessern, auch durch die uneingeschränkte Anwendung des Schutzgesetzes Nr. 6284, damit wirksam gegen alle Formen von Gewalt gegen Frauen und die Praxis der sogenannten "Ehrenmorde" vorgegangen wird und der anhaltenden Politik der Straffreiheit ein Ende gesetzt wird, indem die Täter zur Rechenschaft gezogen werden" (EP 7.5.2025, Pt. 27).
Austritt aus der "Istanbul-Konvention" - politische Gründe
Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention trat mit 1.7.2021 in Kraft (ÖB Ankara 4.2025, S. 49; vgl. AP 19.7.2022). Das Gesetz zum Schutz der Familie und zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen (Gesetz Nr. 6284) aus dem Jahr 2012 übernahm allerdings viele Aspekte der Istanbul-Konvention in das innerstaatliche Recht und bleibt trotz des Austritts der Türkei aus der Konvention in Kraft. Darüber hinaus ist die Türkei an andere internationale Menschenrechtsvorschriften gebunden, die sie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verpflichten. Zu nennen sind hier insbesondere das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) (HRW 5.2022, S. 2, 5). Die Bewertung der Auswirkungen des Austritts der Türkei aus der Istanbul-Konvention erwies sich als recht schwierig. Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge wirkte sich der Austritt der Türkei aus diesem Vertrag vor allem auf der politischen Ebene aus. Nach dem Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention legten die türkischen Behörden ihren eigenen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vor. Der Aktionsplan enthielt weder einen Hinweis auf die "Gleichstellung der Geschlechter" noch waren Frauenrechtsorganisationen bei seiner Ausarbeitung konsultiert worden (MBZ 31.8.2023, S. 59).
Seinerzeit wurde die Istanbul-Konvention als erste internationale völkerrechtsverbindliche Vereinbarung vom damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan als einem der ersten 2011 unterschrieben und im Parlament 2012 ratifiziert. Seit Jahren wurde insbesondere von den Islamisten innerhalb und außerhalb der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Kritik an der Konvention immer lauter, nämlich dahin gehend, dass diese die Ordnung in der Familie untergrabe, die Scheidungsrate steigere und überhaupt hierdurch die Frau dem Manne den Gehorsam verweigere. Außerdem sahen islamisch-konservative Kreise in der Konvention auch einen Türöffner für die von ihnen verhasste "LGBTIQ-Kultur" und überhaupt für das Vordringen vermeintlicher westlicher Dekadenz (Standard 20.3.2021; vgl. AP 20.3.2021, NZZ 21.3.2021).
Kinder-, Früh- und Zwangsehen
Kinder-, Früh- und Zwangsehen sind in den letzten Jahren zurückgegangen, kommen aber immer noch vor. Lokalen Quellen des australischen Außenministeriums zufolge werden in streng religiösen Gemeinschaften, darunter auch in städtischen Gebieten, manchmal Ehen mit Mädchen im Alter von nur zehn Jahren geschlossen, die erst gemeldet werden, wenn das Mädchen zur Entbindung ins Krankenhaus kommt. Auch in einigen syrischen Flüchtlingsgemeinschaften sollen Kinderheiraten weit verbreitet sein (DFAT 16.5.2025, S. 29).
Während ihrer langjährigen Regierungsherrschaft hat die konservative AK-Partei eine starke Agenda der Familienwerte vorangetrieben: Frauen sollten heiraten bzw. sich nicht scheiden lassen und drei Kinder bekommen, so z. B. Präsident Erdoğan (FH 26.2.2025, G4 vgl. NYRB 20.2.2019). Empfängnisverhütung ist nach wie vor legal, aber der Zugang dazu wird immer schwieriger (FH 26.2.2025, G4).
Gesetzliche Beschränkungen gibt es für das Recht der Frauen auf Wiederverheiratung, das eine 300-tägige Wartezeit nach der Auflösung einer Ehe vorschreibt (mit der Geburt eines Kindes endet auch die Wartezeit) (USDOS 22.4.2024, S. 65f.).
Menschenhandel
Laut der Expertengruppe des Europarates gegen Menschenhandel (GRETA) waren im Jahr 2023 von 1.466 Opfern des Menschenhandels 82 % weiblich. Die vorherrschende Form der Ausbeutung [ohne Geschlechtsdifferenzierung bei den Zahlen] ist nach wie vor die sexuelle Ausbeutung (758 Opfer, d. h. 52 %), gefolgt von der Ausbeutung der Arbeitskraft (441 Opfer, d. h. 30 %) und der Zwangsheirat (132 Opfer, d. h. 9 %). Nach Angaben von Vertretern von NGOs gegenüber GRETA sind die Frauenschutzhäuser für Opfer von Menschenhandel unzureichend für die Unterbringung von Opfern des Menschenhandels, da sie deren Bedürfnissen nicht gerecht werden und ihr Personal keine oder nur sehr begrenzte Kenntnisse über Menschenhandel hat. Die staatliche Institution des Nationale Berichterstatters (HREI) hat dem Ministerium für Familie und Soziales empfohlen, eine spezielle Schutzeinrichtung für Opfer von Menschenhandel zu öffnen (CoE - GRETA 22.10.2024, S. 6, 36; vgl. TİHEK/HREI 3.2023, S. 36).
Gesetzliche Schutzmaßnahmen und deren praktische Umsetzung/ Verschärfungen des Strafrechts bezüglich Gewalt gegen Frauen
Das Gesetz verpflichtet die Polizei und die lokalen Behörden, Überlebenden von Gewalt oder von Gewalt bedrohten Personen verschiedene Schutz- und Unterstützungsleistungen zu gewähren. Es schreibt auch staatliche Dienstleistungen wie Unterkünfte und vorübergehende finanzielle Unterstützung für Überlebende vor und sieht vor, dass Familiengerichte Sanktionen gegen die Täter verhängen können (USDOS 22.4.2024, S. 63). Opfer häuslicher Gewalt können bei der Polizei oder beim Staatsanwalt am Gericht eine vorbeugende Verwarnung beantragen, die eine Reihe von Maßnahmen umfassen kann, die darauf abzielen, Täter häuslicher Gewalt zu zwingen, alle Formen der Belästigung und des Missbrauchs einzustellen, einschließlich des Verbots, sich dem Opfer zu nähern und es zu kontaktieren. Die Opfer haben auch das Recht, Schutzanordnungen zu beantragen, um verschiedene Formen des physischen Schutzes zu erwirken, einschließlich des sofortigen Zugangs zu einem Frauenhaus oder einer kurzfristigen Unterkunft, wenn kein Frauenhaus in unmittelbarer Nähe zur Verfügung steht. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, auf Verlangen Polizeischutz in Anspruch zu nehmen, und in einigen Fällen können Frauen ihre Identität und ihren Aufenthaltsort anonymisieren lassen. Die Gerichte stellen eine einstweilige Verfügung für eine bestimmte Dauer von bis zu sechs Monaten. Das Opfer kann deren Verlängerung beantragen. Täter können mit kurzen Haftstrafen (zorlama hapsi) belegt oder zum Tragen einer elektronischen Fußfessel verpflichtet werden, wenn sie gegen die Bedingungen der vorbeugenden Abmahnung verstoßen (HRW 5.2022, S. 2).
Laut Generaldirektion für die Stellung der Frau des türkischen Ministeriums für Familie, Arbeit und soziale Dienste gibt es verschiedene öffentliche Einrichtungen, die dem Schutze der Frauen dienen. Exemplarisch, nebst den Einrichtungen der Polizei, Gendarmarie, den Hospitälern usw., sind insbesondere folgende zu nennen: Die Zentren für Gewaltprävention und -überwachung (Violence Prevention and Monitoring Centres - VPMCs/ Şiddet Önleme ve İzleme Merkezleri - ŞÖNİM) bieten im Rahmen des Gesetzes Nr. 6284 über den Schutz der Familie und die Verhütung von Gewalt gegen Frauen psychosoziale, rechtliche, gesundheitliche und wirtschaftliche Unterstützung, Bildungs- und Berufsberatung sowie Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen für Gewaltopfer an. Im Rahmen des Gesetzes Nr. 6284 erbringen die VPMC/ŞÖNİM derzeit Dienstleistungen in 81 Provinzen. So nicht vorhanden, übernehmen andere Einrichtungen, wie beispielsweise die Provinzdirektionen des Ministeriums für Familie, Arbeit und Soziales, die Rolle der ŞÖNİM. In den Großstädten wurden Ermittlungsbüros für häusliche Gewalt (Juli 2023 gab es 225 solcher Büros) eingerichtet, die den Staatsanwaltschaften unterstellt sind. Zu den Aufgaben dieser Büros gehören die Überwachung der Ermittlungen bei Verbrechen gegen Frauen und der Abschluss dieser Ermittlungen, die Durchführung der Aufgaben und Verfahren nach dem Gesetz Nr. 6284 sowie die Kontrolle und Überwachung der ordnungsgemäßen Umsetzung der Präventions- und Schutzmaßnahmen. Gewaltopfer können sich an das Familiengericht wenden, indem sie einen Antrag auf Inanspruchnahme des Gesetzes einreichen. Mit dem Beschluss des Rates der Richter und Staatsanwälte vom 27.12.2019 wurden aus den Familiengerichten spezialisierte Gerichte gemacht, um die Effizienz und Wirksamkeit der Gerichte zu gewährleisten und dringende Entscheidungen zu treffen. Mit Stand Juli 2023 gab es 406 solcher Gerichte. Schlussendlich bieten die 83 Frauenberatungsstellen der Anwaltskammern kostenlose Beratungsdienste für diejenigen an, die nicht genügend Informationen haben, wo und wann sie Rechtsmittel einlegen können. In den Beratungszentren dieser Organisationen erhalten Frauen rechtliche und psychologische Beratung und können bei Bedarf in Schutzhäusern untergebracht werden (MFLSS/GDSW 7.2023, S. 99-104).
Die Frauenrechtsorganisation Mor Çatı Women’s Shelter Foundation kritisiert allerdings die Wirksamkeit der staatlichen ŞÖNİM. - In den zwölf Jahren seit der Einrichtung von ŞÖNİM gäbe es immer noch Schwierigkeiten bei der Funktionsweise der Unterstützungsmechanismen. Eines der Hauptprobleme bestünde darin, dass die Strafverfolgungsbehörden und die Staatsanwaltschaft als erste Anlaufstelle definiert sind, auch im Falle der Zuweisung von Notunterkünften, und die ŞÖNİM erst an zweiter Stelle stehen. Sie seien nicht als Institutionen definiert, die ganzheitliche und spezialisierte Unterstützung bietet. Frauen würden sich auch nicht an ŞÖNİM wenden, weil sie nicht von deren Existenz wüsten. Andere häufige Probleme, mit denen Frauen konfrontiert seien, wenn sie sich an ŞÖNİM wenden, seien falsche oder unvollständige Informationen. Überdies würden ŞÖNİM-Mitarbeiter versuchen die Konflikte zu schlichten, und zudem würden diese eine anklagende und wertende Haltung gegenüber Frauen einnehmen (Mor Çatı 17.7.2024).
Die "Kadın Dayanışma Vakfı - Foundation for Women’s Solidarity" führt auf ihrer Webseite alle jene staatlichen Stellen an, an die sich von Gewalt bedrohte oder betroffene Frauen wenden können (Siehe hierzu für Details die englischsprachige Webseite: https://www.kadindayanismavakfi.org.tr/en/what-to-do-when-exposed-to-violence/). Hierbei wird beschrieben, was, je nach Institution, zu tun ist. Die angeführten Einrichtungen sind: Polizei-/Gendarmerieposten, Polizei-Hotline 155, Gendarmerie-Hotline 156, Sozialhilfe-Hotline 183, die Staatsanwaltschaft, das Familiengericht, die Zentren für Gewaltprävention und -überwachung (ŞÖNİM), die Provinzialdirektionen für Familie, Arbeit und Sozialdienste, Frauenorganisationen, Frauenhilfsstellen der Stadtverwaltungen, Krankenhäuser, Zentren für soziale Dienste, Gouverneursbüros der Provinzen (KDV/FWS o.D.; vgl. MFLSS/GDSW 7.2023, S. 99-104).
Praxis: Frauen zögern aus verschiedenen Gründen, eine Anzeige zu erstatten, darunter ihr Misstrauen gegenüber dem System, ihre Angst, dass der Täter mehr Schaden anrichten könnte, wenn eine Anzeige erstattet wird, ihre Befürchtung, dass sich ein Scheidungsverfahren dadurch in die Länge zieht oder der Täter keine Alimente zahlt, sowie der Einfluss der Familiendynamik. Davon abgesehen sehen sich Frauen auch anderen Hindernissen gegenüber, wenn sie Maßnahmen ergreifen wollen, darunter der Mangel an Informationen über das Beschwerdeverfahren, das sehr langwierige Gerichtsverfahren, welches auf die Beschwerde folgt, unzureichende Dienste zur Verhinderung von Gewalt während der Ermittlungen/des Gerichtsverfahrens und die Herausforderung, die finanzielle Belastung durch Gerichtsverfahren zu tragen. Hinzukommt, dass sowohl Ermittlungsverfahren als auch Gerichtsverfahren in den meisten Fällen nicht innerhalb einer angemessenen Frist durchgeführt werden. - Nach Abschluss des Verfahrens vor dem örtlichen Gericht, das ein bis zwei Jahre dauern kann, kann es durchschnittlich zwei bis drei Jahre dauern, bis die Berufungsurteile gefällt werden. Vor dem Kassationsgericht kann es weitere zwei bis drei Jahre dauern (Mor Çatı 17.7.2024).
Mit dem vierten Justizreformpaket vom Juli 2021 wurden die Verbrechen der vorsätzlichen Tötung, vorsätzlichen Körperverletzung, Verfolgung und Freiheitsentziehung einer ehemaligen Ehepartnerin/ eines ehemaligen Ehepartners in die Liste der sog. "qualifizierten Verbrechen" aufgenommen, was bisher nur während aufrechter Ehe galt. Die Strafen wurden angehoben. Im Mai 2022 trat ein Justiz-Sofortpaket zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in Kraft. Trotz positiver Änderungen, wie der Anhebung der Mindesthöhe von Freiheitsstrafen für einige Delikte, halten Experten die neuen Regelungen für wenig wirkungsvoll, vor allem aufgrund der nach wie vor vergleichsweise niedrigen Höchststrafen (ÖB Ankara 4.2025, S. 49f.). Sie kritisierten auch die Beschränkung auf das formale Kriterium einer (früheren) Ehe unter Nichtbeachtung anderer partnerschaftlicher Verbindungen (ÖB Ankara 30.11.2022, S. 13f.). So kritisierte Reem Alsalem, UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen, dass die Änderung der Strafprozessordnung jedoch vorsieht, dass neben einem "dringenden strafrechtlichen Verdacht" auch "konkrete Beweise" für die Verhängung einer Untersuchungshaft während des Prozesses bei Straftaten, einschließlich sexueller Übergriffe und Missbrauch, verlangt werden. Laut Alsalem zugetragenen Informationen würden Männer, die Gewalt gegen Frauen ausüben, sich weiterhin erfolgreich auf "Gewohnheit" als mildernden Umstand berufen, um ihre Strafe gemäß Artikel 29 des Strafgesetzbuches zu verringern, was gegen internationale Menschenrechtsvorschriften verstößt. Anlass zur Sorge gäbe außerdem der eingeschränkte Umfang der Prozesskostenhilfe, der dazu führt, dass Frauen, die den Mindestlohn verdienen, keinen Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, das umständliche Verfahren zum Nachweis der Anspruchsberechtigung und die Sprachbarrieren, mit denen sich rechtsuchende Frauen konfrontiert sehen, insbesondere Frauen, die ethnischen Minderheiten angehören, einschließlich türkisch-kurdischer Frauen, und Frauen, die Flüchtlinge oder Migranten sind oder unter vorübergehendem Schutz stehen. Auch geschlechtsspezifische Stereotype und der Mangel an Richterinnen sind Alsalem zufolge problematisch (OHCHR 27.7.2022a, S. 6).
Am 27.5.2022 wurde das Gesetz Nr. 7406, welches u. a. Änderungen des türkischen Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung (StPO) vornimmt, im Amtsblatt veröffentlicht. Dieses Änderungsgesetz macht die vorsätzliche Tötung einer Person zu einem erschwerenden Delikt, wenn das Opfer eine Frau ist. Zuvor galt unter anderem die Tötung einer "Frau, von der man weiß, dass sie schwanger ist", als erschwerender Umstand. Durch die Gesetzesänderung wird die vorsätzliche Tötung einer Frau nun mit einer verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe geahndet. Das Änderungsgesetz führt auch erhöhte Mindeststrafen für die Straftatbestände der vorsätzlichen Körperverletzung (Art. 86 StGB), der Peinigung (vorsätzliche Zufügung von Schmerzen und Leiden an einer Person, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist, Art. 96), Folter (folterähnliche Handlungen von Amtsträgern und ihren Gehilfen, Art. 94) und die Drohung, das Leben oder die körperliche oder sexuelle Unversehrtheit zu verletzen (Art. 106), wenn das Opfer eine Frau ist. Mit den Änderungen wird auch ein neuer Straftatbestand eingeführt, der die Verursachung einer schwerwiegenden Beunruhigung [disquiet] oder der Angst einer Person hinsichtlich ihrer eigenen Sicherheit oder die ihrer Angehörigen durch die beharrliche körperliche Verfolgung der Person oder den beharrlichen Versuch, mit der Person über Kommunikationsmedien, informationstechnische Systeme oder eine dritte Person Kontakt aufzunehmen unter Strafe stellt. Die Verfolgung der Straftat setzt die Anzeige des Opfers voraus, wobei die Straftat mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren geahndet wird. Die Strafe wird auf ein bis drei Jahre Gefängnis erhöht, wenn es u. a. ein geschiedener oder getrennt lebender Ehepartner ist. Schließlich wurden Änderungen an Artikel 62 der Strafprozessordnung (StPO) vorgenommen, indem die Gründe für eine Strafmilderung nach Ermessen des Gerichts festgelegt sind. Die Änderungen stellen klar, dass "das Verhalten des Täters nach der Begehung der Straftat und während des Prozesses" Reue zeigen muss, damit es als Grund für eine Strafmilderung gilt. Die Gründe sind nun dezidiert aufgelistet, etwa der Hintergrund des Straftäters, seine sozialen Beziehungen und das reumütige Verhalten des Straftäters nach der Begehung der Straftat. Neu wird eine Ausnahme hinzugefügt, die besagt, dass vorgeschobene Handlungen eines Straftäters, die darauf abzielen, das Gericht zu beeinflussen, nicht als Grund für eine Strafmilderung angesehen werden können. Eine Reihe von Frauengruppen und Juristen haben die neuen Änderungen kritisiert, weil sie sich auf die Verschärfung der Strafen konzentrieren und nicht auf Maßnahmen zur Prävention und effizienten Untersuchung und Verfolgung von Gewaltdelikten gegen Frauen sowie auf die Unterstützung der Opfer. Die Kriminalisierung von Stalking scheint von diesen positiver aufgenommen worden zu sein, obwohl sie kritisierten, dass die Verfolgung der Straftat von der Anzeige des Opfers abhängig gemacht wird (LoC 20.6.2022).
Laut Informationen des niederländischen Außenministeriums unter Berufung auf den "Schattenbericht" der türkischen Frauenorganisation "Mor Çatı Women’s Shelter Foundation" an den UN-Ausschuss gegen Folter (CAT) vom Juli 2024 gab es mehrere Fälle von Frauen, die Gewalt bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft angezeigt hatten, aber nicht ernst genommen wurden. Sie wurden davon abgehalten, Anzeige zu erstatten, oder an Frauenorganisationen verwiesen, obwohl letztere kein Mandat hatten gegen Gewalt vorzugehen. Es kam auch vor, dass Polizeibeamte oder Staatsanwälte Frauen in sexistischer oder frauenfeindlicher Weise behandelten. Diese Beamten und Staatsanwälte wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Mor Çatı berichtete auch von Situationen, in denen aggressive Männer wiederholt ungestraft gegen ein Kontaktverbot verstießen. Beobachtet wurde zudem, dass die Dauer einer einstweiligen Verfügung kurz war und von 24 Stunden bis zu sechs Monaten reichte. Infolgedessen mussten die Frauen immer wieder neue Anträge auf Erlass einer einstweiligen Verfügung stellen. Mor Çatı berichtete, dass die Behörden in einigen Fällen auch angemessen intervenierten. Eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums wies darauf hin, dass die Polizei ihre Vorgehensweise bei Anzeigen von Frauen nicht standardisiert habe. Infolgedessen handeln die Polizeibeamten nach eigenem Ermessen, was dazu führe, dass die Anzeigen unterschiedlich behandelt werden. Die Polizei sei eher geneigt, Frauen zu helfen, die Spuren von körperlicher Gewalt trugen oder sexuelle Gewalt erlitten hatten. Im Gegensatz dazu werden Opfer "unsichtbarer" Gewalt, wie z. B. psychische Gewalt und finanzieller Missbrauch, weniger ernst genommen (MBZ 2.2025a, S. 79). Zwar erlassen Polizei und Gerichte Präventiv- und Schutzanordnungen. Deren Nichtbeachtung jedoch hinterlässt gefährliche Schutzlücken für Frauen (HRW 5.2022, S. 3). In vielen Fällen konnten sich Männer, gegen die ein Kontaktverbot verhängt worden war, der Wohnadresse der betroffenen Frau nähern, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Es gab auch Verzögerungen bei der Verhängung von Kontaktverboten, oder diesbezügliche Aufforderungen dazu wurden einfach nicht befolgt (MBZ 2.3.2022, S. 53; vgl. HRW 5.2022, S. 3). Nicht nur stellen die Gerichte häufig Verwarnungen für viel zu kurze Zeiträume aus, sondern die Behörden verabsäumen es, wirksame Risikobewertungen vorzunehmen oder die Wirksamkeit der Anordnungen zu überwachen, sodass Überlebende häuslicher Gewalt der Gefahr fortgesetzter - und manchmal tödlicher - Gewalt ausgesetzt sind. Bei denjenigen, die strafrechtlich verfolgt und verurteilt wurden, kommt dies oft zu spät und die Strafen sind zu gering, um eine wirksame Abschreckung zu bewirken. In den schwerwiegendsten Fällen wurden Frauen ermordet, obwohl den Behörden die Gefahr, der sie ausgesetzt waren, bekannt war und den Tätern förmliche Vorbeugeanordnungen zugestellt worden waren (HRW 5.2022, S. 3).
Die unzureichende Datenerhebung verhindert, dass die Behörden und die Öffentlichkeit einen soliden Überblick über das Ausmaß der häuslichen Gewalt in der Türkei oder die Lücken in der Umsetzung des Schutzes erhalten, die zu den anhaltenden Risiken für die Opfer beitragen (HRW 5.2022, S. 4; vgl. EC 30.10.2024, S. 34).
Laut (damaligen) Innenminister Süleyman Soylu wurde seit ihrer Einführung 2018 die staatliche mobile Anwendung KADES, die Frauen eine Hotline zur Meldung häuslicher Gewalt bietet, bis April 2023 von 5,2 Millionen Frauen heruntergeladen. In der Praxis hat die KADES-App die Erwartungen nicht erfüllt. Um sich zu vergewissern, ruft die Polizei oft vor dem Einsatz die betreffende Frau an, nachfragend, ob sie tatsächlich in Gefahr ist. Ein weiteres Problem ist, dass Frauen in gefährlichen Situationen nicht immer in der Lage sind, ans Telefon zu gehen. Darüber hinaus werden die beteiligten Männer aggressiver, wenn sie erfahren, dass die Frauen die Polizei gerufen hat. Beamte haben, wenn sie tatsächlich auf Notrufe reagierten, in der Regel versucht zwischen den Frauen und ihren Peinigern zu vermitteln, um eine Versöhnung herbeizuführen (MBZ 31.8.2023, S. 61; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 64).
Die Gerichte urteilen oft milde über die Täter sexueller Gewalt auch im Falle von Ehrenmorden und die Strafen werden oft herabgesetzt, wenn der Angeklagte während des Prozesses "gutes Benehmen" an den Tag legt bzw. im Falle eines Ehrenmordes "provoziert" wurde. Beispielsweise verurteilte ein Gericht im Februar 2025 einen Mann, der seine Schwiegertochter getötet hatte, zu einer reduzierten Strafe mit der Begründung, er sei "provoziert" worden (DFAT 16.5.2025, S. 29f.; vgl. SCF 20.5.2025).
Frauenrechtsaktivistinnen in der Türkei haben erklärt, dass Täter, die geschlechtsspezifische Gewalt, Femizid und sexuellen Missbrauch begehen, dank reduzierter Haftstrafen straffrei ausgehen. Nach Angaben der Aktivistinnen wurden in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 mindestens 17 Täter zu reduzierten Haftstrafen verurteilt. Einige dieser Fälle betrafen den sexuellen Missbrauch von minderjährigen Mädchen. Canan Güllü, Vorsitzende der Föderation der türkischen Frauenverbände, sagte, dass solche Strafmilderungen zu einem Anstieg der Fälle von körperlichem und sexuellem Missbrauch geführt haben. Sie kritisierte zudem, dass Richter und Staatsanwälte nicht über die notwendige Ausbildung verfügen, um geschlechtsspezifische Gewalt und Missbrauch vollständig zu verstehen. - Türkische Gerichte sind wiederholt in die Kritik geraten, weil sie dazu neigen, Straftäter milde zu bestrafen, indem sie behaupten, die Tat sei "aus Leidenschaft" begangen worden, oder indem sie das Schweigen der Opfer als Zustimmung auslegen (SCF 3.10.2023). Dies illustriert das Beispiel eines Ex-Polizisten, der seine ehemalige Freundin entführt und tagelang gefoltert hatte. Er wurde zwar zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, doch nach nur zwei Monaten in einer offenen Anstalt kam er unter Auflagen frei. Er drohte der Frau erneut. Die Frau postete einen Hilferuf in sozialen Medien. Der Täter erwirkte ein Verbot für die Verbreitung ihres Posts, weil dieser angeblich seine Persönlichkeitsrechte verletze. Eine solche Straflosigkeit ermutige die Männer weiter zur Gewalt gegen Frauen, so die Frauenrechtlerin Uysal, "weil sie wissen, dass sie nach ein paar Tagen oder Monaten wieder auf freiem Fuß sind" (DW 15.10.2024). Milde Strafen für Männer, die Frauen geschlagen, vergewaltigt oder ermordet haben, haben eine Kultur der Straflosigkeit für geschlechtsspezifische Gewalt geschaffen (DFAT 16.5.2025, S. 29).
Femizide und sog. "Ehrenmorde"
Gewalt gegen Frauen bleibt in der Türkei ein hochaktuelles Thema. Berichten von Frauenrechtsorganisationen zufolge gab es 2024 394 Frauenmorde sowie 259 "verdächtige" Todesfälle. Damit ist 2024 das Jahr mit der höchsten Frauenmordrate seit Beginn der Erhebung 2010. Das Thema findet in den letzten Jahren wachsende Aufmerksamkeit. In Teilen der Bevölkerung findet eine wachsende Sensibilisierung statt. Projekte von NGOs zielen auf eine weitere Bewusstseinsbildung für das Problem ab (ÖB Ankara 4.2025, S. 50; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 29). Zwar ist die Gewalt gegen Frauen nicht neu, aber laut Esin Izel Uysal, Rechtsanwältin der Plattform "Wir werden die Frauenmorde stoppen" hat sie eine neue Dimension angenommen. "Die Verbrechen werden brutaler und die Opfer und Täter jünger", so Uysal. Die Gewalt geschieht meistens zu Hause, immer öfter aber auch auf offener Straße. In den meisten Fällen sind die Täter Partner, Ex-Partner oder Familienmitglieder. 65 % der Täter gaben 2024 an, die Frauen getötet zu haben, weil diese sich trennen wollten oder weil sie eine Partnerschaft oder Ehe abgelehnt hätten (DW 15.10.2024; vgl. BAMF 27.11.2023). Ehrenmorde kommen besonders im Südosten des Landes vor (USDOS 22.4.2024, S. 64f.)
Es kommt immer noch zu sogenannten Ehrenmorden an Frauen oder Mädchen, die eines sog. "schamlosen Verhaltens" aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines "Verbrechens in der Ehe" verdächtigt werden. Dies kann auch Vergewaltigungsopfer betreffen (AA 20.5.2024, S. 14). Das UN-Komitee für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau zeigte sich in seinem Bericht zur Türkei besorgt über das Fortbestehen von Verbrechen, einschließlich Tötungen, die im Namen der sogenannten "Ehre" begangen werden, und über die relativ hohe Zahl von erzwungenen Selbstmorden oder getarnten Morden an Frauen. Das CEDAW-Komitee nahm mit Besorgnis die begrenzten Bemühungen der Türkei zur Kenntnis, die Öffentlichkeit über den kriminellen Charakter und das irreführende Konzept der sogenannten "Ehrenverbrechen" aufzuklären. Das Komitee nahm die übermittelten Informationen seitens der Türkei zur Kenntnis, wonach Artikel 29 des Strafgesetzbuchs, der mildernde Umstände im Falle einer "ungerechtfertigten Provokation" vorsieht, nicht auf Tötungen im Namen der sogenannten "Ehre" angewendet wird. Der Ausschuss ist jedoch nach wie vor besorgt, dass dies keinen ausreichenden rechtlichen Schutz darstellt, da die Bestimmung, die die Anwendung von Artikel 29 ausdrücklich verbietet, sich nur auf Tötungen im Namen der "Sitte" (töre) bezieht und daher möglicherweise nicht immer Tötungen im Namen der sogenannten "Ehre" (namus) abdeckt (UN-CEDAW 12.7.2022, S. 9).
Schutzeinrichtungen
Die Hilfsangebote für Frauen, die Gewalt überlebt haben, sind nach wie vor sehr begrenzt, und die Zahl der Zentren, die solche Dienste anbieten, ist weiterhin unzureichend (USDOS 22.4.2024, S. 64; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46, SCF 20.5.2025). Das dortige Personal, insbesondere im Südosten des Landes, kann keine angemessene Betreuung und Dienste anbieten. Laut einigen NGOs ist der Mangel an Dienstleistungen für ältere Frauen, LGBTI-Frauen sowie für Frauen mit älteren Kindern noch akuter (USDOS 22.4.2024, S. 64). Besonders in Südost-Anatolien ist der Bedarf an Schutzeinrichtungen hoch (ECRE/AIDA 20.8.2024a).
Die Zahl der Frauenhäuser wird vom zuständigen Familienministerium nicht regelmäßig veröffentlicht. Laut NGOs gab es 2024 112 dem Familienministerium angegliederte Frauenhäuser mit einer Kapazität von 2.805 Plätzen für weibliche Opfer von Gewalt und deren Kinder. Zudem gibt es zumindest 37 von NGOs betriebene Frauenhäuser (ÖB Ankara 4.2025, S. 50). Den Angaben der Menschenrechtsvereinigung İHD zufolge waren es 145 Frauenhäuser, von denen 110 vom Ministerium für Familie und Soziales und je eines von der Migrationsverwaltung und der Mor Çatı Women's Shelter Foundation betrieben werden. Buben, älter als zwölf, und Frauen, älter als 60, können jedoch nicht in diesen Unterkünften untergebracht werden, mit Ausnahme der Schutzeinrichtung von Mor Çatı. Auch die Zahl der Unterkünfte, die Asylwerber, Flüchtlinge und Migrantinnen aufnehmen, ist begrenzt. Laut İHD sind die Bürgermeisterämter auch 2021 nicht ihren Verpflichtungen zur Einrichtung und Unterhaltung von Frauenhäusern nachgekommen. Obwohl 237 Bürgermeisterämter verpflichtet sind, Frauenhäuser einzurichten, verfügen nur 33 Gemeinden über solche Einrichtungen (İHD/HRA 2.8.2022, S. 2). Schutzeinrichtungen für Frauen und Mädchen fehlen insbesondere in ländlichen und entlegenen Regionen. Flüchtlingsfrauen und Migrantinnen (OHCHR 27.7.2022a, S. 7) sowie Frauen und Mädchen mit Behinderungen stoßen beim Zugang zu Unterkünften auf erhebliche Hindernisse (OHCHR 27.7.2022a, S. 7; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 51).
Die meisten von der Regierung betriebenen Frauenhäuser gelten als überfüllt und bieten nur eine Grundversorgung, ohne professionelle Beratung oder psychologische Betreuung. Die Lebensbedingungen in den meisten dieser Frauenhäuser ähneln jenen in Gefängnissen (ECRE/AIDA 20.8.2024a; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 55, MBZ 2.2025a, S. 81f.). - Die Bewegungsfreiheit der Frauen in den staatlichen Unterkünften ist stark eingeschränkt. Die dürfen die Unterkunft nur zum Einkaufen, für Bewerbungen und zum Arbeiten verlassen. In den staatlichen Unterkünften werden die Frauen mit Kameras überwacht und dürfen keine Handys benutzen. Darüber hinaus mangelt es an Möglichkeiten zu Freizeitaktivitäten (MBZ 2.2025a, S. 82). - Die Wartezeiten für die Aufnahme sind lang, sodass Frauen, die dringend Hilfe und Beratung benötigen, diese nicht zeitnah erhalten. Zudem gibt es Behördenmitarbeiter, die nur Opfer von physischer Gewalt aufnehmen, nicht aber Opfer von psychischer Gewalt, obwohl auch letztere Opfergruppe Anspruch auf Schutz hat. Außerdem verlangen Beamte, obwohl sie dazu nicht befugt sind, in einigen Fällen medizinische Unterlagen, oder andere offizielle Berichte, als Beweis dafür, dass die Frau körperlich angegriffen wurde (MBZ 2.3.2022, S. 55; vgl. MBZ 2.2025a, S. 81f.). Das UN-CEDAW-Komitee bemängelte 2022, dass Frauen, die versuchen, einer Gewaltbeziehung zu entkommen, unzureichende Unterstützung und Rechtsmittel zur Verfügung stehen. Dies spiegelt sich unter anderem in der unzureichenden Anzahl von Frauenhäusern in der gesamten Türkei und in den unangemessenen Bedingungen für Frauen in Frauenhäusern wider (UN-CEDAW 12.7.2022, S. 8).
Allgemein werden Maßnahmen in diesem Bereich im Zusammenwirken mit dem Innenministerium, dem Gesundheitsministerium, dem Justizministerium, dem Verteidigungsministerium sowie dem Amt für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet) gesetzt. Polizeibeamte, Beschäftigte des Gesundheitsbereichs sowie Religionsvertreter wurden entsprechend geschult (ÖB Ankara 4.2025, S. 50). Es fehlt jedoch bislang an ausreichender Koordination zwischen einzelnen Institutionen sowie Sensibilisierung von Exekutivbeamten, wie mit Fällen von Gewalt umzugehen ist (ÖB Ankara 4.2025, S. 51; vgl. EC 6.10.2020, S. 38). NGOs beklagen, dass religiöse Würdenträger, denen offenbar leichterer Zugang zu Frauenhäusern gewährt wird als Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen, Frauen oftmals zu einer Rückkehr in die Familie überreden (ÖB Ankara 4.2025, S. 51).
Behördliches Vorgehen gegen Frauenorganisationen und Frauenrechtsaktivistinnen
Die Frauenbewegung ist nach wie vor mit Repressionen seitens des türkischen Staates konfrontiert. Dennoch hat sich die Frauenbewegung in der Türkei als kämpferisch und vital erwiesen (MBZ 2.2025a, S. 80). Frauenorganisationen werden durch Verleumdungen, Festnahmen, Ermittlungen und Verhaftungen unter Druck gesetzt. Auch Aktivistinnen wurden bei der Wahrnehmung ihres Rechts auf Versammlungsfreiheit inhaftiert und waren polizeilicher Gewalt ausgesetzt. Schließungsverfahren und Gerichtsverfahren liefen bzw. laufen gegen einige Frauenorganisationen. Mehrere Menschenrechtsverteidigerinnen und Aktivistinnen wurden inhaftiert und zu Geldstrafen verurteilt, weil sie an Demonstrationen für die Rechte der Frauen teilgenommen hatten. (EC 8.11.2023, S. 16, 30).
Wie in den Jahren zuvor, kam es auch 2025 wieder zu Festnahmen und dem Verbot von Demonstration zum Internationalen Frauentag. - Trotz des Demonstrationsverbotes des Vorstehers des Istanbuler Bezirkes Beyoğlu, einschließlich des Taksim-Platzes und des Gezi-Parks, versammelten sich am 8. März in Istanbul 3.000 Personen, welche durch das Stadtzentrum zogen. Der Marsch endete ohne Zwischenfälle, dennoch sollen gemäß Veranstaltern die Sicherheitskräfte 200 Demonstrierende zusammengetrieben und 112 Personen davon festgenommen haben, wobei tags darauf alle Personen bis auf eine nach Verhören freigekommen waren. Nebst dem Istanbuler Bezirk Kadıköy mit mehreren hundert DemonstrantInnen kam es auch in anderen Städten wie etwa Ankara und Diyarbakir zu Demonstrationen, welche gemäß Presseberichten weitestgehend friedlich abgelaufen waren (BAMF 10.3.2025, S. 10f.; vgl. TM 9.3.2025, Bianet 10.3.2025).
Hassreden gegen unabhängige Frauenorganisationen haben zugenommen. Erklärungen des Innenministeriums, die Frauenorganisationen und Feministinnen wegen angeblicher terroristischer Verbindungen ins Visier nahmen, bedrohen die Existenz von Frauenverbänden. Frauenmärsche wurden mit Polizeigewalt beantwortet, und es wurde ein Gerichtsverfahren zur Schließung der bekannten Frauenplattform namens "We Will Stop Femicides Platform" eingeleitet (EC 12.10.2022, S. 41).
Sozioökonomische Stellung
Die Kluft zwischen den Geschlechtern auf dem Arbeitsmarkt ist trotz leichter Fortschritte weiterhin sehr groß. Frauen sind einem höheren Armutsrisiko ausgesetzt als Männer. Es wurde ein neues Projekt zur Förderung der Beschäftigung von Frauen initiiert, das jedoch angesichts der großen Zahl von Frauen im erwerbsfähigen Alter nur eine begrenzte Reichweite hat und dessen Wirkung überwacht werden muss. Die Richtlinie über die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben wurde teilweise umgesetzt. Das geschlechtsspezifische Lohngefälle bei den Verdiensten beträgt 6,2 %. Die unzureichende Verfügbarkeit erschwinglicher Betreuungsdienste für Kinder, die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Übernahme von Betreuungsaufgaben und das Fehlen entschlossener politischer Maßnahmen behindern nach wie vor eine höhere Beschäftigungsquote von Frauen. Politische Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Sozialleistungen und Sozialhilfe sind begrenzt (EC 30.10.2024, S. 69).
Frauen werden bei der Beschäftigung diskriminiert. Um die Einstellung von Frauen zu fördern, zahlt der Staat statt der Arbeitgeber mehrere Monate lang die Sozialversicherungsprämien für alle weiblichen Beschäftigten, die älter als 18 Jahre sind (USDOS 22.4.2024, S. 65f.). Die Beschäftigungsquote lag 2024 bei 49,5 %. Bei den Frauen lag die Quote bei 32,5 % im Unterschied zu den Männern, die eine Beschäftigungsquote von 66,9 % verzeichnen konnten (TUIK 20.3.2025).
Mit einem Wert von 0,633 (2024: 0,645) [1 = bester Wert] lag die Türkei auf Platz 135 (2024: 127) von 148 untersuchten Ländern im Global Gender Gap Index 2025. In den Sub-Indizes lag die Türkei bei der "Wirtschaftlichen Teilhabe" auf Platz 133. Währenddessen sahen die Platzierungen beim "Bildungsstand" mit Rang 92 und "Gesundheit" Rang 82 besser aus. Eine deutliche Abnahme war in der Subkategorie "Politischen Ermächtigung" zu verzeichnen. Hier rutschte das Land innerhalb eines Jahres von Platz 114 auf Platz 139 ab (WEF 11.6.2025; vgl. WEF 11.6.2024).
II.1.6.13.2. Kinder und minderjährige Jugendliche (bis 18)
Rechtslage und staatliche Maßnahmen
Die Türkei ist Vertragsstaat der folgenden internationalen Menschenrechtsinstrumente in Bezug auf die Rechte des Kindes: das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC) und seine Fakultativprotokolle über die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten und den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie (DFAT 16.5.2025, S. 9).
Die Umsetzung der Kinderrechte entspricht nicht den internationalen Standards und dem EU-Besitzstand. Zwar gibt es nationale Rechtsvorschriften und politische Maßnahmen, die die volle Verwirklichung der Kinderrechte in der Türkei gewährleisten sollen, doch ist ihre Umsetzung unzureichend, was auch auf den Mangel an angemessenen Ressourcen zurückzuführen ist. Der Grundsatz des „Kindeswohls“ wird zwar in den Rechtsdokumenten anerkannt, seine Umsetzung hängt jedoch von subjektiven Einschätzungen ab. Speziell auf die Bedürfnisse von Kindern, die Opfer verschiedener Straftaten geworden sind, zugeschnittene Dienste sind begrenzt. Besorgniserregend ist nach wie vor die Situation von Jugendlichen, die wegen Mitgliedschaft in terroristischen Organisationen festgenommen und inhaftiert werden (EC 30.10.2024, S. 34). Der Schutz der Rechte des Kindes ist nach wie vor auch in der Jugendgerichtsbarkeit unzureichend. - Im Jänner 2023 wurde eine parlamentarische Kommission zur Untersuchung von Kindesmissbrauch eingesetzt. Es muss jedoch laut Europäischer Kommission ein nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung und Verhinderung von Kinder-, Früh- und Zwangsehen und zur Sensibilisierung für die schädlichen Auswirkungen von Kinderheiraten errichtet werden. Konsequente Anstrengungen sind erforderlich, um Kinderarbeit, insbesondere unter Flüchtlingen, zu beseitigen, so die Kommission (EC 8.11.2023, S. 40f.).
Während Kindesmisshandlung eine Straftat darstellt, ist körperliche Züchtigung durch Eltern und andere Betreuungspersonen nicht ausdrücklich verboten. Körperliche Züchtigung kommt nach wie vor vor, insbesondere in der Familie. Laut lokalen Quellen wird körperliche Züchtigung in der Kindererziehung trotz der Bemühungen der Regierung gesellschaftlich und kulturell weitgehend akzeptiert. Körperliche Züchtigung in Schulen ist weniger verbreitet, kommt aber dennoch vor (DFAT 16.5.2025, S. 37).
Jugendliche Straftäter im Rechtssystem
Kinder können bei strafrechtlichen Streitigkeiten kostenlosen Rechtsbeistand in Anspruch nehmen, für zivilrechtliche Fälle und/oder andere Beschwerdemechanismen gibt es jedoch keine solche Regelung. Besorgniserregend ist laut Europäischer Kommission (EK) nach wie vor die Tatsache, dass Jugendliche unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in terroristischen Organisationen festgenommen und inhaftiert werden. Die Maßnahmen ohne Freiheitsentzug für Kinder müssen verbessert werden, so die EK. Die Möglichkeiten von NGOs und Anwaltskammern, zu intervenieren, zu überwachen und bei Rechtsstreitigkeiten eingebunden zu werden, sind sowohl rechtlich als auch praktisch begrenzt. Es gibt nicht genügend spezialisierte Kindergerichte, Kindergerichtshöfe und qualifiziertes Personal wie Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Sachverständige. Fast die Hälfte der betroffenen Kinder steht immer noch vor nicht spezialisierten Gerichten. Derzeit gibt es 81 Jugendgerichte und zwölf hohe Jugendstrafgerichte, was dem Gesetz entspricht, wonach es in jeder Provinz ein Jugendgericht geben muss. Dies reicht jedoch nicht aus, um den Bedürfnissen der Großstädte gerecht zu werden (EC 8.11.2023, S. 41).
Jährlich werden rund 1.000 Strafverfahren gegen Minderjährige im Rahmen des Anti-Terror-Gesetzes Nr. 3713 durchgeführt. Laut der Statistik des türkischen Justizministeriums wurden im Jahr 2022 in 762, im Jahr 2021 in 1.414 und im Jahr 2020 in 1.003 Fällen Minderjährige in Verfahren an türkischen Gerichten als Angeklagte nach dem Anti-Terror-Gesetz Nr. 3713 geführt. 2021 kam es zu 167 Verurteilungen nach dem Anti-Terrorgesetz, wobei in 23 Fällen 12- bis 14-Jährige und in 50 Fällen 15- bis 17- Jährige zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Nach Artikel 220 des Strafgesetzes, welcher für die Ahndung der vorliegenden Straftat ebenfalls Anwendung finden kann, wurden 2021 in 25 Fällen Minderjährige verurteilt und in sechs Fällen gegen 12- bis 14-Jährige und in acht Fällen gegen 15- bis 17-Jährige eine Freiheitsstrafe ausgesprochen (SFH 13.4.2023; vgl. MoJ - GDJR S 2022, S. 118. 121f.).
Gemäß Artikel 107 des Gesetzes Nr. 5275 über die Vollstreckung von Strafen und Sicherheitsmaßnahmen sind die Bedingungen für eine Entlassung auf Bewährung sehr streng, für Kinder und Minderjährige, die verurteilt wurden, wegen der Gründung oder Führung einer illegalen Organisation, wegen Straftaten im Rahmen der Aktivitäten einer solchen Organisation sowie wegen Straftaten, die unter das Anti-Terror-Gesetz Nr. 3713 fallen. So ist die Bedingung für die Entlassung auf Bewährung, dass zwei Drittel der Strafe verbüßt wurden. Für Minderjährige, die wegen Straftaten im Geltungsbereich des Anti-Terror-Gesetzes verurteilt wurden, werden laut Auskunftsperson der Schweizerischen Flüchtlingshilfe keine erleichternden Entscheidungen wie zum Beispiel ein Aufschub der Strafe oder weitere Maßnahmen getroffen, nur weil die Betroffenen minderjährig sind (SFH 13.4.2023).
Menschenrechtsverletzungen an Kindern
Das UN-Komitee für die Rechte des Kindes zeigte sich im Juni 2023 zutiefst besorgt über die anhaltende Unterdrückung der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit von Kindern im Namen der Terrorismusbekämpfung und stellt fest, dass seit 2016 Tausende von Kindern festgenommen, inhaftiert und wegen terroristischer Anschuldigungen verurteilt wurden. Das Komitee verwies auf die Empfehlungen des Menschenrechtsausschusses und empfahl der Türkei außerdem, sicherzustellen, dass das Anti-Terror-Gesetz von 1991 (Gesetz Nr. 3713) nicht zur Unterdrückung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit von Kindern verwendet wird, dass Anti-Terrormaßnahmen verhältnismäßig sind und im Einklang mit der Rechtsstaatlichkeit, den Menschenrechten und den Grundfreiheiten stehen und dass jede Gewalt, die Kindern von den Sicherheitskräften im Zuge von Anti-Terrormaßnahmen zugefügt wird, untersucht wird und die Täter entsprechend verfolgt und bestraft werden. Das UN-Komitee zeigte sich überdies tief besorgt über Berichte von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und Isolationshaft von Kindern durch Gefängniswärter in geschlossenen Einrichtungen, einschließlich der geschlossenen Strafvollzugsanstalt in Diyarbakır (UN-CRC 2.6.2023b).
Die spezifischen Bedürfnisse von inhaftierten Kindern in Bezug auf Bildung, Rehabilitation und Wiedereingliederung in die Gesellschaft werden nicht in vollem Umfang erfüllt, wobei Mädchen am stärksten betroffen sind, da die Regelungen und Einrichtungen nicht geschlechtsspezifisch konzipiert sind. Das Anti-Folter-Komitee der Vereinten Nationen zeigte sich überdies besorgt über das niedrige Mindestalter für die Strafmündigkeit in der Türkei (CAT 14.8.2024, S. 4).
Kinderarbeit und Kinderarmut
Die Bemühungen um den Aufbau von Kapazitäten zur Bekämpfung der Kinderarbeit wurden auf nationaler und lokaler Ebene fortgesetzt. Dennoch gibt es nach wie vor Praktiken der Kinderarbeit, die gegen internationale Normen verstoßen und von denen insbesondere Jugendliche und Buben mit Migrationshintergrund betroffen sind. In der Türkei fehlt es an angemessenen Daten zu Kinderarbeit, welche die nötigen Anhaltspunkte liefern würden, um die Ursachen des Problems zu bekämpfen. Die Umsetzung des Nationalen Programms der Türkei zur Beseitigung der Kinderarbeit ist in einem fortgeschrittenen Stadium. Kinderarbeit ist jedoch immer noch weit verbreitet, insbesondere bei Kindern mit Migrationshintergrund (EC 8.11.2023, S. 100f.). So stieg der Anteil der arbeitenden Kinder in der Altersgruppe der 15-17-Jährigen im Jahr 2023 auf 22,1 % (EC 30.10.2024, S. 68).
Die Regierung erklärte 2018 zum Jahr der Abschaffung von Kinderarbeit, machte aber nur moderate Fortschritte. Darüber hinaus wurden 355 Arbeitsinspektoren, 81 Provinzdirektoren und 320 Lehrer zum Thema Kinderarbeit geschult. Dennoch sind Kinder in der Türkei den schlimmsten Formen von Kinderarbeit ausgesetzt, einschließlich kommerzieller sexueller Ausbeutung und Rekrutierung durch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen. Die uneinheitliche Durchsetzung der Gesetze führt zu einem unzureichenden Schutz von Kindern, die Kinderarbeit verrichten. Kinder verrichten etwa in der saisonalen Landwirtschaft und in kleinen und mittleren Produktionsbetrieben gefährliche Arbeiten (USDOL 26.9.2023). Einem aktuellen Bericht der NGO İSİG über Kinderarbeit zufolge sind in der Türkei in den letzten elf Jahren (seit 2013) mindestens 695 arbeitende Kinder ums Leben gekommen. Laut ISIG starben in den ersten fünf Monaten des Jahres 2024 mindestens 24 arbeitende Kinder (VOA 14.6.2024; vgl. İSİG 11.6.2024).
Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte (European Committee of Social Rights) des Europarates stellte in seinem Länderbericht 2023 zur Türkei fest, dass in 27 von 36 Punkten keine Konformität mit der Europäischen Sozialcharta vorlag. Der Ausschuss stellte fest, dass die Situation in der Türkei u. a. aus folgenden Gründen nicht mit der Sozialcharta konform ist: Es wurde nicht nachgewiesen, dass die Arbeit, die von Kindern unter 15 Jahren zu Hause verrichtet wird, behördlich wirksam überwacht wird, und dass das Verbot der Beschäftigung von Kindern unter 15 Jahren in der Praxis gewährleistet ist (Art. 7 § 1). Weiters kommt der Ausschuss zum Schluss, dass das Verbot der Beschäftigung von Personen unter 18 Jahren für gefährliche oder gesundheitsschädliche Tätigkeiten nicht wirksam garantiert ist (Art. 7 § 2); die Dauer der leichten Arbeit, die Kindern während der Schulferien erlaubt ist, übermäßig lang ist und Kinder daher möglicherweise nicht den vollen Nutzen aus der Bildung ziehen können (Art. 7 § 3); die tägliche und wöchentliche Arbeitszeit für arbeitende Minderjährige unter 16 Jahren übermäßig lang ist (Art. 7 § 4); die Löhne junger Arbeitnehmer nicht fair und die an Lehrlinge gezahlten Zulagen nicht angemessen sind (Ar. 7 § 5) und nicht alle Formen der sexuellen Ausbeutung von Kindern strafbar sind, und Kinder, die selbst Opfer sexueller Ausbeutung sind, strafrechtlich verfolgt werden können (Art. 7 § 10) (CoE-ECSR 3.2024, S. 2-5).
Bis zu zwei Millionen leisten in der Türkei Kinderarbeit. Gesetzlich zwar verboten, zwingt die Not Familien oft dazu, ihre Kinder zum Geldverdienen anstatt in die Schule zu schicken, z. B. während der Baumwollernte (ARD 25.10.2020, Min. 1). Obwohl die Kinderarbeit erheblich zurückgegangen ist, stellt sie in der saisonalen landwirtschaftlichen Produktion immer noch ein Problem dar. In der Agrarwirtschaft, mit Ausnahme von Familienbetrieben, wird mobile und saisonale Landarbeit im Nationalen Programm zur Beseitigung von Kinderarbeit (2017-2023) als eine der schlimmsten Formen der Kinderarbeit eingestuft, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen, damit verbundenen Risiken. Kinder, die in der landwirtschaftlichen Saisonarbeit beschäftigt sind, stellen eine der am meisten benachteiligten Gruppen dar, was die Arbeits- und Lebensbedingungen in Verbindung mit Umwelt-, Bildungs- und Gesundheitsproblemen betrifft (ILO 5.3.2021, S. 3). Offiziellen Zahlen zufolge sind 720.000 Kinder gezwungen, zum Haushaltseinkommen ihrer Familien beizutragen. Rund 31 % dieser Kinder arbeiten in der Landwirtschaft, fast 24 % in der Industrie und 45,5 % im Dienstleistungssektor. 20 % der Kinder sind Saisonarbeiter (Duvar 7.6.2021b; vgl. ILO 5.3.2021, S. 2). Das US-amerikanische Arbeitsministerium geht in der Altersgruppe der Sechs- bis 14-Jährigen sogar von einem Anteil von 57 % aus, welcher in der Landwirtschaft arbeitet, gefolgt von fast 16 % in der Industrie und 27 % im Dienstleistungssektor (USDOL 26.9.2023). Der Anteil der arbeitenden Kinder in der Altersgruppe 5-17 Jahre wird von der türkischen Statistikbehörde auf 4,4 % geschätzt. 79,7 % der erwerbstätigen Kinder sind in der Altersgruppe 15-17 Jahre, 15,9 % in der Altersgruppe 12-14 Jahre und 4,4 % in der Altersgruppe 5-11 Jahre. Eine Untersuchung nach Geschlecht zeigt, dass 70,6 % der arbeitenden Kinder männlich und 29,4 % weiblich sind (ILO 5.3.2021, S. 2; vgl. CoE-ECSR 3.2024). 2020 starben 22 Minderjährige unter 14 Jahren und 46 im Alter von 15 bis 17 Jahren bei Arbeitsunfällen (Duvar 11.6.2021).
Laut einer Studie der "Economic Policy Research Foundation of Turkey" (TEPAV) leben fast zehn Millionen Kinder in der Türkei in Armut. Die Ergebnisse zeigen, dass jüngere Kinder besonders gefährdet sind, da über 43 % der 0- bis 14-Jährigen im Jahr 2022 in Armut lebten (SCF 9.8.2024; vgl. TEPAV 5.2024). Einem gemeinsamen Bericht von UNICEF und dem türkischen Statistikinstitut aus dem Jahr 2023 zufolge leben etwa sieben Millionen der rund 22,2 Millionen Kinder in der Türkei in Armut. Das bedeutet, dass das Familieneinkommen unter 60 % des nationalen Durchschnitts liegt. 3,5 Millionen dieser Kinder befinden sich in dem für die Entwicklung entscheidenden Alter von 0 - 8 Jahren. Die Daten deuten auf einen stetigen Anstieg der Kinderarmut seit 2017 hin, was die ohnehin drängenden Armutsprobleme des Landes noch verschärft. UNICEF setzte die Türkei auf Platz 38 von 39 Ländern der Europäischen Union und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), mit einer Kinderarmutsquote von 33,8 % (TR-Today 26.9.2024; vgl. AP 25.12.2024, VOA 25.12.2024). Die soziale Ausgrenzung von Kindern in der Türkei ist nach wie vor alarmierend hoch, wobei die jüngsten Daten kaum oder gar keine Verbesserung erkennen lassen. Der Bericht weist auch auf erhebliche regionale Unterschiede hin, wobei die südöstliche Region [Anm.: mehrheitlich von Kurden bewohnt] am stärksten von Kinderarmut betroffen ist. Obwohl nur 29,6 % der Kinder in der Türkei in dieser Region leben, sind 48,5 % der Kinder in der Region von Armut betroffen. Allein in den Provinzen Şanlıurfa und Diyarbakır leben 13,1 % der verarmten Jugendlichen der Türkei (SCF 9.8.2024; vgl. TEPAV 5.2024).
Abgesehen von der Kinderarbeit nimmt infolge der Wirtschaftskrise auch die allgemeine Armut zu, welche insbesondere Kinder betrifft. - Laut Berichten müssen Millionen Kinder aufgrund der Wirtschaftskrise auf ein grundlegendes Menschenrecht verzichten: das auf ausreichende Ernährung. Einer von vier Schülern geht hungrig zur Schule (FAZ 15.12.2022). In der Türkei brechen die Kinder die Schule in einem noch nie dagewesenen Ausmaß ab, weil sich die Eltern einen Schulbesuch, dazu gehört insbesondere die Verpflegung, nicht mehr leisten können. Laut Omer Yilmaz, Vorsitzender der Schülerelternvereinigung, waren offiziellen Statistiken zufolge im Zeitraum 2021-2022 rund 1,2 Millionen Kinder im Alter von fünf bis 17 Jahren in keiner Schule eingeschrieben. Nimmt man die Schüler hinzu, die Berufsschulen und offene Schulen besuchen, in denen sie vier Tage die Woche arbeiten, so sind heute fast vier Millionen Kinder außerhalb des regulären Bildungssystems und arbeiten entweder für einen geringen Lohn oder suchen nach einem Arbeitsplatz, so Yilmaz (AlMon 23.11.2022).
Laut einer UNICEF-Studie, welche 43 Länder der EU bzw. OECD und G7-Staaten umfasste, lag die Türkei bei der Lebenszufriedenheit der 15-Jährigen an letzter Stelle, wobei sich der Wert zwischen 2018 und 2022 um mehr als 10 % verschlechtert hatte. Als einziges Land lag die Lebenszufriedenheit in der Türkei bei unter 50 % (UNICEF 5.2025, S. 17).
Eheschließungen von Kindern und Minderjährigen
Obwohl Kinderehen illegal sind, werden sie häufig geschlossen, vor allem im Rahmen inoffizieller religiöser Zeremonien oder durch die Erlangung von Heiratslizenzen mit gefälschten Ausweisen (FH 26.2.2025, G4). Die sog. "Kinderehen" stellen weiterhin ein großes Problem, insbesondere in den ländlichen Gebieten und den südöstlichen Provinzen, dar. Unter außerordentlichen Umständen (meist eine Schwangerschaft) kann ein Richter 16-Jährigen die Erlaubnis zur Verehelichung erteilen, sofern die Eltern zustimmen, ansonsten sind Eheschließungen von Minderjährigen unter 17 Jahren verboten. Verehelichung von Kindern unter 16 Jahren ist unter keinen Umständen rechtlich erlaubt. Ehen können nur durch das Standesamt bestätigt werden. Das Parlament verabschiedete allerdings am 18.10.2017 ein Gesetz, das es auch Muftis [islamische Rechtsgelehrte] erlaubt, Trauungen vorzunehmen. Laut Statistikamt ist der Anteil der Eheschließungen von minderjährigen Mädchen auf 3,8 % gesunken (2018). Die offenkundige Problematik dieser Zahl liegt darin, dass nur amtlich geschlossene Ehen erfasst werden. Die meisten Eheschließungen von Kindern werden aber nur vor einem Imam vollzogen (ÖB Ankara 10.2019; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 29). NGOs kritisieren, dass das Alter von minderjährigen Mädchen durch Behörden nach oben "korrigiert" werde, um eine zivilrechtliche Heirat zu ermöglichen. Insbesondere bei von Muftis geschlossenen Zivil-Ehen wird von fehlender Kontrolle der Altersvorschriften berichtet und damit von der Möglichkeit, diese Vorschrift zu umgehen. Staatliche Statistiken zu rein religiösen Eheschließungen gibt es ebenso wenig wie Daten zu Ehen mit Minderjährigen oder zu Zwangsverheiratungen (AA 20.5.2024, S. 14). Die Geburtenstatistik des türkischen Statistikinstituts (TÜİK) führt an, dass 2021 insgesamt 7.190 Mädchen selbst ein Kind zur Welt brachten (Duvar 29.6.2022, vgl. BirGün 27.6.2022), davon waren 117 Kinder unter 15 Jahren und 7.073 in der Altersgruppe der 15- bis 17-Jährigen (BirGün 27.6.2022). Siehe auch das Kapitel: Relevante Bevölkerungsgruppen / Frauen
Auch wenn die Türkei über einen soliden Rechtsrahmen zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern, einschließlich Mädchen verfügt, so werden laut der "UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen ihre Ursachen und Folgen" einige der jüngsten Änderungen der türkischen Rechtsvorschriften zum sexuellen Missbrauch von Kindern (vom Dezember 2016) als Verstoß gegen die internationalen Verpflichtungen des Landes angesehen (OHCHR 27.7.2022b, S. 4).
Früh- und Zwangsverheiratungen sind vor allem im Südosten weit verbreitet. Frauenrechtlerinnen berichten, dass das Problem nach wie vor gravierend ist. Überdies gibt es Brautentführungen, insbesondere in ländlichen Gebieten, obwohl diese Praktiken nicht weit verbreitet sind. NGOs berichten von Kindern im Alter von zwölf Jahren, die in inoffiziellen religiösen Zeremonien verheiratet werden, insbesondere in armen und ländlichen Regionen und unter der syrischen Gemeinschaft (USDOS 22.4.2024, S. 70f.; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 29).
Sexueller Missbrauch, Gewalt und Ausbeutung
Das Gesetz stellt die sexuelle Ausbeutung von Kindern unter Strafe und sieht eine Mindeststrafe von acht Jahren Gefängnis vor. Die Strafe für eine Verurteilung wegen Förderung oder Beihilfe zur kommerziellen sexuellen Ausbeutung von Kindern beträgt bis zu zehn Jahre Gefängnis. Wenn Gewalt oder Druck im Spiel sind, kann ein Richter die Strafe verdoppeln. Weibliche Flüchtlinge und Asylsuchende sind besonders gefährdet, von kriminellen Organisationen ausgebeutet und zu kommerziellem Sex gedrängt zu werden. Diese Praxis ist besonders unter adoleszenten Mädchen verbreitet. Laut NGOs sind besonders junge syrische weibliche Flüchtlinge gefährdet, von kriminellen Organisationen ausgebeutet und zur Sexarbeit gedrängt zu werden (USDOS 22.4.2024, S. 71f.).
Hinsichtlich Kindesmissbrauchs ermächtigt das Gesetz die Polizei und die lokalen Behörden, Kindern, die Opfer von Gewalt geworden oder von Gewalt bedroht sind, verschiedene Schutz- und Unterstützungsleistungen zu gewähren. Dennoch berichten Kinderrechtsaktivisten über eine uneinheitliche Umsetzung und fordern eine Ausweitung der Unterstützung für die Opfer. Das Gesetz verpflichtet die Regierung, den Opfern Dienstleistungen, wie Unterkünfte und vorübergehende finanzielle Unterstützung, zur Verfügung zu stellen, und ermächtigt Familiengerichte, Sanktionen gegen die für die Gewalt verantwortlichen Personen zu verhängen. Ist das Opfer des Missbrauchs zwischen zwölf und 18 Jahren alt, so wird auf sexuelle Belästigung eine Freiheitsstrafe von drei bis acht Jahren, auf sexuellen Missbrauch eine Freiheitsstrafe von acht bis 15 Jahren und auf Vergewaltigung eine Freiheitsstrafe von mindestens 16 Jahren verhängt. Ist das Opfer jünger als zwölf Jahre, so wird auf Belästigung eine Mindeststrafe von fünf, auf sexuellen Missbrauch eine Mindeststrafe von zehn und auf Vergewaltigung eine Mindeststrafe von 18 Jahren verhängt. (USDOS 22.4.2024, S. 70).
Das UN-Komitee für die Rechte des Kindes war ernsthaft besorgt über die mangelnde Anerkennung, die unzureichende Berichterstattung und die unzureichende Untersuchung von Gewalt gegen Kinder, einschließlich körperlicher Züchtigung und häuslicher Gewalt, sowie über die begrenzten professionellen Kapazitäten und Verfahren, um solche Fälle zu verhindern, zu identifizieren, zu melden und in einer kindgerechten Weise darauf zu reagieren, einschließlich der Bereitstellung von Opferhilfe und des Zugangs zu Rechtsmitteln. In Anbetracht der Tatsache, dass die Türkei ein Ziel- und Transitland für den Menschenhandel ist, zeigte sich das UN-Komitee besonders besorgt über den hohen Anteil von Kindern in der Türkei, die zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und der Ausbeutung der Arbeitskraft gehandelt werden, sowie über Berichte über Mittäterschaft offizieller Stellen (UN-CRC 2.6.2023b). Dass die Türkei in den letzten Jahren verstärkt ein Zielland für Menschenhandel ist, zeigen auch die Vergleichszahlen. In der Periode 2014-2018 zählten die Behörden 775 Opfer, während zwischen 2019 und 2023 die Zahl bereits 1466 stieg. - 2023 waren hiervon 29 % (422) Kinder (CoE - GRETA 22.10.2024, S. 6).
Aus der Strafregisterstatistik des Justizministeriums geht hervor, dass die Strafgerichte in der Türkei im Jahr 2021 einen Anstieg von 32,55 % von Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs gegenüber dem Vorjahr verzeichnete. Dementsprechend gab es Verurteilungen in 16.161 der 29.822 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch, darunter sowohl Freiheits- als auch Geldstrafen (Duvar 29.6.2022, vgl. BirGün 27.6.2022). Der negative Trend setzte sich fort. - Ende März 2023 gab das Justizministerium bekannt, dass die Zahl der eingeleiteten Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr wiederum um 33 % gestiegen war. Kindesmissbrauchsdelikte verzeichneten 2023 den zweitstärksten Anstieg aller Straftaten. Menschenrechtsorganisationen werfen der türkischen Regierung vor, keine ausreichenden Maßnahmen zum Schutz von Kindern etabliert zu haben, obwohl das Land das Übereinkommen des Europarats zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (sog. Lanzarote-Konvention) im Jahr 2011 ratifiziert hat (BAMF 3.4.2023, S. 9).
Laut dem Zentrum für Kinderrechte (FISA) wurden in den vergangenen zweieinhalb Jahren seit Herbst 2024 mindestens 64 Kinder ermordet, oft infolge häuslicher Gewalt. Das Zentrum sammelt seine Daten aus öffentlich zugänglichen Quellen, denn seit 2016 veröffentlichen die Behörden keine offiziellen Daten mehr zu getöteten oder vermissten Kindern. Den letzten veröffentlichten Statistiken zufolge wurden im Zeitraum von 2008 bis 2016 landesweit 104.531 Kinder als vermisst gemeldet. Experten kritisieren die mangelnde Transparenz und fehlende präventive Politik in diesem Bereich und fordern eine systematische Sammlung und Veröffentlichung von Informationen zu den vermissten Kindern. Auch der UN-Ausschuss für Kinderrechte (CRC) appelliert schon seit Jahren an die türkischen Behörden, die entsprechenden Informationen bereitzustellen (DW 24.9.2024).
Kindersoldaten
Die USA setzten am 1.7.2021 die Türkei, und somit erstmalig ein NATO-Land, auf die Liste jener Staaten, die 2020 in den Einsatz von Kindersoldaten verwickelt waren, und zwar in die Rekrutierung und den Einsatz von Kindersoldaten in Syrien und Libyen (USDOS 1.7.2021; vgl. BAMF 5.7.2021, S. 15, MEE 1.7.2021). Laut dem Trafficking in Persons Report von 2024 des US-Außenministeriums, hat die türkische Regierung Elemente der Syrischen Nationalarmee (SNA), einer Koalition nicht-staatlicher bewaffneter Gruppen in Syrien, die Kindersoldaten rekrutiert und einsetzt, unterstützt. Auch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) rekrutierte und entführte Kinder, um sie als Kindersoldaten einzusetzen (USDOS 24.6.2024).
Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023
Der Zugang zu Grundbedürfnissen wie Nahrung, Wasser und Unterkünften war die wichtigste Herausforderung nach dem Erdbeben, wobei Kinder häufig am stärksten gefährdet waren. Kinder in den betroffenen Gemeinden hatten aufgrund der obligatorischen Schulschließungen keinen Zugang mehr zu Bildung. Schließlich hatte das Erdbeben die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Kinder ausgebeutet und missbraucht werden (KRF 20.2.2023). Mehrere Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder wurden aus den Erdbebengebieten vermeldet (EC 8.11.2023, S. 40). Es wurde in dem Zusammenhang über Fälle von Kinderhandel und Kinderarbeit berichtet (KRF 20.2.2023).
II.1.6.14. Bewegungsfreiheit
Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern (ÖB Ankara 4.2025, S. 14f.; vgl. USDOS 22.4.2024 S. 41).
So ist die Bewegungsfreiheit generell in einigen Regionen und für Gruppen, die von der Regierung mit Misstrauen behandelt werden, eingeschränkt. Im Südosten der Türkei ist die Bewegungsfreiheit aufgrund des Konflikts zwischen der Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans - PKK limitiert (FH 26.2.2025, G1). Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB Ankara 4.2025, S. 9; vgl. USDOS 22.4.2024 S. 42), obschon die Verfassung vorschreibt, dass nur Richter die Bewegungsfreiheit von Bürgern limitieren können, und auch nur in Verbindung mit einer strafrechtlichen Untersuchung bzw. Verfolgung (USDOS 22.4.2024 S. 42).
Bei der Einreise in die Türkei besteht allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar. Die Ausreisekontrollen an türkischen Grenzübergängen sind in der Regel streng. Ein- und Ausreisedaten werden genauestens erfasst und die Reisenden in den entsprechenden Fahndungssystemen überprüft (AA 20.5.2024, S. 24f.).
Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MBZ 18.3.2021, S. 27f.; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 14f.). Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, inwieweit eine Person, die das negative Interesse der türkischen Behörden auf sich gezogen hat, das Land legal verlassen kann, oder eben nicht, während ein Strafverfahren noch anhängig ist. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an (MBZ 2.3.2022, S. 27). Dennoch bestätigten Quellen des niederländischen Außenministeriums, dass in den meisten Fällen mit politischer Dimension, die im Kontext des Strafrechts als "Terrorfälle" gelten, ein Ausreiseverbot verhängt wird. In Fällen mit politischem Kontext sind insbesondere kurdische Aktivisten und (angebliche) Gülenisten betroffen. Die Häufigkeit von Ausreiseverboten in Fällen mit einer politischen Dimension gilt als "weit verbreitet" und "systematisch". Jedoch gibt es Fälle von unauffälligen politischen Aktivisten, gegen die kein Ausreiseverbot verhängt wurde (MBZ 2.2025a, S. 37).
Mitunter wird sogar gegen Parlamentarier ein Ausreiseverbot verhängt. - So wurde im März 2022 auf richterliches Geheiß dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu die Ausreise untersagt und sein Reisepass im Rahmen der gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen eingezogen (Duvar 10.3.2022). Ende Dezember 2022 wurde, ebenfalls gegen einen HDP-Parlamentarier, eine Reisesperre verhängt. Zeynel Özen, der zudem schwedischer Staatsbürger und Mitglied des Harmonisierungsausschusses der Europäischen Union ist, wurde auf Anweisung des Innenministers am Flughafen Istanbul ohne Begründung die Ausreise verweigert (Medya 26.12.2022; vgl. Duvar 26.12.2022). Vor dem Hintergrund des Gazakrieges wurde im Oktober 2023 15 Parlamentariern der pro-kurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker - HEDEP [mit abgeänderter Abkürzung inzwischen DEM-Partei als Vorgängerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei] trotz parlamentarischer Immunität die Ausreise verweigert (Duvar 20.10.2023).
Im Juni 2024 zogen die Behörden die Pässe von neun Ko-Bürgermeistern aus Gemeinden mit kurdischer Mehrheit ein, darunter die Bürgermeisterin von Diyarbakır Serra Bucak, ohne dass ein Gerichtsbeschluss vorlag. Das Innenministerium verteidigte den Schritt mit dem Hinweis auf die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung (Medya 24.6.2024; vgl. Rudaw 24.6.2024). Im Februar 2025 untersagte ein Istanbuler Gericht zwei leitenden Funktionären des Wirtschaftsverbands TUSIAD im Rahmen einer Untersuchung ihrer Äußerungen zur Demokratie, die Erdogan als Untergrabung der Regierung bezeichnet hatte, die Ausreise ins Ausland. Auf der Generalversammlung der Organisation hatten TUSIAD-Präsident Orhan Turan und Omer Aras, der Vorsitzende der türkischen Bankensparte der QNB, das harte Vorgehen der Regierung gegen Oppositionelle und Journalisten kritisiert (REU 20.2.2025). Drei Monate später wurde die Ausreisesperre aufgehoben. Das Verfahren lief hingegen weiter, wobei der Staatsanwalt bis zu fünf Jahren Haft forderte (HDN 20.5.2025; vgl. Bianet 22.5.2025).
Das Recht zur Ausreise wiederum darf durch eine richterliche Entscheidung im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung oder Verfolgung eingeschränkt werden. Die Strafrichter machen von den Einschränkungsmöglichkeiten großzügig Gebrauch. Es ist gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, welche sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat. Umgekehrt wird über nicht türkische Staatsangehörige, die mit der türkischen Strafjustiz in Kontakt gekommen sind oder deren Aktivitäten außerhalb der Türkei als negativ wahrgenommen wurden, eine Einreisesperre verhängt (ÖB Ankara 4.2025, S. 14f.). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert wurden. 55 hätten sich wegen "Terror"-Vorwürfen in Haft befunden, und gegen 49 weitere wäre eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022). Mindestens 65 deutsche Staatsbürger konnten mit Stand November 2023 die Türkei aufgrund von Ausreisesperren nicht verlassen, die Hälfte wegen Terrorvorwürfen (Zeit Online 16.11.2023).
Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z. B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-Devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MBZ 18.3.2021, S. 27f).
Die Regierung beschränkt weiterhin Auslandsreisen von Bürgern, die unter Terrorverdacht stehen oder denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das gilt auch für deren Familienangehörige. Medienschaffende, Menschenrechtsverteidiger und andere, die mit politisch motivierten Anklagen konfrontiert sind. Sie werden oft unter "gerichtliche Kontrolle" gestellt, bis das Ergebnis ihres Prozesses vorliegt. Dies beinhaltet häufig ein Verbot, das Land zu verlassen. Die Behörden hindern auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran, das Land zu verlassen, was dazu führt, dass manche das Land illegal verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 22.4.2024, S. 42f.).
Urteile des Verfassungsgerichtes im Sinne der Bewegungsfreiheit
Das türkische Verfassungsgericht hob Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung auf, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019). Das Verfassungsgericht entschied überdies Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).
Im Frühjahr 2024 erklärte das Verfassungsgericht, dass das gegen die Menschenrechtsaktivistin Nurcan Kaya verhängte internationale Reiseverbot ihre Meinungsfreiheit verletze. Nurcan Kaya wurde am Istanbuler Flughafen im Oktober 2019 festgenommen, als sie versuchte, an einer Sitzung der Vereinten Nationen teilzunehmen. Kaya wurde im Rahmen einer Untersuchung inhaftiert unter der Anschuldigung "Hass und Feindschaft unter den Menschen zu schüren", nachdem sie 2014 in einem Tweet geschrieben hatte: "Nicht nur die Kurden, sondern alle in Kobanê lebenden Völker leisten Widerstand." Während ihres Prozesses unterlag Kaya einer 1,5-monatigen gerichtlichen Kontrolle, die ein internationales Reiseverbot und die Beschlagnahme ihres Reisepasses beinhaltete. - Das Verfassungsgericht erkannte an, dass die gerichtlichen Maßnahmen Kayas Fähigkeit zur Teilnahme am öffentlichen Diskurs beeinträchtigten, und sprach Kaya 13.500 Lira (ca. 390 Euro) als immateriellen Schadenersatz zu. Darüber hinaus kritisierte das Verfassungsgericht die Justiz dafür, dass sie vor der Verhängung des Reiseverbots keine weniger restriktiven Maßnahmen in Betracht gezogen und Berufungen gegen das Verbot aus „abstrakten Gründen“ abgelehnt hatte (Duvar 7.3.2024; vgl. MLSA 6.3.2024).
Im November 2024 erklärte das Verfassungsgericht die Bestimmung im Passgesetz für nichtig, welche die Ausstellung von Reisepässen an Personen untersagte, die vom Innenministerium als ein allgemeines Sicherheitsrisiko angesehen wurden, wenn sie das Land verließen. Das Verfassungsgericht stellte fest, dass die fragliche gesetzliche Einschränkung nicht allgemeiner Natur war, sondern sich vielmehr gegen bestimmte Personen richtete. Es betonte, dass das Recht, das Land zu verlassen, gemäß Artikel 23 der Verfassung nur aufgrund strafrechtlicher Ermittlungen oder Strafverfolgung eingeschränkt werden kann. Das Verfassungsgericht entschied, dass die Entscheidung über diese Angelegenheit durch Verwaltungsbehörden einen Verstoß darstellt. Das Gericht befand, dass die Bestimmung das verfassungsmäßige Recht auf Freizügigkeit in einer Weise einschränkt, die nicht mit den in der Verfassung dargelegten Gründen für eine Einschränkung vereinbar ist. Folglich erklärte es die Gesetzesklausel für nichtig, die Personen, die vom Innenministerium als Sicherheitsrisiken eingestuft wurden, die Ausstellung von Reisepässen verweigerte (Bianet 21.11.2024; vgl. TM 21.11.2024).
II.1.6.15. Grundversorgung / Wirtschaft
Die makroökonomischen Stabilisierungsmaßnahmen haben die Unsicherheit verringert. Die Preisstabilität bleibt das vorrangige Ziel der Politik, und die Geld- und Fiskalpolitik ist darauf ausgerichtet, die Senkung der Inflation voranzutreiben und gleichzeitig die Sozialpolitik zum Schutz der Schwächsten zu stärken. Die Inflation ging von einem Höchststand von 75 % im Mai 2024 auf 38 % im März 2025 zurück. Die Inflation der Lebensmittelpreise ist niedriger und könnte laut Weltbank die Auswirkungen der steigenden Preise auf die am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen abmildern. Die Inflation dürfte bis Ende 2025 einen Wert im oberen Bereich der 20 % erreichen (WB 24.4.2025).
Das Wirtschaftswachstum der Türkei könnte sich 2025 von 3,2 % im Jahr 2024 und 5,1 % im Jahr 2023 laut Internationalem Währungsfonds infolge der strafferen Geldpolitik auf 2,6 % abschwächen, denn in wichtigen Absatzmärkten wie in der EU lässt die Dynamik nach. Noch aber treiben Konsum und Exporte das türkische Wachstum an (GTAI 19.2.2025; vgl. WB 24.4.2025). Die wirtschaftliche Lage zeigt langsam nachhaltige Zeichen der Verbesserung. Es scheint, dass die stringente orthodoxe Wirtschaftspolitik der letzten 18 Monate beginnt Früchte zu tragen. Gleichzeitig sieht man erste Anzeichen, dass der innertürkische Konsum sich verlangsamt, was einerseits gut für die Inflation ist, andererseits würde eine zu starke Verlangsamung die Wachstumsaussichten reduzieren (WKO 3.2025, S. 4).
Nach der gewonnenen Wahl im Mai 2023 vollzog Staatspräsident Erdoğan einen Kurswechsel hin zu einer restriktiven Geldpolitik, mit dem obersten Ziel, die horrende Inflation zu bekämpfen. Die Niedrigzinspolitik der Vorjahre hat Spuren hinterlassen. Sie befeuerte die Inflation und den Abwertungsdruck auf die türkische Lira. Die Nettoreserven der Zentralbank sind gesunken, die Auslandsverschuldung und Abhängigkeit von ausländischen Finanzhilfen ist hoch. Die bisherigen Entscheidungen lassen auf eine verlässlichere Wirtschafts- und Geldpolitik hoffen. Viele Unternehmen befürchten allerdings weitere Kehrtwenden Erdoğans. Für die künftige Wirtschaftsentwicklung wird es entscheidend sein, Vertrauen bei internationalen Investoren und der heimischen Wirtschaft zurückzugewinnen. Die Inflation hat die reale Kaufkraft der Haushalte geschmälert. Gehaltserhöhungen federn die Einbußen meist nur ab. Noch treibt die Inflation den Konsum an, denn Sparen lohnt sich kaum. Die Bevölkerung flüchtet wegen der schwachen Lira in Gold, Devisen, Aktien, Kryptowährung oder Immobilien (GTAI 19.2.2025).
Die Zahl der Arbeitslosen im Alter von 15 Jahren und älter ist gemäß staatlicher Statistik im Jahr 2024 im Vergleich zum Vorjahr um 151 Tausend auf 3 Millionen 113 Tausend Personen gesunken. Die Arbeitslosenquote ist um 0,7 Prozentpunkte auf 8,7 % gesunken. Sie wurde auf 7,1 % für Männer und 11,8 % für Frauen geschätzt. Die Jugendarbeitslosenquote in der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen lag bei 16,3 %, was einem Rückgang von 1,1 Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr entspricht. Während diese Quote für Männer auf 13,1 % betrug, lag sie bei den jungen und Frauen bei 22,3 %. - Die Zahl der Erwerbstätigen im Alter von 15 Jahren und darüber wurde mit 32 Millionen 620 Tausend Personen angegeben, wobei die Zahl der Erwerbstätigen um 988 Tausend Personen zunahm und die Erwerbstätigenquote im Jahr 2024 im Vergleich zum Vorjahr um 1,2 Prozentpunkte auf 49,5 % stieg. Diese Quote wurde für Männer auf 66,9 % und für Frauen auf 32,5 % geschätzt (TUIK 20.3.2025).
Eine wachsende Zahl meist junger Menschen verlässt das Land. Diese Entwicklungen kündigen eine drohende demografische Krise an, die sich negativ auf die türkische Wirtschaft auswirken und eine umfassende Anpassung der Sozialpolitik erforderlich machen wird. Die Auswanderung begann nach 2020 anzusteigen, aber 2023 war ein Rekordjahr für die Abwanderung: 715.000 Menschen verließen das Land dauerhaft, darunter 291.000 türkische Staatsbürger, was einem Anstieg von 53 % gegenüber dem Vorjahr entspricht. Die Mehrheit der Auswanderer war zwischen 25-29 und 30-34 Jahre alt (OSW/Z.Krzyżanowska 7.8.2024; vgl. FP 27.1.2023). Eine empirische Studie der Forschungsagentur KONDA vom Mai 2024 unter 930 Jugendlichen zwischen 15 und 29 (von insgesamt 3.147 Befragten aller Altersgruppen) ergab, dass fast 60 % der jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren im Ausland leben wollen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. In der Altersgruppe der 25- bis 29-Jährigen ging dieser Anteil zwar leicht zurück, lag aber immer noch bei mehr als der Hälfte (Duvar 24.6.2024). Bestätigt wird dies durch eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus 2024. - Demnach hatten in der Altersgruppe der 14 bis 29-Jährigen 16,1 % ein "sehr starkes", 19,4 % ein "starkes" und weitere 26,6 % ein "moderates" Verlangen für mehr als sechs Monate in ein anderes Land zu emigrieren, wobei 57,4 % wirtschaftliche und immerhin 13,1 % politische Gründe angaben (FES 10.2024, S. 2, 77f.).
Armut und soziale Ungleichheit
Was die soziale Inklusion und den sozialen Schutz betrifft, so verfügt die Türkei laut Europäischer Kommission noch immer nicht über eine gezielte Strategie zur Armutsbekämpfung. Der anhaltende Preisanstieg hat das Armutsrisiko für Arbeitslose und Lohnempfänger in prekären Beschäftigungsverhältnissen weiter erhöht. Die Armutsquote erreichte 2022 14,4 % gegenüber 13,8 % im Jahr 2021. Die Quote der schweren materiellen Verarmung (severe-material-deprivation rate) erreichte im Jahr 2022 28,4 % (2021: 27,2 %). Das Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung ist bei Kindern am höchsten und bei älteren Menschen stark erhöht (EC 30.10.2024, S. 68). Die Kinderarmutsquote war im Jahr 2022 mit 41,6 % besonders hoch (EC 8.11.2023, S. 102). Der Gini-Koeffizient als Maß für die soziale Ungleichheit (Dieser schwankt zwischen 0, was theoretisch völlige Gleichheit, und 1, was völlige Ungleichheit bedeuten würde.) betrug 2024 nach Einberechnung der dämpfend wirkenden Sozialtransfers 0,413. 2014 lag er noch bei 0,391 (TUIK 27.12.2024). [Anm.: In Österreich betrug laut Momentum Institut der Gini-Koeffizient nach Steuern und staatlichen Transferleistungen 2020 0,28].
Zu den bekannten Auswirkungen hoher Inflation gehört, dass die Schere zwischen niedrigen und hohen Einkommen weiter auseinandergeht. Von 2014 bis 2023 ist der Anteil der niedrigsten vier Einkommensgruppen (80 %) am Gesamteinkommen gesunken, während der Anteil der höchsten Einkommensgruppe von 45,9 auf 49,8 % gestiegen ist. Das bedeutet, dass die obersten 20 % fast die Hälfte des verfügbaren Einkommens besitzen. Während Haushalte in der niedrigsten Einkommensgruppe mehr als 36 % ihres Einkommens für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke aufwenden müssen, beträgt dieser Anteil in der höchsten Einkommensgruppe nur gut 14 %. Das bedeutet, dass die niedrigste Einkommensgruppe mit 78 % überdurchschnittlich von der Inflation betroffen ist. Betrachtet man den Zeitraum von zehn Jahren, so ist der Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke in der niedrigsten Einkommensgruppe von 28,8 % in 2014 auf 36,6 % in 2023 angestiegen (FES 11.7.2024).
Die Armutsgrenze in der Türkei lag Ende Dezember 2024 laut Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) bei 68.675 Lira (rund 1.875 Euro) (Dezember 2023: 47.000 Lira/ damals rund 1.400 Euro). Allerdings erhöhten sich die Mindestausgaben einer vierköpfigen Familie innerhalb der letzten zwölf Monate um 46 %. - Die Armutsgrenze gibt an, wie viel Geld eine vierköpfige Familie benötigt, um sich ausreichend und gesund zu ernähren, und deckt auch die Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Kleidung, Miete, Strom, Wasser, Verkehr, Bildung und Gesundheit ab. - Die Hungerschwelle, die den Mindestbetrag angibt, der erforderlich ist, um eine vierköpfige Familie im Monat vor dem Hungertod zu bewahren, lag Ende 2024 bei knapp 21.000 Lira bzw. circa 575 Euro (Ende Dezember 2023: 14.431 Lira bzw. rund 440 Euro) (Duvar 1.1.2025; vgl. Duvar 3.1.2024).
Um die Kaufkraft zu stärken, hob die Regierung den gesetzlichen Mindestlohn zum 1.1.2025 von 17.000 Lira (465 Euro) um 30 % auf 22.104 Lira (607 Euro) an (Tagesschau 3.1.2025; vgl. MLSS/CSGB 24.12.2024). Während die Befürworter der Maßnahme argumentieren, dass es sich um den höchsten Mindestlohn der letzten Jahre handelt, mit einer Erhöhung um 30 %, weisen Kritiker darauf hin, dass er deutlich unter der jährlichen Inflationsrate für 2024 von 44 % lag. - Steigende Mietkosten unterstreichen die Unzulänglichkeiten des neuen Mindestlohns, zumal 42 % der Türken nur den Mindestlohn verdienen. In Istanbul liegt die durchschnittliche Monatsmiete bei 709 Dollar, in Ankara bei 567 Dollar - beide Zahlen liegen über oder nahe dem Mindestlohn (MEE 27.12.2024). Die Istanbuler Planungsagentur (IPA), die der Istanbuler Stadtverwaltung angegliedert ist, hat die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten für eine vierköpfige Familie in der Megastadt im Juli 2024 auf 66.550 Lira (1.982 US-$) berechnet. Das war fast das Vierfache des Mindestlohns (17.002 Lira). Die Steigerungsrate der letzten zwölf Monate lag somit bei 71,4 % (Duvar 6.8.2024).
Die Lohneinkommen, die durch Mindestlohnsteigerungen (30 % im Jahr 2025) und eine starke Arbeitsmarktentwicklung angekurbelt werden, dürften weiterhin die wichtigste Triebkraft für die Armutsbekämpfung sein. Angesichts der hohen Gesamtarbeitslosigkeit und der informellen Beschäftigung könnten jedoch Personen, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, nicht vom Wachstum profitieren. Gezielte und flexible Sozialschutzprogramme sind laut Weltbank erforderlich, um diese Gruppe vor den Auswirkungen der hohen Inflation zu schützen (WB 24.4.2025).
Die Krise bedeutet für viele Türken Schwierigkeiten zu haben, sich Lebensmittel im eigenen Land leisten zu können. Der normale Bürger kann sich inzwischen Milch- und Fleischprodukte nicht mehr leisten: Diese werden nicht mehr für jeden zu haben sein, so Semsi Bayraktar, Präsident des Türkischen Verbandes der Landwirtschaftskammer. Die Türkei befand sich 2023 mit 69 % an fünfter Stelle auf der Liste der globalen Lebensmittel-Inflation (DW 13.4.2023). Bülent Mumay, Türkei-Kolumnist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, beschreibt die Lage Anfang 2025 folgendermaßen: "[...] Wohnungsmieten stiegen 2024 um 52 %. Die Preise für Möbel haben sich in den letzten fünf Jahren um 555 % verteuert, für große und kleine Haushaltsgeräte gar um 615 %. Für junge Leute ist aus ökonomischen Gründen bereits die Fortsetzung ihres Studiums schwierig geworden, geschweige denn die Gründung einer Familie. Innerhalb der letzten fünf Jahre brachen rund 325.000 Studenten ihr Studium ab, um stattdessen zum Familieneinkommen beizutragen. Doch wer sich für Arbeit statt Studium entscheidet, ist zum Mindestlohn von rund 600 Euro verdammt – wie mindestens die Hälfte aller Erwerbstätigen im Land. 90 % der Erwerbstätigen in der Türkei verdienen unter 1200 Euro im Monat. Diese Situation führt dazu, dass sich die Armut im Land weiter ausbreitet. Rund 40 % der Menschen können sich rotes oder weißes Fleisch oder Fisch nicht einmal mehr jeden zweiten Tag leisten. 15 % können ihre Heizkosten nicht mehr aufbringen. 12 % waren im letzten Monat außerstande, ihre Miete zu zahlen. 60 % können abgenutztes Mobiliar nicht ersetzen, 31 % nicht einmal ein undichtes Dach reparieren lassen. Und eine Woche Urlaub im Jahr bleibt für 58 % unerschwinglich [...]" (FAZ/Mumay B. 3.1.2025).
Die staatlichen Ausgaben für Sozialleistungen betrugen 2023 lediglich 10,1 % des BIP. In vielen Fällen sorgen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung (ÖB Ankara 4.2025, S. 57). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022). NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten (ÖB Ankara 4.2025, S. 57).
Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist gewährleistet. Unterkünfte im unteren Preissegment sind Mangelware. Die Zahl der Obdachlosen steigt durch Flüchtlinge, Inflation und zuletzt durch das Erdbeben. Bis auf einige gemeinnützige Einrichtungen mit wenigen Plätzen gibt es keine staatlichen Obdachlosenunterkünfte (AA 20.5.2024, S. 21).
II.1.6.15.1. Sozialbeihilfen / -versicherung
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 20.5.2024, S. 21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfı) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 20.5.2024, S. 21; vgl. ÖSV/Hekimler A. 14.11.2020).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 46 Sozialunterstützungsleistungen, wobei der Anspruch an schwer zu erfüllende Bedingungen gekoppelt ist. - Hierzu zählen (alle mit Stand: April 2025): Sachspenden in Form von Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 Lira für das erste, 400 für das zweite, 600 ab dem dritten Kind beträgt; für hilfsbedürftige Familien mit Mehrlingen: Kindergeld für die Dauer von zwölf Monaten über monatlich 400 Lira, wenn das pro Kopf Einkommen der Familie 7.368,22 Lira nicht übersteigt; finanzielle Unterstützung für Gebärende: sog. "Stillgeld" in einmaliger Höhe von 1.238 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Pensionen und Betreuungsgeld für Behinderte und ältere pflegebedürftige Personen: zwischen 3.723,27 und 5.584,91 Lira je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 10.125,56 Lira für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Unterstützung von monatlich 1.000 Lira für Witwen, in deren Haushalt keine sozialversicherte Person lebt und welche bedürftig sind, aus dem Sozialhilfe- und Solidaritätsfonds der Regierung. Zudem gibt es die Hinterbliebenenpension, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet, maximal 75 % des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners (ÖB Ankara 4.2025, S. 57f.).
Pflegebedürftigkeit ist bis heute im türkischen Sozialversicherungssystem nicht als Risiko anerkannt, und es existiert auch keine einheitliche Definition des Begriffs "Pflegebedürftigkeit". Im Endeffekt gibt es kein System, das die Pflegebedürftigen oder ihre pflegenden Familienangehörigen direkt oder indirekt finanziell unterstützt. In der Türkei ist Pflege im eigenen Heim eine weitverbreitete Praxis, wobei es sich selten um eine professionelle Pflege handelt, da sich diese nicht einmal annähernd jeder leisten kann. Ein weiteres, immer mehr bemerkbar werdendes Problem ist der Fachkräftemangel im Pflegebereich. Die einzige Leistung, die seit einigen Jahren gewährt wird, ist das sog. Pflegegeld, das allerdings nicht mit dem Pflegegeld in Österreich zu vergleichen ist. In der Türkei hat nicht jeder Bedürftige bei Eintritt des Pflegefalles Anspruch auf die Pflegegeldleistung. Im bestehenden System werden geistig oder körperlich behinderten Personen ab dem Behinderungsgrad von über 50 % und unter sehr strengen Auflagen Leistungen zugesprochen, wobei diese finanziellen Leistungen bei Weitem nicht die anfallenden Kosten decken (ÖSV/Hekimler A. 14.11.2020).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2 %; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9 % und der Arbeitgeberanteil auf 11 %. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5 % und für die Arbeitgeber 7,5 % (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1 % vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2 %, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1 % des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SSA 9.2018).
II.1.6.15.2. Arbeitslosenunterstützung
Die Arbeitslosenversicherung wurde im Jahr 1999 eingeführt und ist als Pflichtversicherung konzipiert. Versichert sind grundsätzlich alle Personen, die einer Beschäftigung im Rahmen eines Arbeitsvertrages nachgehen. Bestimmte Personengruppen sind von der Versicherungspflicht ausdrücklich ausgenommen, wie z. B. die Beamten und diejenigen, welche selbstständig einem Beruf nachgehen. Generell wird zwischen aktiven und passiven Leistungen unterschieden. Das von der Versicherung gezahlte Arbeitslosengeld stellt eine passiv geleistete Hilfe, eine angebotene Arbeits- und Berufsausbildung dagegen eine aktive Hilfsleistung dar. Im Fall der Arbeitslosigkeit gibt es nur eine finanzielle Unterstützung, die aus der Arbeitslosenversicherung gewährt wird, nämlich das Arbeitslosengeld. Daher wird nach dem zeitlich befristeten Arbeitslosengeld keine weitere finanzielle Leistung aus der Arbeitslosenversicherung sowie aus weiteren Institutionen erbracht (ÖSV/Hekimler A. 14.11.2020).
Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens 120 Tagen bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40 % des Durchschnittslohns der letzten vier Monate, maximal jedoch 80 % des Bruttomindestlohns. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (İŞKUR o.D.; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 57).
Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 10.2024, S. 2; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 57, İŞKUR o.D.). Zudem muss der Arbeitnehmer die letzten 120 Tage vor dem Leistungsbezug ununterbrochen in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Für die Dauer des Leistungsbezugs übernimmt die Arbeitslosenversicherung die Beiträge zur Kranken- und Mutterschutzversicherung (ÖB Ankara 4.2025, S. 57; vgl. ÖSV/Hekimler A. 14.11.2020). Das Gesetz schreibt vor, dass das Arbeitsverhältnis nicht auf Betreiben des Arbeitnehmers aufgelöst oder aufgrund seines Fehlverhaltens gekündigt worden sein darf (ÖSV/Hekimler A. 14.11.2020).
Nach Erhöhung des Mindestlohns im Jänner 2025 beträgt der Mindestarbeitslosenbetrag derzeit 10.323 Lira (ca. 250 EUR), der Maximalbetrag 20.646 Lira (rund 500 EUR) (İŞKUR 2025; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 57, CottGroup 25.12.2024).
II.1.6.16. Medizinische Versorgung
Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der "Nationalen Gesundheitsfürsorge" und der "Sozialen Krankenkasse" etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc. Die staatliche Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern mit einschließt. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. 90 % der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei der Geburt um 70 %, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel. Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3 % des Bruttomindestlohnes. Personen ohne reguläres Einkommen müssen monatlich 780,17 Lira (Stand April 2025: ca. 18 EUR) einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (178 €/Monat - Stand April 2025) (ÖB Ankara 4.2025, S. 58f). Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016).
Die Gesundheitsausgaben aus eigener Tasche der Haushalte für Behandlungen, Arzneimittel usw. beliefen sich 2023 auf 220 Milliarden 914 Millionen Lira, was einem Anstieg von 97,2 % gegenüber dem Vorjahr entspricht. Das Verhältnis der Gesundheitsausgaben aus eigener Tasche der Haushalte zu den gesamten Gesundheitsausgaben betrug 17,8 % im Jahr 2023 (TUIK 6.12.2024).
Personen, die über eine Sozial- oder Krankenversicherung verfügen, können im Rahmen dieser Versicherung kostenlose Leistungen von Krankenhäusern in Anspruch nehmen. Die drei wichtigsten Organisationen in diesem Bereich sind:
Sozialversicherungsanstalt (SGK): für die Privatwirtschaft und die Arbeiter des öffentlichen Dienstes. Nach dem Gesetz haben alle Personen, die auf der Grundlage eines Dienstvertrags beschäftigt sind, Anspruch auf Sozialversicherung und Gesundheitsfürsorge.
Sozialversicherungsanstalt für Selbstständige (Bag-Kur): Diese Einrichtung deckt die Selbstständigen ab, die nicht unter das Sozialversicherungsgesetz (SGK) fallen. Dies sind Handwerker, Gewerbetreibende, Kleinunternehmer und Selbstständige in der Landwirtschaft.
Pensionsfonds für Beamte (Emekli Sandigi): Dies ist ein Pensionsfonds für Staatsbedienstete im Ruhestand, der auch eine Krankenversicherung umfasst (EUAA 8.4.2023).
GSS - Allgemeine Krankenversicherung
Die allgemeine Krankenversicherung ist als beitragsfinanzierte Pflichtversicherung konzipiert. Der Beitragsanteil ist mit 12,5 % des Bruttolohnes festgelegt, wovon 5 % auf den Arbeitnehmer und 7,5 % auf den Arbeitgeber fallen. Grundsätzlich sind alle Staatsbürger sowie Ausländer, die länger als ein Jahr in der Türkei ihren Aufenthalt haben, in den Schutzbereich einbezogen ÖSV/Hekimler A. 14.11.2020; vgl. DRV-Recht 25.1.2020). Ausnahmen von der Versicherungspflicht gelten lediglich für das Parlament, das Verfassungsgericht, Soldaten/Wehrdienstleistende sowie Häftlinge. Ferner sind Ausländer, die in ihren Heimatstaaten über einen Krankenversicherungsschutz verfügen oder sich kürzer als ein Jahr in der Türkei aufhalten, nicht versicherungspflichtig. Für Kinder bis zum Alter von 18 beziehungsweise 25 Jahren, Ehepartner und (Schwieger-) Elternteile ohne eigenes Einkommen besteht die Möglichkeit einer Familienversicherung (DRV-Recht 25.1.2020). Ist das Einkommen der betroffenen Personen in einem Haushalt weniger als ein Drittel des Mindestlohnes, sind die Beiträge vom Staat zu übernehmen. Sollte das Einkommen zwischen einem Drittel des gesetzlichen Mindestlohns und der gesetzlichen Mindestlohngrenze liegen, sind die Beiträge auf Basis eines Drittels des Mindestlohns für die allgemeine Krankenversicherung zu entrichten. Wenn das Einkommen bis zum Zweifachen des Mindestlohns ausmacht, sind die Beiträge auf der Grundlage des Mindestlohns abzuführen. Sollte allerdings das Einkommen über dem Zweifachen des gesetzlichen Mindestlohns liegen, sind Beiträge auf Basis des zweifachen Ausmaßes des Mindestlohns zu entrichten. - Im Grunde kann man den unter Schutz genommenen Personenkreis in drei Gruppen einteilen. Die erste ist die jener, die einer Beschäftigung nachgehen und ihre Beiträge entrichten. In die zweite Gruppe werden diejenigen eingeordnet, die zwar keiner Beschäftigung nachgehen, jedoch durch Entrichtung von Beiträgen in den Versicherungsschutz einbezogen werden. Zu diesen zählen z. B. freiwillig Versicherte, Ausländer, die ihren Aufenthalt in der Türkei haben und nicht von ihrem Heimatstaat aus versichert sind. Für die dritte Gruppe werden die Beiträge direkt vom Staat übernommen, diese sind z. B. Bedürftige, Asylanten und einige weitere Personen (ÖSV/Hekimler A. 14.11.2020; vgl. DRV-Recht 25.1.2020).
Der allgemein Krankenversicherte muss vor der Leistungsinanspruchnahme im letzten Jahr mindestens für 30 Tage Beiträge geleistet haben. Daneben dürfen freiwillig Versicherte, selbstständig Tätige sowie Ausländer mit Aufenthaltsbewilligung und nicht von ihrem Heimatland aus versichert sind, keine Beitragsschulden haben. Die Generalklausel von mindestens 30 Tagen an Beiträgen im letzten Jahr vor Eintritt des Leistungsfalles entfällt in Notfällen, bei Berufsunfällen, Berufskrankheiten, ansteckenden Krankheiten, Mutterschaft und in einigen weiteren Fällen (ÖSV/Hekimler A. 14.11.2020).
Der Antrag für die allgemeine Krankenversicherung wird bei den Sozialhilfe- und Solidaritätsstiftungen innerhalb der Verwaltungsgrenzen der Provinz oder des Bezirks gestellt, in der/dem der Wohnsitz der Person im adressbasierten Melderegister eingetragen ist (EUAA 8.4.2023).
Selbstbehalt (Zuzahlungen)
Beim Selbstbehalt (i. e. Zuzahlung) handelt es sich um einen kleinen Betrag, der von den Bürgern gezahlt wird und der als Zuzahlung für Untersuchungen bezeichnet wird. Mit anderen Worten, die Zuzahlung bzw. Selbstbehalt bezieht sich auf die Gebühr, die Versicherte und Rentner oder ihre abhängigen Angehörigen für die Gesundheitsdienstleistungen zahlen, die sie von Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäusern, Hausärzten, Gesundheitszentren usw. erhalten. Die Zuzahlung wird für ambulante Untersuchungen erhoben, mit Ausnahme derjenigen, die bei primären Gesundheitsdienstleistern, d. h. bei Hausärzten, durchgeführt werden. Die Zuzahlung beträgt 6 Lira in öffentlichen Einrichtungen der sekundären Gesundheitsversorgung, 7 Lira in Ausbildungs- und Forschungskrankenhäusern des Gesundheitsministeriums, die gemeinsam mit Universitäten genutzt werden, und 8 Lira in Universitätskliniken. Zuzahlungen bzw. Selbstbehalte bei Medikamenten werden von der Apotheke bei der ersten Beantragung eines Rezepts erhoben. Im Falle einer ambulanten Behandlung sind die Sätze: 10 % der Arzneimittelkosten für Rentner und deren Angehörige, 20 % der Medikamentenkosten für andere Versicherte und deren Angehörige (EUAA 8.4.2023).
Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Private Versicherungen können, je nach Umfang und Deckung, hohe Behandlungskosten übernehmen. Innerhalb der SGK sind Impfungen, Laboruntersuchungen zur Diagnose, medizinische Untersuchungen, Geburtsvorbereitung und Behandlungen nach der Schwangerschaft sowie bei Notfallbehandlungen (IOM 10.2024, S. 1) und im Fallen eines Arbeitsunfalles, bei Berufskrankheiten, krankheitsvorbeugenden Maßnahmen und für chronisch Erkrankte kostenlos (ÖSV/Hekimler A. 14.11.2020). Der Beitrag für die Inanspruchnahme der allgemeinen Krankenversicherung (GSS) hängt vom Einkommen des Leistungsempfängers ab (ab 600,08 Lira für Inhaber eines türkischen Personalausweises) (IOM 10.2024, S. 1). 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind (MPI-SRSP 3.2021, S. 15).
Rückkehrende mit einer Aufenthaltserlaubnis, die dauerhaft (seit mindestens einem Jahr) in der Türkei leben und keine Krankenversicherung nach den Rechtsvorschriften ihres Heimatlandes haben, müssen eine monatliche Pflichtgebühr entrichten. Die Begünstigten müssen sich registrieren lassen und die Versicherungsprämie für mindestens 180 Tage im Voraus bezahlen, damit sie in den Genuss des Sozialversicherungssystems bzw. der Gesundheitsversorgung zu kommen. Die Versicherung tritt automatisch in Kraft, und die Begünstigten können das System auch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben noch weitere sechs Monate in Anspruch nehmen. Die Versicherung muss mindestens 60 Tage vor der Diagnose abgeschlossen worden sein. - Rückkehrende können sich über Sozialversicherungsämter im ganzen Land anmelden. Es gibt kein spezifisches Verfahren für die Registrierung von Rückkehrenden. Nach der Registrierung bei der SGK gelten auch Familienmitglieder (Kinder, Ehepartner) des/der Begünstigten als registriert und profitieren von der kostenlosen Gesundheitsversorgung (IOM 10.2024, S. 1, 4).
Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Mangelhaft bleibt das Angebot für die psychische Gesundheit (ÖB Ankara 4.2025, S. 59). Trotzdem wurd das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren ausgebaut, vor allem in ländlichen Gegenden. 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt. Der grundsätzlichen Krankenversicherungspflicht unterliegen alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei. Für Bedürftige übernimmt der Staat die Krankenversicherungsbeiträge. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 20.5.2024, S. 21).
Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmend private Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 45 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser in Ankara und Bursa unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und İzmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 28.7.2022, S. 22).
Der Gesundheitssektor gehört zu den Branchen, welche am stärksten von der Abwanderung ins Ausland betroffen sind (FNS 31.3.2022). Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der İYİ‐Partei, Turhan CÖMEZ, Parlamentsabgeordneter und selbst Arzt gab im Juni 2024 gegenüber der Tageszeitung Sözcü bekannt, dass bereits 15.000 türkische Ärzte zum Arbeiten ins Ausland gegangen seien. Mitverantwortlich dafür seien neben dem Hauptanreiz einer besseren Entlohnung auch die schlechten Arbeitsbedingungen und die ständig präsenten verbalen und physischen Übergriffe auf das medizinische Personal (TM 19.6.2024; vgl. DTJ 10.10.2023). Laut einer Umfrage der Türkischen Ärztekammer gaben neun von zehn Ärzten an, in ihrer Laufbahn schon einmal von Patienten oder Angehörigen attackiert worden zu sein (DTJ 29.10.2024).
II.1.6.17. Behandlung nach Rückkehr
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem", das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 16.5.2025, S. 41).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S. 27; vgl. UKHO 10.2019a, S. 49).
Personen, die für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen [Stand Juni 2025]. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in bzw. für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), die türkische Hisbollah [Anm.: auch als kurdische Hisbollah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbollah im Libanon verbunden], al-Qa'ida, den Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB Ankara 4.2025, S. 55). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TRMFA 2022). Die PYD bzw. ihr militärischer Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 31.1.2025).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen (AA 20.5.2024, S. 15f.), auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) (AA 28.7.2022, S. 15) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 20.5.2024, S. 15f.). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 24.4.2025). Es sind zudem Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (MBZ 31.10.2019, S. 52; vgl. AA 24.4.2025). Festnahmen, Strafverfolgungen oder Ausreisesperren sind auch im Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien zu beobachten, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Hierfür wurden bereits mehrjährige Haftstrafen verhängt. Auch Ausreisesperren können für Personen mit Lebensmittelpunkt z. B. in Deutschland existenzbedrohende Konsequenzen haben (AA 24.4.2025). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 24.4.2025).
Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, können selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer bekannten gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB Ankara 4.2025, S. 15).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig ÖB Ankara 4.2025, S. 55). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 16.5.2025, S. 42; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 55). Eine Abfrage im Zentralen Personenstandsregister ist verpflichtend vorgeschrieben, insbesondere bei Rückübernahmen von türkischen Staatsangehörigen. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. § 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Drittstaatenangehörige werden gemäß ICAO-[International Civil Aviation Organization] Praktiken rückübernommen. Die Türkei hat zudem mit Griechenland, Kirgistan, Pakistan, Rumänien, Syrien und der Ukraine ein entsprechendes bilaterales Abkommen unterzeichnet (ÖB Ankara 4.2025, S. 62). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 16.5.2025, S. 42; vgl. MBZ 18.3.2021, S. 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (MBZ 18.3.2021, S. 71).
Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB Istanbul 23.6.2025; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 20). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB Istanbul 23.6.2025).
Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:
Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com
Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: http://bruecke-istanbul.com/
TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de, www.takid.org (ÖB Ankara 4.2025, S. 56).
Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung
Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf (DFAT 16.5.2025, S. 40).
Gemäß Art. 8 des Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Gegen Personen, die im Ausland für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurden, kann in der Türkei erneut ein Verfahren geführt werden (Art. 9). Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11/1). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben und Geldfälschung (ÖB Ankara 4.2025, S. 55f.). Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 16.5.2025, S. 40).
Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d. h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat begangen wird: entweder gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE-VC 15.2.2016).
Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge wird die illegale Ausreise aus der Türkei nicht als Straftat betrachtet. Infolgedessen müssten Personen, die unter diesen Umständen zurückkehren, wahrscheinlich nur mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (MBZ 31.8.2023, S. 88).
Rückkehrunterstützung des österreichischen Staates
Letzte Änderung 2025-01-09 14:36
Die Mitarbeiter der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU GmbH) informieren individuell über die Möglichkeiten der freiwilligen Rückkehr bzw. die verfügbaren Unterstützungsleistungen.
Die Rückkehrunterstützung umfasst folgende Leistungen:
Kostenlose individuelle Beratung zur freiwilligen Rückkehr einschließlich Antragsstellung auf finanzielle Unterstützung durch die BBU
Organisatorische Unterstützung bei der Reisevorbereitung
Übernahme der Heimreisekosten
Finanzielle Starthilfe in Höhe von bis zu € 900
Reintegrationsprogrammteilnahme nach der Rückkehr im Zielland
Ein Rechtsanspruch auf diese Unterstützungsleistungen besteht nicht. Die Bewilligung erfolgt durch das österreichische Bundesamt für Fremdwesen und Asyl (BFA). Weitere Informationen zu den aktuellen Unterstützungsangeboten (Rückkehrunterstützung inkl. Reintegrationsunterstützung) sind auf der Webseite www.returnfromaustria.at verfügbar.
Die BBU unterstützt sowohl bei der Reiseplanung und der Flugbuchung als auch bei der Beschaffung von Heimreisedokumenten, einer ggf. notwendigen medizinischen Versorgung sowie mit der Übernahme der Rückreisekosten. Organisatorische Unterstützung kann grundsätzlich in jeder Verfahrenskonstellation gewährt werden. Voraussetzung für die Gewährung der Übernahme der Heimreisekosten ist die Mittellosigkeit der rückkehrenden Person.
Finanzielle Starthilfe
Die Höhe der finanziellen Starthilfe ist in einem degressiven Modell geregelt und staffelt sich nach dem Zeitpunkt der Antragstellung auf unterstützte freiwillige Rückkehr:
Während des laufenden asyl- oder fremdenrechtlichen Verfahrens bis ein Monat nach Rechtskraft der Rückkehrentscheidung: € 900,00 pro Person; ab einem Monat nach Rechtskraft der Rückkehrentscheidung: € 250,00 pro Person
Kernfamilien: Maximalbetrag von € 3.000 pro Familie
Sonderkonstellation: Für vulnerable Rückkehrende, die grundsätzlich von der finanziellen Starthilfe ausgeschlossen wären, kann nach individueller Einzelfallprüfung durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ein einmaliger Betrag von € 250,00 pro Person gewährt werden.
Kriterien für den Erhalt der finanziellen Starthilfe und der Reintegrationsunterstützung (Ausnahmen im Einzelfall möglich):
Freiwillige Ausreise
Finanzielle Bedürftigkeit bzw. Mittellosigkeit
Erstmaliger Bezug der Unterstützungsleistung
Nachhaltigkeit der Ausreise
Keinerlei Evidenz eines Sicherheitsrisikos durch die freiwillige Rückkehr
Keine schwere Straffälligkeit
Ausgeschlossen vom Bezug der finanziellen Starthilfe sind EWR-Bürger, Personen aus den Westbalkan-Staaten sowie Staatsangehörige von Ländern mit visumsfreier Einreise nach Österreich (z. B. Georgien, Moldawien). Sonderkonstellation: Für vulnerable Rückkehrende aus diesen Regionen, die grundsätzlich von der finanziellen Starthilfe ausgeschlossen wären, kann nach individueller Einzelfallprüfung durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ein einmaliger Betrag von € 250,00 pro Person gewährt werden
Reintragrationsunterstützung
Für 42 Herkunftsländer können freiwillige Rückkehrer im Sinne des Leitgedankens "Rückkehr mit Perspektiven" Reintegrationsunterstützung im Wert von bis zu € 3.500 beantragen.
Die Abwicklung des Reintegrationsangebots erfolgt mit den Kooperationspartnern:
Frontex (EU Reintegrationsprogramm EURP)
IOM Österreich (Reintegrationsprogramm RESTART IV)
Caritas Österreich (Reintegratonsprogramm IRMA plus III)
OFII (französische Migrationsbehörde „French Office for Immigration and Integration“)
ETTC (im Irak tätige NGO „European Technology and Training Centre“)
Im Rahmen der Reintegrationsprogramme erhalten Rückkehrende umfassende Unterstützung bei der Wiedereingliederung in ihrem Herkunftsland. Dazu gehören individuelle, persönliche Beratung und vorwiegend Sachleistungen z. B. wirtschaftliche, soziale und psychosoziale Hilfen. Die Programme bieten ein breites Spektrum an Leistungen, um einen optimalen Einsatz der Mittel zu gewährleisten.
Weitere Informationen zu den jeweiligen Programmen bzw. für welche Herkunftsländer diese angeboten werden, sind den oben angeführten Seiten zu entnehmen (BMI 6.12.2024).
II.2. Beweiswürdigung:
II.2.1. Der eingangs der gegenständlichen Entscheidung angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbestrittenen Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakte der belangten Behörde sowie der Gerichtsakten.
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben durch Einsichtnahme in die von der belangten Behörde vorgelegten Verwaltungsakte unter Zugrundelegung der niederschriftlichen Angaben der bPen sowie der Einvernahme der bPen 1 bis 3 als Parteien in der vor dem erkennenden Gericht durchgeführten mündlichen Verhandlung, der Einholung aktueller Auszüge aus dem Strafregister, dem Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich, dem Zentralen Melderegister und dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister sowie einer Abfrage beim Dachverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, ferner durch Einsichtnahme in die von den bPen in Vorlage gebrachten Dokumente sowie schließlich im Wege der Einsichtnahme in die in die Verfahren eingebrachten und den bPen unter Angabe der Quellen bekanntgegebenen Länderberichten zur Lage im Herkunftsstaat, und zwar der Länderinformation der Staatendokumentation zur Türkei in der Fassung vom 06.08.2025 (Version 10).
Die bPen stellte in den Verfahren keine über die Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinausgehenden Beweisanträge.
II.2.2. Die Feststellungen zur Person der bPen, zu ihrer Staatsangehörigkeit, ihrer Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, ihrer bisherigen Erwerbstätigkeit in der Türkei und in Österreich, ihren familiären und persönlichen Verhältnissen vor der Ausreise sowie in Österreich, ihrem Aufenthalt im Bundesgebiet und ihrer strafgerichtlichen Unbescholtenheit in Österreich ergeben sich in unstrittiger Form aus einer Zusammenschau ihrer eigenen diesbezüglich stringenten Angaben im Zuge der Verfahren, den vorgelegten Bestätigungen sowie aus den vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Informationen der genannten Datenbanken.
Die Identität der bPen steht aufgrund der vorgelegten Reisepässe im Original fest. Der Zeitpunkt ihrer Ausreise und die damit zusammenhängenden Umstände sind aufgrund der stringenten Angaben der bPen zweifelsfrei feststellbar. Gegenteilige Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens liegen nicht vor.
Die bPen brachten in den Verfahren vor, grundsätzlich gesund zu sein und keine Therapien in Anspruch nehmen zu müssen. Die während der Ableistung des Wehrdienstes erlittene Verletzung des Trommelfells sowie die bei längerem Gehen bisweilen auftretenden Beinbeschwerden hinderten bzw. hindern die bP1 nicht an der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, was sich auch durch ihre bisherige Erwerbstätigkeit im Herkunftsstaat sowie in Österreich zeigt. Die Arbeitsfähigkeit der bP 1 und der bP 2 steht außer Zweifel. Aktuelle fachärztliche bzw. medizinische Befunde, welche eine Behandlung in Österreich erforderlich erscheinen lassen, hat die bP 1 nicht in Vorlage gebracht und auch nicht das Vorliegen eines solchen Umstandes behauptet. Eine dringende Behandlungsbedürftigkeit wurde gleichfalls nicht vorgebracht. Die bP 1 gab vor der belangten Behörde zudem an, gut zu hören. In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, dass die medizinische Grundversorgung in der Türkei gewährleistet ist.
Die Feststellungen zum Aufenthalt der bPen im Bundesgebiet sowie ihren Aktivitäten gründen sich auf die entsprechenden Ausführungen der bPen vor der belangten Behörde sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Zu den Sprachkenntnissen der bPen 1 und 2 ist festzuhalten, dass sie ihren eigenen Angaben nach keinen Sprachkurs besucht (die bP 2 nahm an Qualifizierungsmaßnahmen in der Unterkunft teil) und keine Prüfungen abgelegt haben. Insbesondere konnte sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung einen eigenen Eindruck von den fehlenden Deutschkenntnissen der bPen 1 und 2 verschaffen. Dass die minderjährigen bPen 3 bis 5 (die bP 6 ist erst 2023 geboren) Türkisch und Kurdisch sprechen, ergibt sich aus dem Umstand, dass sie die ersten Lebens- und Schuljahre in der Türkei verbrachten und eine Konversation mit ihren Eltern aufgrund deren fehlenden Deutschkenntnisse nur in diesen Sprachen möglich ist. Zu betonen ist, dass die bP 1 und 2 sowohl Türkisch als auch Kurmancî sprechen, sie in der mündlichen Verhandlung aber jeweils in jener Sprache einvernommen werden wollten, in der sie sich ihrer Meinung nach besser ausdrücken können.
Die Feststellung, dass die bPen über keine familiären oder sozialen Kontakte in Österreich verfügen, gründet sich auf ihren Angaben zum Aufenthalt ihrer Familienangehörigen sowie ihr entsprechendes Vorbringen bei den Einvernahmen. Dem entspricht auch, dass sie keine Referenzschreiben oder Unterschriftenlisten, in welchen sich für ihren Verbleib im Inland ausgesprochen wird, vorgelegt haben. Eine Mitgliedschaft in einem Verein oder einer sonstigen Organisation wurde von ihnen ebenso verneint wie die Frage nach Ausbildungen in Österreich.
Den eingeholten Strafregisterauszügen zufolge sind die bPen unbescholten. Den Daten des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister kann darüber hinaus entnommen werden, dass der Aufenthalt der bPen im Bundesgebiet nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG 2005 geduldet war. Hinweise darauf, dass ihr weiterer Aufenthalt zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig wäre oder die bPen im Bundesgebiet Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO wurden, kamen im Verfahren nicht hervor. Es wurde auch kein dahingehendes Vorbringen erstattet, sodass keine positiven Feststellungen in dieser Hinsicht getroffen werden können.
II.2.3. Die zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat getroffenen Feststellungen ergeben sich aus den ins Verfahren eingeführten Länderinformationen der Staatendokumentation zur Türkei, veröffentlicht am 06.08.2025 (Version 10). Darin werden – unter Anführung der Quellen - Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Organisationen berücksichtigt, die sich aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes als aktuell und ausgewogen darstellen und sich insbesondere auch ausführlich mit der Situation der Kurden in der Türkei auseinandersetzen. Aufgrund der Offenlegung der Quellen im LIB wird auf die zusätzliche Anführung der Quellen unter Pkt. I.1.6. verzichtet. Die Berichte ergeben ein übereinstimmendes schlüssiges Gesamtbild der im vorliegenden Fall relevanten Situation. Die bPen sind diesen Berichten auch in dem ihnen gewährten Parteiengehör nach Erscheinen der Version 10 des LIB nicht entgegengetreten.
II.2.4. Dem Vorbringen des Asylwerbers kommt zentrale Bedeutung zu. § 18 Abs. 1 AsylG 2005 sieht dementsprechend vor, dass in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken ist, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Diese Pflicht bedeutet aber nicht, ohne entsprechendes Vorbringen oder ohne sich aus den Angaben konkret ergebende Anhaltspunkte jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen (VwGH 03.07.2020, Ra 2019/14/0608 mwN).
Die Prognoseentscheidung gemäß § 3 AsylG 2005 hinsichtlich der Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung setzt nach der Rechtsprechung ein als glaubwürdig erachtetes Fluchtvorbringen voraus (VwGH 03.09.2021, Ra 2020/14/0282; 12.03.2020, Ra 2019/01/0472). Die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen vorzunehmen. Im Falle der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers sind derartige positive Feststellungen nicht zu treffen (VwGH 11.04.2018, Ra 2018/20/0040 mwN).
Zunächst hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage und allenfalls durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauert wahrheitsgemäß darzulegen (VwGH 27.05.2019, Ra 2019/14/0153; 15.03.2016, Ra 2015/01/0069). Im Rahmen der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Vorbringens eines Asylwerbers ist gemäß § 18 Abs. 3 AsylG 2005 auf dessen Mitwirkung im Verfahren Bedacht zu nehmen. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 sieht ferner vor, dass es die Mitgliedstaaten es als Pflicht des Antragstellers betrachten können, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Im Fall fehlender Beweismittel bedürfen Aussagen gemäß Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95/EU dann keines Nachweises, wenn
a) der Antragsteller sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen;
b) alle dem Antragsteller verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen und eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben wurde;
c) festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen;
d) der Antragsteller internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war; und
e) die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist.
Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat in seiner Rechtsprechung konkretisierend festgehalten, dass es erforderlich ist, dass der Antragsteller sein Vorbringen gebührend substantiiert (EuGH U 4.10.2018, Fathi gegen Predsedatel na Darzhavna agentsia za bezhantsite, C-56/17, mwN). Ein sich Beschwerdeverfahren steigerndes Vorbringen ist der Glaubwürdigkeit ebenso abträglich, wie Widersprüche und Ungereimtheiten oder ein mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen oder mit den tatsächlichen Verhältnissen im Herkunftsstaat nicht vereinbares Vorbringen (VwGH 06.03.1996, 95/20/0650; 21.06.1994, 94/20/0102).
II.2.5. Bevor auf das Vorbringen der bPen näher eingegangen wird, ist in Anbetracht der in der Beschwerde vorgetragenen Beanstandung des Ermittlungsverfahrens festzuhalten, dass das Bundesverwaltungsgericht keine diesbezügliche Mangelhaftigkeit der von der belangten Behörde durchgeführten Verfahren erkennen kann.
Den in § 39 Abs. 2 und § 45 Abs. 2 AVG normierten Grundsätzen der Amtswegigkeit, der freien Beweiswürdigung, der Erforschung der materiellen Wahrheit und des Parteiengehörs wurde entsprochen. So ist die belangte Behörde im Zuge der Einvernahmen der bP 1 und 2 am 06.02.2024 ihrer Ermittlungspflicht durch detaillierte Befragung sowie Belehrung der bPen über die Mitwirkungspflicht sowie der Verpflichtung zur Vervollständigung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts im Wege von darauf gerichteten Nachfragen nachgekommen. Es muss auch berücksichtigt werden, dass dieser Ermittlungspflicht stets auch die Verpflichtung des Antragstellers gegenübersteht, an der Feststellung des verfahrensrelevanten Sachverhaltes mitzuwirken und ist es nicht der Asylbehörde anzulasten, wenn der Antragsteller hierzu nicht bereit ist.
Die niederschriftlichen Einvernahmen der bPen am 06.02.2024 wurden unter Anwesenheit eines geeigneten Dolmetschers sowie unter Beachtung der verfahrensrechtlichen Vorschriften durchgeführt. Aus der den bPen rückübersetzten Niederschriften sind keine Hinweise auf Unregelmäßigkeiten ersichtlich. Die bPen erklärten nach der Rückübersetzung zudem abschließend, dass alles vollständig und richtig protokolliert worden sei. Sie bestätigten eigenhändig die Richtigkeit und Vollständigkeit der Niederschrift sowie deren Übersetzung. Das Erfolgen der Rückübersetzung der Einvernahmen am 06.02.2024 wurde von den bPen 1 und 2 auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung bestätigt.
Die Niederschrift über die Einvernahmen vor der belangten Behörde am 06.02.2024 liefert daher vollen Beweis über den Verlauf und den Gegenstand der Amtshandlung (§ 15 AVG) und kann demnach der Beweiswürdigung zu Grunde gelegt werden.
Ausgehend davon kann das Bundesverwaltungsgericht den in der Beschwerde implizit erhobenen Vorwurf, das BFA habe es verabsäumt, sich ausreichend mit der konkreten Situation bPen auseinanderzusetzen, nicht nachvollziehen. Wohl hat die belangte Behörde in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen (§ 18 AsylG 2005). Aus dieser Gesetzesstelle kann jedoch keine Verpflichtung abgeleitet werden, Umstände ermitteln zu müssen, die ein Asylwerber gar nicht behauptet hat (VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0202). Ferner zieht § 18 AsylG 2005 nicht die Pflicht nach sich, ohne entsprechendes Vorbringen des Asylwerbers oder ohne sich aus den Angaben konkret ergebende Anhaltspunkte jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen (VwGH 15.10.2018, Ra 2018/14/0143). Die bPen wurden im Zuge der Beendigung der Einvernahme explizit danach gefragt, ob sie noch etwas angeben möchten und wurde diese Frage nur dahingehend beantwortet, dass sie nicht aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa gekommen wären und die Kinder in Österreich die Schule weiter besuchen wollten. Für eine mangelhafte Ermittlungstätigkeit besteht sohin kein Anhaltspunkt und liegt der behauptete Verfahrensmangel nicht vor.
II.2.6. Unter Berücksichtigung der angeführten Rechtsprechung ist es den bPen aufgrund nachstehender Erwägungen nicht gelungen, ein asylrelevantes Vorbringen glaubhaft darzulegen:
II.2.6.1. Die bP 1 erachtet sich in ihrem Herkunftsstaat ausweislich ihrer Darlegungen vor der belangten Behörde sowie des Bundesverwaltungsgerichts aufgrund einer von ihr bei Gericht eingereichten Klage einer Verfolgung durch den türkischen Staat ausgesetzt.
Sie begründete diese im Wesentlichen damit, dass sie 2007 bei Gericht eine Klage gegen die „Behörde“ eingebracht habe, weil sie im Zuge der Ableistung ihres Militärdienstes von einem Offizier wegen des Gebrauchs der kurdischen Sprache geschlagen worden sei und dabei eine Verletzung des Trommelfells erlitten habe. 2010 sei allerdings über sie eine Geldstrafe verhängt worden, da sie „die Behörde und das Gericht belästigt habe, sie einen schlechten Ruf über die Behörde verbreitet habe.“ Sie habe diese Strafe, die sich zuletzt auf ca. 153 Milliarden türkische Lira belaufen habe, aber nicht bezahlt. Laut ihrem Anwalt müsse sie, wenn sie nicht bezahle, vier Jahre „lang sitzen“. Die Polizei habe sie alle zwei bis vier Wochen zu Hause aufgesucht, sie auch mitgenommen und für ein bis zwei Stunden einvernommen, sie habe für eine bis eineinhalb Stunden die türkische Fahne „grüßen“ müssen. Sie seien wie Terroristen behandelt worden.
Das Bundesverwaltungsgericht hält nun zwar den von der bP 1 geschilderten körperlichen Übergriff während ihrer Militärzeit grundsätzlich für plausibel, nicht aber die daran anknüpfenden, bis ins Jahr 2020 andauernden staatlichen Handlungen aufgrund einer deswegen erhobenen Klage.
Meinte die bP 1 vor der belangten Behörde am 06.02.2024 noch, sie sei nur hin und wieder für einen Tag angehalten worden, so steigerte sie die vorgebrachte Belästigung im Rahmen der mündlichen Verhandlung wie folgt:
„Die Polizei kam alle 2 Wochen bis 1 Monat, einmal zu uns nach Hause, in der Früh, und sie haben uns als Terroristen behandelt. […] Sie haben mich auch mitgenommen, für 1 bis 2 Stunden einvernommen und mich wieder entlassen. Ich musste auch vor der türkischen Fahne stehen und begrüßen. […] Im Jahr 2020 wurde ich für 4 Tage angehalten. Ich bekam kein Essen und ich habe hungern müssen, das war in der Coronazeit. Ich wurde nach 4 Tage entlassen.“
Insofern ist auf die Judikatur zu verweisen, wonach ein „gesteigertes Vorbringen", das heißt das Vorbringen gravierenderer Eingriffe nicht bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, sondern – inhaltlich vom Erstvorbringen abweichend – erst in einem (späteren) Verfahrensstadium, ebenso die Unglaubwürdigkeit indiziert wie unwahre Angaben oder das Verschweigen wesentlicher Sachverhaltsumstände.
Insbesondere ist es aber auch mit der allgemeinen Lebenserfahrung nicht vereinbar, wenn die Polizei noch über ein Jahrzehnt (!) nach dem Vorfall bzw. der Einbringung der Klage gegen den Staat deswegen Handlungen gegen die bP 1 setzt, zumal der Prozess offenbar nicht zur Verurteilung des Offiziers bzw. der Organisation führte, sondern vielmehr mit einer Geldstrafe für die bP 1– offenbar wegen Verleumdung - endete. Im Dunkeln blieb überdies, welchen Zweck die vorgebrachten Einvernahmen dienten. Diesbezüglich befragt, erklärte die bP 1: „Zum Beispiel sie meinten, wer steckt hinter mir, was tut mein Vater und inwiefern mag ich die Türkei.“ Eine Erklärung, die weder schlüssig noch nachvollziehbar ist. Die bP 1 tätigte ja angeblich eine Anzeige wegen des beim Militär erlittenen Vorfalls, sodass ihr deswegen vielleicht eine nicht übertriebene Vaterlandsliebe vorgeworfen werden kann, aber wieso sollte man sie deshalb fragen, was ihr Vater macht oder wer hinter ihr steckt? Schließlich erschließt es sich in diesem Zusammenhang insbesondere auch nicht, warum die Polizei – wenn sie die bP 1 schon im Visier hat - nicht wegen der seit über einem Jahrzehnt (!) offenen Geldstrafe inhaftiert, sondern jahrelang ziellos Hausdurchsuchungen und Vernehmungen durchgeführt haben soll.
Vor diesem Hintergrund sind die diesbezüglichen Aussagen der bP 2 und 3 gleichfalls als nicht plausibel zu bezeichnen. Es kann nicht erkannt werden, aus welchem Grund – wie die bP 2 im Zuge der mündlichen Verhandlung neu angab - Zivilbeamte (!) das Wohnhaus der Familie und den Laden der bP 1 beobachten hätten sollen oder sie die Kinder wegen diesen Beobachtungen nicht hinaus hätte lassen können oder – wie die bP 3 im Zuge der mündlichen Verhandlung angab – der Vater bei Personenkontrollen oder Hausdurchsuchungen mit Handschellen mitgenommen hätte werden sollen – nach über einem Jahrzehnt.
Schließlich wurde von der bP 1 insbesondere auch nicht vorgebracht, dass mit den gegen sie gesetzten Handlungen ein maßgeblicher Eingriff in ihre körperliche oder psychische Unversehrtheit verbunden gewesen wäre. Die von den bPen behaupteten Eingriffe sind im Sinne der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs vielmehr nur als unspezifische Verfolgungshandlungen von geringer Schwere zu bezeichnen.
Den bPen ist es sohin aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts aufgrund obiger Erwägungen nicht gelungen, die behaupteten Verfolgungshandlungen seitens des türkischen Staates glaubhaft darzulegen.
II.2.6.2. Die bPen erachten sich in ihrem Herkunftsstaat ausweislich ihrer Darlegungen vor der belangten Behörde sowie des Bundesverwaltungsgerichts aufgrund der von der bP 1 2007 bei Gericht eingereichten Klage zudem durch Dritte verfolgt.
Sie begründen dies im Wesentlichen damit, dass die bP 1 die Geschehnisse rund um den Vorfall während des Militärdienstes im Fernsehen veröffentlichen hat lassen. Dies habe dazu geführt, dass die Kinder in ihrer Wohngegend die bP 1 gegenüber den mj. bPen als Staatsverräterin beschimpft hätten und die mj. bPen in der Schule Probleme mit den Lehrern gehabt hätten; sie wären als Kinder eines Staatsverräters bezeichnet worden und hätten eineinhalb Stunden vor der Fahne und dem Bild von Atatürk stehen müssen.
Auch dieses Vorbringen ist angesichts des verstrichenen Zeitraums mit der allgemeinen Lebenserfahrung nicht vereinbar. Es mag schon sein, dass sich manche Einwohner des Wohnbezirks der bPen an den veröffentlichten Bericht erinnern, allerdings ist er sicherlich nicht Lehrern und Kindern in einer Millionenstadt wie XXXX in einer so schnelllebigen, mit gesellschaftlichen Umwälzungen überladenen Zeit wie der heutigen, noch nach über einem Jahrzehnt später präsent. Schikanen aufgrund dieses Berichts in XXXX sind fern jeglicher Realität. Bestätigt wird dies auch durch die Aussage der bP 2 im Rahmen der mündlichen Verhandlung, die meinte: „Weil wir aus dem Erdbebengebiet kamen, wurden die Kinder in der Schule gut behandelt. Auch die Direktoren waren nett zu uns.“ Die Ausführungen der bPen zu den vorgenommenen Schulwechseln variieren überdies. Die bP 2 spricht nur von einem zweimaligen Wechsel: einmal in anderen Stadtteil von XXXX und dann aufgrund des Umzugs der Familie nach XXXX nach dem Erdbeben 2023. Die bP1 erklärte wiederum, sie habe die Kinder zu ihrer Mutter nach XXXX geschickt, sie wären aber auch dort – entgegen der Erzählung der bP 2 - aufgrund ihrer Geschichte schikaniert worden. Die bP 3 meinte gleich, sie habe ein paar Mal die Schule in der Türkei gewechselt, es hätte sich nichts geändert. Es liegen sohin doch erhebliche Unstimmigkeiten vor, die nicht nachvollzogen werden können. Hierzu tritt, dass der Wohnort der bPen im Südosten der Türkei liegt und die kurdische Volksgruppe hier keine kleine Minderheit darstellt. Fortlaufende Diffamierungen durch Kinder sowie Mitbürger aufgrund der Anzeige der bP 1 sind sohin auch aus diesem Grunde nicht als lebensnah anzusehen, wobei zudem erneut die schnelllebige Zeit und die damit einhergehende sich verlierende Brisanz des Vorfalls nach über einem Jahrzehnt zu betonen ist; insbesondere auch im Hinblick darauf, dass auch die Heimatstadt der Familie, XXXX , ca. 2 Millionen Einwohner beherbergt.
Gestützt werden diese Erwägungen zusätzlich durch die spontane Antwort der bP 3, die auf die ihr in der mündlichen Verhandlung gestellte Frage, warum sie vor der türkischen Fahne habe stehen müssen, wie folgt angab: „Ich wollte halt bei diesen türkischen Sachen nicht mitmachen. Ich sagte, ich bin Kurde und das ist nicht meine Flagge. Dieser Anführer ist nicht mein Anführer. Deshalb musste ich vor der Flagge stehen bleiben. Wenn normale Schüler 20 Minuten haben stehen müssen, musste ich 40 Minuten vor der Flagge stehen. Sie sagten, es gibt in der Türkei nichts Kurdisches, hier existiert nur der Türke.“ Der Konnex zum Vorfall des Vaters war sohin nicht gegeben, es ging im Kern vielmehr um die allgemeine „Kurdenfrage“.
Betreffend die bP 3 ist noch festzuhalten, dass ihre gesamten Schilderungen von Übertreibungen geprägt waren, wohl in dem Versuch, ein asylrelevantes Vorbringen zu erstatten. Auffallend war dies insbesondere im Hinblick auf die Verbindungen zur Familie mütterlicher- und väterlicherseits. So meinte sie, die Familie ihrer Mutter habe zwar ihre Großeltern, die unter ihnen gewohnt hätten, besucht, aber sie seien nicht in Kontakt gestanden. Abgesehen von dieser äußerst seltsam anmutenden Situation angesichts der Wohnsituation steht dem überdies die nachvollziehbare Aussage der bP 2 entgegen, die meinte: „Ich wollte so sehr, dass mein Mann im Staatsdienst arbeitet. Mein Bruder ist selbst Sicherheitsbeamter. Ich habe ihn oft darum geben, meinen Mann einen Staatsdienst zu organisieren.“ oder „Meine ältere Schwester versprach mir eine Wohnung, wenn ich mich scheiden lasse.“ Schließlich erklärte die bP 3: „Bis zu diesem Alter (bis heute) habe ich weder gesehen noch gehört, dass mein Vater einen regelmäßigen Kontakt zu seiner Familie hat. Lediglich habe ich zwei Mal gehört, dass er an religiösen Festtagen bzw. Feiertragen mit seiner Mutter in XXXX telefoniert.“ Dieser Aussage steht allerdings entgegen, dass die bPen in XXXX gemeinsam mit der Mutter der bP 1 in einer Wohnung lebten und die bP 1 angab: „Wir haben kein Kontakt, bis auf meine Mutter. Mit ihr habe ich einmal im Monat Kontakt“ und auch die bP 2 mitteilte: „Ich war beleidigt und habe sie eine Zeit lang nicht angerufen und sie war eine Zeit lang wütend auf mich.“ […] „Früher habe ich sie jeden zweiten Tag oder einmal in der Woche kontaktiert. Jetzt rufe ich sie einmal im Monat an.“
Gesamt gesehen, ist sohin dem Vorbringen, die mj. bPen wären aufgrund des Vorfalls betreffend die bP 1 in der Schule und in der Wohngegend als Kinder eines „Staatsverräters“ gemobbt worden, nicht zu folgen.
II.2.6.3. Schließlich wurde vor der belangten Behörde behauptet, der bP 2 werde vorgeworfen der Hisbollah anzugehören bzw. der bP 1, eine Islamistin zu sein. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht bestritt die bP 2 jedoch, dass jemals eine solche Anschuldigung gegen sie erhoben worden sei. Die bP 1 gab zum Islamistenvorwurf lapidar an, die Behörde würde dies erfinden, da sie sie angezeigt und den Vorfall in den Medien veröffentlicht habe. Im Hinblick auf die unter Pkt. II.2.6.1. dargelegten Erwägungen ist der Behauptung eines „Islamistenvorwurfs“ gleichfalls nicht zu folgen, zumal die bP 1 diesbezüglich keine weiteren Ausführungen tätigte und den Vorwurf auch nicht in einen Geschehnisablauf einbettete.
Gesamt gesehen, ist es folglich den bPen aufgrund des dargelegten substanzlosen und unschlüssigen Vorbringens aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gelungen, eine sie betreffende Bedrohungs- oder Verfolgungssituation in der Türkei glaubhaft darzulegen und besteht auch kein Grund für die Annahme, dass die bPen im Falle einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion einer individuellen Gefährdung oder Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären.
II.2.7. Die bPen gehören der größten ethnischen Minderheit der Türkei, der kurdischen Volksgruppe an, die laut Schätzungen ca. 20 % der Gesamtbevölkerung ausmacht. Kurdische und pro-kurdische Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen werden laut den Länderberichten insbesondere im Südosten in der Ausübung ihres Rechts auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Auch gibt es Berichte für eine anhaltende gesellschaftliche Diskriminierung von Kurden sowie – trotz ihrer Teilnahme an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs - über eine traditionelle Unterrepräsentation in leitenden Positionen. Entsprechend der Länderberichte gestaltet sich die Lage der Kurden in der Türkei aktuell aber nicht derart, dass sie generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer, eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sind.
Der Verwaltungsgerichtshof betont in seiner Rechtsprechung, dass die schwierige allgemeine Lage einer ethnischen Minderheit oder der Angehörigen einer Religionsgemeinschaft im Heimatland eines Asylwerbers – für sich allein – nicht geeignet ist, die für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorauszusetzende Bescheinigung einer konkret gegen den Asylwerber gerichteten drohenden Verfolgungshandlung darzutun. Die bloße Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe bildet demnach keinen ausreichenden Grund für die Gewährung internationalen Schutzes (VwGH 31.01.2002, 2000/20/0358 mwN). Allgemeine Diskriminierungen, etwa soziale Ächtung, weisen für sich genommen nicht die hinreichende Intensität für eine Asylgewährung auf. Bestimmte Benachteiligungen (wie etwa allgemeine Geringschätzung durch die Bevölkerung, gewisse Behinderungen in der Öffentlichkeit, Schikanen) sind bis zur Erreichung einer Intensität, dass deshalb ein Aufenthalt der bPen im Heimatland als unerträglich anzusehen wäre (VwGH 07.10.1995, 95/20/0080; 23.05.1995, 94/20/0808), hinzunehmen.
Der Verwaltungsgerichtshof anerkennt in ständiger Rechtsprechung kurzzeitige Inhaftierungen und Hausdurchsuchungen aufgrund mangelnder Intensität ebenfalls nicht als asylrechtlich relevante Verfolgung. In seiner neueren Rechtsprechung betont der Verwaltungsgerichtshof, dass nicht jede diskriminierende Maßnahme als Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention anzusehen ist, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (statt aller VwGH 14.08.2020, Ro 2020/14/0002 mwN).
Den Ausführungen der bPen vor der belangten Behörde kann nun zwar entnommen werden, dass sie sich aufgrund ihrer kurdischen Identität als in der Türkei diskriminiert erachten. Sie erstatteten allerdings kein dahingehendes Vorbringen, dass die diskriminierenden Maßnahmen in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte geführt hätten. Wenn vorgebracht wird, die bP 1 bekäme keinen Job bei den Behörden oder die Familie sei während des Erdbebens finanziell nicht unterstützt worden, so ist festzuhalten, dass die bPen sowohl vor der belangten Behörde als auch dem Bundesverwaltungsgericht immer wieder betonten, dass es ihnen in der Heimat wirtschaftlich gut gegangen wäre, die bP 1 über ein eigenes Metzgereigeschäft verfügt habe und sie die Reise von der Türkei nach Österreich in der Höhe von EUR 28.000,00 aus eigenen Mitteln aufgebracht hätten. Auch den Ausführungen der bP 3 kann kein derartiger Inhalt entnommen werden, dass ein Aufenthalt der mj. bPen im Heimatland als unerträglich anzusehen wäre. Abgesehen von dem Stehen vor der türkischen Fahne (der Zeitraum belief sich bei der bP 3 auf 40 Minuten, bei der bP 1 – dazu widersprüchlich – einmal auf zwei und einmal auf eineinhalb Stunden) wurde nichts Konkretes vorgebracht, nur allgemein gehaltene Behauptungen, wie, sie sei mit den Direktoren 7 Tage, 24 Stunden auf Kriegsfuß gestanden, beschimpft worden und die Lehrer hätten sie dauernd versucht zu diskriminieren. Trotz der offen gestellten Fragen, wurde nichts näher ausgeführt bzw. das Diskriminieren auf den – wie oben schon dargelegten nicht nachvollziehbaren – Vorfall betreffend die bP 1 zurückgeführt.
Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, dass die Darlegung allgemeiner Umstände im Herkunftsstaat die Glaubhaftmachung der Gefahr einer konkreten, individuell gegen die bPen gerichteten Verfolgung nicht ersetzen kann (statt aller VwGH 30.01.2025, Ra 2025/20/0026 mwN). Das Aneinanderreihen von Auszügen aus Berichten zur allgemeinen Lage in der Türkei oder von UNHCR Richtlinien oder VfGH Judikatur usw. ohne korrespondierendes Vorbringen der bPen und ohne Bezug zu dessen persönlichem Profil ist folglich nicht zielführend.
Wenn in der Beschwerde schließlich der Gebrauch der kurdischen Sprache thematisiert wird, so ist eingangs darauf hinzuweisen, dass der körperliche Übergriff beim Militär lt. vorgelegtem Artikel entgegen der Angabe der bP 1 nicht wegen der Verwendung des Kurdischen erfolgt ist, sondern weil sie eine Hand in der Hosentasche gehabt hatte, sowie wie folgt festzuhalten:
Laut den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat ist der Gebrauch der Sprache Kurmancî seit Anfang der 2000er-Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt und kann nur im politisierten Kontext und in ausgewählten Konstellationen zu Schwierigkeiten führen. Dahingehende Schwierigkeiten vor der Ausreise brachten die bPen – bis auf den über ein Jahrzehnt (!) zurückliegenden Vorfall - aber nicht vor, sodass auch keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit im Rückkehrfall zu befürchtenden Übergriffe aufgrund des Gebrauchs der Sprache Kurmancî anzunehmen sind.
Die kurdische Volksgruppenzugehörigkeit der bPen konstituiert zusammenfassend folglich keine zur Gewährung des Status von Asylberechtigten führende Konstellation.
II.2.8. Die Feststellungen, dass die bPen keiner politischen Partei oder einer politisch aktiven Gruppierung angehört haben, politisch nicht aktiv waren und vor ihrer Ausreise keine Nachteile aufgrund ihres sunnitischen Religionsbekenntnisses zu gewärtigen hatten, beruhen auf ihren Angaben. Schwierigkeiten wurden in diesem Zusammenhang nicht vorgebracht.
II.2.9. Das Bundesverwaltungsgericht kann in Ansehung der bPen keine Rückkehrgefährdung erkennen, zumal sie kein exponiertes persönliches Profil aufweisen. Da sie ausweislich der vorstehenden Erwägungen vor ihrer Ausreise keine Verfolgungshandlungen zu gewärtigen hatten und auch im Ausland nicht auffällig regierungskritisch identifizierbar in Erscheinung getreten sind, sind sie in keiner Weise gefährdet, im Rückkehrfall in das Blickfeld bestimmter staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure zu geraten. Einen plausiblen Grund für ihre Rückkehrbefürchtungen konnten die bPen nicht ins Treffen führen.
Die bPen können schließlich ihre Herkunftsregion – wie auch XXXX - von Österreich aus sicher erreichen. In der Türkei ist die Wirtschaftslage zwar derzeit angespannt, allerdings finden keine derartigen sicherheitsrelevanten Vorfälle statt, die den grenzüberschreitenden oder innerstaatlichen öffentlichen Verkehr beeinträchtigen würden. Gegenteilige Behauptungen wurden im Verfahren auch nicht vorgebracht. Hinzutritt, dass sich die PKK am 12.05.2025 aufgelöst hat, was eine zusätzliche Verbesserung und Stabilisierung der Sicherheitslage erwarten lässt.
Gemäß den Feststellungen erfolgt bei der Einreisekontrolle eine Abfrage des Fahndungsregisters bzw. wird festgestellt, ob ein Ermittlungsverfahren anhängig ist. Da keine Anhaltspunkte hervorgekommen sind, dass die bPen Beschuldigte in einem Ermittlungsverfahren sind, noch aus anderen Gründen nach ihnen gefahndet wird, werden sie im Fall einer Rückkehr nicht in Polizeigewahrsam genommen werden. Ihnen wird im Rückkehrfall auch nicht die Unterstützung illegaler Organisationen, die Gutheißung terroristischer Aktivitäten oder die Begehung anderweitiger Straftaten zur Last gelegt werden. Dass ein in Österreich gestellter Asylantrag zu einer Gefährdung im Rückkehrfall führen könnte, geht aus den Feststellungen nicht hervor.
Abschließend ist nochmals festzuhalten, dass die Darlegung allgemeiner Umstände im Herkunftsstaat die Glaubhaftmachung der Gefahr einer konkreten, individuell gegen die bPen gerichtete Verfolgung nicht ersetzen kann (statt aller VwGH 30.01.2025, Ra 2025/20/0026 mwN). Das Aneinanderreihen von Auszügen aus Berichten zur Lage in der Türkei ohne korrespondierendem plausiblen Vorbringen zum persönlichem Profil der bPen ist daher nicht zielführend.
II.3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Abweisung der Beschwerde
II.3.1. Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten:
II.3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).
2 Abs. 1 Z. 11 AsylG 2005 umschreibt Verfolgung als jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011, worunter – unter anderem – Handlungen fallen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist.
Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074, mwN).
Entscheidend ist, ob die betroffene Person im Zeitpunkt der Entscheidung bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. erneut etwa 07.03.2023, Ra 2022/18/0284). Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 17.03.2009, 2007/19/0459). Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in seinem Heimatstaat Verfolgung zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233, mwN; vgl. ferner unter Hinweis auf diese Entscheidung VfGH 27.2.2023, E 3307/2022; VwGH 23.05.2023, Ra 2023/20/0110).
II.3.1.2. Die im Verfahren behauptete Furcht der bPen, in der Türkei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt zu werden, ist nicht begründet. Das Bundesverwaltungsgericht gelangte aus den im Rahmen der Beweiswürdigung ausführlich erörterten Gründen zur Überzeugung, dass die bPen keiner individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure im Herkunftsstaat ausgesetzt waren und sie im Fall der Rückkehr dorthin auch keiner mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt wären.
Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist – wie bereits oben dargelegt - als „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU [Statusrichtlinie]) (vgl. VwGH 14.08.2020, Ro 2020/14/0002). Dass die bPen Opfer derart gravierender Verfolgungshandlungen wurden, haben sie nicht glaubhaft vorgebracht. So stellen kurzfristige Anhaltungen, Inhaftierungen, Befragungen im Zuge polizeilicher Ermittlungen sowie Hausdurchsuchungen nach der Rechtsprechung – selbst wenn sich die betroffene Person durch diese Ermittlungen schikaniert gefühlt haben mag – in ihrer Gesamtheit ebenso wenig asylrelevante Verfolgungshandlungen dar, wie Benachteiligungen, Beschimpfungen, allgemeine Geringschätzung und Schikanen.
II.3.1.3. Darüber hinaus ist zum Ausreisevorbringen betreffend die mj. bPen festzuhalten, dass selbst wenn entgegen der getroffenen Feststellungen – hypothetische Wahrunterstellung - davon ausgegangen werden würde, dass sie in ihrer Heimatstadt von Lehrern und Kindern als Kinder eines Staatsverräters beschimpft worden sind, es sich hierbei um eine Privatverfolgung handeln würde, die keinesfalls im gesamten Staatsgebiet der Türkei vorliegt. Es ist daher auf das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative hinzuweisen:
Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz § 11 Abs. 1 AsylG 2005 abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.
Gemäß § 11 Abs. 2 AsylG 2005 ist bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen.
Besteht für den Asylwerber die Möglichkeit, in einem Gebiet seines Heimatstaates, in dem er keine Verfolgung zu befürchten hat, Aufenthalt zu nehmen, so liegt nach der Rechtsprechung eine so genannte innerstaatliche Fluchtalternative vor, welche die Asylgewährung ausschließt (VwGH 24.03.1999, 98/01/0352).
Um vom Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, müssen die Asylbehörden über Ermittlungsergebnisse verfügen, die die Sicherheit der Asylwerber dartun (VwGH 16.2.2000, 99/01/0149). Es muss ausgeführt werden, wo der Beschwerdeführer tatsächlich Schutz vor der von ihm geltend gemachten Bedrohung finden könnte. Es ist Sache der Behörde, die Existenz einer internen Schutzalternative aufzuzeigen (VwGH 08.04.2003, 2002/01/0318). Der Betroffene darf im sicheren Landesteil nicht in eine aussichtslose Lage gelangen und jeglicher Existenzgrundlage beraubt werden. Solcherart wird dem Kriterium der Zumutbarkeit der innerstaatlichen Fluchtalternative Beachtung geschenkt (VwGH 24.1.2008, 2006/19/0985 mwN). Dem gegenüber sind allfällige aus der Situation des Asylwerbers ableitbare wirtschaftliche beziehungsweise soziale Benachteiligungen nicht geeignet, zu einer Verneinung der inländischen Fluchtalternative zu führen (VwGH 08.09.1999, Zl. 98/01/0620;).
Maßgebliche Faktoren zur persönlichen Zumutbarkeit können das Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Behinderungen, die familiäre Situation und Verwandtschaftsverhältnisse, soziale und andere Schwächen, ethnische, kulturelle oder religiöse Überlegungen, politische und soziale Verbindungen und Vereinbarkeiten, Sprachkenntnisse, Bildungs-, Berufs- sowie Arbeitshintergrund und -möglichkeiten, sowie gegebenenfalls bereits erlittene Verfolgung und deren psychische Auswirkungen sein. Es wird jedoch die Ansicht vertreten, dass schlechte soziale und wirtschaftliche Bedingungen in dem betreffenden Landesteil die innerstaatliche Fluchtalternative nicht grundsätzlich ausschließen. Ein bloßes Absinken des Lebensstandards durch die Inanspruchnahme der innerstaatlichen Fluchtalternative, welches jedoch noch über dem Niveau der aussichtslosen Lage ist daher bei Bestehen einer Existenzgrundlage hinzunehmen (VwGH 8.9.1999, Zl. 98/01/0620).
Zu den bereits getroffenen Ausführungen tritt hinzu, dass das verfolgungssichere Gebiet eine gewisse Beständigkeit in dem Sinne aufweisen muss, dass der Betroffene nicht damit rechnen muss, jederzeit auch in diesem Gebiet wieder die Verfolgung, vor der er flüchtete, erwarten zu müssen (VwGH 24.6.2004, 2001/20/0420). Ebenso muss das sichere Gebiet für den Betroffenen erreichbar sein, ohne jenes Gebiet betreten zu müssen, in welchem er Verfolgung befürchtet (VwGH 21.11.2002, 2000/20/0185). Darüber hinaus muss es dem Asylsuchenden auch möglich sein, seine politischen oder religiösen Überzeugungen sowie seine geschützten Merkmale beizubehalten (VwGH 19.12.2001, 98/20/0299).
In der Türkei herrscht Reise- und Niederlassungsfreiheit. Die bPen können daher aufgrund der bestehenden Reisefreiheit in der Türkei auch jederzeit ihren Wohnsitz in eine andere Millionenstadt verlegen. Wie bereits unter Pkt. II.2.6.2. ausgeführt, ist es fern ab jeglicher Realität, wenn Lehrer und Mitschüler in anderen Millionenstädten als der Heimatstadt der bPen nach über einem Jahrzehnt vom Vorfall betreffend die bP 1 informiert wären und es deswegen zu Diskriminierungen der mj. bPen käme.
Der erkennenden Richterin erschließt sich in keiner Weise, weshalb ein Leben in einer der vielen Großstädte ihres Herkunftslandes für die bPen 1 und 2 als mobile, erwachsene, arbeitsfähige und anpassungsfähigen Personen unmöglich wäre, zumal sie bei einer Rückkehr auf Rückkehrunterstützung und auf die Unterstützung vor Ort durch spezielle Programme, die Rückkehrer bei diversen Fragen, wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc., unterstützen, für die erste Zeit nach ihrer Ankunft zurückgreifen und sich eine Arbeit besorgen könnten und so jedenfalls in der Lage wäre, für ihr eigenes Auskommen und das ihrer Kinder zu sorgen.
Darüber hinaus stehen den bPen als türkische Staatsangehörige die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit, darunter Sozialleistungen für Bedürftige durch die Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität offen. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können.
Die bP 1 und 2 werden – wie bereits vor ihrer Ausreise - in der Lage sein, ihrer Familie mit eigener Erwerbstätigkeit ein ausreichendes Einkommen zur Sicherstellung des Lebensunterhalts und zur Befriedigung der Wohnbedürfnisse zu erwirtschaften.
Die für eine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative ebenfalls geforderte Beständigkeit der im fraglichen Gebiet herrschenden Umstände, insbesondere auch hinsichtlich der Sicherheitslage, ist im Lichte der in den letzten Jahren im Wesentlichen unverändert gebliebenen Umstände ebenso feststellbar. Es herrscht kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Die bPen werden – unabhängig vom Ort ihrer Wohnsitznahme - nicht schon aufgrund ihrer bloßen Präsenz mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch terroristische Anschläge, organisierte Kriminalität oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt sein.
Im Lichte dieser Erwägungen war zur maßgeblichen Einschätzung zu gelangen, dass die bPen zwar bei Inanspruchnahme einer Fluchtalternative mit gewissen Anfangsschwierigkeiten und mit Einschränkungen des Lebensstandards konfrontiert sein würden. Diese Einschränkungen des Lebensstandards erreichen jedoch aus Sicht des Gerichtes nicht jenes Ausmaß, bei dem davon auszugehen wäre, dass diese Personen Gefahr laufen würden in eine ausweglose Lage zu geraten.
II.3.1.4. Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, kommt der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides keine Berechtigung zu.
II.3.2. Nichtzuerkennung des Status einer subsidiär Schutzberechtigten:
II.3.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Z 1) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Z 2), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
Demgemäß hat das Bundesverwaltungsgericht zu prüfen, ob im Falle der Rückführung der bPen in die Türkei Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde.
Bei der Beurteilung, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht, bedarf es einer Auseinandersetzung mit der allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat. Die dabei anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen.
Nach der ständigen Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Verwaltungsgerichtshofs obliegt es dem Antragsteller mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos glaubhaft zu machen, dass ihm im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (EGMR U 05.09.2013, I. gegen Schweden, Nr. 61204/09). Der Antragsteller muss die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten Angaben schlüssig darstellen. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus, wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (EGMR U 17.10.1986, Kilic gegen Schweiz, Nr. 12364/86).
Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Art. 3 EMRK auch dann, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (VfSlg 13.314/1992; EGMR GK 07.07.1989, Soering gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88).
Der Verwaltungsgerichtshof hat unter Hinweis auf die einschlägige Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte bereits in zahlreichen Fällen erkannt, dass im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, in Österreich zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet.
Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt eine Abschiebung in den Herkunftsstaat zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, oder wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Herkunftsstaat oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (VwGH 22.03.2017, Ro 2017/18/0001, unter Verweis auf das Urteil des EGMR vom 13.12.2016, Paposhvili gegen Königreich Belgien, Nr. 41738/10).
Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie unter anderem für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinn des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind.
Dabei ist zu überprüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende und damit allgemeine Gefahr in der Person des Antragsstellers so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Bedrohung darstellt. Eine allgemeine Gefahr kann sich insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt muss ein so hohes Niveau erreichen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (EuGH U 17.02.2009, Meki Elgafaji und Noor Elgafaji gegen Staatssecretaris van Justitie, C-465/07).
Ob eine Situation genereller Gewalt eine ausreichende Intensität erreicht, um eine reale Gefahr einer für das Leben oder die Person zu bewirken, ist insbesondere anhand folgender Kriterien zu beurteilen: ob die Konfliktparteien Methoden und Taktiken anwenden, die die Gefahr ziviler Opfer erhöhen oder direkt auf Zivilisten gerichtet sind; ob diese Taktiken und Methoden weit verbreitet sind; ob die Kampfhandlungen lokal oder verbreitet stattfinden; schließlich die Zahl der getöteten, verwundeten und vertriebenen Zivilisten (EGRM U 28.06.2011, Sufi/Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07). Der EuGH nennt als weitere maßgebliche Kriterien die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte und die Dauer des Konflikts, das geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt, den tatsächlichen Zielort des Asylwerbers bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet und schließlich ob die die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen eventuell mit Absicht erfolgt (EuGH U 10.06.2021, CF und DN gegen Bundesrepublik Deutschland, C-901/19).
Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt jedoch nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028; EGMR U 20.07.2010, N. gegen Schweden, Nr. 23505/09; U 13.10.2011, Husseini gegen Schweden, Nr. 10611/09).
II.3.2.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 nicht gegeben sind:
Die bPen sind in ihrem Herkunftsstaat nicht Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die bPen somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht ihnen im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung, noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte.
Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die bPen als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.
Die Sicherheitslage im Herkunftsstaat ist trotz der gelegentlichen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und der (nunmehr offiziell aufgelösten) PKK sowie mit ihr verbündeten Organisationen ausweislich der Feststellungen grundsätzlich stabil. Diese Auseinandersetzungen führten zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015 und 2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau wieder. Die anhaltenden Bemühungen im Kampf gegen den Terrorismus haben die terroristischen Aktivitäten verringert und die Sicherheitslage verbessert.
Aufgrund der Feststellungen ist es auszuschließen, dass die bPen bei einer Rückkehr in die Türkei als Zivilpersonen alleine schon aufgrund ihrer bloßen Anwesenheit einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes oder einer Anschlagskriminalität ausgesetzt wären. Die bPen gehören nicht staatlichen oder privaten Sicherheitskräften an, haben kein politisches Amt inne und sind auch nicht wegen von ihnen gesetzten politischen Aktivitäten exponiert. Es ist kein Grund erkennbar, weshalb sie im Rückkehrfall mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in bewaffnete Auseinandersetzungen, terroristische Handlungen oder kriminelle Aktivitäten verwickelt werden sollten.
Es kann auch nicht erkannt werden, dass den bPen im Falle einer Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. hiezu grundlegend VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059), haben doch die bPen selbst nicht vorgebracht, dass ihnen im Falle einer Rückführung jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und sie in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wären. Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist in der Türkei gewährleistet.
Die bP 1 und 2 sind gesunde, arbeits- und anpassungsfähige sowie arbeitswillige Personen. Die bP 1 verfügt über eine mehrjährige Erfahrung im Gastronomiebereich sowie über eine mehrjährige Erfahrung als Selbständige. Die bPen 1 und 2 sind ist mit der Sprache, den lokalen Umständen sowie den Gebräuchen in der Türkei vertraut und wird die bP 1 folglich im Rückkehrfall in der Lage sein, ihr Auskommen als Arbeitnehmerin in der Privatwirtschaft oder als Selbständige zu bestreiten. Auch die bP 2 ist in der Lage- soweit es die Betreuungspflichten in Ansehung der minderjährigen bPen zulassen - Gelegenheits- oder Teilzeitarbeiten zur Unterstützung des Familienauskommens im Rückkehrfall aufzunehmen. Die bPen werden – wie bereits vor ihrer Ausreise - in der Lage sein, ihrer Familie mit eigener Erwerbstätigkeit ein ausreichendes Einkommen zur Sicherstellung des Lebensunterhalts und zur Befriedigung der Wohnbedürfnisse zu erwirtschaften.
Darüber hinaus stehen den bPen als türkische Staatsangehörige die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit, darunter Sozialleistungen für Bedürftige durch die Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität offen. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können.
Den bPen 1 und 2 ist in Anbetracht ihres persönlichen Profils jedenfalls zuzumuten, das Auskommen der Familie– allenfalls auch nach Inanspruchnahme von Rückkehrhilfe – künftig durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten.
Ausgehend von den persönlichen Profilen der bP1 und 2 und den Erwägungen zur Lebensgrundlage im Herkunftsstaat geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass die minderjährigen bPen im Wege der Versorgung durch ihre Eltern nicht nur eine hinreichende Absicherung im Hinblick auf die Güter des täglichen Bedarfs, sondern insbesondere auch im Hinblick auf ihre altersgerechten Bedürfnisse erfahren werden. Die minderjährigen bPen gehören keiner besonders gefährdeten Gruppe an, sie kehren gemeinsam mit ihren Eltern in die Türkei zurück, sodass die Betreuung, Erziehung und Beaufsichtigung der Minderjährigen sichergestellt ist.
Dass den minderjährigen bPen im Rückkehrfall geschlechtsspezifische Gewalt, Zwangsprostitution, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit oder Zwangsehe droht, ist nicht ersichtlich bzw. gibt es hierfür keine Anhaltspunkte.
In den Verfahren wurde der Eindruck vermittelt, dass die Eltern der mj. bPen sehr am Wohlergehen ihrer Kinder interessiert sind. Im Hinblick auf das Verhalten der bP 1 und 2 im Bundesgebiet ist nicht davon auszugehen, dass die minderjährigen bPen im Rückkehrfall von häuslicher Gewalt betroffen wären. In der Türkei ist die Grundversorgung mit Nahrung und medizinische Versorgung gegeben und steht den schulpflichtigen Kindern auch ein diskriminierungsfreier Zugang zum Schulsystem offen.
Ob der Erwägungen und den getroffenen Feststellungen zur Sicherheitslage in der Herkunftsregion der bPen ist nicht zu besorgen, dass die Minderjährigen als besonders vulnerable Personen im Rückkehrfall von terroristischen oder kriminellen Aktivtäten betroffen wären. Aufgrund der Verfahrensergebnisse ist auch nicht davon auszugehen, dass sie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit sonstiger Gewalt, wie etwa Blutrache oder einem Ehrenmord, zum Opfer fallen würden.
Ausgehend von den persönlichen Profilen der bPen und den Erwägungen zur Lebensgrundlage im Herkunftsstaat geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass die minderjährigen bPen im Wege der Versorgung durch ihre Eltern nicht nur eine hinreichende Absicherung im Hinblick auf die Güter des täglichen Bedarfs, sondern insbesondere auch im Hinblick auf ihre altersgerechten Bedürfnisse erfahren werden. Engpässe bei der Versorgung mit Gütern, die Kinder für ihre Bedürfnisse benötigen, liegen nach den Feststellungen nicht vor.
2012 hat die Türkei zudem eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt. Der grundsätzlichen Krankenversicherungspflicht unterliegen alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei. Für Bedürftige übernimmt der Staat die Krankenversicherungsbeiträge. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit. Die medizinische Versorgung ist gemäß den Feststellungen (vgl. Pkt. II.1.6.) im Herkunftsland der bPen flächendeckend ausreichend gegeben.
Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können (vgl. VwGH 20.08.2020, Ra 2020/19/0239, mwN). Zu betonen ist, dass vorliegend jedenfalls nicht von exzeptionellen Umständen gesprochen werden kann.
Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die bPen sohin nicht in ihren Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren Zusatzprotokollen Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe und Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden, sodass die Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten zu Recht abgewiesen wurden.
II.3.3. Nichterteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz:
II.3.3.1. Wird ein Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, ist gemäß § 58 Abs. 1 Z. 2 AsylG 2005 die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen. Über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung ist gemäß § 58 Abs. 3 AsylG 2005 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
II.3.3.2. Der Aufenthalt der bPen im Bundesgebiet war ausweislich der Feststellungen nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG 2005 geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurden schließlich nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
Den bPen ist sohin kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu erteilen. Den gegen Spruchpunkt III des angefochtenen Bescheides erhobenen Beschwerden kommt keine Berechtigung zu.
II.3.4. Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK und Erlassung einer Rückkehrentscheidung:
II.3.4.1. Die Einreise der bPen in das Gebiet der Europäischen Union und in weiterer Folge nach Österreich ist nicht rechtmäßig erfolgt. Sie waren bislang als Asylweber für die Dauer des nunmehr abgeschlossenen Verfahrens zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt. Ein auf eine andere Rechtsgrundlage gestütztes Aufenthaltsrecht ist nicht gegeben. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 ist diese Entscheidung somit mit einer Rückkehrentscheidung nach dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden nach Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Rechts der bPen auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt.
Das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (VfSlg. 16928/2003). Der Begriff des Familienlebens ist nicht nur auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein. Maßgebend sind etwa das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR U 13.06.1979, Marckx gegen Belgien, Nr. 6833/74; GK 22.04.1997, X, Y u. Z gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 21830/93).
Die bPen haben in Österreich keine weiteren Familienangehörigen oder Verwandten und leben auch nicht mit einer ihr sonst nahestehenden Person zusammen. Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme stellt daher, zumal sie das Bundesgebiet gemeinsam verlassen würden, keinen Eingriff in das Recht der bPen auf Familienleben, sondern allenfalls einen solchen in das Recht auf Privatleben dar.
II.3.4.2. Der Abwägung der öffentlichen Interessen gegenüber den Interessen eines Fremden an einem Verbleib in Österreich in dem Sinne, ob dieser Eingriff im Sinn des Art. 8 Abs. 2 EMRK notwendig und verhältnismäßig ist, ist voranzustellen, dass die Rückkehrentscheidung der innerstaatlichen Rechtslage nach einen gesetzlich zulässigen Eingriff darstellt.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist eine Maßnahme dann in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, wenn sie einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und zum verfolgten legitimen Ziel verhältnismäßig ist. Das bedeutet, dass die Interessen des Staates, insbesondere unter Berücksichtigung der Souveränität hinsichtlich der Einwanderungs- und Niederlassungspolitik, gegen jene der bP abzuwägen sind (EGMR U 18.02.1991, Moustaquim gegen Belgien, Nr. 12313/86). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht ferner davon aus, dass die Konvention kein Recht auf Aufenthalt in einem bestimmten Staat garantiert. Die Konventionsstaaten sind nach völkerrechtlichen Bestimmungen berechtigt, Einreise, Ausweisung und Aufenthalt von Fremden ihrer Kontrolle zu unterwerfen, soweit ihre vertraglichen Verpflichtungen dem nicht entgegenstehen (EGRM U 30.10.1991, Vilvarajah u.a. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 13163/87).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei der Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art 8 EMRK einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegensteht (zur Maßgeblichkeit dieser Kriterien vgl. VfSlg. 18.223/2007).
Er hat etwa die Aufenthaltsdauer, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keine fixen zeitlichen Vorgaben knüpft (EGMR U 31.1.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99; U 16.9.2004, M. C. G. gegen Deutschland, Nr. 11.103/03), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR GK 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 9214/80, 9473/81, 9474/81; U 20.6.2002, Al-Nashif gegen Bulgarien, Nr. 50.963/99) und dessen Intensität (EGMR U 02.08.2001, Boultif gegen Schweiz, Nr. 54.273/00), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR U 04.10.2001, Adam gegen Deutschland, Nr. 43.359/98; GK 09.10.2003, Slivenko gegen Lettland, Nr. 48321/99), die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (EGMR U 11.04.2006, Useinov gegen Niederlande Nr. 61292/00) für maßgeblich erachtet.
Auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren – was bei einem bloß vorläufigen Aufenthaltsrecht während des Asylverfahrens jedenfalls als gegeben angenommen werden kann – ist bei der Abwägung in Betracht zu ziehen (EGMR U 24.11.1998, Mitchell gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 40.447/98; U 05.09.2000, Solomon gegen die Niederlande, Nr. 44.328/98; 31.1.2006, U 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99).
Bereits vor Inkrafttreten des nunmehrigen § 9 Abs. 2 BFA-VG entwickelten die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts in den Erkenntnissen VfSlg. 18.224/2007 und VwGH 17.12.2007, Zl. 2006/01/0216 unter ausdrücklichen Bezug auf die Judikatur des EGMR nachstehende Leitlinien, welche im Rahmen der Interessensabwägung gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigen sind. Nach der mittlerweile ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist bei der Beurteilung, ob im Falle der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in das durch Art. 8 MRK geschützte Privat- und Familienleben des oder der Fremden eingegriffen wird, ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt (VwGH 28.04.2014, Ra 2014/18/0146-0149, mwN). Maßgeblich sind dabei die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität sowie die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert sowie die Bindungen zum Heimatstaat (VwGH 13.06.2016, Ra 2015/01/0255). Ferner sind nach der eingangs zitieren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie dies Verfassungsgerichtshofs die strafgerichtliche Unbescholtenheit aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht sowie Erfordernisse der öffentlichen Ordnung und schließlich die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen.
Das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration ist weiter dann gemindert, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf einen unberechtigten Asylantrag zurückzuführen ist (VwGH 26.6.2007, 2007/01/0479 mwN). Beruht der bisherige Aufenthalt auf rechtsmissbräuchlichem Verhalten wie insbesondere bei Vortäuschung eines Asylgrundes, relativiert dies die ableitbaren Interessen des Asylwerbers wesentlich (VwGH 2.10.1996, 95/21/0169; 28.06.2007, 2006/21/0114; VwGH 20.12.2007, 2006/21/0168).
Bei der Abwägung der Interessen ist auch zu berücksichtigen, dass es den bPen bei der asylrechtlichen Ausweisung nicht verwehrt ist, bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren. Es wird dadurch nur jener Zustand hergestellt, der bestünde, wenn sie sich rechtmäßig (hinsichtlich der Zuwanderung) verhalten hätten und wird dadurch lediglich anderen Fremden gleichgestellt, welche ebenfalls gemäß dem Grundsatz der Auslandsantragsstellung ihren Antrag nach den fremdenpolizeilichen bzw. niederlassungsrechtlichen Bestimmungen vom Ausland aus stellen müssen und die Entscheidung der zuständigen österreichischen Behörde dort abzuwarten haben.
Die Schaffung eines Ordnungssystems, mit dem die Einreise und der Aufenthalt von Fremden geregelt werden, ist auch im Lichte der Entwicklungen auf europäischer Ebene notwendig. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung nach Art 8 Abs. 2 EMRK daher ein hoher Stellenwert zu (VfSlg. 18.223/2007; VwGH 16.01.2001, 2000/18/0251).
Die öffentliche Ordnung, hier im Besonderen das Interesse an einer geordneten Zuwanderung, erfordert es daher, dass Fremde, die nach Österreich einwandern wollen, die dabei zu beachtenden Vorschriften einhalten. Die öffentliche Ordnung wird etwa beeinträchtigt, wenn einwanderungswillige Fremde, ohne das betreffende Verfahren abzuwarten, sich unerlaubt nach Österreich begeben, um damit die österreichischen Behörden vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Ausweisung kann in solchen Fällen trotz eines vielleicht damit verbundenen Eingriffs in das Privatleben und Familienleben erforderlich sein, um jenen Zustand herzustellen, der bestünde, wenn sich der Fremde gesetzestreu verhalten hätte (VwGH 21.02.1996, 95/21/1256). Dies insbesondere auch deshalb, weil als allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz gilt, dass aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen. (VwGH 11.12.2003, 2003/07/0007). Der VwGH hat weiters festgestellt, dass beharrliches illegales Verbleiben eines Fremden nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens bzw. ein länger dauernder illegaler Aufenthalt eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen darstellen würde, was eine Ausweisung als dringend geboten erscheinen lässt (VwGH 31.10.2002, 2002/18/0190).
Die geordnete Zuwanderung von Fremden ist auch für das wirtschaftliche Wohl des Landes von besonderer Bedeutung, da diese sowohl für den sensiblen Arbeitsmarkt als auch für das Sozialsystem gravierende Auswirkung hat. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass insbesondere nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältige Fremde, welche daher auch über keine arbeitsrechtliche Berechtigung verfügen, die reale Gefahr besteht, dass sie zur Finanzierung ihres Lebensunterhaltes auf den inoffiziellen Arbeitsmarkt drängen, was wiederum erhebliche Auswirkungen auf den offiziellen Arbeitsmarkt, das Sozialsystem und damit auf das wirtschaftliche Wohl des Landes hat.
II.3.4.3. In Abwägung der gemäß Art. 8 EMRK maßgeblichen Umstände in Ansehung der bPen ergibt sich für den gegenständlichen Fall Folgendes:
Die bPen stellten nach unrechtmäßiger Einreise am 10.10.2023 einen Antrag auf internationalen Schutz. Sie sind seither als Asylwerber in Österreich aufhältig. Die zeitliche Komponente ist insofern wesentlich, weil eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist. Das Gewicht des faktischen Aufenthalts von nicht einmal zwei Jahren in Österreich ist schon dadurch abgeschwächt, dass die bPen ihren Aufenthalt durch einen unberechtigten Antrag auf internationalen Schutz zu legalisieren versuchten; sie konnten alleine durch die Stellung ihres Antrags jedoch nicht begründeter Weise von der zukünftigen dauerhaften Legalisierung ihres Aufenthalts ausgehen.
Einem inländischen Aufenthalt von weniger als fünf Jahren kommt ohne dem Dazutreten weiterer maßgeblicher Umstände nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs noch keine maßgebliche Bedeutung hinsichtlich der durchzuführenden Interessenabwägung zu (VwGH 03.12.2020, Ra 2020/20/0392 mwN; 23.10.2019, Ra 2019/19/0289 mwN). Nur bei ganz außergewöhnlichen integrativen Leistungen kann bei einer Aufenthaltsdauer von etwa drei Jahren von einer Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung und der Erteilung eines Aufenthaltstitels ausgegangen werden (VwGH vom 28.01.2016 Ra 2015/21/0191 mit weiteren Hinweisen, VwGH a.a.O.).
Hinsichtlich einer allfälligen Integration in den heimischen Arbeitsmarkt ist festzustellen, dass die bP 1 von 01.11.2024 - 31.03.2025 als Arbeiterin beschäftigt gewesen ist. Zwar kommt diesem Arbeitsverhältnis im Rahmen der Interessensabwägung eine gewisse Bedeutung zu, es gilt aber zu bedenken, dass die bP 1 sich einerseits während der Aufnahme dieser Tätigkeit ihres unsicheren Aufenthaltes in Österreich bewusst gewesen sein musste sowie andererseits der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht hat, dass der Ausübung einer Beschäftigung oder einer etwaigen Einstellungszusage oder Arbeitsplatzzusage eines Asylwerbers, der lediglich über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz und über keine Arbeitserlaubnis verfügt hat, keine wesentliche Bedeutung zukommt (VwGH 22.02.2011, 2010/18/0323 mit Hinweis auf VwGH 15.09.2010, 2007/18/0612 und VwGH 29.06.2010, 2010/18/0195 jeweils mit weiteren Nachweisen). Vor diesem Hintergrund liegt zwar eine zweifellos anerkennungswürdige berufliche Tätigkeit der bP 1 vor; eine ausschlaggebende Integration in den österreichischen Arbeitsmarkt ist aber darin (noch) nicht zu erkennen
Die bPen pflegen Kontakte in ihrem Wohnumfeld sowie im Zusammenhang mit den Schulbesuchen der mj. bPen. Engere freundschaftliche Beziehungen in Österreich konnten nicht festgestellt werden.
Der bPen haben keine Integrationsprüfung erfolgreich abgelegt. Hinweise auf eine zum Entscheidungszeitpunkt vorliegende außergewöhnliche Integration in sprachlicher Sicht haben sich nicht ergeben.
Die Feststellung der strafrechtlichen Unbescholtenheit der bPen 1 und 2 stellt der Judikatur folgend weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (vgl. VwGH vom 21.01.1999, 98/18/0420).
In Anbetracht der von den bPen bislang gesetzten Integrationsschritte kann nicht von einer tiefergehenden sozialen Einbindung in die österreichische Gesellschaft im Sinne einer umfassenden Integration ihrer Person ausgegangen werden.
Eine berücksichtigungswürdige Integration der bPen in Österreich konnte demzufolge nicht festgestellt werden und es besteht, schon in Anbetracht der sehr kurzen Aufenthaltsdauer in Österreich, keine derartige Verdichtung der persönlichen Interessen, dass den bPen deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste, zumal das durch eine soziale Integration erworbene Interesse an einem Verbleib in Österreich in einem Gewicht gemindert ist, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen (vgl. VwGH Ra 2016/22/0056 vom 03.10.2017).
Im gegenständlichen Verfahren ist insgesamt auch keine unverhältnismäßig lange Verfahrensdauer festzustellen, die den zuständigen Behörden zur Last zu legen wäre und die sich bei der folgenden Gesamtwürdigung entscheidend zugunsten der bPen auswirken würde.
Den erörterten Aspekten steht gegenüber, dass die bP 1 bis 2 den weitaus überwiegenden Teil ihres Lebens im Herkunftsstaat verbrachten. Sie wurde dort sozialisiert und sprechen sowohl die Mehrheitssprache ihres Herkunftsstaates als auch die Sprache ihrer Volksgruppe. Ebenso war festzustellen, dass sie in der Türkei über Bezugspersonen in Form von nahen Angehörigen verfügen. Es deutet daher nichts darauf hin, dass es den bPen im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren. Aufgrund der Präsenz von nahen Angehörigen im Herkunftsstaat ist auch gegenwärtig von gewissen Bindungen zu diesen auszugehen, wobei eine Existenzgrundlage der bPen bereits vorstehend bejaht wurde (VwGH 31.08.2017, Ra 2016/21/0296, zur Maßgeblichkeit der Bindungen zum Herkunftsstaat vgl. auch VwGH 22.02.2011, 2010/18/0323).
Soweit die bPen über soziale Anknüpfungspunkte in Österreich verfügt, ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass die Kontakte zu jenen Personen zwar durch eine Rückkehr in die Türkei gelockert werden, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass die bPen hierdurch gezwungen würde, den Kontakt gänzlich abzubrechen. Auch hier steht es ihr frei, die Kontakte anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch Urlaubsaufenthalte gegebenenfalls auch in einem Drittstaat etc.) aufrecht zu erhalten.
Den mj. bPen ist nach der Rechtsprechung eine Reintegration in ihren Heimatstaat aufgrund ihres Alters zumutbar. Die bPen 3 und 4 haben ihre Heimat erst im Alter von 12 bzw. 10 Jahren verlassen, sie haben demnach ihre grundsätzliche Sozialisierung bereits im Herkunftsland erfahren, was eine Wiedereingliederung jedenfalls zumutbar erscheinen lässt (vgl. VwGH vom 30.07.2015, Ra 2014/22/0055). Die bPen 5 und 6 befinden sich wiederum mit ihren nunmehrigen 8 bzw. 2 Jahren in einem anpassungsfähigen Alter (vgl. VwGH vom 23.06.2015, Ra 2015/22/0026). Gemäß Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist zudem gerade Kindern, welche noch im jungen Alter sind und die mit ihren Eltern gemeinsam ausreisen, die (Re-)Integration im Herkunftsstaat der Eltern zumutbar.
Das Gericht kann auch sonst keine unzumutbaren Härten in einer Rückkehr der bPen erkennen und wären im Übrigen nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz im Herkunftsland – letztlich auch als Folge des Verlassens des Heimatlandes ohne ausreichenden (die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiärem Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich – im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen (vgl. VwGH 29.04.2010, 2009/21/0055).
In Abwägung der erörterten Aspekte ist zunächst festzustellen, dass der Rechtspositionen der bPen im Hinblick auf einen weiteren Verbleib in Österreich die öffentlichen Interessen des Schutzes der öffentlichen Ordnung, insbesondere in Form der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen, sowie des wirtschaftlichen Wohles des Landes ebenso gegenüberstehen, wie die unberechtigte Asylantragstellung, die unrechtmäßige Einreise und der äußerst kurze Aufenthalt im Bundesgebiet, währenddessen sie sich - insbesondere nach Erhalt des angefochtenen Bescheides – der Ungewissheit ihres weiteren Verbleibes im Bundesgebiet bewusst gewesen sein mussten. Dazu tritt, dass die Bindungen der bPen zum Herkunftsstaat aufgrund der Präsenz von nahen Angehörigen bestehen und dem kein im Bundesgebiet eingegangenes Familienleben gegenübersteht. Ausgeprägte soziale Bindungen der bPen zu im Bundesgebiet aufhältigen Personen konnten ebenfalls nicht festgestellt werden
Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist die belangte Behörde daher zu Recht davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts der bPen im Bundesgebiet das persönliche Interesse der bPen am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vorliegt.
Schließlich ist festzuhalten, dass es den bPen durch die gegenständliche Rückkehrentscheidung nicht verwehrt ist, bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren. Es wird dadurch nur jener Zustand hergestellt, der bestünde, wenn sie sich rechtmäßig (hinsichtlich der Zuwanderung) verhalten hätte und wird dadurch lediglich anderen Fremden gleichgestellt, welche ebenfalls gemäß dem Grundsatz der Auslandsantragsstellung ihren Antrag nach den fremdenpolizeilichen bzw. niederlassungsrechtlichen Bestimmungen vom Ausland ausstellen müssen und die Entscheidung der zuständigen österreichischen Behörde dort abzuwarten haben. Nach Auffassung des erkennenden Gerichtes würde die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung in einer Konstellation wie der hier vorliegenden außerdem einen Wertungswiderspruch und eine sachlich nicht gerechtfertigte Schlechterstellung jener Personen darstellen, die die fremdenrechtlichen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen beachten. Letzter wären bei Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung schlechter gestellt als Fremde, die ihren Aufenthalt im Bundesgebiet durch ihre unrechtmäßige Einreise und durch die Stellung eines unbegründeten Antrages auf internationalen Schutz erzwingen, was in letzter Konsequenz zu einer verfassungswidrigen unsachlichen Differenzierung von Fremden untereinander führen würde (zum allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen VwGH 11.12.2003, 2003/07/0007; vgl. dazu auch VfSlg. 19.086/2010, in dem der Verfassungsgerichtshof auf diese Entscheidung Bezug nimmt und darlegt, dass eine andere Auffassung sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber den sich rechtstreu Verhaltenden führen würde). Den bPen steht es ferner – wie bereits angesprochen – frei, sich um einen weiteren rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet zu bemühen und die dafür gesetzlich vorgesehenen Aufenthaltstitel zu beantragen.
Im Ergebnis stellen sich die individuellen Interessen der bPen im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht als so ausgeprägt dar, dass sie insbesondere das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung nach Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens und der Einhaltung der österreichischen aufenthalts- und fremdenrechtlichen Bestimmungen überwiegen.
Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 52 Abs. 2 Z 2 FPG 2005 keine gesetzlich normierten Hindernisse entgegenstehen. Den gegen Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides erhobenen Beschwerden kommt sohin keine Berechtigung zu.
II.3.5. Zulässigkeit der Abschiebung und Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise:
II.3.5.1. Für die gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 von Amts wegen gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG 2005 (VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0234).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Fremde das Bestehen einer aktuellen und durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abwendbaren Bedrohung im Sinn des § 50 Abs. 1 oder Abs. 2 FPG 2005 – diese Bestimmungen stellen auf dieselben Gründe ab, wie sie in den §§ 3 und 8 AsylG 2005 enthalten sind – glaubhaft zu machen. Es ist die konkrete Einzelsituation des Fremden in ihrer Gesamtheit, gegebenenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse, in Form einer Prognose für den gedachten Fall der Abschiebung des Fremden in diesen Staat zu beurteilen (VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314).
Der Prüfungsmaßstab im Hinblick auf den subsidiären Schutz entspricht somit jenem des Refoulementverbots im FPG 2005. Erkennbar eben deshalb ist nach den Vorstellungen des Gesetzgebers aber auch ein gesonderter Antrag auf Feststellung der Unzulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat im Grunde des § 50 FPG 2005 nicht möglich; einem Fremden ist es verwehrt, eine derartige Feststellung zu begehren, weil über das Thema dieser Feststellung ohnehin im Verfahren über einen Antrag auf internationalen Schutz abzusprechen ist. Ein inhaltliches Auseinanderfallen der genannten Entscheidungen (insbesondere nach § 8 AsylG 2005) einerseits und der Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG 2005 andererseits ist ausgeschlossen (VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119).
II.3.5.2. Bezüglich § 50 Abs. 1 FPG 2005 bleibt festzuhalten, dass im Rahmen des Ermittlungsverfahrens betreffend die von den bPen gestellten Anträgen auf internationalen Schutz nicht festgestellt werden konnte, dass die bPen im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die bPen somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung, noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, liegt ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage in der Türkei ebenfalls nicht vor.
Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die bPen als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.
Ebenso sind keine von Amts wegen aufzugreifenden stichhaltige Gründe für die Annahme erkennbar, dass im Herkunftsstaat der bPen deren Leben oder deren Freiheit aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten im Sinn des § 50 Abs. 2 FPG 2005 bedroht wäre und wird insoweit auf die Erwägungen in der Beweiswürdigung und der rechtlichen Beurteilung betreffend die von den bPen gestellten Anträge auf internationalen Schutz verwiesen.
Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 3 FPG 2005 schließlich unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht. Eine solche Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme besteht hinsichtlich des Staates Türkei nicht.
II.3.5.3. Die festgelegte Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ergibt sich zwingend aus § 55 Abs. 2 erster Satz FPG 2005. Die eingeräumte Frist ist angemessen. Die Flughäfen in der Türkei sind geöffnet und von Wien aus (mitunter im Wege von Umsteigeverbindungen) im Luftweg erreichbar, sodass keine administrativen Hindernisse erkannt werden können, das Bundesgebiet innerhalb der eingeräumten First in den Herkunftsstaat zu verlassen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Den Ausführungen ist zu entnehmen, dass das zur Entscheidung berufene Gericht gegenständlich nicht von der einheitlichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, insbesondere zum Erfordernis der Glaubhaftmachung der vorgebrachten Gründe, zum Flüchtlingsbegriff, zum Refoulementschutz und zum durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienleben, abgegangen ist. In Bezug auf die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides liegt das Schwergewicht zudem in Fragen der Beweiswürdigung.