Spruch
W136 2293341-1/7E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Brigitte HABERMAYER-BINDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX geb. XXXX Staatsangehöriger von Syrien, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) GmbH, gegen den Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.03.2024, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Syriens, reiste illegal ein und stellte am 05.01.2023 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Anlässlich seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 06.01.2023 gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass Syrien wegen des Krieges und der Wirtschaftskrise verlassen habe. Bei einer Rückkehr befürchte er festgenommen zu werden, weil er den Militärdienst nicht abgeleistet habe.
Am 05.01.2024 wurde der Beschwerdeführer durch die gegenständlich belangte Behörde, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), zu seinen Fluchtgründen einvernommen. Dabei führte er aus, dass er aus XXXX in der Provinz Deir-ez-Zor stamme, wo er zwölf Jahre die Schule besucht jedoch diese nicht abgeschlossen habe. Im Jahr 2014 sei er mit seinem Bruder XXXX in den Libanon gegangen, von dort sei er 2022 in die Türkei gereist. Von dort sei er über Griechenland und den Westbalkan nach Österreich gereist. Zu seinem Fluchtgrund gab er an, dass er im Sommer 2014 mit einem Bus von XXXX nach Deir-ez-Zor gefahren sei. Auf diesem Weg habe ein Schusswechsel zwischen zwei ihm unbekannten Gruppen stattgefunden. Vor seinem Bus sei noch ein weiterer gefahren, dieser sei auf eine Mine gefahren, wobei alle Passiere ums Leben gekommen seien, deswegen habe er Syrien verlassen. Seinen Militärdienst hätte er auch noch leisten müssen. Vorher habe er Aufschübe wegen der Schule bekommen, nachdem er das Land verlassen habe, nicht mehr. Auf Nachfrage korrigierte sich der der BF und meinet, er habe nur einen Aufschub bekommen, sein Militärbuch sei bei seiner Familie in Syrien verloren gegangen.
Im Zuge des Verfahrens legte der Beschwerdeführer ein Foto seines syrischen Personalausweises vor.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 21.03.2024 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte diesem den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte (Spruchpunkt III.). Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr nach Syrien keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre. Aufgrund der allgemein schlechten Sicherheitslage in Syrien sei dem Beschwerdeführer jedoch subsidiärer Schutz zu gewähren.
Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 29.04.2024 binnen offener Rechtsmittelfrist Beschwerde. Darin wurde zusammengefasst insbesondere vorgebracht, dass der Beschwerdeführer noch nicht den Militärdienst geleistet habe, bei dem er sich an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligen müsse. Im Falle seiner Weigerung drohten ihm unverhältnismäßig schwere Strafen. Außerdem befürchte er, dass ihn das syrische Regime wegen der Militärdienstverweigerung seines Bruders, der im Libanon lebe, verfolgen könne. Zudem würde ihm aufgrund seiner Asylantragstellung im Ausland eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden.
Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 10.06.2024 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde am 02.09.2024 eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt, an der der Beschwerdeführer, seine Rechtsvertretung sowie ein Dolmetscher für die Sprache Arabisch teilnahmen und das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers umfassend erörtert wurde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer heißt XXXX , ist syrischer Staatsangehöriger und wurde am XXXX geboren. Er ist Angehöriger der Volksgruppe der Araber und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Der Beschwerdeführer ist zum Entscheidungszeitpunkt 29 Jahre alt. Seine Muttersprache ist Arabisch.
Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX , in der Nähe der Stadt XXXX in der Provinz Deir-ez-Zor, wo er bis zu seiner Ausreise aus Syrien im Herbst 2014 mit seinen Eltern und Geschwistern gelebt hat. Der Beschwerdeführer hat elf oder zwölf Jahre die Schule besucht, diese jedoch nicht abgeschlossen. Im Herbst 2014 ist der Beschwerdeführer mit seinem Bruder legal in den Libanon gereist, hat dort etwas mehr als acht Jahre gelebt und als Gärtner gearbeitet. Der Beschwerdeführer hat im Libanon traditionell geheiratet, sich jedoch zwischenzeitlich wieder scheiden lassen.
Die Heimatstadt des Beschwerdeführers stand im Jahr 2014 unter der Kontrolle der Opposition (FSA), im Herkunftsgebiet hielten sich auch DAESH und iranische Milizen auf, ebenso gab es Gebiete unter Kontrolle der syrischen Regierung. Aktuell steht sein Herkunftsgebiet unter der Kontrolle der syrischen Regierung.
Die Eltern des Beschwerdeführers, zwei jüngere Brüder und vier Schwestern leben noch immer im Heimatdorf. Jener Bruder, mit dem der Beschwerdeführer gemeinsam im Jahr 2014 Syrien verlassen hat, lebt noch immer im Libanon. Der Beschwerdeführer hat zu seinen Eltern regelmäßig Kontakt und unterstützt, ebenso wie sein im Libanon lebender Bruder seine Familie finanziell.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.
Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Im Falle der Rückkehr nach Syrien droht dem Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine Verfolgung wegen eines Konventionsgrundes in asylrelevantem Ausmaß.
Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 2013 der Musterung unterzogen und wurde ihm eine Befreiung vom Wehrdienst bis zumindest März 2015 gewährt. Dem Beschwerdeführer wurde kein Einberufungsbefehl zugestellt. Der Beschwerdeführer wurde bzw. wird in keinem Zusammenhang dem Wehrdienst von den syrischen Behörden gesucht.
In Syrien besteht ein verpflichtender Wehrdienst für männliche Staatsbürger ab dem Alter von 18 Jahren. Der Beschwerdeführer ist 29 Jahre alt und hat seinen Wehrdienst für die syrische Zentralregierung noch nicht abgeleistet. Der Beschwerdeführer lehnt die Ableistung des Wehrdienstes ab, er weist jedoch keine glaubwürdig verinnerlichte politische Überzeugung gegen die syrische Zentralregierung oder gegen den Dienst an der Waffe an sich auf. Es haben sich keine Anhaltspunkte ergeben, wonach das syrische Regime dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt.
Des Weiteren sieht das syrische Gesetz für männliche syrische Staatsbürger, die im Ausland niedergelassen sind, die Möglichkeit vor, sich durch die Zahlung einer Gebühr dauerhaft von der Wehrpflicht zu befreien. Diese Möglichkeit steht auch dem Beschwerdeführer offen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die syrischen Behörden Personen, die sich vom Wehrdienst freigekauft haben (selbst wenn dies nicht zeitnah nach Erreichen des wehrpflichtigen Alters erfolgte), eine oppositionelle Gesinnung unterstellen oder diese Personen trotz der entrichteten Wehrersatzgebühr dennoch systematisch und generell und daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zum Wehrdienst einziehen. Es liegen auch keine Anhaltspunkte vor, dass dies im Fall des Beschwerdeführers erfolgen würde.
Der Beschwerdeführer hat sich weder in Syrien noch in Österreich jemals politisch betätigt und etwa an Demonstrationen teilgenommen. Er wurde aufgrund dessen weder verhaftet noch inhaftiert. Nach ihm wird auch nicht aus diesem Grund in Syrien gefahndet.
Ihm droht bei einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet in Syrien nicht wegen seiner (ohnehin legalen) Ausreise, der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in Österreich oder der Abstammung aus einem als oppositionell angesehenen Gebiet Lebensgefahr oder ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die syrische Regierung.
Auch sonst ist der Beschwerdeführer nicht der Gefahr ausgesetzt, aufgrund seiner Rasse, Nationalität, politischen Gesinnung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe in Syrien mit der Anwendung von physischer und/oder psychischer Gewalt bedroht zu werden.
Zur maßgeblichen Situation in Syrien:
Auszüge aus dem Länderinformationsblatt Syrien Version 10 vom 14.03.2024
Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen
Anmerkungen:
In den folgenden Kapiteln kann aufgrund der Vielzahl an bewaffneten Gruppen nur auf die Rekrutierungspraxis eines Teils der Organisationen eingegangen werden. Darin wird der Begriff „Militärdienst“ als Überbegriff für Wehr- und Reservedienst verwendet. Wo es die Quellen zulassen, wird versucht, klar zwischen Wehr- und Reservedienst bzw. zwischen Desertion und Wehrdienstverweigerung zu unterscheiden.
Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst
Letzte Änderung 2024-03-11 06:50
Rechtliche Bestimmungen
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes verpflichtend (ÖB Damaskus 12.2022). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Die Dauer des Wehrdienstes beträgt 18 Monate bzw. 21 Monate für jene, die die fünfte Klasse der Grundschule nicht abgeschlossen haben (PAR 1.6.2011). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 2.2.2024). In der Vergangenheit wurde es auch akzeptiert, sich, statt den Militärdienst in der syrischen Armee zu leisten, einer der bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppierung anzuschließen. Diese werden inzwischen teilweise in die Armee eingegliedert, jedoch ohne weitere organisatorische Integrationsmaßnahmen zu setzen oder die Kämpfer auszubilden (ÖB Damaskus 12.2022). Wehrpflichtige und Reservisten können im Zuge ihres Wehrdienstes bei der Syrischen Arabischen Armee (SAA) auch den Spezialeinheiten (Special Forces), der Republikanischen Garde oder der Vierten Division zugeteilt werden, wobei die Rekruten den Dienst in diesen Einheiten bei Zuteilung nicht verweigern können (DIS 4.2023). Um dem verpflichtenden Wehrdienst zu entgehen, melden sich manche Wehrpflichtige allerdings aufgrund der höheren Bezahlung auch freiwillig zur Vierten Division, die durch die von ihr kontrollierten Checkpoints Einnahmen generiert (EB 17.1.2023). Die 25. (Special Tasks) Division (bis 2019: Tiger Forces) rekrutiert sich dagegen ausschließlich aus Freiwilligen (DIS 4.2023).
Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB Damaskus 12.2022). Einer vertraulichen Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge sollen Männer auch unabhängig ihres Gesundheitszustandes eingezogen und in der Verwaltung eingesetzt worden sein (NMFA 8.2023).
Die im März 2020, Mai 2021 und Jänner 2022 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetz, darunter Fahnenflucht. Die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB Damaskus 12.2022).
Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen (AA 2.2.2024). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 2.2.2024; vgl. ICWA 24.5.2022).
Männliche Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge, die zwischen 1948 und 1956 nach Syrien kamen und als solche bei der General Administration for Palestinian Arab Refugees (GAPAR) registriert sind (NMFA 5.2022), bzw. palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht (AA 13.11.2018; vgl. Action PAL 3.1.2023, ACCORD 21.9.2022). Ihren Wehrdienst leisten sie für gewöhnlich in einer Unterabteilung der syrischen Armee, die den Namen Palästinensische Befreiungsarmee trägt: Palestinian Liberation Army (PLA) (BAMF 2.2023, (AA 13.11.2018; vgl. ACCORD 21.9.2022). Es konnten keine Quellen gefunden werden, die angeben, dass Palästinenser vom Reservedienst ausgeschlossen seien (ACCORD 21.9.2022; vgl. BAMF 2.2023).
Frauen können als Berufssoldatinnen dem syrischen Militär beitreten. Dies kommt in der Praxis tatsächlich vor, doch stoßen die Familien oft auf kulturelle Hindernisse, wenn sie ihren weiblichen Verwandten erlauben, in einem so männlichen Umfeld zu arbeiten. Dem Vernehmen nach ist es in der Praxis häufiger, dass Frauen in niedrigeren Büropositionen arbeiten als in bewaffneten oder leitenden Funktionen. Eine Quelle erklärt dies damit, dass Syrien eine männlich geprägte Gesellschaft ist, in der Männer nicht gerne Befehle von Frauen befolgen (NMFA 5.2022).
Mit Stand Mai 2023 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 9.5.2023). Frauen sind auch regierungsfreundlichen Milizen beigetreten. In den Reihen der National Defence Forces (NDF) dienen ca. 1.000 bis 1.500 Frauen, eine vergleichsweise geringe Anzahl. Die Frauen sind an bestimmten Kontrollpunkten der Regierung präsent, insbesondere in konservativen Gebieten, um Durchsuchungen von Frauen durchzuführen (FIS 14.12.2018).
Die Umsetzung
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten (STDOK 8.2017; vgl. DIS 7.2023). Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).
Obwohl die offizielle Wehrdienstzeit etwa zwei Jahre beträgt, werden Wehrpflichtige in der Praxis auf unbestimmte Zeit eingezogen (NMFA 5.2022; vgl. AA 29.3.2022), wobei zuletzt von einer "Verkürzung" des Wehrdienstes auf 7,5 Jahre berichtet wurde. Die tatsächliche Dauer richtet sich laut UNHCR Syrien jedoch nach Rang und Funktion der Betreffenden (ÖB Damaskus 12.2022). Personen, die aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse von großem Wert für die Armee und nur schwer zu ersetzen sind, können daher über Jahre hinweg im Militärdienst gehalten werden. Personen, deren Beruf oder Fachwissen in der Gesellschaft sehr gefragt ist, wie z.B. Ärzte, dürfen eher nach Ablauf der offiziellen Militärdienstzeit ausscheiden (NMFA 5.2022).
Seit März 2020 hat es in Syrien keine größeren militärischen Offensiven an den offiziellen Frontlinien mehr gegeben. Scharmützel, Granatenbeschuss und Luftangriffe gingen weiter, aber die Frontlinien waren im Grunde genommen eingefroren. Nach dem Ausbruch von COVID-19 und der Einstellung größerer Militäroperationen in Syrien Anfang 2020 verlangsamten sich Berichten zufolge die militärischen Rekrutierungsmaßnahmen der SAA. Die SAA berief jedoch regelmäßig neue Wehrpflichtige und Reservisten ein. Im Oktober 2021 wurde ein Rundschreiben herausgegeben, in dem die Einberufung von männlichen Syrern im wehrpflichtigen Alter angekündigt wurde. Auch in den wiedereroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Militärdienst ableisten (EUAA 9.2022). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (AA 2.2.2024).
Rekrutierungspraxis
Es gibt, dem Auswärtigen Amt zufolge, zahlreiche glaubhafte Berichte, laut denen wehrpflichtige Männer, die auf den Einberufungsbescheid nicht reagieren, von Mitarbeitern der Geheimdienste abgeholt und zwangsrekrutiert werden (AA 2.2.2024). Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert (AA 2.2.2024; vgl. NMFA 5.2022), wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt (NMFA 5.2022; vgl. NLM 29.11.2022). Im September 2022 wurde beispielsweise von der Errichtung eines mobilen Checkpoints im Gouvernement Dara'a berichtet, an dem mehrere Wehrpflichtige festgenommen wurden (SO 12.9.2022). In Homs führte die Militärpolizei gemäß einem Bericht aus dem Jahr 2020 stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 6.3.2020). Im Jänner 2023 wurde berichtet, dass Kontrollpunkte in Homs eine wichtige Einnahmequelle der Vierten Division seien (EB 17.1.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gibt es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 2.2.2024).
Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Lokale Medien berichteten, dass die Sicherheitskräfte der Regierung während der Fußballweltmeisterschaft der Herren 2022 mehrere Cafés, Restaurants und öffentliche Plätze in Damaskus stürmten, wo sich Menschen versammelt hatten, um die Spiele zu sehen, und Dutzende junger Männer zur Zwangsrekrutierung festnahmen (USDOS 20.3.2023).
Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z. B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vgl. ICG 9.5.2022, EB 6.3.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Hausdurchsuchungen finden dabei v.a. eher in urbanen Gebieten statt, wo die SAA stärkere Kontrolle hat, als in ruralen Gebieten (DIS 1.2024). Mehrere Quellen berichteten im Jahr 2023 wieder vermehrt, dass Wehr- und Reservedienstpflichtige aus ehemaligen Oppositionsgebieten von der syrischen Regierung zur Wehrpflicht herangezogen wurden, um mehr Kontrolle über diese Gebiete zu erlangen bzw. um potenzielle Oppositionskämpfer aus diesen Gebieten abzuziehen (NMFA 8.2023; vgl. DIS 7.2023). Eine Quelle des Danish Immigration Service geht davon aus, dass Hausdurchsuchungen oft weniger die Rekrutierung als vielmehr eine Erpressung zum Ziel haben (DIS 1.2024).
Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht (STDOK 8.2017). Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017; vgl. FIS 14.12.2018). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).
Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020). Anfang April 2023 wurde beispielsweise von verstärkten Patrouillen der Regierungsstreitkräfte im Osten Dara'as berichtet, um Personen aufzugreifen, die zum Militär- und Reservedienst verpflichtet sind (ETANA 4.4.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 4.12.2020).
Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB Damaskus 12.2022; vgl. EASO 4.2021). Da die Zusammensetzung der syrisch-arabischen Armee ein Spiegelbild der syrischen Bevölkerung ist, sind ihre Wehrpflichtigen mehrheitlich sunnitische Araber, die vom Regime laut einer Quelle als "Kanonenfutter" im Krieg eingesetzt wurden. Die sunnitisch-arabischen Soldaten waren (ebenso wie die alawitischen Soldaten und andere) gezwungen, den größeren Teil der revoltierenden sunnitisch-arabischen Bevölkerung zu unterdrücken. Der Krieg forderte unter den alawitischen Soldaten bezüglich der Anzahl der Todesopfer einen hohen Tribut, wobei die Eliteeinheiten der SAA, die Nachrichtendienste und die Shabiha-Milizen stark alawitisch dominiert waren (Al-Majalla 15.3.2023).
Im Rahmen sog. lokaler "Versöhnungsabkommen" in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben (AA 2.2.2024).
Staatenlose Palästinenser werden meistens in die Palestinian Liberation Army (PLA) rekrutiert, seltener auch in die reguläre SAA. Sie sind ebenfalls reservepflichtig. Allerdings dauert ihre Pflicht zum Reservedienst weniger lange, nämlich nur viereinhalb Jahre. Den meisten Quellen des Danish Immigration Service waren keine Fälle bekannt, wonach staatenlose Palästinenser in Syrien zum Reservedienst in der PLA einberufen wurden. Die PLA wurde auch an die Front geschickt (DIS 1.2024).
Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle
Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die SAA eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Absolvierung des "Wehrdiensts" gemäß der "Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien" [Autonomous Administration of North and East Syria (AANES)] befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien. Die syrische Regierung verfügt über mehrere kleine Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese die Bezeichnung "Sicherheitsquadrate" (al-Morabat al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befinden. Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw. "Sicherheitsquadraten" auseinander - auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten (DIS 6.2022). Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im "Sicherheitsquadrat" im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor (Rechtsexperte 14.9.2022). Dies wird auch von SNHR bestätigt, die ebenfalls angeben, dass die Rekrutierung durch die syrischen Streitkräfte an deren Zugriffsmöglichkeiten gebunden ist (ACCORD 7.9.2023). Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat] hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren (BMLV 12.10.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z.B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o. Ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).
Das Gouvernement Idlib befindet sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann (Rechtsexperte 14.9.2022), mit Ausnahme einiger südwestlicher Sub-Distrikte (Nahias) des Gouvernements, die unter Regierungskontrolle stehen (ACLED 1.12.2022; vgl. Liveuamap 17.5.2023). Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen, um sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der "Gesuchten" zu setzen. Das erleichtert ihre Verhaftung zur Rekrutierung, wenn sie das Gouvernement Idlib in Richtung der Gebiete unter Kontrolle der syrischen Regierung verlassen (Rechtsexperte 14.9.2022).
Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich auf das Gouvernement Aleppo konzentriert. Sie wird von der Türkei unterstützt und besteht aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA). Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann keine Personen aus diesen Gebieten für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Auch mit Stand Februar 2023 hat die syrische Armee laut einem von ACCORD befragten Syrienexperten keine Zugriffsmöglichkeit auf wehrdienstpflichtige Personen in Jarabulus (ACCORD 20.3.2023).
Reservedienst
Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden. Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z. B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung) (STDOK 8.2017). Reservisten können laut Gesetz bis zum Alter von 42 Jahren mehrfach zum Militärdienst eingezogen werden. Die syrischen Behörden ziehen weiterhin Reservisten ein (NMFA 5.2022; vgl. NMFA 8.2023; vgl. DIS 1.2024). Die Behörden berufen vornehmlich Männer bis 27 ein, während ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise nach oben angehoben, sodass auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen wurden bzw. Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen können (ÖB Damaskus 12.2022). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab als von allgemeinen Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen Über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020). V.a. weil die SAA derzeit nicht mehr so viele Männer braucht, werden über 42-Jährige derzeit eher selten einberufen. Das syrische Regime verlässt sich vor allem auf Milizen, in deren Dienste sich 42-Jährige einschreiben lassen können (DIS 1.2024).
Das niederländische Außenministerium berichtet unter Berufung auf vertrauliche Quellen, dass Männer über 42 Jahre, die ihren Wehrdienst abgeleistet hatten, Gefahr laufen, verhaftet zu werden, um sie zum Reservedienst zu bewegen. Männer, auch solche über 42 Jahren, werden vor allem in Gebieten, die zuvor eine Zeit lang nicht unter der Kontrolle der Behörden standen, als Reservisten eingezogen. Dies soll eine Form der Vergeltung oder Bestrafung sein. Personen, die als Reservisten gesucht werden, versuchen, sich dem Militärdienst durch Bestechung zu entziehen oder falsche Bescheinigungen zu erhalten, gemäß derer sie bei inoffiziellen Streitkräften, wie etwa regierungsfreundlichen Milizen, dienen (NMFA 5.2022). Manchen Quellen des Danish Immigration Service zufolge werden Reservisten unabhängig ihrer Qualifikationen einberufen, andere Quellen wiederum geben an, dass das syrische Regime Reservisten je nach ihrer militärischen Spezialisierung einzieht. Eine Quelle glaubt, dass Reservisten oft qualifikationsunabhängig eingezogen werden, aber immer öfter auf die Spezialisierung geachtet wird. Eine besondere Stellung bei der Einberufung zum Reservedienst nehmen Angestellte des öffentlichen Sektors ein. Manche Quellen sprechen davon, dass diese seltener einberufen werden, andere Quellen geben an, dass diese eher entsprechend ihrer Tätigkeiten (z.B. im medizinischen Bereich) im Rahmen ihres Reservedienstes an Orte geschickt werden, wo ihre Funktion gerade dringender gebraucht wird (DIS 1.2024).
Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung
Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Mit der COVID-19-Pandemie und der Beendigung umfangreicher Militäroperationen im Nordwesten Syriens im Jahr 2020 haben sich die groß angelegten militärischen Rekrutierungskampagnen der syrischen Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten jedoch verlangsamt (COAR 28.1.2021), und im Jahr 2021 hat die syrische Regierung damit begonnen, Soldaten mit entsprechender Dienstzeit abrüsten zu lassen. Nichtsdestotrotz wird die syrische Armee auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, nicht nur zur Aufrechterhaltung des laufenden Dienstbetriebs, sondern auch, um eingeschränkt militärisch operativ sein zu können. Ein neuerliches "Hochfahren" dieses Systems scheint derzeit [Anm.: Stand 16.9.2022] nicht wahrscheinlich, kann aber vom Regime bei Notwendigkeit jederzeit wieder umgesetzt werden (BMLV 12.10.2022).
Als die Regierung große Teile des Gebiets von bewaffneten Oppositionellen zurückerobert hatte, wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren (DIS 5.2020). Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Der syrische Präsident erließ einen ab Oktober 2022 geltenden Verwaltungserlass mit Blick auf die unteren Ebenen der Militärhierarchie, der die Beibehaltung und Einberufung von bestimmten Offizieren und Reserveoffiziersanwärtern, die für den obligatorischen Militärdienst gemeldet sind, beendete. Bestimmte Offiziere und Offiziersanwärter, die in der Wehrpflicht stehen, sind zu demobilisieren, und bestimmte Unteroffiziere und Reservisten dürfen nicht mehr weiterbeschäftigt oder erneut einberufen werden (TIMEP 17.10.2022; vgl. SANA 27.8.2022). Ziel dieser Beschlüsse ist es, Hochschulabsolventen wie Ärzte und Ingenieure dazu zu bewegen, im Land zu bleiben (TIMEP 17.10.2022). Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020, vgl. NMFA 5.2022). Ein weiterer Beschluss wurde im Dezember 2023 erlassen, wonach Reserveoffiziere, die mit 31.01.2024 ein Jahr oder mehr aktiv ihren Wehrdienst abgeleistet haben, ab 1.2.2024 nicht mehr einberufen werden. Dieser Beschluss beendet ebenfalls die Einberufung von Unteroffizieren und Reservisten, die mit 31.1.2024 sechs Jahre oder mehr aktiven Wehrdienst geleistet haben (SANA 4.12.2023).
Die Rekruten werden während des Wehrdienstes im Allgemeinen nicht gut behandelt. Der Umgang mit ihnen ist harsch. Nur wer gute Verbindungen zu höheren Offizieren oder Militärbehörden hat oder wer seine Vorgesetzten besticht, kann mit einer besseren Behandlung rechnen. Außerdem ist die Bezahlung sehr niedrig und oft ist es den Rekruten während des Wehrdienstes nicht gestattet, ihre Familien zu sehen (DIS 1.2024).
Einsatz von Rekruten im Kampf
Grundsätzlich vermeidet es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, jedoch können diese aufgrund der asymmetrischen Art der Kriegsführung mit seinen Hinterhalten und Anschlägen trotzdem in Kampfhandlungen verwickelt werden (BMLV 12.10.2022), wie in der Badia-Wüste, wo es noch zu Konfrontationen mit dem IS kommt (DIS 7.2023). Alle Eingezogenen können laut EUAA (European Union Agency for Asylum) unter Berufung auf einen Herkunftsländerbericht vom April 2021 potenziell an die Front abkommandiert werden. (EUAA 2.2023; vgl. DIS 7.2023). Ihr Einsatz hängt laut EUAA vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der Eingezogenen und ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab (EUAA 2.2023). Andere Quellen hingegen geben an, dass die militärische Qualifikation oder die Kampferfahrung keine Rolle spielt, beim Einsatz von Wehrpflichtigen an der Front (DIS 7.2023). Eingezogene Männer aus "versöhnten" Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EUAA 2.2023; vgl. NMFA 8.2023). [Anm.: In welcher Relation die Zahl der Reservisten zu den Wehrpflichtigen steht, geht aus den Berichten nicht hervor.] […]
Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts
Letzte Änderung 2024-03-11 07:21
Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vgl. FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit vorübergehenden Erkrankungen können den Wehrdienst aufschieben, wobei die Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020). Auch für Wehrpflichtige, die ins Ausland reisen möchten, ist ein Aufschub von bis zu 6 Monaten möglich und wird von Oppositionsangehörigen genützt, nachdem sie im Rahmen von Versöhnungsabkommen ihren "Status geregelt" haben (DIS 1.2024). Das Risiko der Willkür ist immer gegeben (STDOK 8.2017; vgl. DRC/DIS 8.2017).
Als einziger Sohn der Familie kann man sich vom Wehrdienst befreien lassen. Mehrere Quellen des Danish Immigration Service haben angegeben, dass es keine Fälle gibt, in denen die einzigen Söhne einer Familie trotzdem zur Wehrpflicht herangezogen worden sind (DIS 1.2024).
Einem von der European Union Asylum Agency (EUAA) befragten syrischen Akademiker zufolge werden Wehrpflichtbefreiungen erlassen für Personen mit Erkrankungen, die es ihnen verunmöglichen, militärische Pflichten zu erfüllen, wie beispielsweise Herzerkrankungen oder Sehschwächen. Teilweise werden aber anstatt einer Befreiung, diese Personen auf Positionen ohne Gefechtsbereitschaft bzw. auf denen sie keiner physischen Belastung ausgesetzt sind, wie in der Administration, verpflichtet (EUAA 10.2023; vgl. DIS 01.2024). Zur Entscheidung, ob und welcher Art eine Person wehrpflichtig ist, errechnen die Behörden einen Prozentgrad der Behinderung bzw. der gesundheitlichen Beeinträchtigung zum Zeitpunkt der medizinischen Untersuchung (DIS 1.2024). Wobei eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums angibt, dass sechs Monate Grundausbildung unabhängig des Gesundheitszustandes komplett zu durchlaufen sind (NMFA 8.2023). Welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen zur Untauglichkeit bzw. zum eingeschränkten Wehrdienst führen ist unklar, wobei es bestimmte, offensichtliche Behinderungen gibt, die eine Untauglichkeit bedingen, wie Blindheit oder Lähmungen. Oft werden auch Männer, die an Fettleibigkeit, Sehbehinderungen, Krebs, psychischen Krankheiten leiden oder denen eine Gliedmaße fehlt, vom Wehrdienst befreit. Gewisse gesundheitliche Beeinträchtigungen, wie Diabetes, Sehschwächen bis zu einem bestimmten Grad, Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Hörbeeinträchtigungen, Deformierungen an Händen oder Füßen, Asthma oder andere chronische Erkrankungen gelten meist als Gründe, um den Wehrdienst nicht im Feld ausüben zu müssen (DIS 1.2024). Einer vom niederländischen Außenministerium befragten Quelle zufolge werden medizinische Befreiungen häufig ignoriert und die Betroffenen müssen dennoch ihren Wehrdienst ableisten (NMFA 5.2022). Die tatsächliche Handhabung der Tauglichkeitskriterien ist schwer eruierbar, da sie von den Entscheidungen der medizinischen Ausschüsse abhängen (DIS 5.2020; vgl. DIS 1.2024). Der Prozess nimmt manchmal auch viel Zeit in Anspruch, sogar bei offensichtlichen Beeinträchtigungen, wie dem Downsyndrom (DIS 1.2024). Wer aus medizinischen Gründen befreit werden will oder in einer administrativen Position seinen Wehrdienst versehen möchte, hat mit Hürden zu rechnen und Erpressungen sowie das Bezahlen von Bestechungsgeldern ist weit verbreitet (EUAA 10.2023; vgl. NMFA 8.2023). So zahlen laut einem Experten, der vom Danish Immigration Service befragt wurde, manche Wehrpflichtige 3.000-4.000 USD, um ihren Wehrdienst in einem Büro statt am Gefechtsfeld zu leisten oder höhere Summen, um als gänzlich untauglich klassifiziert zu werden (DIS 7.2023). Manchmal müssen auch Personen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung Bestechungsgelder bezahlen, um als untauglich eingestuft zu werden (DIS 1.2024). Wer für den Gefechtsdienst untauglich erklärt wurde, kann sich durch eine Zahlung von 3.000 USD gänzlich von der Wehrpflicht befreien. Weswegen viele Männer Bestechungsgelder bezahlen, um sich für den Gefechtsdienst untauglich schreiben zu lassen, um anschließend Gebrauch von dieser Ausnahmeregelung machen zu können (DIS 1.2024). Wenn die Behörden erkennen, dass medizinische Ausnahmen ungerechtfertigt, beispielsweise durch Bestechung, gewährt wurden, müssen sich die betroffenen Wehrpflichtigen einer erneuten medizinischen Untersuchung unterziehen (EUAA 10.2023). Demgegenüber berichten mehrere Quellen des Danish Immigration Service, dass die Zahlung eines Betrags von 3.000 USD für die Befreiung vom Wehrdienst für den Gefechtsdienst untaugliche Personen, von der Syrischen Regierung meist akzeptiert wird. Allerdings können sich nur wenige Personen diese hohen Geldbeträge überhaupt leisten (DIS 1.2024).
Seit einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im Juli 2019 ist die Aufschiebung des Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich und kann durch Befehl des Oberbefehlshabers beendet werden (ÖB Damaskus 12.2022).
Am 1.12.2023 trat das neue Gesetzesdekret Nr.37 in Kraft, wonach sich Rekruten, die das 40. Lebensjahr vollendet haben und noch nicht in den Reservedienst eingetreten sind, sich von ebendiesem freikaufen können durch eine Zahlung von 4.800 USD. Für jeden Monat, in dem derjenige den Reservedienst bereits geleistet hat, werden 200 USD abgezogen (SANA 1.12.2023).
Polizeidienst als Befreiung vom Wehrdienst
Gemäß Abschnitt 12 des Wehrpflichtgesetzes war eine Person vom Wehrdienst befreit, wenn sie mindestens zehn Jahre in den Diensten der inneren Sicherheit stand, einschließlich der Polizei. Diese Frist wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 1 von 2012 auf fünf Jahre verkürzt. Hat eine Person nicht die vollen fünf Jahre gedient, muss sie dennoch ihren Militärdienst ableisten. Wer bei der Polizei akzeptiert wird, unterschreibt jedoch einen Zehnjahresvertrag. Es ist auch möglich, dass ein Rekrut der Polizei beitritt und dort seinen Militärdienst ableistet, da die internen Sicherheitsdienste gemäß Artikel 10 des Wehrpflichtgesetzes zu den syrischen Streitkräften gezählt werden. Wenn eine Person der Polizei beitritt, wird das Rekrutierungsbüro, dem sie untersteht, angewiesen, sie nicht zum Militärdienst einzuberufen (NMFA 5.2022). Eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums gibt zudem an, dass Polizisten keinen Reservedienst leisten müssen, wenn sie ihre Wehrpflicht erfüllt haben, unabhängig davon, ob sie Polizeidienst geleistet haben oder nicht (NMFA 8.2023).
Rechtlich gesehen ist es möglich, aus dem Polizeidienst auszutreten. Die Kündigung muss samt einer Erklärung über die Gründe eingereicht werden. Alle Rücktrittsgesuche werden auf der Grundlage einer Sicherheitsanalyse geprüft. In der Praxis werden die meisten Anträge aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Polizeibeamte können während der ersten zehn Jahre ihres Vertrags de facto nicht kündigen. Eine Laufbahn innerhalb des erweiterten Sicherheitsapparats ist grundsätzlich auf Lebenszeit angelegt und es ist nicht üblich, eine solche Position vorzeitig zu verlassen. Bei einer Laufbahn in einer Sicherheitsbehörde ist es laut einer Quelle praktisch unmöglich, die Erlaubnis zur Kündigung zu erhalten. Das unerlaubte Verlassen eines Polizeidienstpostens wird als eine Form der Desertion angesehen, die mit Strafe bedroht werden kann. Es gibt unterschiedliche Angaben darüber, welches Gesetz in diesem Fall gilt (NMFA 5.2022). Zollbeamte gelten im Rahmen ihrer Zuständigkeit als allgemeine Sicherheitskräfte und Kriminalbeamte (ACCORD 17.1.2022).
Anm.: Zur Rolle des Sicherheitsapparats im Laufe des Kriegs und bei Menschenrechtsverletzungen siehe die Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage, Folter und unmenschliche Behandlung, Hinrichtungen und außergerichtliche Tötungen sowie das Kapitel Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen.
Befreiungsgebühr für Syrer mit Wohnsitz im Ausland
Das syrische Militärdienstgesetz erlaubt es syrischen Männern und registrierten Palästinensern aus Syrien im Militärdienstalter (18-42 Jahre) und mit Wohnsitz im Ausland, eine Gebühr ("badal an-naqdi") zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit und nicht wieder einberufen zu werden. Bis 2020 konnten Männer, die sich mindestens vier aufeinanderfolgende Jahre außerhalb Syriens aufgehalten haben, einen Betrag von 8.000 USD zahlen, um vom Militärdienst befreit zu werden (DIS 5.2020), wobei noch weitere Konsulargebühren anfallen (EB 2.9.2019; vgl. SB Berlin o.D.). Im November 2020 wurde mit dem Gesetzesdekret Nr.31 (Rechtsexperte 14.09.2022) die Dauer des erforderlichen Auslandsaufenthalts auf ein Jahr reduziert und die Gebühr erhöht (NMFA 6.2021). Das Wehrersatzgeld ist nach der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 gestaffelt nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts und beträgt 10.000 USD (ein Jahr), 9.000 USD (zwei Jahre), 8.000 USD (drei Jahre) bzw. 7.000 USD (vier Jahre) ISPI 5.6.2023; vgl. AA 2.2.2024). Laut der Einschätzung verschiedener Organisationen dient die Möglichkeit der Zahlung des Wehrersatzgeldes für Auslandssyrer maßgeblich der Generierung ausländischer Devisen (AA 2.2.2024; vgl. ISPI 5.6.2023). Die Zahlung des Wehrersatzgeldes ist an die Vorlage von Dokumenten geknüpft, die eine Vielzahl der ins Ausland Geflüchteten aufgrund der Umstände ihrer Flucht nicht beibringen können oder die nicht ohne ein Führungszeugnis der Sicherheitsdienste des syrischen Regimes nachträglich erworben werden können, wie etwa einen Nachweis über Aus- und Einreisen (Ausreisestempel) oder die Vorlage eines Personalausweises (AA 2.2.2024). Die Syrische Regierung respektiert die Zahlung dieser Befreiungsgebühr mehreren Experten, die vom Danish Immigration Service befragt wurden, zufolge und zieht Männer, die diese Gebühr bezahlt haben, im Allgemeinen nicht ein. Eine Quelle gibt auch an, dass Personen, die die Gebühr bezahlt haben problemlos ins Land einreisen können. Probleme bekommen vor allem jene Männer, die ihre Dokumente zum Beweis, dass sie befreit sind, nicht vorweisen können. Des Weiteren berichten Quellen des Danish Immigration Service von Fällen, bei denen Personen, die ihren Status mit der Regierung geklärt hatten, dennoch verhaftet worden sind, weil sie aus Gründen der Sicherheit von den Sicherheitskräften gesucht worden sind. Die Behörden geben normalerweise keine Auskunft darüber, ob man von den Sicherheitsbehörden gesucht wird. Mehrere Quellen gehen aber von Erpressungen gegenüber Wehrpflichtigen an Checkpoints durch Streit- und Sicherheitskräfte an Checkpoints aus, insbesondere gegenüber Personen aus Europa bzw. Geschäftsleuten. Eine Quelle sprach auch von Racheaktionen gegenüber Wehrpflichtigen, die aus ehemaligen Oppositionsgebieten kommen, bei denen die syrischen Behörden diese an Checkpoints festhalten und erpressen (DIS 1.2024). Auch das Auswärtige Amt schreibt, dass staatlich ausgestellte Nachweise über die Ableistung des Wehrdienstes bzw. Zahlung des Wehrersatzgeldes an Kontrollstellen der Sicherheitsdienste des Regimes durchgängig anerkannt werden (AA 2.2.2024).
Ein Freikauf vom Reservedienst ist gemäß Quellen des niederländischen Außenministeriums nicht möglich, wobei mit Stand August 2023 aufgrund der aktuellen geringen Intensität der Kampfhandlungen es nur selten zur Einberufung von Reservisten gekommen ist (NMFA 8.2023). Das Italian Institute for International Political Studies (ISPI) hingegen schreibt, dass seit der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 auch Reservisten sich durch eine Gebühr von 5.000 USD nach einem Auslandsaufenthalt von mindesten einem Jahr freikaufen können (ISPI 5.6.2023). Auch die staatliche Nachrichtenagentur SANA schrieb im Dezember 2023 vom Legislaturdekret Nr. 37, wonach Reservisten, die das 40. Lebensjahr erreicht haben und noch nicht im Dienst waren, sich durch eine Befreiungsgebühr von 4.800 USD vom Reservedienst freikaufen können (SANA 1.12.2023; vgl. EB 3.12.2023). Das Auswärtige Amt schreibt, dass es zahlreiche Berichte, darüber gäbe, dass auch Reservisten zum Militärdienst eingezogen werden (AA 2.2.2024).
Für außerhalb Syriens geborene Syrer im wehrpflichtigen Alter, welche bis zum Erreichen des wehrpflichtigen Alters dauerhaft und ununterbrochen im Ausland lebten, gilt eine Befreiungsgebühr von 3.000 USD. Wehrpflichtige, die im Ausland geboren wurden und dort mindestens zehn Jahre vor dem Einberufungsalter gelebt haben, müssen einen Betrag von 6.500 USD entrichten (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein Besuch von bis zu drei Monaten in Syrien wird dabei nicht als Unterbrechung des Aufenthalts einer Person in dem fremden Land gewertet. Für jedes Jahr, in welchem ein Wehrpflichtiger weder eine Befreiungsgebühr bezahlt, noch den Wehrdienst aufschiebt oder sich zu diesem meldet, fallen zusätzliche Gebühren an (DIS 5.2020; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022). Auch Männer, die Syrien illegal verlassen haben, können Quellen zufolge durch die Zahlung der Gebühr vom Militärdienst befreit werden (NMFA 5.2022; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022; NMFA 8.2023). Diese müssen ihren rechtlichen Status allerdings zuvor durch einen individuellen "Versöhnungsprozess" bereinigen (NMFA 5.2022).
Informationen über den Prozess der Kompensationszahlung können auf den Webseiten der syrischen Botschaften in Ländern wie Deutschland, Ägypten, Libanon und der Russischen Föderation aufgerufen werden. Bevor die Zahlung durchgeführt wird, kontaktiert die Botschaft das syrische Verteidigungsministerium, um eine Genehmigung zu erhalten. Dabei wird ermittelt, ob die antragstellende Person sich vom Wehrdienst freikaufen kann (NMFA 5.2020). Die syrische Botschaft in Berlin gibt beispielsweise an, dass u. a. ein Reisepass oder Personalausweis sowie eine Bestätigung der Ein- und Ausreise vorgelegt werden muss (SB Berlin o.D.), welche von der syrischen Einwanderungs- und Passbehörde ausgestellt wird ("bayan harakat"). So vorhanden, sollten die Antragsteller auch das Wehrbuch oder eine Kopie davon vorlegen (Rechtsexperte 14.9.2022).
Offiziell ist dieser Prozess relativ einfach, jedoch dauert er in Wirklichkeit sehr lange, und es müssen viele zusätzliche Kosten aufgewendet werden, unter anderem Bestechungsgelder für die Bürokratie. Beispielsweise müssen junge Männer, die mit der Opposition in Verbindung standen, aber aus wohlhabenden Familien kommen, wahrscheinlich mehr bezahlen, um vorab ihre Akte zu bereinigen (Balanche 13.12.2021).
Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdienstes
Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in Syrischen Pfund leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2.000 USD oder das Äquivalent in Syrischen Pfund nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird wie ein ganzes Jahr gerechnet (SANA 8.11.2017; vgl. PAR 15.11.2017).
Diese mit dem Gesetz Nr. 35 vom 15.11.2017 beschlossene Änderung ermöglicht es der Direktion für militärische Rekrutierung, Vermögen wie Immobilien und bewegliche Güter von syrischen Männern zu beschlagnahmen, die ihren Verpflichtungen zur Ableistung des Militärdienstes nicht nachgekommen sind. Gesetz Nr. 39 vom 24.12.2019 zur Änderung von Artikel 97 des Wehrdienstgesetzes Nr. 30 aus dem Jahr 2007 veränderte die Art der vorgesehenen Beschlagnahmung. Es ermöglicht die Beschlagnahme von Eigentum von Männern, die das 42. Lebensjahr vollendet haben und weder den Militärdienst abgeleistet noch die Kompensationszahlung von 8.000 USD ordnungsgemäß beglichen haben, oder von deren Ehefrauen oder Kindern, ohne dass die betroffenen Personen davon in Kenntnis gesetzt werden. Derzeit kann das Vermögen dieser Person vorsorglich beschlagnahmt werden, was bedeutet, dass es weder verkauft noch an eine andere Partei übertragen werden kann. Das Vermögen kann ohne weitere Ankündigung vom Staat versteigert werden, anstatt es bis zu einer Lösung der Frage einzufrieren. Der Staat kann den geschuldeten Betrag aus der Versteigerung einbehalten und den Restbetrag (falls vorhanden) an die Person zurückzahlen, deren Eigentum versteigert wurde. Erreicht das Vermögen des Mannes nicht den Wert der Kompensationszahlung, kann das gleiche Versteigerungsverfahren auf das Vermögen seiner Frau oder seiner Kinder angewandt werden, bis der Wert der Gebühr erreicht ist (Rechtsexperte 14.9.2022; vgl. DIS 1.2024). Laut einer vertraulichen Quelle des niederländischen Außenministeriums kann auch die Erbschaft solange zurückgehalten werden, bis der erbberechtigte Sohn den Wehrdienst geleistet oder eine Wehrpflichtbefreiung erhalten hat (NMFA 8.2023). Mehrere von EUAA befragte Quellen geben an, dass ihnen bisher keine Fälle bekannt wären, in denen dieses Gesetz gegriffen hätte und tatsächlich Eigentum beschlagnahmt worden wäre, aber zumindest ein Experte geht davon aus, dass das Gesetz in Zukunft entsprechend in die Praxis umgesetzt werden wird (EUAA 10.2023).
Unter anderem wurde auch berichtet, dass Palästinensern, die keinen Wehrdienst abgeleistet haben, der Zugang zum Camp Yarmouk verweigert wurde, um sich dort ihren Besitz zurückzuholen (Action PAL 3.1.2023).
Geistliche und Angehörige von religiösen Minderheiten
Christliche und muslimische religiöse Führer sind weiterhin aus Gewissensgründen vom Militärdienst befreit, wobei muslimische Geistliche dafür eine Abgabe bezahlen müssen (USDOS 15.5.2023). Es gibt Berichte, dass in einigen ländlichen Gebieten Mitgliedern von religiösen Minderheiten die Möglichkeit geboten wurde, sich lokalen regierungsnahen Milizen anzuschließen, anstatt ihren Wehrdienst abzuleisten. In den Städten gab es diese Möglichkeit im Allgemeinen jedoch nicht, und Mitglieder von Minderheiten wurden unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund zum Militärdienst eingezogen (FIS 14.12.2018).
Anders als in vielen Gebieten unter Regierungskontrolle konnten sich Männer im Gouvernement Suweida der gesetzlich festgelegten allgemeinen Wehrpflicht in den syrischen nationalen Streitkräften weitgehend entziehen (Syria Untold 9.1.2020; vgl. COAR 30.9.2020), viele Gemeindevorsteher und hochrangige drusische Religionsführer haben sich geweigert, die Einberufung in die Armee zu genehmigen (AW 5.12.2022). Stattdessen hat die drusische Gemeinschaft gut organisierte Nachbarschaftsschutzgruppen und Einheiten der Nationalen Verteidigungskräfte (NDF) unterhalten. Die syrische Regierung hält jedoch offiziell weiterhin an der verfassungsmäßig verankerten "heiligen Pflicht" des allgemeinen Wehrdienstes - auch für die in Suweida heimische drusische Gemeinschaft - fest (COAR 30.9.2020). Das Regime behandelt diese Menschen als Wehrdienstverweigerer und zwingt sie von Zeit zu Zeit, an so genannten "Sicherheitsregelungen" teilzunehmen. Eine dieser Maßnahmen fand am 5.10.2022 statt. Sie beinhaltete einerseits einen administrativen Aufschub für einen Zeitraum von sechs Monaten vor dem Eintritt in die im Süden Syriens stationierten Armeeeinheiten und andererseits die Einstellung der Verfolgung von Personen, die von den Sicherheitsapparaten gesucht werden. Allerdings nehmen viele Drusen diese Sicherheitsregelungen nicht ernst, da sie sich nicht als Rechtsbrecher betrachten. Im Oktober 2022 nahmen nur 2.500 junge Männer von 30.000 Wehrdienstverweigerern und Überläufern in Suweida an der Sicherheitsregelung teil. Für diejenigen, die einen Vergleich abschließen, besteht das Hauptmotiv darin, eine "Schlichtungskarte" zu erwerben, die ihnen Freizügigkeit gewährt und es ihnen ermöglicht, Transaktionen bei staatlichen Einrichtungen, wie z. B. die Beantragung von Reisedokumenten, ohne Angst vor Verhaftung und Inhaftierung durchzuführen (MED Blog 12.12.2022). Die Grauzone bezüglich der Umsetzung der Wehrpflicht hat zur Folge, dass die derzeit rund 30.000 zum Wehrdienst gesuchten Personen Suweida nicht verlassen bzw. nicht in von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiete reisen können (Alaraby 11.2.2022). […]
Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst
Letzte Änderung 2024-03-11 07:55
Rechtssicherheit
In Syrien vorherrschend und von langer Tradition ist eine Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Recht und der Implementierung der Gesetze in der Praxis. Die in den letzten Jahren noch zugenommene und weit verbreitete Korruption hat diese Diskrepanz noch zusätzlich verstärkt. Rechtsstaatlichkeit ist schwach ausgeprägt, wenn nicht mittlerweile gänzlich durch eine Situation der Straffreiheit untergraben, in der Angehörige von Sicherheitsdiensten ohne strafrechtliche Konsequenzen und ohne jegliche zivile Kontrolle operieren können (ÖB Damaskus 12.2022).
Regelmäßig vom Regime verkündete Amnestien verringern ausgesprochene Todesurteile zum Teil auf lebenslange harte Strafarbeit oder stellen eine Freilassung in Aussicht. In der Rechtspraxis kommen die Amnestien aufgrund großzügig ausgelegter Ausnahmetatbestände und prozeduralen Hindernissen jedoch nur in Einzelfällen zur Anwendung (AA 2.2.2024), dabei oftmals infolge der Zahlung hoher Bestechungsgelder an Amtsträger im Justiz- und Sicherheitswesen (AA 2.2.2024; vgl. EB 9.6.2022).
Amnestien allgemein
Seit März 2011 [Anm.: bis Oktober 2022] hat der syrische Präsident 21 Amnestiedekrete erlassen [Ende Dezember 2022 und im November 2023 folgten weitere Amnestiedekrete, s. weiter unten], wobei in den meisten dieser Dekrete die Strafen der Begnadigten für die verschiedenen Verbrechen und Vergehen ganz oder teilweise aufgehoben wurden (SNHR 16.11.2022, vgl. SNHR 12.9.2023). Der syrische Präsident hat dabei für Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen, Wehrdienstverweigerer und Deserteure eine Reihe von Amnestien erlassen, die Straffreiheit vorsahen, wenn sie sich innerhalb einer bestimmten Frist zum Militärdienst melden (STDOK 8.2017; vgl. SNHR 16.11.2022, MED 10.2021). Über die Umsetzung und den Umfang der Amnestien für Wehrdienstverweigerer und Deserteure ist nur sehr wenig bekannt (DIS 5.2020; vgl. SNHR 16.11.2022; vgl. DIS 7.2023). Aber zumindest im Zusammenhang mit der Amnestie des Legislativdekrets 24/2022 wurde von der Menschenrechtsorganisation Syrian Network for Human Rights (SNHR) die Freilassung von 14 Personen aus Haftanstalten der Regierung dokumentiert, die anschließend zum Wehrdienst verpflichtet wurden, sowie 24 Personen, die sich beim Rekrutierungsbüro meldeten und ebenfalls zum Pflichtwehrdienst eingeschrieben wurden, registriert (EUAA 10.2023). Menschenrechtsorganisationen und Beobachter haben die Amnestien wiederholt als intransparent sowie unzureichend kritisiert (STDOK 8.2017; vgl. EB 3.4.2020, MED 10.2021) und als ein Propagandainstrument der Regierung bezeichnet (DIS 5.2020; vgl. MED 10.2021). Das Auswärtige Amt schreibt, dass die vergangenen Dekrete in der Umsetzung nahezu wirkungslos waren (AA 2.2.2024). Eine Quelle von EUAA gab an, dass die Amnestien nicht für Personen, die den Reservedienst verweigert haben, gelten (EUAA 10.2023). Zwei Quellen des Danish Immigration Service wiederum berichten, dass die Amnestien auch Männer umfassen, die aus dem Reservedienst desertierten (DIS 1.2024).
Die Amnestiedekrete resultierten im Allgemeinen nur in der Entlassung einer begrenzten Anzahl von gewöhnlichen Kriminellen, und nicht von jenen, deren Verhaftung politisch motiviert ist (USDOS 20.3.2023). Der Ausschluss von politischen Gefangenen von den Amnestien ist der Haft- und Gerichtspraxis in Syrien teilweise inhärent. Willkürlich Verhaftete werden in der Regel ohne Anklage für längere Zeit festgehalten, und die Inhaftierten werden oft nicht über die gegen sie erhobenen Vorwürfe informiert (MED 10.2021; vgl. USDOS 20.3.2023). Die Amnestien schlossen Gefangene aus, die nicht eines Verbrechens angeklagt wurden (USDOS 20.3.2023).
Erhebungen von SNHR ergaben, dass im Zeitraum März 2011 bis Oktober 2022 rund 7.350 Personen im Rahmen von 21 Amnestiedekreten aus diversen Zivil- und Militärgefängnissen der syrischen Regierung sowie aus Haftanstalten unterschiedlicher Zweigstellen des Sicherheitsapparats entlassen wurden. Darunter befanden sich rund 6.100 Zivilisten und 1.250 Militärangehörige. Dem stellt SNHR eine Anzahl von rund 123.300 Personen gegenüber, die in zeitlicher Nähe zu den Amnestien verhaftet wurden oder gewaltsam verschwanden (SNHR 16.11.2022).
Eine begrenzte Anzahl von Gefangenen kam im Zuge lokaler Beilegungsabkommen mit dem Regime frei. Während des Jahres 2022 verstießen Regimekräfte gegen frühere Amnestieabkommen, indem sie Razzien und Verhaftungskampagnen gegen Zivilisten und frühere Mitglieder der bewaffneten Oppositionsgruppen in Gebieten durchführten, in denen zuvor Beilegungsabkommen mit dem Regime unterzeichnet worden waren (USDOS 20.3.2023).
Einer Quelle zufolge respektiert die syrische Regierung Amnestien und belangt durch Amnestien begnadigte Wehrdienstverweigerer und Deserteure nicht, es sei denn, sie waren in Kampfhandlungen gegen die Regierung involviert (DIS 1.2024). Durch verschiedene Amnestien für Deserteure und Wehrdienstverweigerer werden Strafen zwar zumindest stellenweise erlassen, der zwangsweise Einzug in den Militärdienst wurde durch die Amnestien jedoch nicht beendet und wird unverändert fortgesetzt (AA 2.2.2024; vgl. USDOS 20.3.2023, NMFA 5.2022, MED 10.2021, EUAA 10.2023, DIS 1.2024) bzw. wird als Strafe der Wehrdienst einer Quelle zufolge um sechs Monate verlängert (DIS 1.2024). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen (AA 2.2.2024). Das Narrativ der Amnestie oder der milden Behandlung ist höchst zweifelhaft: Es spielt nicht nur eine Rolle, ob zum Beispiel Familienmitglieder für die FSA (Freie Syrische Armee) oder unter den Rebellen gekämpft haben, sondern das Regime hegt auch ein tiefes Misstrauen bezüglich des Herkunftsgebiets. Es spielt eine große Rolle, woher man kommt, ob man aus Gebieten mit vielen Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten geflohen ist, zum Beispiel Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs (Üngör 15.12.2021). Unklar ist auch, wie mit Personen verfahren wird, die sich politisch gegen die Syrische Regierung betätigt haben (DIS 1.2024). Ein Syrien-Experte merkte in diesem Zusammenhang auch an, dass die Durchsetzungsfähigkeit des Präsidenten bei den Amnestiedekreten vor Ort angezweifelt werden kann, und Vergeltung ein weitverbreitetes Phänomen ist (Balanche 13.12.2021). Omran Center for Strategic Studies wiederum berichtet von Fällen, in denen Deserteure sich auf die Amenstien verlassen hatten und dennoch inhaftiert wurden, einige sollen in staatlichen Haftanstalten nach ihrer auf den Amnestien basierenden Rückkehr ums Leben gekommen sein (DIS 1.2024).
Kürzlich erlassene Amnestien
Am 16.11.2023 wurde ein Amnestiedekret für Verbrechen, die vor dem 16.11.2023 begangen wurden, erlassen. Betroffen sind vor allem Inhaftierte im Alter von über 70 Jahren oder unheilbar Kranke. Lebenslange Haftstrafen wurden in 20 Jahre Haft umgewandelt. Ausgenommen von der Amnestie sind Verbrechen, die zum Tode führten und in Zusammenhang mit Waffenschmuggel (AP 16.11.2023; vgl. Reuters 16.11.2023). Anfang September 2023 verfügte Präsident Assad mittels Dekret (32/2023) die Auflösung von ad hoc Gefechtsfeldtribunalen, die laut Menschenrechtsorganisationen mit hunderten Todesurteilen gegen vermeintliche Deserteure und andere Personen in Verbindung gebracht werden. Dieses stellt allerdings keine wesentliche Verbesserung der Rechtslage dar. Die Beschuldigten müssen weiterhin die Verfolgung vor ordentlichen Militärgerichtshöfen fürchten, in denen grundsätzliche Prinzipien des Rechtsstaats systematisch missachtet werden. Ferner enthält das Dekret keine Durchführungsbestimmungen, um den Zugang zu Dokumentation der vor Feldtribunalen gesprochenen Urteile und dem Schicksal der Verurteilten verbessern würden (AA 2.2.2024).
Präsident Assad erließ am 21.12.2022 mit dem Legislativdekret Nr. 24 eine Generalamnestie, die unter anderem für die Tatbestände "interne und externe Desertion" gilt, so diese vor dem Inkrafttreten des Erlasses begangen wurden (SANA 21.12.2022). Die Amnestie ist an die Bedingung geknüpft, dass sich Deserteure, die in Syriens leben, innerhalb von drei Monaten, und Deserteure, die außerhalb Syriens leben, innerhalb von vier Monaten den Behörden stellen (MEMO 22.12.2022).
Im Mai 2022 hat Präsident Assad mit dem Gesetzesdekret Nr. 7/2022 eine Generalamnestie für "terroristische Verbrechen" erlassen, welche von Syrern vor dem 30.4.2022 begangen wurden, mit Ausnahme derjenigen Straftaten, die zum Tod eines Menschen geführt haben und die im Antiterrorismusgesetz Nr. 19 von 2012 und im Strafgesetzbuch, das durch das Gesetzesdekret Nr. 148 von 1949 und dessen Änderungen erlassen wurde, festgelegt sind (SO 3.5.2022). "Terrorismus" ist ein Begriff, mit dem die Regierung die Aktivitäten von Rebellen und oppositionellen Aktivisten beschreibt (MEE 2.5.2021). Nach dem Militärstrafgesetzbuch geahndete Vergehen fallen nicht unter diese Amnestie. Laut SNHR wurden mindestens 586 Personen im Zusammenhang mit dem Amnestiedekret aus der Haft entlassen (SNHR 16.11.2022). Das Amnestiedekret wurde laut Human Rights Watch (HRW) allerdings willkürlich und ohne Transparenz umgesetzt und führte nur zur dokumentierten Freilassung einer kleinen Zahl von Inhaftierten, gemessen an den Tausenden von Personen, die nach wie vor verschwunden sind, viele davon seit 2011, ohne dass es Informationen über ihren Verbleib gibt (HRW 12.1.2023). Laut Auswärtigem Amt bietet diese Amnestie Spielraum, die Freilassung unliebsamer Personen effektiv zu verhindern. So wurden Inhaftierte etwa nachträglich für den Tod von Personen verantwortlich gemacht. Als Nachweis reicht bereits die behauptete örtliche Nähe zu einem Ereignis mit Todesfolge, etwa über Mobilfunkortung, aus (AA 2.2.2024).
Am 25.1.2022 erließ Präsident Assad mit Gesetzesdekret Nr. 3/2022 eine Generalamnestie für "interne" und "externe Desertion", die vor diesem Datum begangen wurde (SANA 25.1.2022). Die Amnestie umfasst Straftaten nach Artikel 100 ("interne Desertion") und 101 ("externe Desertion") des Militärstrafgesetzbuchs (Gesetzesdekret Nr. 61 von 1950) (SO 27.1.2022; vgl. SNHR 16.11.2022), schließt jedoch die Artikel 102 ("Flucht zum Feind, Flucht vor dem Feind") und 103 ("Flucht durch Verschwörung und Flucht in Kriegszeiten") aus (SO 27.1.2022). Die Amnestie ist an die Bedingung geknüpft, dass sich Deserteure, die in Syrien leben, innerhalb von drei Monaten, und Deserteure, die außerhalb Syriens leben, innerhalb von vier Monaten den Behörden stellen (SNHR 16.11.2022).
Es ist nicht bekannt, inwieweit sich die syrischen Behörden an die jüngste Amnestieregelung gehalten haben. Eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es bei früheren Amnestien Fälle gegeben habe, in denen sich die syrischen Behörden nicht an die Bedingungen der Amnestien gehalten hätten. Männer, die sich gemeldet hatten, waren dennoch im Gefängnis gelandet, weil auch das Gesetz sehr weit ausgelegt werden könnte (NMFA 8.2023).
Amnestien in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung
Am 10.10.2020 erließ die sog. "Selbstverwaltung" in Nordost-Syrien eine "Generalamnestie" für Strafgefangene (AA 4.12.2020; vgl. NPA 10.10.2020). Bereits am 15.10.2020 sollen 631 Häftlinge auf Grundlage des Dekrets entlassen worden sein, darunter auch mutmaßliche IS-Sympathisanten. Strafen für bestimmte Vergehen sollen zudem halbiert werden (AA 4.12.2020). Das Amnestiedekret Nr. 7 des syrischen Präsidenten vom 30.4.2022 fand beispielsweise keine Anwendung in Raqqa, das unter der Kontrolle der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES) steht (EB 9.6.2022).
Am 2.4.2022 erließ die Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) nahestehende "Syrische Heilsregierung" im Gouvernement Idlib ein Dekret, mit dem sie Berichten zufolge eine "Amnestie" für Urteile gewährte, die sie aus Gründen des öffentlichen Rechts verhängt hatte, und die Hälfte der Strafe von Gefangenen "umwandelte", die ein Urteil oder eine ähnliche Strafe erhalten hatten. Nach Angaben von SNHR bezog sich die Amnestie nicht auf Gefangene, die wegen Kritik an der HTS inhaftiert worden waren (USDOS 20.3.2023).
Die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) erließen Anfang September 2023 eine Amnestie für arabische Stammeskämpfer in Deir ez-Zour, die sich gewaltvoll gegen die SDF erhoben hatten. Mehrere Stammeskämpfer wurden freigelassen (Reuters 7.9.2023; vgl. MEE 7.9.2023). Kämpfern in den von den SDF kontrollierten Gebieten wurde eine Frist von 15 Tagen eingeräumt, ihre Waffen abzugeben und einen Versöhnungsprozess zu beginnen, um aus den von der Regierung kontrollierten Gebieten zurück in die von den SDF kontrollierten Gebiete kommen zu können (K24 28.9.2023). […]
Wehrdienstverweigerung / Desertion
Letzte Änderung 2024-03-12 13:44
Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten Zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und vergleichsweise wenige wurden nach diesem Zeitpunkt deswegen verhaftet (Landinfo 3.1.2018).
In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 2.2.2024).
Der verpflichtende Militärdienst führt weiterhin zu einer Abwanderung junger syrischer Männer, die vielleicht nie mehr in ihr Land zurückkehren werden (ICWA 24.5.2022).
Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern
In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Rechtsexperten der Free Syrian Lawyers Association (FSLA) mit Sitz in der Türkei beurteilen, dass das syrische Regime die Verweigerung des Militärdienstes als schweres Verbrechen betrachtet und die Verweigerer als Gegner des Staates und der Nation behandelt. Dies spiegelt die Sichtweise des Regimes auf die Opposition wie auch jede Person wider, die versucht, sich seiner Politik zu widersetzen oder ihr zu entkommen (STDOK 25.10.2023). Der Syrien-Experte Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt "ihr Land zu verteidigen". Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit "gerettet" haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021). Ein für eine internationale Forschungsorganisation mit Schwerpunkt auf den Nahen Osten tätiger Syrienexperte, der allerdings angibt, dazu nicht eigens Forschungen durchgeführt zu haben, geht davon aus, dass das syrische Regime möglicherweise am Anfang des Konflikts, zwischen 2012 und 2014, Wehrdienstverweigerer durchwegs als oppositionell einstufte, inzwischen allerdings nicht mehr jeden Wehrdienstverweigerer als oppositionell ansieht (STDOK 25.10.2023). Gemäß Auswärtigem Amt legen einige Berichte nahe, dass Familienangehörige von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern ebenfalls Verhören und Repressionen der Geheimdienste ausgesetzt sein könnten (AA 2.2.2024).
Gesetzliche Lage
Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Art. 98-99 ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 2.2.2024; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022).
Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung. Das Militärstrafgesetzbuch unterscheidet zwischen "interner Desertion" (farar dakhelee) und "externer Desertion" (farar kharejee). Interne Desertion in Friedenszeiten wird begangen, wenn sich der Soldat sechs Tage lang unerlaubt von seiner militärischen Einheit entfernt. Ein Soldat, der noch keine drei Monate im Dienst ist, gilt jedoch erst nach einem vollen Monat unerlaubter Abwesenheit als Deserteur. Interne Desertion liegt außerdem vor, wenn der reisende Soldat trotz Ablauf seines Urlaubs nicht innerhalb von 15 Tagen nach dem für seine Ankunft oder Rückkehr festgelegten Datum zu seiner militärischen Einheit zurückgekehrt ist (Artikel 100/1/b des Militärstrafgesetzbuchs). Interne Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und wenn es sich bei dem Deserteur um einen Offizier oder einen Berufsunteroffizier handelt, kann er zusätzlich zu der vorgenannten Strafe mit Entlassung bestraft werden (Artikel 100/2). In Kriegszeiten können die oben genannten Fristen auf ein Drittel verkürzt und die Strafe verdoppelt werden (Artikel 100/4). Eine externe Desertion in Friedenszeiten liegt vor, wenn der Soldat ohne Erlaubnis die syrischen Grenzen überschreitet und seine Militäreinheit verlässt, um sich ins Ausland zu begeben. Der betreffende Soldat wird in Friedenszeiten nach Ablauf von drei Tagen seit seiner illegalen Abwesenheit und in Kriegszeiten nach einem Tag als Deserteur betrachtet (Artikel 101/1) (Rechtsexperte 14.9.2022). Externe Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft (Artikel 101/2) (Rechtsexperte 14.9.2022; vgl. AA 2.2.2024). Die Haftstrafen können sich bei Vorliegen bestimmter Umstände noch erhöhen (z. B. Desertion während des Dienstes, Mitnahme von Ausrüstung) (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Todesstrafe ist gemäß Art. 102 bei Überlaufen zum Feind und gemäß Art. 105 bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (AA 2.2.2024).
Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vgl. DIS 5.2020).
Freikauf vom Wehrdienst
Nach dem Wehrpflichtgesetz ist es syrischen Männern im wehrpflichtigen Alter möglich, sich durch Zahlung eines sogenannten Wehrersatzgeldes von der Wehrpflicht freizukaufen, sofern sie mindestens ein Jahr ohne Wiedereinreise nach Syrien ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hatten (AA 2.2.2024). Drei vertrauliche Quellen, die vom niederländischen Außenministerium im März 2023 und November 2022 befragt wurden, gehen davon aus, dass jemand, der sich vom Militärdienst freigekauft hat, auch nicht mehr zum Militärdienst einberufen wird. Der zu zahlende Betrag hängt dabei davon ab, wie lange die Männer im Ausland waren und variiert zwischen 7.000 und 10.000 Dollar. Auch Wehrdienstpflichtige, die das Land illegal verlassen haben, können sich durch eine solche Zahlung von der Wehrpflicht freikaufen. Möglich ist dies in einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat unter Vorlage eines Nachweises, dass man im Ausland lebt. Es besteht die Möglichkeit, dass die Botschaft die Namen derer veröffentlicht, die sich auf diese Art von der Wehrpflicht befreit haben. Andererseits kann die Person sich auch durch einen Verwandten in Syrien an ein lokales Rekrutierungsbüro wenden, um sich von der Liste der Wehrdienstverweigerer streichen zu lassen (NMFA 8.2023). Die Zahlung des Wehrersatzgeldes ist an die Vorlage von Dokumenten geknüpft, die eine Vielzahl der ins Ausland Geflüchteten aufgrund der Umstände ihrer Flucht nicht beibringen können oder die nicht ohne ein Führungszeugnis der Sicherheitsdienste des syrischen Regimes nachträglich erworben werden können, wie etwa einen Nachweis über Aus- und Einreisen (Ausreisestempel) oder die Vorlage eines Personalausweises (AA 2.2.2024). Die Person bekommt einen Beleg für den Freikauf, den sie bei der Einreise am Flughafen vorweisen kann. Um auch möglichst problemlos Checkpoints passieren zu können, muss die Person zusätzlich zum Beleg einen Eintrag in sein Militärbuch machen lassen (DIS 7.2023). Die syrische Regierung respektiert die Zahlung dieser Befreiungsgebühr mehreren Experten, die vom Danish Immigration Service befragt wurden, zufolge und zieht Männer, die diese Gebühr bezahlt haben, im Allgemeinen nicht ein. Eine Quelle gibt auch an, dass Personen, die die Gebühr bezahlt haben problemlos ins Land einreisen können. Probleme bekommen vor allem jene Männer, die ihre Dokumente zum Beweis, dass sie befreit sind, nicht vorweisen können. Des Weiteren berichten Quellen des Danish Immigration Service von Fällen, bei denen Personen, die ihren Status mit der Regierung geklärt hatten, dennoch verhaftet worden sind, weil sie aus Gründen der Sicherheit von den Sicherheitskräften gesucht worden sind. Eine Quelle sprach auch von Racheaktionen gegenüber Wehrpflichtigen, die aus ehemaligen Oppositionsgebieten kommen, bei denen die syrischen Behörden diese an Checkpoints festhalten und erpressen (DIS 1.2024). Auch das Auswärtige Amt schreibt, dass staatlich ausgestellte Nachweise über die Ableistung des Wehrdienstes bzw. Zahlung des Wehrersatzgeldes an Kontrollstellen der Sicherheitsdienste des Regimes durchgängig anerkannt werden (AA 2.2.2024).
Das syrische Wehrpflichtgesetz (Art. 97) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 2.2.2024 vgl. Rechtsexperte 14.9.2022; vgl. NMFA 8.2023).
Ein Freikauf vom Reservedienst ist gemäß Quellen des niederländischen Außenministeriums nicht möglich, wobei mit Stand August 2023 aufgrund der aktuellen geringen Intensität der Kampfhandlungen es nur selten zur Einberufung von Reservisten gekommen ist (NMFA 8.2023). Das Italian Institute for International Political Studies (ISPI) hingegen schreibt, dass seit der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 auch Reservisten sich durch eine Gebühr von 5.000 USD nach einem Auslandsaufenthalt von mindesten einem Jahr freikaufen können (ISPI 5.6.2023). Auch die staatliche Nachrichtenagentur SANA schrieb im Dezember 2023 vom Legislaturdekret Nr. 37, wonach Reservisten, die das 40. Lebensjahr erreicht haben und noch nicht im Dienst waren, sich durch eine Befreiungsgebühr von 4.800 USD vom Reservedienst freikaufen können (SANA 1.12.2023; vgl. EB 3.12.2023). Das Auswärtige Amt schreibt, dass es zahlreiche Berichte darüber gäbe, dass auch Reservisten zum Militärdienst eingezogen werden (AA 2.2.2024).
Männern, die sich in Syrien aufhalten, ist ein Freikauf von der Wehrpflicht grundsätzlich nicht möglich. Eine Ausnahme hierfür ist nur durch die Möglichkeit, sich vom Reservedienst freizukaufen, für Männer im Alter von mindestens 40 Jahren geboten (DIS 1.2024).
Für nähere Informationen siehe auch das Unterkapitel "Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts".
Bzgl. Konfiszierungsmöglichkeiten im Rahmen des Anti-Terror-Gesetzes siehe Kapitel "Grundversorgung und Wirtschaft".
Handhabung
Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt (Landinfo 3.1.2018), und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen (Rechtsexperte 14.9.2022). Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vgl. Landinfo 3.1.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder "verschwindengelassen" werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018).
Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für Wehrdienstentzug ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als "Kanonenfutter"), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter) (Üngör 15.12.2021). Dem hingegegn gibt ein von EUAA interviewter Experte an, dass Wehrdienstverweigerer, die von der syrischen Regierung gefasst werden, der Militärpolizei übergeben werden und schließlich in Trainingslager zur Ausbildung und Stationierung gesendet werden (EUAA 10.2023). Bis zum Beginn einer Wehrdienstausbildung, die normalerweise im April und September geplant sind, bleibt der Wehrdienstverweigerer bei der Militärpolizei (NMFA 8.2023). Selbst für privilegierte Personen mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021). Auch einige Quellen des Danish Immigration Service geben an, dass Wehrdienstverweigerer mit einer Haftstrafe von bis zu neun Monaten rechnen müssen. Andere Quellen des Danish Immigration Service wiederum berichteten, dass Wehrdienstverweigerer direkt zum Wehrdienst eingezogen, ohne vorher inhaftiert zu werden. Wer an einem Checkpoint als Wehrdienstverweigerer erwischt wird, wird dem Geheimdienst übergeben. Ein Wehrdienstverweigerer, der nicht aus anderen Gründen gesucht wird, wird dem Militär zur Ableistung des Wehrdienstes übergeben. Wehrdienstverweigerer werden meist direkt an die Front geschickt (DIS 1.2024). Wehrdienstverweigerer aus den Gebieten, die von der Opposition kontrolliert wurden, werden dabei mit größerem Misstrauen betrachtet und mit größerer Wahrscheinlichkeit inhaftiert oder verhaftet (NMFA 8.2023).
Bei militärischer Desertion gibt es Fälle, die dem Militärgericht übergeben werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Mehrere Quellen berichten, dass Deserteure verfolgt und mit einer Haftstrafe bestraft werden und dann ihren Wehrdienst ableisten müssen (DIS 1.2024). Eine Quelle berichtet im Jahr 2020, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt (DIS 5.2020). Dem gegenüber berichtet ein vom Danish Immigraton Service 2023 interviewter Experte, dass Deserteure aus ehemaligen Oppositionsgebieten, sowie Überläufer, die sich an Handlungen gegen das Regime beteiligt haben, zum Tode verurteilt werden könnten. SNHR berichtet, dass Deserteure ein bestimmtes Zeitlimit, wie beispielsweise ein Jahr haben, um sich freiwillig den Behörden stellen und straffrei davonkommen zu können. Wer sich innerhalb der Frist nicht meldet, wird in Abwesenheit verurteilt (DIS 1.2024). Überläufer, die sich freiwillig stellen, würden vor ein Militärgericht gestellt und müssen entweder nach Ableistung einer Haftstrafe oder, wenn eine Amnestie erlassen wurde, sofort den verbleibenden Wehrdienst in der Einheit, aus der sie desertierten, absolvieren (EUAA 10.2023). Das Omran Center for Strategic Studies wiederum gibt an, dass kein Unterschied zwischen Deserteuren und Überläufern gemacht wird. Die Haftstrafe für Wehrpflichtige und Reservisten, die desertiert sind, beträgt bis zu neun Monate. Wer ein zweites Mal desertiert wird bis zu zwei Jahre inhaftiert, wer ein drittes Mal desertiert für fünf Jahre (DIS 1.2024). Ein Syrienexperte, der von EUAA interviewt wurde, gibt an, dass die Behandlung von Deserteuren und Überläufern abhängig ist von einerseits der Art ihrer Flucht und andererseits den Strafen, die vorgesehen sind in den Artikeln 100 und 104 im Strafgesetzbuch (EUAA 10.2023). Anfang September verfügte Präsident Assad mittels Dekret (32/2023) die Auflösung von ad hoc Gefechtsfeldtribunalen, die laut Menschenrechtsorganisationen mit hunderten Todesurteilen gegen vermeintliche Deserteure und andere Personen in Verbindung gebracht werden (AA 2.2.2024).
Manche Quellen berichten, dass Wehrdienstverweigerung und Desertion für sich genommen momentan nicht zu Repressalien für die Familienmitglieder der Betroffenen führen. Hingegen berichten mehrere andere Quellen von Repressalien gegenüber Familienmitgliedern von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern, wie Belästigung, Erpressung, Drohungen, Einvernahmen und Haft. Eine Quelle berichtete sogar von Folter. Betroffen sind vor allem Angehörige ersten Grades (DIS 1.2024). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von "high profile"-Deserteuren der Fall sein, also z. B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018; vgl. DIS 1.2024). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020; vgl. DIS 1.2024). Insbesondere die politische oder militärische Haltung gegenüber der Syrischen Regierung wirkt sich auf die Art der Behandlung der Familie des Deserteurs bzw. Wehrdienstverweigerer aus. Familien von Deserteuren sind dabei einem höheren Risiko ausgesetzt als jene von Wehrdienstverweigerern (DIS 1.2024).
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen berichtete im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen durch die Regierungskräfte, darunter auch von Personen, die sich zuvor mit der Regierung "ausgesöhnt" hatten. Andere wurden vor der am 21.12.2022 angekündigten Amnestie für Verbrechen der "internen und externen Desertion vom Militärdienst" aufgrund von Tatbeständen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht inhaftiert (UNHRC 7.2.2023).
"Versöhnungsabkommen" und Rückkehr von Wehrpflichtigen
Versöhnungsabkommen dienen der Regierung auch zur Rekrutierung von Wehrpflichtigen, die entweder direkt in die SAA integriert werden oder in eine der mit der Regierung zusammenarbeitenden Milizen (EUAA 10.2023). Im Rahmen sog. lokaler „Versöhnungsabkommen“ in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus dem Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert (AA 2.2.2024). Deserteure bekommen eine einmonatige Frist, um zu ihrer Einheit zurückzukehren (SD 9.6.2023). Zumindest Erstere wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten (AA 2.2.2024). Als Anreiz können Wehrpflichtige im Rahmen dieser Abkommen in Dara‘a eine Reiseerlaubnis sowie einen Reisepass bekommen, um außer Landes zu reisen (SD 9.6.2023; vgl. EB 14.6.2023). Einer Quelle von EUAA zufolge ist ein "Versöhnungsprozess" auch die Voraussetzung, um sich für die immer wieder ausgesprochenen Amnestien zu qualifizieren (EUAA 10.2023). Dem Bericht der Commission of Inquiry (CoI), der Vereinten Nationen vom Augsut 2023 zufolge, waren Personen im Gouvernement Dara'a von Repressionen betroffen, obwohl sie den offiziellen "Versöhnungsprozess" durchlaufen hatten (AA 2.2.2024).
Ein Monitoring durch die Vereinten Nationen oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als Flüchtlinge identifiziert werden. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 2.2.2024). Einzelne Personen in Aleppo berichteten, dass sie durch die Teilnahme am "Versöhnungsprozess" einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden. Selbst für diejenigen, die nicht im Verdacht stehen, sich an oppositionellen Aktivitäten zu beteiligen, ist das Risiko der Einberufung eine große Abschreckung, um zurückzukehren (ICG 9.5.2022). Auch SNHR berichtet von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren, die den Versöhnungsprozess durchlaufen haben und im Zuge dessen von den syrischen Behörden aufgrund anderer Sicherheitsbedenken einvernommen und sogar zum Tode gefoltert wurden, weil sie Verbindungen zur Opposition hatten (DIS 1.2024). Zudem sind in den "versöhnten Gebieten" Männer im entsprechenden Alter auch mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert (FIS 14.12.2018).
In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten viele Deserteure und Überläufer, denen durch die "Versöhnungsabkommen" Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020).
Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen ist unklar, wie systematisch und weit verbreitet staatliche Übergriffe auf Rückkehrer sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt dazu bei, dass es hierbei kein klares Muster gibt (DIS 5.2022). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Glaubwürdige Berichte über Einzelschicksale legen nahe, dass auch eine zuvor ausgesprochene Garantie des Regimes, auf Vollzug der Wehrpflicht bzw. Strafverfolgung aufgrund von Wehrentzug, etwa im Rahmen sogenannter "Versöhnungsabkommen" zu verzichten, keinen effektiven Schutz vor Zwangsrekrutierung bietet (AA 2.2.2024).
Einem Experten sind hingegen keine Berichte von Wehrdienstverweigerern bekannt, die aus dem Ausland in Gebiete unter Regierungskontrolle zurückgekehrt sind. Ihm zufolge kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, was in so einem Fall passieren würde. Laut dem Experten wäre es aber "wahnsinnig", als Wehrdienstverweigerer aus Europa ohne Sicherheitsbestätigung und politische Kontakte zurückzukommen. Wenn keine "Befreiungsgebühr" bezahlt wurde, müssen zurückgekehrte Wehrdienstverweigerer ihren Wehrdienst ableisten. Wer die Befreiungsgebühr entrichtet hat und offiziell vom Wehrdienst befreit ist, wird nicht eingezogen (Balanche 13.12.2021). […]
Rekrutierung von Minderjährigen durch verschiedene Organisationen
Letzte Änderung 2024-03-13 15:01
Neben der Gefährdung durch sexualisierte Gewalt und Kampfhandlungen bleibt die Zwangsrekrutierung von Kindern im Syrienkonflikt durch verschiedenste Parteien ein zentrales Problem. Neben Somalia und Nigeria zählte Syrien 2020 laut UNICEF zu den Ländern mit den höchsten Rekrutierungsquoten von Kindersoldaten. Als Verantwortliche benennen die Vereinten Nationen insbesondere die Terrororganisation Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS), bewaffnete Gruppierungen der ehemaligen Free Syrian Army (FSA), die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) sowie in geringerem Maße regimenahe Milizen (AA 29.3.2023). Der im Juni 2022 veröffentlichte Jahresbericht des Generalsekretärs an die UN-Generalversammlung über Kinder in bewaffneten Konflikten berichtet über die Rekrutierung und den Einsatz von insgesamt 1.296 Kindern (1.258 Buben und 38 Mädchen) im Konflikt in Syrien zwischen Januar und Dezember 2021. Dem Bericht zufolge wurden 1.285 der Kinder im Kampf eingesetzt. 569 verifizierte Fälle werden der Syrian National Army (SNA) zugeschrieben, 380 der HTS, 220 der YPG und den mit der YPG verbundenen Frauenschutzeinheiten (YPJ) und 46 den regimenahen Kräften und Milizen, neben anderen Akteuren (UNGA 23.6.2022; vgl. USDOS 20.3.2023). Der UN zufolge wurde die Mehrheit der Minderjährigen auch in bewaffneten Konflikten eingesetzt und nur eine kleine Minderheit in nicht kämpferischen Rollen, beispielsweise als Köche oder für Reinigungsarbeiten (UNSC 27.10.2023).
Im August 2021 hat die syrische Regierung ein Kinderschutzgesetz, Gesetz Nr. 21 von 2021 erlassen. Das Gesetz verbietet die Rekrutierung oder Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten und allen anderen damit verbundenen Aktivitäten (OSS 18.1.2023; vgl. UNSC 27.10.2023). Auch das Gesetz Nr. 11/2013 kriminalisiert alle Formen von Rekrutierung und Einsatz von Kindern unter 18 Jahren durch die syrischen Streitkräfte und bewaffnete Oppositionsgruppen (USDOS 29.7.2022).
Laut einem Bericht des US-amerikanischen Außenministeriums vom Juli 2022 hat die Regierung jedoch keine Bemühungen gezeigt, den Einsatz von Kindersoldaten durch Regierungs- und regierungstreue Milizen, bewaffnete Oppositionsgruppen und terroristische Organisationen zu verfolgen. Die Regierung berichtet nicht von der Untersuchung, Verfolgung oder Verurteilung von verdächtigten Menschenhändlern, noch werden Regierungsmitarbeiter, die an Menschenhandel, inklusive der Rekrutierung von Kindern, beteiligt waren, überprüft, verfolgt oder verurteilt. Die Regierung führt weiterhin Verhaftungen und Inhaftierungen durch und misshandelt Opfer von Menschenhandel schwer - inklusive Kindersoldaten - und bestraft diese für illegale Taten, zu denen sie von Menschenhändlern gezwungen werden. Sie inhaftiert regelmäßig Kinder für die vermeintliche Verbindung zu bewaffneten Gruppen, vergewaltigt, foltert und exekutiert. Sie zeigt keine Bemühungen, diesen Kindern irgendwelche Schutzdienste zur Verfügung zu stellen. Die Regierung schützt Kinder auch nicht vor der Rekrutierung und dem Einsatz durch bewaffnete Oppositionsgruppen und Terrororganisationen (USDOS 29.7.2022). Dem gegenüber steht ein Bericht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, wonach Vertreter der Syrischen Regierung im Jahr 2022 an Awareness-Workshops über Kinder im Konflikt teilgenommen haben und die Regierung sich mit den Vereinten Nationen auf einen handlungsorientierten Dialog zur Beendigung und Vermeidung von sowie Reaktion auf schwere Verbrechen gegen Minderjährige durch das Syrische Regime oder mit ihm verbundene Gruppierungen geeinigt haben (UNSC 27.10.2023). In einem Bericht gibt das Syrian Network for Human Rights (SNHR) an, dass das syrische Regime für fast 65% der Fälle von rekrutierten Minderjährigen verantwortlich ist und führt weiter aus, dass das Regime auf verschiedene Arten der Rekrutierung zurückgreift, weil Kinder weniger kostspielig sind als Erwachsene. Das Regime würde dabei allerdings nicht offiziell vorgehen, also nicht durch die offiziellen Streit- und Sicherheitskräfte rekrutieren, sondern dies auf inoffiziellen Wegen durchführen, beispielsweise über lokale oder ausländische Milizen, wie die regierungstreuen Milizen, die als National Defence Forces (NDF) oder "Shabiha" bekannt sind, die Kinder direkt in ihren Hauptquartieren rekrutieren (SNHR 20.11.2023). Das wird auch vom Danish Immigration Service bestätigt. Wonach die SAA nicht dirtek Kinder rekrutiert, aber dem Verteidigungsministerium unterstehende Milizen, sowie insbesondere auch die Gruppe Wagner (DIS 1.2024). Manche bewaffneten Gruppen, die für die syrische Regierung kämpfen, wie die Hizbollah und die NDF rekrutieren zwangsweise Kinder im Alter von sechs Jahren. Der Iran rekrutierte im Iran minderjährige Afghanen - darunter auch Zwölfjährige - unter Androhung von Abschiebung nach Afghanistan sowie iranische Minderjährige für schiitische Milizen in Syrien. Jabhat an-Nusra und der sogenannte Islamische Staat (IS) haben Kinder auch als menschliche Schutzschilder, Selbstmordattentäter, Scharfschützen und Henker eingesetzt. Bewaffnete Gruppierungen haben auch Kinder für Zwangsarbeit oder als Informanten eingesetzt, wodurch diese Vergeltungsschlägen und extremer Bestrafung ausgesetzt waren (USDOS 29.7.2022).
Praxis in der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien"
Laut den Vereinten Nationen und dem SNHR wurden zwischen Januar 2014 und September 2020 mindestens 911 Kinder durch die YPG zwangsrekrutiert (AA 29.3.2023). Im Juni 2019 wurde von den Syrian Democratic Forces (SDF) [Anm.: YPG und YPJ sind Kernbestandteile der SDF] und dem Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs für Kinder und bewaffnete Konflikte ein Aktionsplan zur Beendigung und Verhinderung der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern unter 18 Jahren unterzeichnet. 2020 beschloss der Exekutivrat der Selbstverwaltung [Autonomous Administration of North and East Syria, AANES] die Einrichtung von Kinderschutzbüros und es gibt anhaltende Bemühungen der SDF, der Praxis der Rekrutierung von Kindern ein Ende zu setzen (UNHRC 7.2.2023; vgl. SNHR 20.11.2023; vgl. AA 2.2.2024). Allerdings schreibt das Auswärtige Amt, dass die Praxis nach wie vor nicht eingestellt worden zu sein scheint (AA 2.2.2024).
Seit Inkrafttreten des Abkommens zwischen den SDF und den Vereinten Nationen im Jahr 2019 wurden rund 700-750 Kinder aus den Diensten der SDF entlassen (DIS 6.2022). Einem Bericht der UN zufolge waren es im Zeitraum von 1.7.2020 bis 30.9.2022 278 Kinder, die aus dem Dienste der SDF entlassen wurden und in weiteren 1.025 Fällen wurde die Rekrutierung durch die SDF verhindert, zumindest eigenen Angaben der SDF gemäß. Besonders im Jahr 2021 verzeichnet die UN in ihrem Bericht eine positive Entwicklung. Die SDF nahmen eine Resolution an, wonach ihre Trainings internationalem Recht entsprechen müssen sowie zur Errichtung eines Komitees zur Einhaltung internationaler Regulierungen zum Schutz von Minderjährigen. Des Weiteren eröffneten die SDF neun Büros zum Schutz Minderjähriger in bewaffneten Konflikten (UNSC 27.10.2023). Dennoch wurde im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von der Rekrutierung von Kindern in die SDF berichtet (UNHRC 7.2.2023). Die UN spricht ebenfalls von Rückschlägen in der Einhaltung dieses Plans im Jahr 2022. So wurden beispielsweise die Büros zum Schutz Minderjähriger in bewaffneten Konflikten im Mai 2022 geschlossen und erst im April 2023 wieder geöffnet (UNSC 27.10.2023). SNHR verzeichnete einen Anstieg an Rekrutierungen Minderjähriger und berichtet, dass die Rekrutierung Minderjähriger zu einer systematischen Policy der SDF gehören und viele Unterorganisationen an Rekrutierungen von Kindern beteiligt sind und sogar viele Schulen der AANES. Insbesondere nach Angriffen auf die von der SDF kontrollierten Gebiete steigt laut SNHR die Zahl an rekrutierten Minderjährigen an, weil die SDF die verlorenen Kräfte kompensieren möchten (SNHR 20.11.2023). Bezüglich der Frage, wie es zu Rekrutierungen, bzw. möglichen Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen für die SDF kommt, gibt es verschiedene Erklärungen, darunter die schlechte Wirtschaftslage, welche das Gehalt der SDF attraktiv macht (DIS 6.2022). SNHR berichtet dazu von einigen Fällen, die zwangsrekrutiert wurden durch Entführungen aus Schulen oder direkt von der Straße (SNHR 20.11.2023). Einige Familien wandten sich an die Kinderschutzbüros, um Fälle zu melden, in denen Kinder im Alter von 14 Jahren rekrutiert wurden, aber ihnen wurde gesagt, dass keine Maßnahmen ergriffen werden könnten, da die Kinder von der Bewegung der kurdischen Revolutionären Jugend entführt worden seien. Trotz Anfragen von Familien blieb der Verbleib einiger rekrutierter Kinder unbekannt (UNHRC 7.2.2023).
Menschenrechtsorganisationen, darunter das Syria Justice and Accountability Center (SJAC), dokumentierten die Rekrutierung von Kindern durch die Revolutionäre Jugend, eine mit den SDF verbundene Organisation, die Jugendliche auf den Dienst bei der YPG und den Asayish, dem internen Sicherheits- und Geheimdienst der AANES, vorbereitet. Einige Minderjährige, die für Kampfeinsätze rekrutiert wurden, waren unter fünfzehn Jahre alt, eine Praxis, die nach Angaben von SJAC ein Kriegsverbrechen darstellt. Medienberichten zufolge erfolgt die Rekrutierung häufig über den Unterricht in Fächern wie Musik oder Sport, der von der Revolutionären Jugend durchgeführt wird. In diesen Klassen werden die Kinder schrittweise in der Ideologie der Organisation geschult, und in vielen Fällen werden sie dann in militärischen Ausbildungslagern untergebracht, ohne dass die Eltern über den Verbleib ihrer Kinder informiert werden. Andere werden unter dem Vorwand einer Anstellung angelockt (SJAC 3.2023). Die SDF und Asayish scheinen Rekrutierungen von Minderjährigen durch die Revolutionäre Jugend nicht zu verhindern. Ein Mitarbeiter des Kinderschutzbüros erklärte, dass das Büro nicht auf die Beschwerden über die Revolutionäre Jugend eingehen kann, da es nur für die SDF zuständig sei (DIS 6.2022). SJAC dokumentierte auch mehrere Fälle, in denen die Revolutionäre Jugend und andere SDF-Mitglieder die Familien von rekrutierten und vermissten Kindern einschüchterten und belästigten, wenn sie versuchten, Informationen über ihre Kinder zu erhalten (SJAC 3.2023).
Anm.: Die Rekrutierung von Minderjährigen direkt durch die PKK oder die Revolutionäre Jugend, einem mutmaßlichen Teil der PKK, wird hier nicht näher thematisiert, wobei manche Quellen Fälle von Rekrutierungen der Revolutionären Jugend als Rekrutierungen in die SDF zählen. Für weitergehende Informationen zur Rekrutierungspraxis der PKK und Revolutionären Jugend allgemein s. z. B. Kap. 4 im Bericht "Syria - Military recruitment in Hasakah Governorate" des Danish Immigration Service (DIS) vom Juni 2022. […]
Nicht-staatliche bewaffnete Gruppierungen (regierungsfreundlich und regierungsfeindlich)
Letzte Änderung 2024-03-13 15:02
Manche Quellen berichten, dass die Rekrutierung durch regierungsfreundliche Milizen im Allgemeinen auf freiwilliger Basis geschieht. Personen schließen sich häufig auch aus finanziellen Gründen den National Defense Forces (NDF) oder anderen regierungstreuen Gruppierungen an (FIS 14.12.2018). Andere Quellen berichten von der Zwangsrekrutierung von Kindern im Alter von sechs Jahren durch Milizen, die für die Regierung kämpfen, wie die Hizbollah und die NDF (auch als "shabiha" bekannt) (USDOS 29.7.2022). In vielen Fällen sind bewaffnete regierungstreue Gruppen lokal organisiert, wobei Werte der Gemeinschaft wie Ehre und Verteidigung der Gemeinschaft eine zentrale Bedeutung haben. Dieser soziale Druck basiert häufig auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft (FIS 14.12.2018). Oft werden die Kämpfer mit dem Versprechen, dass sie in der Nähe ihrer lokalen Gemeinde ihren Einsatz verrichten können und nicht in Gebieten mit direkten Kampfhandlungen und damit die Wehrpflicht umgehen könnten, angeworben. In der Realität werden diese Milizen aber trotzdem an die Front geschickt, wenn die SAA Verstärkung braucht bzw. müssen die Männer oft nach erfolgtem Einsatz in einer Miliz trotzdem noch ihrer offiziellen Wehrpflicht nachkommen (EUAA 10.2023). In manchen Fällen aber führte der Einsatz bei einer Miliz tatsächlich dazu, der offiziellen Wehrpflicht zu entgehen, bzw. profitierten einige Kämpfer in regierungsnahen Milizen von den letzten Amnestien, sodass sie nach ihrem Einsatz in der Miliz nur mehr die sechsmonatige Grundausbildung absolvieren mussten um ihrer offiziellen Wehrpflicht nachzugehen, berichtet eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums (NMFA 8.2023).
Anders als die Regierung und die Syrian Democratic Forces (SDF), erlegen bewaffnete oppositionelle Gruppen wie die SNA (Syrian National Army) und HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) Zivilisten in von ihnen kontrollierten Gebieten keine Wehrdienstpflicht auf (NMFA 5.2022; vgl. DIS 12.2022). Quellen des niederländischen Außenministeriums berichten, dass es keine Zwangsrekrutierungen durch die SNA und die HTS gibt (NMFA 8.2023). In den von den beiden Gruppierungen kontrollierten Gebieten in Nordsyrien herrscht kein Mangel an Männern, die bereit sind, sich ihnen anzuschließen. Wirtschaftliche Anreize sind der Hauptgrund, den Einheiten der SNA oder HTS beizutreten. Die islamische Ideologie der HTS ist ein weiterer Anreiz für junge Männer, sich dieser Gruppe anzuschließen. Im Jahr 2022 erwähnt der Danish Immigration Service (DIS) Berichte über Zwangsrekrutierungen der beiden Gruppierungen unter bestimmten Umständen im Verlauf des Konfliktes. Während weder die SNA noch HTS institutionalisierte Rekrutierungsverfahren anwenden, weist die Rekrutierungspraxis der HTS einen höheren Organisationsgrad auf als die SNA (DIS 12.2022). Im Mai 2021 kündigte HTS an, künftig in ldlib Freiwilligenmeldungen anzuerkennen, um scheinbar Vorarbeit für den Aufbau einer "regulären Armee" zu leisten. Der Grund dieses Schrittes dürfte aber eher darin gelegen sein, dass man in weiterer Zukunft mit einer regelrechten "HTS-Wehrpflicht" in ldlib liebäugelte, damit dem "Staatsvolk" von ldlib eine "staatliche" Legitimation der Gruppierung präsentiert werden könnte (BMLV 12.10.2022). Die HTS rekrutiert auch gezielt Kinder, bildet sie religiös und militärisch aus und sendet sie an die Front (SNHR 20.11.2023). […]
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung 2024-03-12 16:09
Neben der Gefährdung durch militärische Entwicklungen, Landminen und explosive Munitionsreste, welche immer wieder zivile Opfer fordern, bleibt auch die allgemeine Menschenrechtslage in Syrien äußerst besorgniserregend (AA 2.2.2024).Von allen Akteuren agiert das Regime am meisten mit gewaltsamer Repression und die PYD am wenigsten - autoritär sind alle Machthaber nach Einschätzung der Bertelsmann-Stiftung (BS 23.2.2022). Die im August 2011 vom UN-Menschenrechtsrat eingerichtete internationale unabhängige Untersuchungskommission zur Menschenrechtslage in Syrien (Commission of Inquiry, CoI) benennt in ihrem am 13.9.2023 veröffentlichten Bericht (Berichtszeitraum Januar bis Juni 2023) zum wiederholten Male teils schwerste Menschenrechtsverletzungen, identifiziert Trends und belegt diese durch die Dokumentation von Einzelfällen. Nach Einschätzung der CoI dürfte es im Berichtszeitraum in Syrien weiterhin zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekommen sein. Dazu gehörten u. a. gezielte und wahllose Angriffe auf Zivilisten und zivile Ziele (z. B. durch Artilleriebeschuss und Luftschläge) sowie Folter. Darüber hinaus seien willkürliche und ungesetzliche Inhaftierungen, „Verschwindenlassen“, sexualisierte Gewalt sowie willkürliche Eingriffe in die Eigentumsrechte, unter anderem von Geflüchteten, dokumentiert. Obwohl die UN-Kommission die Verantwortung in absoluten Zahlen betrachtet für die große Mehrzahl der Menschenrechtsverletzungen bei Kräften der syrischen Regierung und ihrer Verbündeten sieht, wurden erneut für alle Konfliktparteien und alle Regionen des Landes Menschenrechtsverstöße dokumentiert (AA 2.2.2024).
Regierungsgebiete
Die CoI geht davon, dass die syrische Regierung weiterhin Morde, Folter und Misshandlungen begeht, die sich gegen Personen in Haft richten, darunter auch Praktiken, welche zum Tod in der Haft führen. Hinzukommen willkürliche Haft und Verschwindenlassen. Die UN-Kommission sieht hierin ein Muster von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Im Berichtszeitraum wurden auch Fälle umfassender Verletzungen von Prozessrechten und des Rechts auf ein faires Verfahren im syrischen Justizstrafsystem dokumentiert (UNCOI 7.2.2023). Nach Einschätzung der UN-Kommission liegt die Verantwortung für die - in absoluten Zahlen betrachtet - große Mehrzahl der Menschenrechtsverletzungen bei Kräften des syrischen Regimes und seinen Verbündeten. Darüber hinaus verweist die CoI auf massive Behinderungen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben, sowohl durch die Verweigerung des Zugangs nach Syrien als auch durch erhebliche Sicherheitsbedenken für die zu Befragenden. In ihrem Bericht von September 2022 vermerkte die CoI eine Verschärfung des staatlichen Vorgehens gegen die Zivilgesellschaft. Herauszuheben sind ein im April 2022 verabschiedetes Gesetz gegen Cyberkriminalität, welches für regierungs- und verfassungskritische Äußerungen im Internet Haftstrafen von sieben bis 15 Jahren vorsieht und welches laut dem jüngsten Bericht der CoI vom August 2023 weiter zur Anwendung kommt (AA 2.2.2024). Mit dem Regime verbündete paramilitärische Gruppen begehen Berichten zufolge häufig Menschenrechtsverletzungen, darunter Massaker, willkürliches Töten, Entführungen von Zivilisten, sexuelle Gewalt und ungesetzliche Haft. Alliierte Milizen des Regimes, darunter die Hizbollah, führen etwa zahlreiche Angriffe aus, die Zivilisten töten (USDOS 20.3.2023).
Personen, welche glaubwürdig in Gewaltverbrechen involviert sind, Organisationen innerhalb oder verbunden mit der syrischen Regierung sowie auch der sogenannte Islamische Staat unterliegen weiterhin Sanktionen durch die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und Großbritannien (HRW 11.1.2024). Die syrische Regierung nutzt die Erdbebenkatastrophe unterdessen, um für ein Ende westlicher Sanktionen zu werben (BAMF 13.2.2023). Die umfassenden Sanktionen gegen Syriens Machthaber, Unternehmer und Institutionen haben bislang nicht dazu geführt, dass Verhaltensänderungen eingetreten, politische Zugeständnisse erfolgt oder Menschenrechtsverletzungen abgestellt worden wären (SWP 4.2020). [Zu den Aus- und Nebenwirkungen der breiter gefassten Sanktionen auf die syrische Wirtschaft siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft].
Die Verfassung bestimmt die Ba'ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden wie den Arbeiter- und Frauenorganisationen hat. Die Ba'ath-Partei und neun kleinere Parteien in ihrem Gefolge bilden die Koalition der Nationalprogressiven Front, welche den Volksrat (das Parlament) dominiert. Die Wahlen 2020 wurden international nicht anerkannt und inmitten einer repressiven Ausgangslage und von Anschuldigungen von Wahlbetrug weder als fair noch frei eingestuft. Das Gesetz erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien - auch jenen, die mit der Ba'ath-Partei in der Nationalprogressiven Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Die Polizei verhaftete Mitglieder der verbotenen islamistischen Parteien einschließlich der Hizb ut-Tahrir und der syrischen Muslimbruderschaft (USDOS 20.3.2023). - Siehe auch Kapitel Politische Lage und zur Muslimbruderschaft siehe Kapitel Todesstrafe und außergerichtliche Tötungen).
Die systematische Verfolgung von Oppositionsgruppen und anderen regimekritischen/-feindlichen Akteuren dauert unverändert an. Der Einsatz für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes und die Neuordnung Syriens nach demokratischen, pluralistischen und rechtsstaatlichen Prinzipien werden vom Regime regelmäßig als „terroristische Aktivitäten“, „Verschwörung gegen den Staat“, „Hochverrat“ oder ähnlich gravierende Verbrechen behandelt und entsprechend geahndet. In der Anwendungspraxis der regimekontrollierten syrischen Justiz reicht der Verdacht hierauf aus, um willkürlich vor Militärgerichtshöfen oder gesonderten Gerichtshöfen der Anti-Terror-Gesetzgebung von 2012 verfolgt zu werden, in denen im Grunde keinerlei Rahmenbedingungen eines fairen Rechtsverfahrens bestehen. Die Anti-Terror-Gesetze werden unverändert auch dazu missbraucht, gegen in Syrien und im Ausland lebende Regimegegner und -gegnerinnen ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und auch in Abwesenheit höchste Strafen zu verhängen (AA 2.2.2024). Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet, um Personen mit Verbindungen zu lokalen Menschenrechtsorganisationen, pro-demokratischen Studentenvereinigungen und anderer Organisationen zu verhaften, welche als Unterstützer der Opposition wahrgenommen werden - einschließlich humanitärer Organisationen (USDOS 20.3.2023). Gemäß dem Bericht der CoI von September 2022 sollen Mitarbeitende von zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsorganisationen (NRO) verhaftet, die NROs selbst streng reguliert oder ohne ordentliches Verfahren aufgelöst und ihre Ressourcen eingefroren worden sein. Es bleibt dabei, dass sich die Risiken politischer Oppositionstätigkeit nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung beschränken. Die seit Beginn des Konflikts dokumentierten zahllosen Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, sexualisierter Gewalt, Folter und Tötung im Gewahrsam der Sicherheitskräfte sowie Mordanschlägen, stehen immer wieder in offensichtlichen Zusammenhängen zu regimekritischen Tätigkeiten der Betroffenen. Gewaltsame Unterdrückung jeglichen Widerspruchs bleibt das Mittel der Wahl für den Machterhalt des Regimes (AA 2.2.2024).
Weiterhin besteht laut deutschem Auswärtigem Amt in keinem Teil des Landes ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, in absoluten Zahlen betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert (AA 2.2.2024). Im Rahmen der systematischen Gewalt, die von allen bewaffneten Akteuren gegenüber der Zivilbevölkerung angewandt wurde, wurden insbesondere Frauen Opfer sexueller Gewalt. Regierungstruppen und der Regierung zurechenbare Milizkräfte übten bei Hausdurchsuchungen, im Rahmen von Internierungen sowie im Rahmen von Kontrollen an Checkpoints Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt an Frauen und teilweise auch Männern aus (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren, oder als regimekritisch wahrgenommen werden, unterliegen einem besonders hohen Folterrisiko. Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 2.2.2024). Außerdem sind Fälle von verhafteten Personen wegen ihres Kontakts zu Verwandten oder Freunden in von der Opposition kontrollierten Gebieten bekannt, bzw. wegen des Reisens zwischen den Gebieten der Regierung und anderer Organisationen. Es gibt auch Beispiele für Verhaftungen zwecks Rekrutierung (SNHR 17.1.2023).
Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konflikts, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 1.2019). Ungeachtet des in der syrischen Verfassung verankerten Verbots von Folter wenden Polizei, Justizvollzugsorgane und vor allem Sicherheits- und Geheimdienste systematisch Folterpraktiken an. Der bei Weitem größte Teil dokumentierter Anwendung von Folter wurde in Einrichtungen des Regimes begangen. Besonders hoch ist dabei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung, inklusive sexualisierter Gewalt, in den Verhöreinrichtungen der Sicherheitsdienste. Die CoI und das SNHR dokumentierten indes Fälle von Folter für den gesamten Konfliktzeitraum einschließlich des Berichtszeitraums auch durch oppositionelle bewaffnete Gruppierungen und terroristische Organisationen. Laut dem jüngsten Bericht von SNHR zu Folter von Juni 2022 und daran anschließenden Erhebungen sind seit Beginn des Konflikts mindestens 15.301 Menschen unter Folter zu Tode gekommen (AA 2.2.2024).
Syrische Sicherheitskräfte und regierungsnahe Milizen nehmen weiterhin willkürlich Menschen im ganzen Land fest, lassen sie verschwinden und misshandeln sie (HRW 11.1.2024). Willkürliche Verhaftungen mit häufig daran anschließender Isolationshaft und sogenanntes „Verschwindenlassen“ von Personen bleiben im Syrienkonflikt ein allgegenwärtiges Phänomen. Ungefähr 87 Prozent dieser Fälle werden dem syrischen Regime zugeschrieben. Bei den Fällen von „Verschwindenlassen“, deren Zahl seit Beginn des Konflikts auf über 110.000 geschätzt wird, handelt es sich um Personen, deren Spuren sich bereits vor einer - nie erfolgten - offiziellen Bestätigung der Inhaftierung verliert. In aller Regel erhalten Angehörige jedoch nur in Ausnahmefällen Gewissheit, häufig erst nach Entlassung aus der Haft oder durch plötzlich erteilte Todesmeldungen, die jedoch nicht in jedem Fall belastbar sind. Wiederholt kam es nach Angaben verschiedener Menschenrechtsorganisationen zu Fällen, in denen für tot erklärte Personen aus der Haft entlassen wurden (AA 2.2.2024). Willkürliche Verhaftungen blieben eine gezielte Vergeltungsmaßnahme u. a. für Kritik am Regime. Dieses macht in diesen Fällen wie auch bei Verhaftungen von Wehrdienstverweigerern regelmäßig Gebrauch von der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) (AA 29.11.2021). Die Anti-Terror-Gesetze werden unverändert auch dazu verwendet, gegen in Syrien und im Ausland lebende Regimegegner und -gegnerinnen ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und auch in Abwesenheit höchste Strafen zu verhängen (AA 2.2.2024). Auch die genannten Amnestiedekrete führten nicht zu einem Rückgang willkürlicher Verhaftungen. Für die erste Jahreshälfte 2023 dokumentierte das SNHR bereits 1.047 solche Fälle. Einige dieser Verhaftungen seien durch Regimekräfte an der syrisch-libanesischen Grenze erfolgt, nachdem die Betroffenen durch libanesische Sicherheitskräfte dorthin verbracht worden waren. Willkürliche Verhaftungen gehen dabei von einer Vielzahl von Akteuren aus, insbesondere der Polizei, einer Vielzahl von konkurrierenden Geheimdiensten sowie von staatlich organisierten Milizen. Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt auch, dass es auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung zu Verhaftungen kommen kann. Häufiger werden die Festgenommenen in Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, oft in den Raum Damaskus, zu denen Familienangehörige und Anwälte in der Regel keinen oder nur eingeschränkten Zugang haben. In vielen Fällen bleiben die Personen auch nach Ablauf der verhängten Strafmaße verschwunden. Unterrichtungen über den Tod in Haft erfolgen häufig nicht oder nur gegen Zahlung von Bestechungsgeldern, eine Untersuchung der tatsächlichen Todesumstände erfolgt in aller Regel nicht. Die VN und das Rote Kreuz haben unverändert keinen Zugang zu Gefangenen in Haftanstalten des Militärs und der Sicherheitsdienste und erhalten keine Informationen zum Verbleib von Verschwundenen (AA 2.2.2024).
Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten beschuldigt werden, sind unter anderem willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten und medizinische Einrichtungen, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen; Tötungen von Zivilisten und sexuelle Gewalt; Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, einschließlich Zensur (USDOS 20.3.2023). Es kommt auch weiterhin zu Beschlagnahmungen von Eigentum und Einschränkungen des Zugangs für Rückkehrende in ihre Herkunftsgebiete (HRW 11.1.2024).
Für das Jahr 2021 (USDOS 12.4.2022) und 2022 lagen keine bestätigten Berichte über den Einsatz von verbotenen Chemiewaffen vor, wobei Syrien weiterhin über reichlich Chemiewaffen sowie über das Knowhow zu deren Produktion und Einsatz verfügt (USDOS 20.3.2023). Die Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) kam zum Schluss, dass stichhaltige Gründe vorliegen, dass das Regime z. B. im Jahr 2018 in Saraqib einen Angriff mit chemischen Waffen durchführte und ebenso in drei Fällen in Ltamenah im Jahr 2017, kurz vor dem tödlicheren Einsatz von Sarin in Khan Shaykhun (USDOS 12.4.2022).
Das Regime übt weiterhin strikte Kontrolle über die Verbreitung von Informationen, auch über die Entwicklung der Kämpfe zwischen dem Regime und der bewaffneten Opposition und die Verbreitung des COVID-19-Virus und der Cholera sowie über Menschenrechtsverletzungen seitens des Regimes aus. Es verbietet die Kritik am Regime und die Diskussion über konfessionelle Spannungen und Probleme, mit denen religiöse und ethnische Minderheiten konfrontiert sind. Kritik wird auch durch den breiten Einsatz von Gesetzen gegen Konfessionalismus erstickt (USDOS 20.3.2023).
Im April 2022 aktualisierte das syrische Regime sein Cyberkriminalität-Gesetz, Gesetz Nr. 20 (2022), welches nun alle online getätigten Äußerungen unter schwere Strafen stellt, die verschiedene vage Strafbestände wie z. B. die Untergrabung 'des Ansehens des Staates' oder 'der nationalen Einheit' betreffen (FH 9.3.2023). Es bleibt zwar vage, welche Tatbestände genau unter das Gesetz fallen, doch die möglichen Strafen wurden drastisch erhöht: Nach Angaben der staatlich-syrischen Nachrichtenagentur Sana können Gefängnisstrafen von bis zu 15 Jahren oder Geldstrafen von bis zu 15 Millionen syrischen Pfund verhängt werden. Menschenrechtsgruppen vermuten, dass der einzige Zweck dieses Gesetzes darin besteht, abweichende Meinungen zu verbieten (Qantara 28.6.2022). Die syrischen Behörden überwachen Online-Aussagen z. B. in Blogs und sozialen Medien sowohl von SyrerInnen im Land als auch außerhalb Syriens. Das Ausmaß der Überwachung der 'normalen BürgerInnen' soll im Jahr 2021 im Vergleich zu Beginn der Krise abgenommen haben, weil die Behörden sich aufgrund ihres (wiedererlangten) Einflusses weniger vor deren Aussagen fürchten. Kritik im Internet über die Wirtschaftskrise verbreitete sich so (NMFA 5.2022) - besonders auch in eigentlich loyalen Kreisen (FH 9.3.2023). Aber dies kann später trotzdem für die Betreffenden zum Problem werden. Gefangene werden teilweise nach ihren Konten in den Sozialen Medien befragt oder sogar zur Erlangung der Zugangsdaten gefoltert (NMFA 5.2022). Die Bestrafung abweichender Aussagen ist auch bei variierendem Einsatz des Überwachungsinstrumentariums hart (FH 9.3.2023).
Die Regierung weitete im Jahr 2022 die Manipulation von Internet-Diensten und -Inhalten wie auch Textnachrichten aus, einschließlich Falschnachrichten zur Unterminierung der Glaubwürdigkeit von Menschenrechtsgruppen und anderen humanitären Organisationen. Die Regierung setzt ausgereifte Technologien und Hunderte von Computerspezialisten für Überwachungszwecke z. B. von E-Mails und Sozialen Medien von Gefangenen, AktivistInnen und anderen ein. Die Syrian Electronic Army (SEA) ist eine regimetreue Hackergruppe, die regelmäßig Cyberattacken auf Websites, Hackangriffe und Überwachungen ausführt. Sie, weitere Gruppen und das Regime schleusen auch Software zum Ausspionieren und andere Schadsoftware auf Geräte von Menschenrechtsaktivisten, Oppositionsmitgliedern und Journalisten ein. Verhaftungen schüren die Sorge, dass die Behörden InternetbenutzerInnen jederzeit für Online-Aktivitäten, die als Bedrohung der Regimekontrolle wahrgenommen werden, verhaften könnten (USDOS 20.3.2023). Meta, der Firma zu der Facebook und WhatsApp gehören, z. B. entdeckte und entfernte im Oktober 2021 drei Hackergruppen der Syrian Electronic Army. Diese hatten Zugangsdaten zu Facebook-Konten und weitere sensible Informationen (z. B. Fotos, Kontaktlisten, Informationen über die verwendeten Geräte) gesucht (NMFA 5.2022)
Am 28.3.2022 erließ die syrische Regierung das Gesetz Nr. 15, welches Teile des Strafgesetzbuches novelliert und unter anderem den Artikel 287 erweitert, der einen Zusatz bezüglich der Schädigung des Ansehens Syriens im Ausland beinhaltet. SNHR erklärt in einer Analyse zum Gesetz Nr. 15, dass das Gesetz früher diejenigen bestraft hatte, die angebliche falsche oder übertriebene Nachrichten im Ausland verbreitet hätten, die das Ansehen des Staates oder seine finanzielle Position untergraben würden. Gemäß der Änderung ist nun jede Person strafbar, die jegliches Ansehen des Staates untergräbt, sei es finanziell, sozial, kulturell, historisch oder anderweitig. Vorgesehen ist eine Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und drei Jahren. Darüber hinaus ist Artikel 287 um ein neues Verbrechen erweitert worden, das die Verbreitung von Nachrichten bestraft, die als Imageverbesserung eines feindlichen Staates angesehen werden könnten, um den Status des syrischen Staates zu kompromittieren (SNHR 28.4.2022). Das Gesetz verbietet überdies die Publikation jeglicher Informationen über die Streitkräfte (USDOS 20.3.2023).
Die syrische Regierung hat auch die Artikel 285 bis 287 des Strafgesetzbuches verwendet, um Journalisten, Medienschaffende und Blogger anzuklagen und zu inhaftieren (NMFA 15.5.2020).
Die Verfassung garantiert nominell die Pressefreiheit, aber in der Praxis werden die Medien stark eingeschränkt, und JournalistInnen, die kritisch über den Staat berichten, sind Ziele der Zensur sowie von Verhaftungen, Folter und Tod in Gefangenschaft. Alle Medien benötigen eine Erlaubnis des Innenministeriums. Private Medien im Regierungsgebiet gehören generell Personen mit Verbindungen zum Regime (FH 9.3.2023).
Schwerste Repressionen gegen Medienschaffende blieben in Syrien alltäglich. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen (RSF) steht Syrien 2022 auf Rang 171 von 180. JournalistInnen sind in Syrien allgemein gefährdet, besonders durch Regimekräfte und extremistische Gruppen (AA 2.2.2024). Laut dem Committee to Protect Journalists (CPJ) wurden zwischen 2011 und 2022 142 MedienmitarbeiterInnen im Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet. Weitere fünf wurden verhaftet und acht Personen gelten mit Stand Dezember 2022 als vermisst (FH 9.3.2023).
Die akademische Freiheit ist stark eingeschränkt. UniversitätsprofessorInnen im Regierungsgebiet werden wegen abweichender Meinungen entlassen oder inhaftiert und einige wurden aufgrund ihrer Unterstützung von Oppositionellen getötet (FH 9.3.2023).
Staatliche und nicht-staatliche Akteure begehen Akte sexueller Gewalt gegen Männer, Buben, Transgender-Frauen und non-binäre Menschen. Gemäß Artikel 520 des syrischen Strafrechts ist 'unnatürlicher Geschlechtsverkehr' mit bis zu drei Jahren Gefängnis strafbar (HRW 11.1.2024; vgl. FH 9.3.2023).
Nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen
Die Zahl der Übergriffe und Repressionen durch nichtstaatliche Akteure einschließlich der de-facto-Autoritäten im Nordwesten und Nordosten Syriens bleibt unverändert hoch. Bei Übergriffen regimetreuer Milizen ist der Übergang zwischen politischem Auftrag, militärischen bzw. polizeilichen Aufgaben und mafiösem Geschäftsgebaren fließend. In den Gebieten, die durch regimefeindliche bewaffnete Gruppen kontrolliert werden, kommt es auch durch einige dieser Gruppierungen regelmäßig zu Übergriffen und Repressionen (AA 2.2.2024). In ihrem Bericht von März 2021 betont der Bericht der UNCOI, dass das in absoluten Zahlen größere Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen durch das Regime und seine Verbündeten andere Konfliktparteien ausdrücklich nicht entlastet. Vielmehr ließen sich auch für bewaffnete Gruppierungen (u. a. Free Syrian Army, Syrian National Army [SNA], Syrian Democratic Forces [SDF]) und terroristische Organisationen (u.a. HTS - Hay'at Tahrir ash-Sham, bzw. Jabhat an-Nusra, IS - Islamischer Staat) über den Konfliktzeitraum hinweg zahlreiche Menschenrechtsverstöße unterschiedlicher Schwere und Ausprägung dokumentieren. Hierzu zählen für alle Akteure willkürliche Verhaftungen, Praktiken wie Folter, grausames und herabwürdigendes Verhalten und sexualisierte Gewalt sowie Verschwindenlassen Verhafteter. Im Fall von Free Syrian Army, HTS, bzw. Jabhat an-Nusra, sowie besonders vom IS werden auch Hinrichtungen berichtet (UNCOI 11.3.2021)
Bewaffnete terroristische Gruppierungen, wie z. B. HTS, sind verantwortlich für weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen, darunter rechtswidrige Tötungen und Entführungen, rechtswidrige Inhaftierungen, körperliche Misshandlungen und Tötungen von Zivilisten und Rekrutierungen von Kindersoldaten (USDOS 20.3.2023). Personen, welche in Verdacht geraten, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu haben, sind in Gebieten extremistischer Gruppen der Gefahr von Exekutionen ausgesetzt (FH 9.3.2023).
HTS ging teils brutal gegen politische Gegner vor, denen z. B. Verbindungen zum Regime, Terrorismus oder die „Gefährdung der syrischen Revolution“ vorgeworfen würden. Weiterhin legen die Berichte nahe, dass Inhaftierten Kontaktmöglichkeiten zu Angehörigen und Rechtsbeiständen vorenthalten werden. Auch sei HTS, laut Berichten des SNHR, für weitere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, vor allem in den Gefängnissen unter seiner Kontrolle (AA 2.2.2024).
In der Region Idlib war 2019 ein massiver Anstieg an willkürlichen Verhaftungen und Fällen von Verschwindenlassen zu verzeichnen, nachdem HTS dort die Kontrolle im Jänner 2019 übernommen hatte. Frauen wurden bzw. sind in den von IS und HTS kontrollierten Gebieten massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte ausgesetzt. Angehörige sexueller Minderheiten werden exekutiert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Berichtet wurden zudem Verhaftungen von Minderjährigen, insbesondere Mädchen. Als Gründe werden vermeintliches unmoralisches Verhalten, wie beispielsweise das Reisen ohne männliche Begleitung oder unangemessene Kleidung angeführt. Mädchen soll zudem in vielen Fällen der Schulbesuch untersagt worden sein. HTS zielt darüber hinaus auch auf religiöse Minderheiten ab. So hat sich HTS laut der CoI im März 2018 zu zwei Bombenanschlägen auf den schiitischen Friedhof in Bab as-Saghir bekannt, bei dem 44 Menschen getötet, und 120 verletzt wurden. Versuche der Zivilgesellschaft, sich gegen das Vorgehen der HTS zu wehren, werden zum Teil brutal niedergeschlagen. Mitglieder der HTS lösten 2020 mehrfach Proteste gewaltsam auf, indem sie auf die Demonstrierenden schossen oder sie gewaltsam festnahmen. Laut der UNCOI gibt es weiterhin Grund zur Annahme, dass es in Idlib unverändert zu Verhaftungen und Entführungen durch HTS-Mitglieder (AA 29.11.2021), auch unter Anwendung von Folter, kommt (AA 29.11.2021; vgl. AA 2.2.2024). Zusätzlich verhaftete HTS eine Anzahl von IDPs unter dem Vorwand, dass diese sich weigerten, in Lager für IDPs zu ziehen, und HTS verhaftete auch BürgerInnen für die Kontaktierung von Familienangehörigen, die im Regierungsgebiet lebten (SNHR 3.1.2023).
Auch in den von der Türkei bzw. von Türkei-nahen SNA kontrollierten Gebieten im Norden Syriens kam es laut CoI vielfach zu Übergriffen und Verhaftungen sowie Folter, die insbesondere die kurdische Zivilbevölkerung beträfen. Auch sei es zu sexuellen Übergriffen durch Angehörige der SNA gekommen (AA 2.2.2024). Die Festnahme syrischer Staatsangehöriger in Afrin und Ra's al 'Ayn sowie deren Verbringung in die Türkei durch die SNA könnte laut CoI das Kriegsverbrechen einer unrechtmäßigen Deportation darstellen (AA 29.11.2021). In vielen Fällen befänden sich Kurdinnen und Kurden laut der UN-Kommission in einer doppelten Opferrolle: Nach einer früheren Zwangsrekrutierung durch die kurdischen SDF in vorherigen Phasen des Konflikts mit der Türkei würden sie nun für eben diesen unfreiwilligen Einsatz von der SNA verfolgt und inhaftiert. Auch darüber hinaus sind in SNA-Gebieten Fälle von willkürlichen Verhaftungen, Isolationshaft ohne Kontakt zur Außenwelt sowie Fälle von Folter in Haft von der UN-Kommission verzeichnet. Der grundsätzlich bestehende Rechtsweg, um sich gegen ungerechtfertigte Inhaftierungen rechtlich zur Wehr zu setzen, ist laut UN-Einschätzung aufgrund langer Verfahrensdauern nicht effektiv (AA 29.3.2023).
Teile der SDF, einer Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten, zu der auch Mitglieder der Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehören, sollen ebenfalls für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sein, darunter Angriffe auf Wohngebiete, willkürliche Inhaftierungen, Misshandlungen, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Versammlungs- und Redefreiheit wie auch die willkürliche Zerstörung von Häusern. Die SDF untersuchen die meisten gegen sie vorgebrachten Klagen, und einige SDF-Mitglieder werden wegen Misshandlungen angeklagt, wozu aber keine Statistiken vorliegen (USDOS 20.3.2023). Die SDF führten im Jahr 2023 willkürliche Verhaftungen von Zivilisten, darunter Journalisten durch (HRW 11.1.2024). Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt jedoch laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer und dschihadistischer Gruppen befinden (AA 29.3.2023). Im Nordosten Syriens dokumentierte die CoI im Berichtszeitraum mehrere Todesfälle in den Zentralgefängnissen von Hasakeh und Raqqa und stellt fest, dass diese möglicherweise auf schlechte Behandlung oder Folter zurückzuführen sein könnten. Laut SNHR seien im Gewahrsam der SDF / Partei der Demokratischen Union (PYD) seit März 2011 insgesamt 96 Menschen durch Folter zu Tode gekommen. Kontakte der Botschaft berichteten zudem von Repressionen durch die kurdische sogenannte „Selbstverwaltung“ (AANES) gegen politische Gegner, wie z.B. Angehörige von Oppositionsparteien. Daneben kritisiert die CoI in ihrem jüngsten Bericht auch die, ihrer Einschätzung nach, menschenrechtswidrige Inhaftierung und Behandlung zehntausender IS-Affiliierter in nordostsyrischen Haftanstalten und lagerähnlichen Camps (AA 2.2.2024). Obwohl der Spielraum der Redefreiheit etwas größer ist, als in Gebieten unter Kontrolle der Regierung oder extremistischer Gruppierungen, schränkt die PYD und einige andere Oppositionsfraktionen Berichten zufolge auch die Redefreiheit ein. So suspendierte die PYD-geführte Verwaltung im Februar 2022 die Lizenz der im Nordirak ansässigen Rudaw-Mediengruppe unter dem Vorwurf der Falschinformation und Aufhetzung. Mitte März 2022 verlangte dieselbe Verwaltung von JournalistInnen den Beitritt zur Union of Free Media, welche sich unter ihrem Einfluss befindet (FH 9.3.2023). […]
Bewegungsfreiheit
Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens
Letzte Änderung 2024-03-13 16:23
Die Verfassung sieht Bewegungsfreiheit vor, 'außer eine gerichtliche Entscheidung oder die Umsetzung von Gesetzen' schränken diese ein. Das Regime, HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) und andere bewaffnete Gruppen sehen Restriktionen bei der Bewegungsfreiheit in ihren jeweiligen Gebieten vor und setzen dazu zur Überwachung Checkpoints ein (USDOS 20.3.2023).
Regierungsangriffe auf die Provinz Idlib und Teile Südsyriens schränkten die Bewegungsfreiheit ein und führten zu Todesfällen, Hunger und schwerer Mangelernährung, während die Angst vor der Vergeltung der Regierung zur Massenflucht von ZivilistInnen und dem Zusammenbruch u. a. der humanitären Hilfe führte. Im Februar 2022 ergab eine UN-Umfrage, dass 51 Prozent der geprüften Gemeinschaften von Bewegungseinschränkungen betroffen waren (USDOS 20.3.2023).
Checkpoints werden sowohl von Regimesicherheitskräften sowie lokalen und ausländischen Milizen unterhalten (USDOS 20.3.2023). In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig ungeregelte Kontrollen durchführen. Dabei kann es auch zu Forderungen nach Geldzahlungen oder willkürlichen Festnahmen kommen. Insbesondere Frauen sind in diesen Kontrollen einem erhöhten Risiko von Übergriffen ausgesetzt (AA 8.12.2023). Auch können Passierende gewaltsam für den Militärdienst eingezogen werden (NFMA 5.2022).
Überlandstraßen und Autobahnen sind zeitweise gesperrt. Reisen im Land ist durch Kampfhandlungen vielerorts weiterhin sehr gefährlich. Es gibt in Syrien eine Reihe von Militärsperrgebieten, die allerdings nicht immer eindeutig gekennzeichnet sind. Darunter fallen auch die zahlreichen Checkpoints der syrischen Armee und Sicherheitsdienste im Land. Für solche Bezirke gilt ein absolutes Verbot, sie zu betreten. Der Begriff der militärischen Einrichtung wird von den syrischen Sicherheitsdiensten umfassend ausgelegt und kann neben klar erkennbaren Kasernen, Polizeistationen und Militärcheckpoints auch schwerer zu identifizierende Infrastruktur wie z. B. Wohnhäuser hochrangiger Personen, Brücken, Rundfunkeinrichtungen oder andere staatliche Gebäude umfassen (AA 8.12.2023). Zudem wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um diejenigen, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete leben, am Zugang zu ihren Grundstücken oder Eigentumsdokumenten zu hindern. Es gibt auch Berichte über die Beschlagnahmung von Eigentumsdokumenten und anderen Ausweispapieren an Kontrollpunkten, einschließlich Heiratsurkunden. Dies birgt für Frauen ein besonders hohes Risiko, den Zugang zu ihrem Eigentum zu verlieren, falls das Eigentum auf den Namen des Ehemannes eingetragen ist (AA 2.2.2024). Die Regimesicherheitskräfte erpressen Leute an den Checkpoints (USDOS 20.3.2023) für eine sichere Passage durch ihre Kontrollpunkte. So werden z. B. an den Checkpoints an der Straße von der jordanisch-syrischen Grenze nach Dara'a üblicherweise Bestechungsgelder eingehoben (HRW 20.10.2021).
Die Kontrollpunkte grenzen die Stadtteile voneinander ab. Sie befinden sich auch an den Zugängen zu Städten und größeren Autobahnen wie etwa Richtung Libanon, Flughafen Damaskus, und an der M5-Autobahn, welche von der jordanischen Grenze durch Dara'a, Damaskus, Homs, Hama und Aleppo bis zur Grenze mit der Türkei reicht. Zurückeroberte Gebiete weisen eine besonders hohe Dichte an Checkpoints auf (HRW 20.10.2021). Die Vierte Division, angeführt von Maher al-Assad, dem Bruder von Bashar al-Assad, übernahm die Kontrolle über alle Transportrouten Richtung Libanon und Jordanien sowie alle Hauptverkehrswege in West- und Süd-Syrien. Eine große Rekrutierungskampagne für die Besatzungen der Kontrollpunkte ist im Gang. Die Checkpoints sichern die Drogentransitrouten [Anm.: Siehe Informationen zu Ceptagon in den jeweiligen Kapiteln] und sind dabei ein Monopol auf Bestechungsgelder für Reisen durch das Land zu schaffen (FP 1.2.2023).
Passierende müssen an den vielen Checkpoints des Regimes ihren Personalausweis und bei Herkunft aus einem wiedereroberten Gebiet auch ihre sogenannte 'Versöhnungskarte' vorweisen. Die Telefone müssen zur Überprüfung der Telefonate übergeben werden. Es mag zwar eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen geben, aber die Nachrichtendienste führen auch ihre eigenen Suchlisten. Seit 2011 gibt es Computer an den Checkpoints und bei Aufscheinen (in der Liste) wird die betreffende Person verhaftet (HRW 20.10.2021). Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, u. a. wenn sie z. B. aus früher oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder auch wenn sie Verbindungen zu Personen in Oppositionsgebieten wie Nordsyrien oder zu bekannten oppositionellen Familien haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Kontrollpunkten führen (DIS/DRC 2.2019). Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem, wer ihn kontrolliert. Auch die Laune und die Präferenzen des Kommandanten können eine Rolle spielen (DIS 9.2019).
Die Regimesicherheitskräfte halten in einigen Fällen ZivilistenInnen von der Flucht aus belagerten Städten ab (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Dara’a al-Balad im Jahr 2021 verletzte laut UN Commission of Inquiry for Syria die Belagerungstaktik der Pro-Regimekräfte die Bewegungsfreiheit und könnte auf eine Kollektivbestrafung hinauslaufen (USDOS 20.3.2023).
Ausländischen DiplomatInnen - einschließlich von der UNO und dem OPCW Investigation and Identification Team (IIT) (OPCW - Organization for the Prohibition of Chemical Weapons) - wurde von der syrischen Regierung der Besuch vieler Landesteile untersagt, und sie erhielten selten die Erlaubnis, außerhalb von Damaskus zu reisen (USDOS 20.3.2023).
Anm.: Zum dahinschwindenden öffentlichen Verkehrssystem und seinen gestiegenen Fahrpreisen siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.
Betreten und Verlassen des Regimegebiets
Zum Betreten und Verlassen des Regimegebiets ist eine Sicherheitsfreigabe durch das Regime nötig, was ein Hindernis für Flüchtlinge und Binnenvertriebene darstellt, welche in ihre Heimatorte zurückkehren möchten. Personen, die vom Regime als kritisch wahrgenommen werden, erhalten diese Genehmigung oft nicht - ebenso ihre Verwandten, frühere Oppositionelle sowie ehemalige BewohnerInnen von als Hochburgen der Opposition wahrgenommen Gebieten (USDOS 20.3.2023).
Laut niederländischem Außenministerium ist es unmöglich, einen Überblick zu vermitteln, welche Übergänge zwischen den Oppositionsgebieten und dem Regimegebiet im Berichtszeitraum offen waren - und zu welchem Zeitpunkt und für welche Personen und Reisezwecke. Es wird aber auf die potenzielle Gefahr von Reisen für ZivilistInnen innerhalb Syriens allgemein und besonders bei Einreisen aus den Oppositionsgebieten in das Regimegebiet wegen der Notwendigkeit des Passierens von Checkpoints der syrischen Geheimdienste, des Militärs und anderer Pro-Regime-Milizen hingewiesen (NMFA 6.2021).
Es ist laut niederländischem Außenministerium nicht möglich, frei vom Regimegebiet in die Gebiete der sog. Errettungsregierung (Anm.: mit HTS als dominante Kraft) oder in das Gebiet der Syrischen Interimsregierung (Anm.: mit den pro-türkischen Einheiten der Syrian National Army) zu reisen und in umgekehrter Richtung. Das gilt für alle BürgerInnen ungeachtet ihres Geschlechts, Alters, ethnischer Zugehörigkeit und Religion, und hat nichts mit der Corona-Pandemie zu tun. Es ist auch nicht möglich, vom kurdischen Selbstverwaltungsgebiet ins Gebiet der Syrischen Interimsregierung zu gelangen. Reisen zwischen dem Gebiet der sog. Errettungsregierung und der Syrischen Interimsregierung sind möglich. Manche Reisen zwischen dem Regimegebiet und dem Selbstverwaltungsgebiet (der SDF) sind möglich, aber die genauen Konditionen sind unbekannt. BewohnerInnen von al-Hassakah und Qamishli sowie Personen, die dort geboren sind, gehören zu den Personengruppen, welche vom Regimegebiet aus in diese beiden Städte reisen können, weil die Behörden dort eine gewisse Präsenz haben. Auch Leute, die im Regimegebiet wohnen, aber aus Teilen von Raqqa und Deir az-Zour stammen, die nun unter Kontrolle der Selbstverwaltung stehen, können Berichten zufolge hin und her reisen, um ihre Besitztümer zu überprüfen oder Land zu kultivieren (NMFA 5.2022).
Die Situation bezüglich des Warenverkehrs stellt sich anders dar als bei Personen - landwirtschaftliche Produkte können vom Regimegebiet aus in andere Landesteile gebracht werden (NMFA 5.2022).
Anm.: Bezüglich der Frage, welche Personen unter welchen Bedingungen dauerhaft in ihre Heimatorte im Selbstverwaltungsgebiet zurückkehren können, wird auf die folgende AFB verwiesen: ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (6.5.2022): Anfragebeantwortung zu Syrien: Voraussetzungen für Einreise syrischer Staatsangehöriger in Gebiete unter Kontrolle der SDF/YPG in Nordostsyrien; Legale Einreise aus dem Irak bzw. der Türkei; Informationen zum Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur; Kontrolle der Grenzübergänge zwischen Nordostsyrien und der Türkei/dem Irak [a-11859-1], https://www.ecoi.net/de/dokument/2073007.html, Zugriff 15.5.2023
Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen
Letzte Änderung 2024-03-13 16:24
Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten geografischen Gebiet verweigern (USDOS 20.3.2023). Das syrische Regime hat zudem Erfordernisse für Ausreisegenehmigungen eingeführt. Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition oder Personen, die als solche wahrgenommen werden oder mit diesen oder mit Oppositionsgebieten in Verbindung stehen. Deshalb zögern diese sowie ihre Familien, eine Ausreise zu versuchen, aus Angst vor Angriffen/Übergriffen und Festnahmen an den Flughäfen und Grenzübergängen. Auch JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen sowie Personen, die sich in der Zivilgesellschaft engagieren, sowie deren Familien und Personen mit Verbindungen zu ihnen werden oft mit einem Ausreiseverbot belegt. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer. Erhalten AktivistInnen oder JournalistInnen eine Ausreiseerlaubnis, so werden sie bei ihrer Rückkehr verhört (USDOS 20.3.2023). Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten, und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 2.2.2024).
In Syrien betragen die Kosten für einen Reisepass aktuell 7 USD im regulären Verfahren und 56 USD im sogenannten „Expressverfahren“, welches dennoch mehrere Wochen dauern kann. Im Ausland liegen die Kosten bei 300 USD für das Regel- und 800 USD für das Expressverfahren. Die Gültigkeit beträgt in der Regel nur zwei Jahre. Damit ist der syrische Pass einer der teuersten der Welt. Seit Ende 2022 lässt sich beobachten, dass Ämter in Aleppo und Hama wieder Reisepässe für vertriebene syrische Staatsangehörige aus Oppositionsgebieten ausstellen, bei denen als Ausstellungsort „Idlib Center“ angegeben wird. Eine (nicht-repräsentative) Preisermittlung durch Forschungspartner des Auswärtigen Amts hat ergeben, dass etwa die Gebühren für Reisepässe für syrische Staatsangehörige in den Oppositionsgebieten nahe an den im Ausland erhobenen Preisen liegen (Idlib: 700 USD, Azaz 600 USD) und selbst einfache Auszüge um ein Vielfaches teurer sind als in den Regimegebieten (Idlib 60 USD, Azaz 50 USD). Eine Ausnahme bildet al-Qamishli im Nordosten, wo das Regime in Abstimmung mit den sogenannten Selbstverwaltungsbehörden ein Sicherheits- und Verwaltungszentrum unterhält, in dem entsprechende Dienstleistungen günstiger ausfallen (Reisepass: 300 USD, Registerauszug 6 USD). Die Selbstbeschaffung durch Passieren informeller Checkpoints an der Front ist sowohl lebensgefährlich als auch teuer (1.000 USD/Strecke) (AA 2.2.2024).
Flüchtlingsbewegungen finden in die angrenzenden Nachbarländer statt. Die Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen, bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden, und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 16.5.2023). Das Regime schließt regelmäßig den Flughafen von Damaskus sowie Grenzübergänge und begründet dies mit Gewalt, bzw. drohender Gewalt (USDOS 20.3.2023) (Anm.: Bzgl. der Schließung von zivilen Flughäfen wegen israelischer Luftangriffe siehe auch Kapitel Sicherheitslage). Im Anschluss an israelische Luftschläge auf die Flughäfen Aleppo und Damaskus musste der Flugverkehr teilweise eingestellt werden (AA 2.2.2024).
Die auf Grund von COVID-19 verhängten Sperren der Grenzübergänge vom regierungskontrollierten Teil in den Libanon, nach Jordanien (Nasib) und in den Irak (Al-Boukamal) für den Personenverkehr wurden zwischenzeitig aufgehoben. Neue Einschränkungen seitens des Libanon sind mehr der Vermeidung illegaler Migration aus Syrien in den Libanon als COVID-Maßnahmen geschuldet. Der libanesische Druck zur freiwilligen Rückkehr einer wachsenden Zahl syrischer Flüchtlinge steigt. Die Grenzen zwischen der Türkei und den syrischen kurdisch besetzten Gebieten sind geschlossen; zum Irak hin sind diese durchlässiger (ÖB Damaskus 12.2022) (Anm.: bzgl. Personenverkehr zwischen Türkei und Syrien seit 6.2.2023 siehe auch Kapitel Rückkehr).
Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden (STDOK 8.2017). Außerdem gibt es ein Gesetz, das Ehemännern erlaubt, ihren Ehefrauen per Antrag an das Innenministerium die Ausreise aus Syrien zu verbieten, auch wenn Frauen, die älter als 18 Jahre sind, eigentlich das Recht haben, ohne die Zustimmung männlicher Angehöriger zu verreisen (USDOS 20.3.2023).
Einige in Syrien aufhältige PalästinenserInnen brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen. Dies hängt jedoch von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab (STDOK 8.2017).
Anm.: Für weitere Informationen zu Einreisemöglichkeiten in Nachbarländer siehe Abschnitt „Bewegungsfreiheit“ und die jeweiligen Länderinformationsblätter zum Libanon und Jordanien, den einzigen Nachstaaten, welche ebenfalls Mandatsgebiet von UNRWA sind. Dort finden sich auch Informationen, aus denen hervorgeht, dass eine legale Umsiedlung von staatenlosen palästinensischen Flüchtlingen aus Syrien nicht vorgesehen ist, und auch eine etwaige UNRWA-Registrierung nicht zu einer Legalisierung des Aufenthalts oder etwa zu einem gesicherten, dauerhaften Aufenthaltsrecht führt, wie das seit Oktober 2012 geltende Einreiseverbot Jordaniens für Palästinenser illustriert.
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Die Regierung erlaubt SyrerInnen, die im Ausland leben, ihre abgelaufenen Reisepässe an den Konsulaten zu erneuern. Viele SyrerInnen, die aus Syrien geflohen sind, zögern jedoch, die Konsulate zu betreten, aus Angst, dass dies zu Repressalien gegen Familienangehörige in Syrien führen könnte (USDOS 20.3.2023).
Anm.: Zur Sammlung nachrichtendienstlicher Informationen im Zuge von Dokumentenanträgen an syrischen Botschaften inklusive Bedingung der Offenlegung des Aufenthaltstitels siehe AFBs zu den jeweiligen Dokumenten. Für grundsätzliche Informationen siehe: BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Syrien: SYRI_SM_Sammlung von Personendaten für nachrichtendienstliche Zwecke 2019_11_04_KE
Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen 'black lists' betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Je nach Sachlage kann es aber (z.B. aufgrund von Desertion oder Wehrdienstverweigerung oder früherer politischer Tätigkeit) durchaus zu Schwierigkeiten mit den syrischen Behörden kommen. Seit 1.8.2020 wurde – bedingt durch den Devisenmangel – bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt. Damit einher geht ein Kursverlust gegenüber Umtausch zum Marktkurs von mittlerweile bereits mehr als 50 Prozent (ÖB Damaskus 12.2022).
Auch länger zurückliegende Gesetzesverletzungen im Heimatland (z. B. illegale Ausreise) können von den syrischen Behörden bei einer Rückkehr verfolgt werden. In diesem Zusammenhang kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Z.B. müssen deutsche männliche Staatsangehörige, die nach syrischer Rechtsauffassung auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie syrische Staatsangehörige mit Aufenthaltstitel in Deutschland auch bei nur besuchsweiser Einreise damit rechnen, zum Militärdienst eingezogen oder zur Zahlung eines Geldbetrages zur Freistellung vom Militärdienst gezwungen zu werden. Eine vorab eingeholte Reisegenehmigung der syrischen Botschaft stellt keinen verlässlichen Schutz vor Zwangsmaßnahmen seitens des syrischen Regimes dar. Auch aus Landesteilen, die aktuell nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen, sind Fälle zwangsweiser Rekrutierung bekannt (AA 16.5.2023). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung kommen kann. Häufiger werden die Festgenommenen an Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, oft in den Raum Damaskus (AA 2.2.2024).
Es ist nicht Standard, dass SyrerInnen bei der legalen Ein- und Ausreise nach ihren Login-Daten für ihre Konten für soziale Medien gefragt werden, aber für Einzelfälle kann das nicht ausgeschlossen werden, z. B. wenn jemand - aus welchem Grund auch immer - auf dem Flughafen das Interesse der Behörden bei der Ausreise - erweckt (NMFA 5.2022) (Anm.: bzgl. Abfrage derartiger Daten bei Verhören siehe Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage).
Durch das Fehlen klarer Informationen über das Prozedere für eine Rückkehr, durch das Zurückhalten der Gründe für die Ablehnung einer Rückkehr, bzw. durch das Fehlen einer Einspruchsmöglichkeit enthält die syrische Regierung ihren BürgerInnen im Ausland das Recht auf Einreise in ihr eigenes Land vor (UNCOI 7.2.2023). Anm.: für weitere Informationen siehe Kapitel "Rückkehr". […]
Rückkehr
Letzte Änderung 2024-03-13 20:36
Seit 2011 waren 12,3 Millionen Menschen in Syrien gezwungen, zu flüchten - 6,7 Millionen sind aktuell laut OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) Binnenvertriebene (HRW 11.1.2024).
Die offizielle politische Position des Regimes hinsichtlich der Rückkehr von Geflüchteten wurde im Berichtszeitraum angepasst. In einem anlässlich des UNHCR-Exekutivkomitees am 12.10.2023 veröffentlichten Statement versicherte das syrische Regime, dass es sichere Rückkehrbedingungen schaffe. Die Versprechungen, z. B. zum Wehrdienst, bleiben jedoch vage. Nach Einschätzung vieler Beobachter könne kaum mit großangelegter Flüchtlingsrückkehr gerechnet werden (AA 2.2.2024).
Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht durch verschiedene Akteure, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen könnten, und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen gegeben (UNCOI 7.2.2023). Eine UNHCR-Umfrage im Jahr 2022 unter syrischen Flüchtlingen in Ägypten, Libanon, Jordanien und Irak ergab, dass nur 1,7 Prozent der Befragten eine Rückkehr in den nächsten 12 Monaten vorhatten (CNN 10.5.2023). Obwohl sich am Bestehen der Fluchtursachen, insbesondere im Hinblick auf verbreitete Kampfhandlungen sowie die in weiten Teilen des Landes katastrophale humanitäre, wirtschaftliche und Menschenrechtslage nichts geändert hat, erhöhen manche Aufnahmestaaten in der Region gezielt den politischen, rechtlichen und sozioökonomischen Druck auf syrische Geflüchtete, um eine „freiwillige Rückkehr“ zu erwirken (AA 2.2.2024).
RückkehrerInnen nach Syrien müssen laut Human Rights Watch mit einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen rechnen, von willkürlicher Verhaftung, Folter, Verschwindenlassen (HRW 12.1.2023; vgl. Al Jazeera 17.5.2023) bis hin zu Beschränkungen beim Zugang zu ihren Herkunftsgebieten (HRW 11.1.2024). Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, in absoluten Zahlen betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert. Unverändert besteht somit in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden. Nach entsprechenden Berichten von Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) von September bzw. Oktober 2021 präsentierten der Zusammenschluss von Zivilgesellschaftsorganisationen Voices for Displaced Syrians Forum und der Think Tank Operations and Policy Center im Frühjahr 2022 eine gemeinsame Studie (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens. Diese dokumentiert innerhalb eines Jahres schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien. UNHCR, IKRK und IOM vertreten unverändert die Auffassung, dass die Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien in Sicherheit und Würde angesichts der unverändert bestehenden, signifikanten Sicherheitsrisiken in ganz Syrien nicht erfüllt sind. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann derzeit insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden (AA 2.2.2024).
Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien laut Auswärtigem Amt weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).
Laut UNHCR sind von 2016 bis Ende 2020 170.000 Flüchtlinge (40.000 2020 gegenüber 95.000 im Jahr 2019) zurückgekehrt, der Gutteil davon aus dem Libanon und Jordanien (2019: 30.000), wobei die libanesischen Behörden weit höhere Zahlen nennen (bis 2019: 187.000 rückkehrende Flüchtlinge). COVID-bedingt kam die Rückkehr 2020 zum Erliegen. Die Rückkehr von Flüchtlingen wird durch den Libanon und die Türkei mit erheblichem politischem Druck verfolgt. Als ein Argument für ihre Militäroperationen führt die Türkei auch die Rückführung von Flüchtlingen in die von der Türkei kontrollierten Gebiete an. Die Rückkehrbewegungen aus Europa sind sehr niedrig. Eine von Russland Mitte November 2020 initiierte Konferenz zur Flüchtlingsrückkehr in Damaskus (Follow-up 2021 sowie 2022), an der weder westliche noch viele Länder der Region teilnahmen, vermochte an diesen Trends nichts zu ändern (ÖB Damaskus 12.2022).
Laut Vereinten Nationen (u. a. UNHCR) sind die Bedingungen für eine nachhaltige Flüchtlingsrückkehr in großem Umfang derzeit nicht gegeben (ÖB Damaskus 12.2022).
Hindernisse für die Rückkehr
Rückkehrende sind auch Human Rights Watch zufolge mit wirtschaftlicher Not konfrontiert wie der fehlenden Möglichkeit, sich Grundnahrungsmittel leisten zu können. Die meisten finden ihre Heime ganz oder teilweise zerstört vor, und können sich die Renovierung nicht leisten. Die syrische Regierung leistet keine Hilfe bei der Wiederinstandsetzung von Unterkünften (HRW 12.1.2023). In der von der Türkei kontrollierten Region um Afrin nordöstlich von Aleppo Stadt wurde überdies berichtet, dass Rückkehrer ihre Häuser geplündert oder von oppositionellen Kämpfern besetzt vorgefunden haben. Auch im Zuge der türkischen Militäroperation 'Friedensquelle' im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB Damaskus 12.2022). Neben den fehlenden sozioökonomischen Perspektiven und Basisdienstleistungen ist es oft auch die mangelnde individuelle Rechtssicherheit, die einer Rückkehr entgegensteht. Nach wie vor gibt es Berichte über willkürliche Verhaftungen und das Verschwinden von Personen. Am stärksten betroffen sind davon Aktivisten, oppositionelle Milizionäre, Deserteure, Rückkehrer und andere, die unter dem Verdacht stehen, die Opposition zu unterstützen. Um Informationen zu gewinnen, wurden auch Familienangehörige oder Freunde von Oppositionellen bzw. von Personen verhaftet. Deutlich wird die mangelnde Rechtssicherheit auch laut ÖB Damaskus an Eigentumsfragen. Das Eigentum von Personen, die wegen gewisser Delikte verurteilt wurden, kann vom Staat im Rahmen des zur Terrorismusbekämpfung erlassenen Gesetzes Nr. 19 konfisziert werden. Darunter fällt auch das Eigentum der Familien der Verurteilten in einigen Fällen sogar ihrer Freunde. Das im April 2018 erlassene Gesetz Nr. 10 ermöglicht es Gemeinde- und Provinzbehörden, Zonen für die Entwicklung von Liegenschaften auszuweisen und dafür auch Enteignungen vorzunehmen. Der erforderliche Nachweis der Eigentumsrechte für Entschädigungszahlungen trifft besonders Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Konkrete Pläne für die Einrichtung von Entwicklungszonen deuten auf Gebiete hin, die ehemals von der Opposition gehalten wurden. Von den großflächigen Eigentumstransfers dürften regierungsnahe Kreise profitieren. Auf Druck von Russland, der Nachbarländer sowie der Vereinten Nationen wurden einige Abänderungen vorgenommen, wie die Verlängerung des Fristenlaufs von 30 Tagen auf ein Jahr (ÖB Damaskus 12.2022). Flüchtlinge und Binnenvertriebene sind besonders von Enteignungen betroffen (BS 23.2.2022). Zudem kommt es zum Diebstahl durch Betrug von Immobilien, deren Besitzer - z. B. Flüchtlinge - abwesend sind (The Guardian 24.4.2023). Viele von ihren Besitzern verlassene Häuser wurden mittlerweile von jemandem besetzt. Sofern es sich dabei nicht um Familienmitglieder handelt, ist die Bereitschaft der Besetzer, das Haus oder Grundstück zurückzugeben, oft nicht vorhanden. Diese können dann die Rückkehrenden beschuldigen, Teil der Opposition zu sein, den Geheimdienst auf sie hetzen, und so in Schwierigkeiten bringen (Balanche 13.12.2021). Der Mangel an Wohnraum und die Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren (AA 29.11.2021).
Laut einer Erhebung der Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD) ist für 58 Prozent aller befragten Flüchtlinge die Abschaffung der Zwangsrekrutierung die wichtigste Bedingung für die Rückkehr in ihre Heimat (AA 4.12.2020). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach der Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar zum Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021).
Die laut Experteneinschätzung katastrophale wirtschaftliche Lage ist ein großes Hindernis für die Rückkehr: Es gibt wenige Jobs, und die Bezahlung ist schlecht (Balanche 13.12.2021). Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB 1.10.2021).
Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft. Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren (Weltbank 2020). Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom IS gehalten wurden (z. B. Raqqa, Deir Ez-Zor). Laut aktueller Mitteilung von UNMAS vom November 2022 sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen also rund 50 Prozent der Bevölkerung dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Dabei sind Männer aufgrund unterschiedlicher sozialer Rollen dem Risiko stärker ausgesetzt als Frauen. Im Schnitt gab es seit Kriegsbeginn alle zehn Minuten ein Opfer des Kriegs oder mittelbarer Kriegsfolgen. Ein Drittel der Opfer von Explosionen sind gestorben, 85 Prozent der Opfer sind männlich, fast 50 Prozent mussten amputiert werden und mehr als 20 Prozent haben Gehör oder Sehvermögen verloren. Zwei Drittel der Opfer sind lebenslang eingeschränkt. 39 Prozent der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 Prozent auf landwirtschaftlichen Flächen, zehn Prozent auf Straßen oder am Straßenrand. Seit 2019 waren 26 Prozent der Opfer IDPs (ÖB Damaskus 12.2022) [Anm.: Infolge der Erdbeben im Februar 2023 erhöht sich die Gefahr, dass Explosivmaterialien wie Minen durch Erdbebenbewegungen, Wasser etc. verschoben werden].
Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer 'sehr begrenzten' und 'abnehmenden' Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück. Hierbei handelte es sich allerdings zu 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022). Insgesamt ging im Jahr 2022 laut UN-Einschätzung die Bereitschaft zu einer Rückkehr zurück, und zwar aufgrund von Sicherheitsbedenken der Flüchtlinge. Stattdessen steigt demnach die Zahl der SyrerInnen, welche versuchen, Europa zu erreichen, wie beispielsweise das Bootsunglück vom 22.9.2022 mit 99 Toten zeigte. In diesem Zusammenhang wird Vorwürfen über die willkürliche Verhaftung mehrer männlicher Überlebender durch die syrische Polizei und den Militärnachrichtendienst nachgegangen (UNCOI 7.2.2023).
Während die syrischen Behörden auf internationaler Ebene öffentlich eine Rückkehr befürworten, fehlen syrischen Flüchtlingen, im Ausland arbeitenden SyrerInnen und Binnenflüchtlingen, die ins Regierungsgebiet zurückkehren wollen, klare Informationen für die Bedingungen und Zuständigkeiten für eine Rückkehr sowie bezüglich einer Einspruchsmöglichkeit gegen eine Rückkehrverweigerung (UNCOI 7.2.2023) [Anm.: mehr dazu siehe in dem Unterkapitel Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort sowie im Unterkapitel Perspektiven des Staatsapparats bezüglich Emigration und Rückkehr].
Weitere Informationen zu Enteignungen und der Wohnraumsituation finden sich im Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft. […]
Perspektiven des Staatsapparats bezüglich Emigration und Rückkehr
Letzte Änderung 2024-03-14 11:46
Die Bedeutung von Überweisungen von SyrerInnen im Ausland und die Rolle der syrischen Lohnpolitik für Angestellte des öffentlichen Diensts dabei
Neben dem wachsenden Auswanderungsdruck auf gebildete SyrerInnen durch die Bevorzugung der Militärs bezüglich Gehälter zielt die syrische Lohnpolitik im öffentlichen Sektor laut einer Studie von Omran for Strategic Studies darauf ab, junge Leute dazu zu bewegen, ins Ausland zu gehen, damit sie später Geld an ihre Familien schicken. So profitiert Syrien von den Devisenüberweisungen in die Gebiete unter Regimekontrolle sowie von den großen Summen, welche für die Befreiung vom Wehr- und Reservedienst zu zahlen sind (Omran 23.1.2023). Rücküberweisungen aus dem Ausland (remittances) sind angesichts der Wirtschaftskrise eine wichtige Einnahmequelle für viele Syrerinnen und Syrer. Seit Konfliktbeginn sind sie merklich angestiegen: 2010 betrugen sie laut der syrischen Zentralbank (CBS) 906 Mio. USD. 2019 waren es 3.01 Mrd. USD (elf Prozent des BIP). Seither hat die CBS keine Zahlen mehr veröffentlicht. Laut Medienberichten lagen die Rücküberweisungen 2022 bei über drei Mrd. US-Dollar (20 Prozent des gesamten BIP 2022; laut Weltbank etwa 15,5 Mrd. US-Dollar). Sie sind weiterhin eine signifikante Einnahmequelle für die Bevölkerung. Gleichzeitig verbreiteten Syrien und Russland bei einer Konferenz Mitte Oktober 2022 den Vorwurf, 'der Westen' würde eine Rückkehr von Geflüchteten verhindern (AA 29.3.2023). Das Regime wünscht sich laut Experten-Einschätzung RückkehrerInnen mit Geld - nicht einfache Leute (Khaddour 24.12.2021) oder ehemalige Flüchtlinge, zumal die Regierung, nicht die Kapazitäten und finanziellen Möglichkeiten hätte, für die ehemaligen Flüchtlinge zu sorgen (The Guardian 23.3.2023).
Laut Einschätzung des Think Tanks Omran for Strategic Studies werden rückkehrende Syrer mehrheitlich als Folge der obigen Lohnpolitik sich gezwungenermaßen einer militärischen Einrichtung oder einer Miliz anschließen müssen, denn diese Organisationen bieten als einzige eine berufliche Perspektive in den Regime-kontrollierten Gebieten (Omran 23.1.2023) [Anm.: zu weiteren Kriterien wie z. B. bereits vorhandenen Verbindungen zu Personen mit Einfluss im Staatsapparat sowie Loyalität der Assad-Herrschaft gegenüber siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft sowie Kapitel Korruption und speziell zu illegalen Zweitjobs von Militärs zur Aufbesserung der Gehälter siehe Unterkapitel Streitkräfte im Kapitel Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen].
Wahrnehmung von RückkehrerInnnen ja nach Profil
Nach zuvor vorwiegend rückkehrkritischen öffentlichen Äußerungen hat die syrische Regierung seine Politik seit Ankündigung eines sogenannten „Rückkehrplans“ für Flüchtlinge durch Russland 2018 sukzessive angepasst und im Gegenzug für eine Flüchtlingsrückkehr Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und die Aufhebung westlicher Sanktionen gefordert (AA 20.3.2023). Die Rückkehr von ehemaligen Flüchtlingen ist trotzdem nicht erwünscht, auch wenn offiziell mittlerweile das Gegenteil gesagt wird (The Guardian 23.3.2023; vgl. Balanche 13.12.2021). Rückkehrende werden vom Regime häufig als „VerräterInnen“ deklariert (AA 2.2.2024), bzw. insgeheim als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition und/oder bewaffneter Gruppen angesehen (AI 9.2021). Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (regime-)kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiärer Verbindung zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 2.2.2024).
Jeder, der geflohen ist und einen Flüchtlingsstatus hat, ist in den Augen des Regimes bereits verdächtig (Üngör 15.12.2021). Aus Sicht des syrischen Staates ist es daher besser, wenn diese SyrerInnen im Ausland bleiben, damit ihr Land und ihre Häuser umverteilt werden können, um Assads soziale Basis neu aufzubauen. Minderheiten wie Alawiten und Christen, reiche Geschäftsleute und Angehörige der Bourgeoisie sind hingegen für Präsident al-Assad willkommene Rückkehrer. Für arme Menschen, z. B. aus den Vorstädten von Damaskus oder Aleppo, hat der syrische Staat jedoch keine Verwendung (Balanche 13.12.2021), zumal keine Kapazitäten zur Unterstützung von (mittellosen) Rückkehrenden vorhanden sind (The Guardian 23.2.2023).
Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen [Anm.: für weitere Informationen zu Sicherheitsüberprüfungen siehe Unterkapitel Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort], Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021).
Anhand der von der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, NGOs und anderen dokumentierten Einzelschicksalen der Vergangenheit ist die Bedrohung der persönlichen Sicherheit im Einzelfall das zentrale Hindernis für Rückkehrende. Dabei gilt nach Ansicht des deutschen Auswärtigen Amts, dass sich die Frage einer möglichen Gefährdung des Individuums weder auf etwaige Sicherheitsrisiken durch Kampfhandlungen und Terrorismus beschränken lässt, noch ganz grundsätzlich eine Eingrenzung auf einzelne Landesteile möglich ist. Entscheidend für die Sicherheit von Rückkehrenden bleibt vielmehr die Frage, wie der oder die Rückkehrende von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen wird. Rückkehr auf individueller Basis findet, z. B. aus der Türkei, insbesondere in Gebiete statt, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen. Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).
Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr (ÖB Damaskus 1.10.2021), und die Aussagen zur Haltung der Regimekräfte gegenüber Rückkehrern heben unterschiedliche Aspekte zu deren Wahrnehmung und Behandlung hervor:
Der Syrien-Experte Uğur Üngör geht davon aus, dass jeder, der das Land verlassen hat, und nach Europa geflohen ist, vom Regime als verdächtig angesehen wird, weil es im Verständnis des Regimes keinen Grund gab, zu fliehen. Die Flucht nach Europa und das Beantragen von Asyl können negativ gesehen werden - im Sinne einer Zusammenarbeit mit den europäischen Regierungen oder sogar, dass man von diesen bezahlt wurde. Dies gilt jedoch nicht für Personen, die eine offiziell bestätigte regierungsfreundliche Einstellung haben. Weiters werden Personen, die in die Türkei geflohen sind, als Vertreter von Präsident Erdoğans Regierung gesehen. Wer im Ausland negative Äußerungen [Anm.: siehe hierzu das Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen und das Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage bzgl. der Gesetze zur Schädigung des Ansehens im Ausland sowie bzgl. positiver Äußerungen über Staaten, mit denen Syrien verfeindet ist] über das Regime gemacht hat (im Sinne von öffentlichem politischen Aktivismus, aber auch privat in sozialen Medien), kann bei der Rückkehr speziell vom politischen Geheimdienst überprüft werden. Wenn man Glück hat, sind die Anschuldigungen laut Üngör nicht sehr ernst, oder man kann ein Bestechungsgeld zahlen, um freizukommen, andernfalls kann man direkt vor Ort verhaftet werden. Hierbei spielen nicht nur eigene Aktivitäten eine Rolle, sondern auch Aktivitäten von Verwandten und die geografische Herkunft der rückkehrenden Person. Es gibt auch Berichte, dass Familienmitglieder von Journalisten, die in Europa für oppositionelle Medien schreiben, inhaftiert und tagelang festgehalten und wahrscheinlich gefoltert wurden (Üngör 15.12.2021) [Anm.: siehe hierzu auch Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage].
Laut dem Syrien-Experten Kheder Khaddour kommt es darauf an, wo im Ausland man sich aufgehalten hat: War man in den Golfstaaten, wird vielleicht davon ausgegangen, dass man geschäftlichen Tätigkeiten nachgegangen ist und nichts mit Politik zu tun hat. Wer in die Türkei gegangen ist, wird als Kollaborateur der Islamisten und Präsident Erdoğans gesehen. Wer in Europa war, wird beschuldigt, von Europa bezahlt worden zu sein, um gegen das Regime zu sein. Der Libanon ist vielleicht noch am neutralsten, quasi wie ein 'erweitertes Syrien', und durch die geografische Nähe stehen Flüchtlingen im Libanon-Korruptionsnetzwerke (zur Absicherung der Rückkehr) zur Verfügung, auf die man in Europa keinen Zugriff hat (Khaddour 24.12.2021).
Bashar al-Assad hat erklärt, dass er jene, die gegen sein Regime sind, als 'Krankheitserreger' sieht. Die Rückkehr ist aber nicht nur für Regimegegner, sondern auch für alle, über deren politischer Position sich das Regime nicht sicher ist, problematisch. Die Behandlung eines Rückkehrers durch die Behörden hängt laut dem syrischen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Mohamad Rasheed allein davon ab, ob die Person für oder gegen das Regime ist. Wer regierungstreu ist, kann auf legalem und gewöhnlichem Weg ein- und ausreisen. Die Unvorhersehbarkeit und Willkür sind große Hindernisse für die Rückkehr nach Syrien. Man kann jederzeit verhaftet und verhört werden und niemand weiß, ob man leben, getötet oder verschwinden gelassen wird. Der Staatsapparat ist durchzogen von Mafias, und im ganzen Land gibt es Milizen, die die Bevölkerung tyrannisieren (Rasheed 28.12.2021).
Laut dem Nahost-Experten Fabrice Balanche kann man, wenn man Teil der Opposition war oder sogar gekämpft hat, nicht nach Syrien zurückkehren, selbst wenn es laut offiziellem Narrativ des Präsidenten eine Amnestie gibt. Dasselbe gilt auch für (andere) politische Flüchtlinge. Zudem besteht immer die Gefahr, vom Geheimdienst verhaftet zu werden, zum Teil, um Geld zu erpressen. Man wird für ein paar Wochen inhaftiert, weil man vom Ausland zurückkommt und davon ausgegangen wird, dass man Geld hat. Die Familie muss dann ein Lösegeld von ein paar Tausend Dollar bezahlen, oder die Person bleibt weitere zwei Wochen im Gefängnis (Balanche 13.12.2021).
Das deutsche Auswärtige Amt zieht den Schluss, dass eine sichere Rückkehr Geflüchteter insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden kann (AA 2.2.2024). UNHCR ruft weiterhin die Staaten dazu auf, keine zwangsweise Rückkehr von syrischen Staatsbürgern sowie ehemals gewöhnlich dort wohnenden Personen - einschließlich früher in Syrien ansässiger Palästinenser - in irgendeinen Teil Syrien zu veranlassen, egal wer das betreffende Gebiet in Syrien beherrscht (UNHCR 6.2022).
Auch die lokale Bevölkerung hegt oft Argwohn gegen Personen, die das Land verlassen haben. Es besteht eine große Kluft zwischen Syrern, die geflohen sind, und jenen, die dort verblieben sind. Erstere werden mit Missbilligung als Leute gesehen, die 'davongelaufen' sind, während Letztere oft Familienmitglieder im Krieg verloren und unter den Sanktionen gelitten haben (Khaddour 24.12.2021; vgl. Üngör 15.12.2021). Es kann daher zu Denunziationen oder Erpressungen von Rückkehrern kommen, selbst wenn diese eigentlich 'sauber' [Anm.: aus Regimeperspektive] sind, mit dem Ziel, daraus materiellen Gewinn zu schlagen (Üngör 15.12.2021) [Anm.: siehe hierzu auch die Thematik des Immobiliendiebstahls durch Betrug, der sich oft gegen seit langem Abwesende richtet, z. B. im Überkapitel Rückkehr].
Ein weiteres soziales Problem sind persönliche Racheakte: Wenn bei Kämpfen zwischen zwei Gruppen jemand getötet wurde, kann es vorkommen, dass jemand, der mit dem Mörder verwandt ist, von der Familie des Ermordeten im Sinne der Vergeltung getötet wird. Dies hindert viele an der Rückkehr in ihren Heimatort (Balanche 13.12.2021). […]
Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort
Letzte Änderung 2024-03-14 11:51
Administrative Verfahren der syrischen Behörden für RückkehrerInnen
Die syrische Regierung bietet administrative Verfahren an, die Rückkehrwillige aus dem Ausland oder aus von der Opposition kontrollierten Gebieten vor der Rückkehr in durch die Regierung kontrollierte Gebiete durchlaufen müssen, um Probleme mit der Regierung zu vermeiden. Im Rahmen dieser Verfahren führen die syrischen Behörden auf die eine oder andere Weise eine Überprüfung der RückkehrerInnen durch. Während des als 'Sicherheitsüberprüfung' (arabisch muwafaka amniya) bezeichneten Verfahrens werden die Namen der AntragstellerInnen mit Fahndungslisten verglichen. Beim sogenannten 'Statusregelungsverfahren' (arabisch: taswiyat wade) beantragen die AntragstellerInnen, wie es in einigen Quellen heißt, die 'Versöhnung', sodass ihre Namen von den Fahndungslisten der syrischen Behörden gestrichen wird (DIS 5.2022). Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen (AA 2.2.2024).
Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen, zur Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und zu gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) berichtet von Menschenrechtsverletzungen in ihrem Berichtszeitraum, darunter den Tod eines Rückkehrers in Haft, dem man lebensrettende medizinische Versorgung verweigert hatte. Er war Anfang 2022 bei seiner Rückkehr nach Syrien trotz eines erfolgten Beilegungs-, bzw. 'Versöhnungsprozesses', verhaftet worden (UNCOI 7.2.2023).
So gilt es zum Beispiel für die Rückkehr nach Homs, in die von der Regierung gehaltenen Teile von Idlib sowie ins Umland von Damaskus (Rif Dimashq) mehrere und sich überlappende Genehmigungsprozesse bei einer Reihe von Behörden zu durchlaufen. Oft beinhalten diese Prozedere eine geheimdienstliche Sicherheitsgenehmigung oder ein Beilegungsabkommen (Anm.: auch 'Versöhnungsabkommen') oder beides, je nachdem woher die Rückkehrenden kommen, wo sie hingehen, und was ihre Profile sind. Einige mussten etwa schon vor ihrer Rückkehr ihren Status bei Zentren zur 'Statusklärung' in Regierungsgebieten 'klären', indem Verwandte oder Freunde vor Ort dies für sie durchführten. Andere gingen direkt zu diesen Zentren, nachdem sie durch Schmuggelrouten in das Gebiet zurückkehrten oder nachdem sie an einem Grenzübergang um eine 'Statusklärung' angesucht hatten. Andere wiederum mussten eine Sicherheitsgenehmigung für einen Wohnsitz, bzw. Aufenthalt ('residence') bereits vor ihrer Rückkehr einholen. Andere versuchten an kollektiven Rückkehraktionen aus dem Libanon teilzunehmen (UNCOI 7.2.2023) [Anm.: siehe dazu Unterkapitel Hinweise über Rückkehrende aus den Nachbarstaaten und Europa].
Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu unvorhergesehenen Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass selbst eine von der jeweiligen Sicherheitsbehörde vorgenommene positive Sicherheitsüberprüfung jederzeit von dieser revidiert werden kann und damit keine Garantie für eine sichere Rückkehr leistet (AA 2.2.2024).
Sicherheitsüberprüfungen (besonders al-Muwafaqa al-Amniyeh, die Sicherheitsgenehmigung) vor der Rückkehr sowie inoffizielle Schutzzusagen
Es gibt widersprüchliche Informationen darüber, ob sich Personen, die nach Syrien zurückkehren wollen, einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen müssen oder nicht (AA 19.5.2020). Gemäß einem Rechtsexperten der ÖB Damaskus hat prinzipiell jeder syrische Staatsbürger das Recht, sich auf dem syrischen Staatsgebiet zu bewegen sowie es zu verlassen. Er darf gemäß Artikel 38 der syrischen Verfassung von 2012 nicht an der Rückkehr gehindert werden. Daraus folgt, dass von syrischen StaatsbürgerInnen vor ihrer Rückkehr keine Sicherheitsgenehmigung verlangt wird, oder sie um eine solche ansuchen müssen. Der Konflikt hat die Sicherheitsgenehmigung jedoch ins Zentrum gerückt. Viele syrische StaatsbürgerInnen haben die Rückkehr nach Syrien erwägt, fürchten allerdings, von den syrischen Behörden verhaftet zu werden. Da die syrische Regierung bestrebt war, zu zeigen, dass Syrien sicher ist, und für die Rückkehr von Flüchtlingen offen steht, damit diese am Wiederaufbau des Landes teilnehmen, hat die syrische Regierung zur Erleichterung der Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien zugestimmt, in manchen Fällen bekannt zu geben, ob jemand gemäß ihrer Aufzeichnungen in Syrien gesucht wird. Dies ist bei der freiwilligen Rückkehr von Gruppen von Syrern aus dem Libanon der Fall, erleichtert durch die Kooperation des General Security Office (GSO) [Anm.: libanesischer Nachrichtendienst] im Libanon mit den syrischen Behörden. Das heißt, bei der Teilnahme an einer GSO-unterstützten Rückkehr führt das GSO akkordiert mit den syrischen Behörden eine Sicherheitsüberprüfung durch und leitet die persönlichen Daten der RückkehrerInnen an die syrischen Behörden weiter. Letztere informieren das GSO dann darüber, welche Personen eine Sicherheitsfreigabe erhalten haben. Eine ähnliche Vorgehensweise wurde auch bei individuellen Rückkehrern aus Jordanien vermerkt: Rückkehrer müssen hierzu bei der syrischen Botschaft in Amman um eine Sicherheitsfreigabe ansuchen (VB der ÖB Damaskus 27.9.2022).
Laut einer in Syrien tätigen Menschenrechtsorganisation überprüfen die syrischen Behörden bei der Sicherheitsüberprüfung Informationen über den/die AntragstellerIn, Familienmitglieder und eventuell auch seine/ihre erweiterte Familie. Das syrische Außenministerium ermöglichte im Rahmen des Amnestiegesetzes (Gesetzesdekret Nr. 7/2022 vom 30.4.2022), welches alle von syrischen StaatsbürgerInnen vor dem 30.4.2022 verübten 'terroristischen Verbrechen' ohne Todesopfer beinhaltet, dass syrische StaatsbürgerInnen im Ausland durch die diplomatischen Vertretungen überprüft werden, ob sie unter das Amnestiegesetz fallen. Die betroffenen Personen müssen bei der syrischen Botschaft ihres Wohnorts erscheinen, und einen gesonderten Antrag ausfüllen. Die syrische Botschaft leitet den Antrag dann an das Außenministerium weiter, das eine Liste mit den persönlichen Daten der AntragstellerInnen vorbereitet, und sie an das syrische Innenministerium weiterleitet. Letzteres gleicht die Namen auf der Liste mit einer zentralen Datenbank ab, um zu überprüfen, ob eine Person Verbindungen zu 'terroristischen' Gruppierungen hat (Rechtsexperte 27.9.2022). Das Auswärtige Amt weist jedoch darauf hin, dass jeder Geheimdienst auch eigene Fahndungslisten führt. Es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt (AA 29.3.2023) (Anm.: Zu der Amnestie siehe Unterkapitel Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst im Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen].
Nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amtes müssen sich syrische Flüchtlinge, unabhängig von ihrer politischen Orientierung, vor ihrer Rückkehr weiterhin einer Sicherheitsüberprüfung durch die syrischen Sicherheitsbehörden unterziehen (AA 19.5.2020). Laut Mohamad Rasheed braucht jeder, der nach Syrien zurückkehren will, eine Sicherheitsüberprüfung, selbst Eltern von Personen, die für das syrische Regime arbeiten (Rasheed 28.12.2021). Die Kriterien und Anforderungen für ein positives Ergebnis sind nicht bekannt (AA 19.5.2020). Auch nach Angaben der International Crisis Group stellt die Sicherheitsüberprüfung durch den zentralen Geheimdienst in Damaskus (oder die Verweigerung einer solchen) die endgültige Entscheidung darüber dar, ob ein Flüchtling sicher nach Hause zurückkehren kann, unabhängig davon, welchen administrativen Weg ein Flüchtling, der zurückkehren möchte, einschlägt (ICG 13.2.2020). Im Gegensatz dazu berichtete die dänische Einwanderungsbehörde auf der Grundlage von Befragungen, dass SyrerInnen, die sich außerhalb Syriens aufhalten und nicht von der syrischen Regierung gesucht werden, keine Sicherheitsgenehmigung für die Rückkehr nach Syrien benötigen. Syria Direct berichtete dem DIS hingegen, dass nur SyrerInnen im Libanon, die über eine 'organisierte Gruppenrückkehr' nach Syrien zurückkehren wollen, eine Sicherheitsüberprüfung für die Einreise nach Syrien benötigen (DIS 12.2020).
Laut Fabrice Balanche brauchen Personen, die kein politisches Asyl und keine Probleme mit dem Regime haben, auch keine Sicherheitsüberprüfung, sondern nur jene, die auf einer Liste gesuchter Personen stehen. Um diese Überprüfung durchzuführen, bezahlt man die zuständige Behörde (z. B. syrische Botschaft, Grenzbeamte an der Grenze zwischen Syrien und Libanon, syrische Behörden im Heimatort in Syrien), um zu überprüfen, ob der eigene Name auf einer Liste steht (Balanche 13.12.2021). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt demnach immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zu Verhaftungen kommen kann (AA 2.2.2024), zum Teil, um von den Rückkehrenden Geld zu erpressen (UNCOI 7.2.2023; vgl. Balanche 13.12.2021).
Die Herkunftsregion spielt eine große Rolle für die Behörden bei der Behandlung von Rückkehrern, genauso wie die Frage, was die Person in den letzten Jahren gemacht hat. SyrerInnen aus Homs, Deir iz-Zor oder Ost-Syrien werden dabei eher verdächtigt als Personen aus traditionell regierungstreuen Gebieten (Khaddour 24.12.2021). Besonders Gebiete, die ehemals unter Kontrolle oppositioneller Kräfte standen (West-Ghouta, Homs, etc.), stehen seit der Rückeroberung durch das Regime unter massiver Überwachung und der syrische Staat kontrolliert genau, wer dorthin zurückkehren darf. Es kann also besonders schwierig sein, für eine Rückkehr in diese Gebiete eine Sicherheitsgenehmigung zu bekommen, und falls man diese erhält und zurückkehrt, wird man den Sicherheitsbehörden berichterstatten müssen (Üngör 15.12.2021) [Anm.: zum Informantenwesen siehe auch Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen].
Mehrere Experten gehen davon aus, dass es vor allem auf die informelle Sicherheitsgarantie ankommt. Der sicherste Schutz vor Inhaftierung ist es, ein gutes Netzwerk bzw. Kontakte zum Regime zu haben, die einem im Notfall helfen können. Man muss jemanden in der Politik oder vom Geheimdienst haben, den man um Schutz bittet (Balanche 13.12.2021; vgl. Khaddour 24.12.2021, Rechtsexperte 27.9.2022). Laut Kheder Khaddour wird der offizielle Weg zur Rückkehr kaum genutzt, nicht nur weil er sehr langwierig ist, sondern auch weil niemand Vertrauen in die Institutionen hat. Nur bekannte Oppositionspersonen müssen den offiziellen Weg gehen, dieser Prozess bringt aber keine Garantie mit sich. Daher muss zusätzlich auch immer eine informelle Sicherheitsgarantie über persönliche Kontakte erlangt werden, wenn jemand zurückkehren will. Wenn jemand auf einer schwarzen Liste aufscheint, muss er seinen Namen bereinigen lassen. Dies geschieht meist durch Bestechung (Khaddour 24.12.2021). Personen, die erfahren, dass sie von den Behörden gesucht werden, bezahlen große Summen an Vermittler und Mitglieder der Sicherheitskräfte, um bei der Rückkehr eine Verhaftung zu vermeiden (UNCOI 7.2.2023).
'Versöhnungsanträge', Statusregelungsverfahren
Das Regime hat einen Mechanismus zur Erleichterung der 'Versöhnung' und Rückkehr geschaffen, der als 'Regelung des Sicherheitsstatus' (taswiyat al-wadaa al-amni) bezeichnet wird. Das Verfahren beinhaltet eine formale Klärung mit jedem der vier großen Geheimdienste und eine Überprüfung, ob die betreffende Person alle vorgeschriebenen Militärdienstanforderungen erfüllt hat. Einzelne Personen in Aleppo berichteten jedoch, dass sie durch die Teilnahme am 'Versöhnungsprozess' einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden (ICG 9.5.2022). Personen, die von der syrischen Regierung gesucht werden und deshalb keine Erlaubnis zur Rückkehr erhalten, werden aufgefordert, ihren Status zu 'regularisieren', bevor sie zurückkehren können (Reuters 25.9.2018; vgl. SD 16.1.2019).
Nach Angaben eines syrischen Generals müssen Personen, die aus dem Ausland zurückkehren wollen, bei der zuständigen syrischen Vertretung einen Antrag auf 'Versöhnung' stellen und unter anderem angeben, wie und warum sie das Land verlassen haben, und Informationen über ihre Aktivitäten während ihres Auslandsaufenthalts vorlegen. Diese Informationen werden an das syrische Außenministerium weitergeleitet, wo eine Sicherheitsprüfung durchgeführt wird. SyrerInnen, die über die Landgrenzen einreisen, müssen nach Angaben des Generals einen 'Versöhnungsantrag' ausfüllen (DIS 6.2019). Um eine Verhaftung bei der Rückkehr zu vermeiden, versuchen SyrerInnen, Informationen über ihre Sicherheitsakte zu erhalten und diese, wenn möglich, zu löschen. Persönliche Kontakte und Bestechungsgelder sind die gebräuchlichsten Kanäle und Mittel zu diesem Zweck (ICG 13.2.2020; vgl. EASO 6.2021), doch aufgrund ihrer Informalität und des undurchsichtigen Charakters des syrischen Sicherheitssektors sind solche Informationen und Freigaben nicht immer zuverlässig, und nicht jeder kann sie erhalten (ICG 13.2.2020). Zwei Quellen berichteten EASO (Anm.: nun EUAA), dass, wenn ein/e RückkehrerIn durch informelle Netzwerke oder Beziehungen (arab. 'wasta') herausfindet, dass er oder sie nicht von den syrischen Behörden gesucht wird, es dennoch keine Garantie dafür gibt, dass er oder sie bei der Rückkehr nicht verhaftet wird (EASO 6.2021).
Rückkehrverweigerungen
Die Regierung verweigert gewissen BürgerInnen die Rückkehr nach Syrien, während andere SyrerInnen, die in die Nachbarländer flohen, die Vergeltung des Regimes im Fall ihrer Rückkehr fürchten (USDOS 12.4.2022). Der Prozentsatz der AntragstellerInnen, die nicht zur Rückkehr zugelassen werden, ist nach wie vor schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020): Ihr Anteil wird von verschiedenen Quellen aus den Jahren 2018 bis 2022 auf 5 Prozent (SD 16.1.2019), 10 Prozent (Reuters 25.9.2018), 20 Prozent (Qantara 2.2.2022) oder bis zu 30 Prozent (ABC 6.10.2018) geschätzt. Das Regime fördert nicht die sichere, freiwillige Rückkehr in Würde, eine Umsiedlung oder die lokale Integration von IDPs. In einigen Fällen ist es Binnenvertriebenen nicht gestattet, in ihre Heimatgebiete zurückzukehren (USDOS 12.4.2022). Einige BeobachterInnen und humanitäre HelferInnen geben an, dass die Bewilligungsquote für AntragstellerInnen aus Gebieten, die als regierungsfeindliche Hochburgen identifiziert wurden, fast bei null liegt (ICG 13.2.2020). Gründe für die Ablehnung können (vermeintliche) politische Aktivitäten gegen die Regierung, Verbindungen zur Opposition oder die Nichterfüllung der Wehrpflicht sein (Reuters 25.9.2018; vgl. ABC 6.10.2018, SD 16.1.2019).
Weitere im Fall einer Rückkehr benötigte behördliche Genehmigungen
Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr. Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB Damaskus 12.2022).
Es muss z. B. bei Abschluss eines Immobilienkaufvertrags, bevor die Immobilie übertragen werden kann, bei den Sicherheitsbehörden um eine Freigabe (Anm.: al-Muwafaqa al-Amniyeh - die Sicherheitsgenehmigung) angesucht werden. Bei Mietverträgen wurde diese Regelung jüngst vereinfacht, sodass die Daten erst nach Abschluss des Vertrags an die Gemeinde übermittelt werden mussten. Diese Information wird dann an die Sicherheitsbehörden weitergegeben, die im Nachhinein einen Einspruch erheben können. Diese Regelung wurde aber nach aktuellen Informationen nur in Damaskus umgesetzt, außerhalb muss die Genehmigung nach wie vor vorab eingeholt werden. Auch hinsichtlich Damaskus wurde berichtet, dass SyrerInnen aus anderen Gebieten nicht erlaubt wurde, sich in Damaskus niederzulassen. Die Niederlassung ist dementsprechend – für alle Gebiete unter Regierungskontrolle – von einer Zustimmung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 12.2022). Erschwerend kommt hinzu, dass eine von einer regierungsnahen Stelle innerhalb Syriens ausgestellte Sicherheitsgenehmigung in Gebieten, die von anderen regierungsnahen Stellen kontrolliert werden, als ungültig angesehen werden kann. Dies ist auf die Fragmentierung des Sicherheitsapparats der Regierung zurückzuführen, welche die Mobilität auf Gebiete beschränkt, die von bestimmten regierungsnahen Sicherheitsbehörden kontrolliert werden (EASO 6.2021).
Anm.: für grundsätzliche Informationen zur Sicherheitsgenehmigung siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.
Gefährdungslage
Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt gemäß deutschem Auswärtigem Amt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).
Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (system-) kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiären Verbindungen zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 2.2.2024). Einer Umfrage des Middle East Institute im Februar 2022 zufolge berichteten 27 Prozent der RückkehrerInnen, dass sie oder jemand Nahestehender aufgrund ihres Herkunftsorts, für das illegale Verlassen Syriens oder für das Stellen eines Asylantrags Repression ausgesetzt sind. Ein Rückkehrhindernis ist zudem laut Menschenrechtsberichten das Wehrdienstgesetz, das die Beschlagnahmung von Besitz von Männern ermöglicht, die den Wehrdienst vermieden haben, und nicht die Befreiungsgebühr bezahlt haben (USDOS 20.3.2023).
Syrische Flüchtlinge müssen bereit sein, der Regierung gegenüber vollständig Rechenschaft über ihre Beziehungen zur Opposition abzulegen, um nach Hause zurückkehren zu dürfen. Die RückkehrerInnen sind Schikanen oder Erpressungen durch die Sicherheitsbehörden sowie Inhaftierung und Folter ausgesetzt, um Informationen über die Aktivitäten der Flüchtlinge im Ausland zu erhalten (TWP 2.6.2019) [Anm.: siehe hierzu auch Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen im Ausland und deren Folgen].
Gemäß der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic könnte das Unterlassen einer klaren Information über die Rückkehrverfahren und das Vorenthalten der Gründe für Rückkehrverweigerungen, bzw. einer Einspruchsmöglichkeit in solchen Fällen eine 'willkürliches Vorenthalten des Rechts auf Einreise von SyrerInnen im Ausland in ihr eigenes Land' durch die syrische Regierung darstellen. Dieses Vorgehen könnte auch als Verletzung des internationalen humanitären Gewohnheitsrechts gelten (UNCOI 7.2.2023).
Rückkehr an den Herkunftsort
Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele Faktoren die Möglichkeit dazu beeinflussen. Ethnisch-konfessionelle, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber den der Opposition nahestehenden Gemeinschaften. Wenn es darum geht, wer in seine Heimatstadt zurückkehren darf, können laut einem Experten ethnische und religiöse, aber auch praktische Motive eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018). Einem Syrien-Experten zufolge dient eine von einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat erteilte Sicherheitsgenehmigung lediglich dazu, dem Inhaber die Einreise nach Syrien zu ermöglichen. Sie garantiert dem Rückkehrer nicht, dass er seinen Herkunftsort in den von der Regierung kontrollierten Gebieten auch tatsächlich erreichen kann (EASO 6.2021). Auch über Damaskus wurde berichtet, dass SyrerInnen aus anderen Gebieten sich dort nicht niederlassen durften. Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020). SyrerInnen, die nach Syrien zurückkehren, können sich nicht einfach an einem beliebigen Ort unter staatlicher Kontrolle niederlassen (ÖB Damaskus 21.8.2019). Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020). Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie von der Region bestimmt, in die sie zurückkehren, sondern davon, wie die RückkehrerInnen von den Akteuren, die die jeweiligen Regionen kontrollieren, wahrgenommen werden (AA 2.2.2024). Die Rückkehr an den Herkunftsort innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete erfordert einen anderen Weg, der von lokalen Machthabern wie den Gemeindebehörden oder den die Regierung unterstützenden Milizen gesteuert wird. Die Verfahren, um eine Genehmigung für die Einreise in den Herkunftsort zu erhalten, variieren von Ort zu Ort und von Akteur zu Akteur. Da sich die lokale Machtdynamik im Laufe der Zeit verschiebt, sind auch die unterschiedlichen Verfahren Veränderungen unterworfen (EASO 6.2021).
Übereinstimmenden Berichten der Vereinten Nationen (VN) und Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) und Betroffenen zufolge werden Verstöße gegen Wohn-, Land- und Eigentumsrechte seitens des Regimes fortgesetzt. Dies dokumentieren nicht zuletzt offizielle staatliche Gazetten. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut der oben angeführten Berichte hätten Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen zudem der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 2.2.2024). Das Gesetz Nr. 10 von 2018 wird weiterhin zur Belohnung von regimeloyalen Personen verwendet und schafft Hürden für die Rückkehr von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, die in ihre Heime zurückkehren möchten. Laut Berichten ersetzt die Regierung so ehemalige BewohnerInnen von vormaligen Oppositionsgebieten durch ihr gegenüber loyalere Personen. Dies betrifft disproportional sunnitische Flüchtlinge und IDPs. Laut Einschätzung von SNHR (Syria Network for Human Rights) steckt die Regierungsstrategie dahinter, durch einen demografischen und gesellschaftlichen Wandel des Staats, automatisch eine Hürde für die Rückkehr von IDPs und Flüchtlingen zu schaffen (USDOS 2.6.2022).
Andere RückkehrerInnen müssen Berichten zufolge Bestechungsgelder an die Lokalverwaltung zahlen, um Zugang zu ihren Heimen zu erhalten. Anderen wird der Zugang zu ihren Heimen verwehrt. Auch gibt es Fälle, wo Immobilien von Nachbarn übernommen wurden, und die Rückkehrwilligen bedrohen, wenn sie versuchen, ihren Besitz wieder zu beanspruchen. Eine regierungstreue Miliz erlangte z. B. durch öffentliche Versteigerungen an enteignetes Land, was einer bereits dokumentierten Praxis entspricht. Gegenmaßnahme für derartige Situationen fehlen oder sind ineffektiv (UNCOI 7.2.2023).
Einige ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind für alle, die in ihre ursprünglichen Häuser zurückkehren wollen, praktisch abgeriegelt. In anderen versucht das Regime, die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung einzuschränken, um eine Wiederherstellung des sozialen Umfelds, das den Aufstand unterstützt hat, zu vermeiden. Einige nominell vom Regime kontrollierte Gebiete wie Dara'a, die Stadt Deir ez-Zour und Teile von Aleppo und Homs konfrontieren für Rückkehrer mit schweren Zerstörungen, der Herrschaft regimetreuer Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des Islamischen Staats oder einer Kombination aus allen drei Faktoren (ICG 13.2.2020). So durften z. B. nach Angaben von Aktivisten bisher nur wenige Familien mit Verbindungen zu regierungsnahen Milizen und ältere Bewohner zurückkehren (MEI 6.5.2020). Vor zwei Jahren haben die syrischen Behörden begonnen, ehemaligen Bewohnern die Rückkehr nach Yarmouk zu erlauben, wenn diese den Besitz eines Hauses nachweisen können, und eine Sicherheitsfreigabe vorliegt. Bislang sollen allerdings nur wenige zurückgekommen sein. UNRWA dokumentierte bis Juni 2022 die Rückkehr von rund 4.000 Personen, weitere 8.000 haben im Laufe des Sommers eine Rückkehrerlaubnis bekommen (zur Einordnung: Vor 2011 lebten dort 160.000 PalästinenserInnen zusätzlich zu SyrerInnen) (TOI 17.11.2022). Viele kehren aus Angst vor Verhaftungen und Zwangsrekrutierungen oder aufgrund der nicht mehr vorhandenen Wohnung nicht zurück. Die Rückkehrer kämpfen laut UNRWA mit einem 'Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, begrenzten Transportmöglichkeiten und einer weitgehend zerstörten öffentlichen Infrastruktur' (TOI 17.11.2022).
Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren. Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft (Weltbank 2020). Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer 'sehr begrenzten' und 'abnehmenden' Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück und davon handelte es sich bei 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022), wenngleich von der UNO auch Fälle dokumentiert sind, dass Binnenvertriebene von aktuell oppositionell gehaltenen Gebieten aus nicht in ihre Heimatdörfer im Regierungsgebiet zurückkehren durften - trotz vorheriger Genehmigung (UNCOI 7.2.2023).
Laut Einschätzung der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic könnte das Vorgehen der Regierung möglicherweise eine Verletzung von Unterkunfts-, Land- und Besitzrechten dar. Die Duldung der Inbesitznahme von Immobilien durch Dritte könnte eine Verletzung des Schutzes genannter Rechte darstellen. Sie haben auch mögliche Verletzungen des internationalen humanitären Gewohnheitsrechts zur Folge bezüglich der Besitzrechte von Vertriebenen (UNCOI 7.2.2023).
Weitere Informationen zu Enteignungen und der Wohnraumsituation finden sich im Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft im Abschnitt Wohnsituation und Enteignungen. […]
Ergänzende Informationen zur Behandlung bei und nach der Rückkehr
Letzte Änderung 2024-03-14 11:52
Am 10.5.2023 erklärten die Außenminister von Russland, Türkei, Iran und Syrien, dass erst die nötige Infrastruktur für eine sichere Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien geschaffen werden müsse (SNHR 6.2023). Es besteht nach wie vor kein freier und ungehinderter Zugang von UNHCR und anderer Menschenrechtsorganisationen zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen bei der Rückkehr ist es unklar, wie systematisch und weit verbreitet Übergriffe gegen Rückkehrer sind. Es gibt kein klares Gesamtmuster bei der Behandlung von Rückkehrern, auch wenn einige Tendenzen zu beobachten sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt zur Abwesenheit eines klaren Musters bei (DIS 5.2022). Die Behandlung von Menschen, die nach Syrien einreisen, hängt stark vom Einzelfall ab, und es gibt keine zuverlässigen Informationen über den Kenntnisstand der syrischen Behörden über einzelne Rückkehrer (ÖB Damaskus 29.9.2020).
Es ist schwierig, Informationen über die Situation von Rückkehrern in Syrien zu erhalten. Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude (Anm.: über die Rückkehr) der RückkehrerInnen (TN 10.12.2018), pro-oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von RückkehrerInnen (TN 10.12.2018; vgl. TWP 2.6.2019, FP 6.2.2019). Zudem wollen viele Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen durch die Regierung nach ihrer Rückkehr nach Syrien nicht mehr mit Journalisten (TN 10.12.2018) oder auch nur mit Angehörigen sprechen (SD 16.1.2019; vgl. TN 10.12.2018). Die syrische Regierung und ihr Sicherheitsapparat sind immer wieder gegen Personen vorgegangen, die sich abweichend oder oppositionell geäußert haben, unter anderem durch willkürliche Inhaftierung, Folter und Schikanen gegen Kritiker und ihre Angehörigen. Trotz Amnestien und gegenteiliger Erklärungen hat die syrische Regierung bisher keine Änderung ihres Verhaltens erkennen lassen. Selbst dort, wo Einzelpersonen von der Regierung Sicherheitsgarantien erhalten haben, kam es zu Übergriffen. Jeder, der aus dem Land geflohen ist oder sich gegen die Regierung geäußert hat, läuft Gefahr, als illoyal angesehen zu werden, was dazu führen kann, dass er verdächtigt, bestraft oder willkürlich inhaftiert wird (COAR/HRW/HBS/JUSOOR 19.4.2021). BürgerInnen in von der Regierung rückeroberten Gebieten wie auch Rückehrende gehören zu den verwundbarsten Bevölkerungsgruppen. RückkehrerInnen und Binnenvertriebene sind am ehesten von gesellschaftlichem Ausschluss und einem Mangel an Zugang zu öffentlichen Leistungen in der näheren Zukunft ausgesetzt (BS 23.3.2022). Enteignungen dienen der Schaffung von Hürden für rückkehrende Flüchtlinge und Binnenvertriebene und der Belohnung von regimeloyalen Personen mit einer daraus resultierenden demografischen Änderung in ehemaligen Hochburgen der Opposition (USDOS 15.5.2023).
Rückkehrende werden vom Regime häufig als „VerräterInnen“ deklariert und sehen sich daher oft mit weitreichender systematischer Willkür bis hin zu vollständiger Rechtlosigkeit konfrontiert. Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen. Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu unvorhergesehenen Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass selbst eine von der jeweiligen Sicherheitsbehörde vorgenommene positive Sicherheitsüberprüfung jederzeit von dieser revidiert werden kann und damit keine Garantie für eine sichere Rückkehr leistet (AA 2.2.2024). Alles in allem kann eine Person, die von der Regierung gesucht wird, aus einer Vielzahl von Gründen oder völlig willkürlich gesucht werden. So kann die Behandlung einer Person an einem Checkpoint von verschiedenen Faktoren abhängen, darunter der Willkür des Kontrollpersonals oder praktischen Problemen wie eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, müssen mit verschiedenen Konsequenzen seitens der Regierung rechnen, z. B. mit Verhaftung und im Zuge dessen auch mit Folter. Einigen Quellen zufolge gehört medizinisches Personal zu den Personen, die als oppositionell oder regierungsfeindlich gelten, insbesondere wenn es in einem von der Regierung belagerten Oppositionsgebiet gearbeitet hat. Dies gilt auch für Aktivisten und Journalisten, die die Regierung offen kritisiert oder Informationen oder Fotos von Ereignissen wie Angriffen der Regierung verbreitet haben, sowie generell für Personen, die die Regierung offen kritisieren. Einer Quelle zufolge kann es vorkommen, dass die Regierung eine Person wegen eines als geringfügig eingestuften Vergehens nicht sofort verhaftet, sondern erst nach einer gewissen Zeit. Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Kontrollpunkt beeinflussen kann, ist das Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. Wenn eine Person an einem Ort lebt oder aus einem Ort kommt, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, kann dies das Misstrauen des Kontrollpersonals wecken (FIS 14.12.2018). Die Definition des Regimes, wer ein Oppositioneller ist, ist nicht immer klar oder kann sich im Laufe der Zeit ändern. Es gibt keine Gewissheit darüber, wer vor Verhaftungen sicher ist. In Gesprächen mit der NGO International Crisis Group (ICG) berichteten viele Flüchtlinge, dass der Verzicht auf regimefeindliche Aktivitäten keine sichere Rückkehr garantiert (ICG 13.2.2020). So folgten z. B. Abschiebungen aus dem Libanon im April 2023 von mindestens 130 Menschen - darunter auch unbegleitete Minderjährige - Berichte, wonach es zu Verhaftungen [Anm.: die Zahlen variieren je nach Quelle - z. B. mindestens vier dokumentierte Verhaftungen] und zwangsweisem Einzug zum Wehrdienst [Anm.: keine Zahlenangaben, nur Beispiele] kam (Reuters 1.5.2023).
Generell ist es schwer, in Erfahrung zu bringen, was der Status einer Person bezüglich der syrischen Regierung ist. Für Menschen mit Geld und guten Beziehungen zu den Behörden oder einflussreichen Personen besteht die Möglichkeit, nachzuforschen, ob ihre Namen auf Suchlisten stehen. Allerdings kann die Suche nach diesen Informationen diese auch exponieren - bzw. die Personen, welche für sie nach Informationen suchen. Es gibt keine Garantie, dass sie dabei nicht mit Schwierigkeiten konfrontiert sein werden, darunter das Risiko einer Verhaftung (DIS 9.2019). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse. Laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen, der Vereinten Nationen und von Betroffenen haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 2.2.2024). Zudem ist nach wie vor eine großflächige Enteignung in Form von Zerstörung und Abriss von Häusern und Wohnungen in ehemaligen Oppositionsgebieten unter Anwendung der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Nr. 19/2012 und Dekret 63/2012) zu verzeichnen. Sie erlaubt es, gezielt gegen Inhaftierte, Menschenrechtsaktivistinnen und –aktivisten sowie Personen, die sich an Protesten gegen das Regime beteiligen oder beteiligt haben, vorzugehen und deren Eigentum und Vermögen zu beschlagnahmen (AA 22.2.2024).
Anhand der von der CoI (Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic der Vereinten Nationen), Nichtregierungsorganisationen (NRO) und anderen dokumentierten Einzelschicksalen der Vergangenheit ist die Bedrohung der persönlichen Sicherheit im Einzelfall das zentrale Hindernis für Rückkehrende (AA 2.2.2024). Unverändert besteht nach Bewertung des deutschen Auswärtigen Amts in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden (AA 2.2.2024).
Das Syrian Network for Human Rights dokumentierte beinahe 2.000 Verhaftungen von RückkehrerInnen nach Syrien von 2014 bis 2019. Ein Drittel von ihnen wurde 'verschwunden gelassen' (BS 23.3.2022). Hunderte syrische Flüchtlinge wurden Berichten von 2019 zufolge nach ihrer Rückkehr verhaftet und verhört, darunter Flüchtlinge, die aus dem Ausland nach Syrien zurückgekehrt sind, Binnenvertriebene aus von der Opposition kontrollierten Gebieten und Personen, die in von der Regierung zurückeroberten Gebieten ein 'Versöhnungsabkommen' mit der Regierung unterzeichnet hatten. Sie wurden gezwungen, Aussagen über Familienmitglieder zu machen, und in einigen Fällen wurden sie gefoltert (TWP 2.6.2019; vgl. EIP 7.2019). Amnesty International legte in seinem Bericht aus dem Jahr 2021 Informationen über 66 Personen vor, die bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland Opfer von Verstößen wurden. Unter ihnen wurden 59 Fälle von unrechtmäßiger oder willkürlicher Inhaftierung von Männern, Frauen und Kindern dokumentiert. Unter den Inhaftierten befanden sich zwei schwangere Frauen und zehn Kinder im Alter zwischen drei Wochen und 16 Jahren, von denen sieben vier Jahre alt oder jünger waren. Außerdem wurden 27 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen dokumentiert, darunter vier Kinder, die mindestens eine Woche und bis zu vier Jahre lang festgehalten wurden, wobei 17 Fälle noch andauerten. Die Sicherheitsbeamten verhafteten die Rückkehrer zumeist unter dem pauschalen Vorwurf des 'Terrorismus', weil sie häufig davon ausgingen, dass einer ihrer Verwandten der politischen oder bewaffneten Opposition angehörte, oder weil die Rückkehrer aus einem Gebiet kamen, das zuvor von der Opposition kontrolliert wurde. Darüber hinaus wurden 14 Fälle gemeldet, in denen Sicherheitsbeamte sexuelle Gewalt gegen Kinder, Frauen und männliche Rückkehrer ausübten, darunter Vergewaltigungen an fünf Frauen, einem 13-jährigen Buben und einem fünfjährigen Mädchen. Die sexuelle Gewalt fand an Grenzübergängen oder in Haftanstalten während der Befragung am Tag der Rückkehr oder kurz danach statt. Berichten zufolge setzten Geheimdienstmitarbeiter 33 RückkehrerInnen, darunter Männer, Frauen und fünf Kinder, während ihrer Inhaftierung und Verhöre in Geheimdiensteinrichtungen Praktiken aus, die Folter oder anderen Misshandlungen gleichkommen. Trotz der Behauptung, Damaskus und seine Vororte seien sicher, um dorthin zurückzukehren, fand ein Drittel der im Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2021 dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Damaskus selbst oder in der Umgebung von Damaskus statt, was laut Amnesty International darauf hindeutet, dass selbst dann, wenn die willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau liegt und/oder die Regierung ein bestimmtes Gebiet unter Kontrolle hat, die Risiken bestehen bleiben (AI 9.2021).
Eine gemeinsame Studie von Zivilgesellschaftsorganisationen im Frühjahr 2022 (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens dokumentiert schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden. Auch UNHCR und Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 2.2.2024). […]
Hinweise über Rückkehrende aus den Nachbarstaaten und Europa
Letzte Änderung 2024-03-14 11:54
Syrische Rückkehrende aus den Nachbarstaaten Libanon, Jordanien und der Türkei
Obwohl sich am Bestehen der Fluchtursachen laut deutschem Auswärtigem Amt, insbesondere im Hinblick auf verbreitete Kampfhandlungen sowie die in weiten Teilen des Landes katastrophale humanitäre, wirtschaftliche und Menschenrechtslage nicht verbessert hat, erhöhen manche Aufnahmestaaten in der Region gezielt den politischen, rechtlichen und sozio-ökonomischen Druck auf syrische Geflüchtete, um eine 'freiwillige Rückkehr' zu erwirken. So hat die türkische Regierung im Juli 2022 entsprechende Programme für rund eine Million Syrerinnen und Syrer mit Infrastrukturprojekten in sog. 'sicheren Zonen' angekündigt, deren Umsetzung sich schwer unabhängig überprüfen lässt. Die libanesische Regierung hat ebenfalls versucht, das Thema Rückkehr von syrischen Geflüchteten aktiv voranzutreiben. Es fanden mehrere Gespräche zwischen libanesischen und syrischen Behörden und Delegationsreisen nach Damaskus statt, um Modalitäten einer Rückführungspolitik zu sondieren (AA 2.2.2024).
Im Mai 2023 wurde die syrische Bevölkerung mit 22.933.531 Millionen Menschen beziffert (CIA 30.5.2023). Mitte November 2022 waren 5.534.620 Personen als syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens und in Ägypten registriert. Nach Angaben des UNHCR kehrten im Jahr 2022 (Stand 30.11.2022) insgesamt rund 47.623 Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten und Ägypten nach Syrien zurück (UNHCR 30.11.2022).
Laut niederländischem Außenministerium kehrten im Jahr 2021 ein Tausend PalästinenserInnen aus den Nachbarländern und anderen Staaten nach Syrien zurück. Es betont aber, dass keine Informationen vorliegen, ob diese Rückkehr dauerhaft war, und verweist auf die Möglichkeit, dass diese Syrien wieder verlassen haben. Viele von diesen (etwaigen) Rückehrenden wurden zu Verhören vorgeladen. Ob sie dabei anders als zurückgekehrte SyrerInnen behandelt wurden, ist nicht bekannt (NMFA 5.2022).
Nach entsprechenden Berichten von Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) von September bzw. Oktober 2021 präsentierten der Zusammenschluss von Zivilgesellschaftsorganisationen Voices for Displaced Syrians Forum und der Think Tank Operations and Policy Center im Frühjahr 2022 eine gemeinsame Studie (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens. Diese dokumentiert innerhalb eines Jahres schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien (AA 2.2.2024).
Syrische Rückkehrende aus Europa
Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann laut deutschem Auswärtigen Amt für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden. Auch UNHCR und andere Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 2.2.2024).
Die verfügbaren Informationen über SyrerInnen, die aus Europa nach Syrien zurückkehren, sind begrenzt (Rechtsexperte 14.9.2022, DIS 5.2022). Zur Situation von rückkehrenden Flüchtlingen aus Europa gibt es auch aufgrund deren geringer Zahl keine Angaben (ÖB Damaskus 12.2022): Im Jahr 2020 kehrten 137 syrische Flüchtlinge freiwillig und mit Unterstützung der dänischen Behörden aus Dänemark nach Syrien zurück. Im selben Jahr suchten zehn SyrerInnen bei den niederländischen Behörden um Hilfe für eine Rückkehr nach Syrien an. In Dänemark leben rund 35.000 Syrer und Syrerinnen, in den Niederlanden ca. 77.000 (EASO 6.2021). Nach Angaben des deutschen Innenministeriums kehrten von 2017 bis Juni 2020 über 1.000 SyrerInnen mit finanzieller Unterstützung Deutschlands aus Deutschland nach Syrien zurück (Daily Sabah 15.6.2020). Die meisten syrischen Flüchtlinge in der EU erwägen nicht, in (naher) Zukunft nach Syrien zurückzukehren, wie Umfragen aus verschiedenen europäischen Staaten illustrieren. Diejenigen, die nicht nach Syrien zurückkehren wollten, wiesen auf verschiedene Hindernisse für eine Rückkehr hin, darunter das Fehlen grundlegender Dienstleistungen (wie Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit) und die derzeitige syrische Regierung, die an der Macht geblieben ist (Rechtsexperte 14.9.2022).
Die meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die Europäische Union selbst sowie der UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), bleiben bei ihrer Einschätzung, dass Syrien nicht sicher für eine Rückkehr von Flüchtlingen ist. Im Juli 2022 entschied das Netherlands Council of State, dass syrische Asylsuchende nicht automatisch nach Dänemark transferiert werden dürften angesichts der dortigen Entscheidung, Teile Syriens für 'sicher' zu erklären (HRW 12.1.2023). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) kommt zum Schluss, dass die Bedingungen für eine sichere Rückkehr in Würde nicht gegeben sind, auch angesichts von Fällen von Rückkehrverweigerungen, willkürlichen Verhaftungen und der Verhinderung der Rückkehr zu ihren Heimen in Regierungsgebieten (UNCOI 7.2.2023). Das deutsche Auswärtige Amt weist darauf hin, dass UNHCR, das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und die International Organization for Migration (IOM) unverändert die Auffassung vertreten, dass die Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien in Sicherheit und Würde angesichts der unverändert bestehenden, signifikanten Sicherheitsrisiken in ganz Syrien nicht erfüllt sind. UNHCR bekräftigte, dass sich seine Position und Politik nicht geändert hätten. Im Einklang mit dieser Einschätzung führt laut deutschem Auswärtigem Amt weiterhin kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union Rückführungen nach Syrien durch (AA 2.2.2024). Auch der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, sieht nicht die menschenrechtlichen Voraussetzungen für Abschiebungen nach Syrien gegeben (Die Presse 5.6.2023). […]
Überwachungsmaßnahmen im Ausland und deren Folgen
Letzte Änderung 2023-07-12 08:31
Informationssammlung des Sicherheitsapparats und 'Berichte' von InformantInnen
Der Sicherheitssektor nutzt den Rückkehr- und Versöhnungsprozess, um seinen historischen Einsatz lokaler InformantInnen zur Sammlung von Informationen und zur Kontrolle der Bevölkerung wieder zu verstärken und zu institutionalisieren. Die Regierung baut weiterhin eine umfangreiche Datenbank mit Informationen über alle Personen auf, die ins Land zurückkehren oder im Land bleiben. In der Vergangenheit wurde diese Art von Informationen genutzt, um Personen zu erpressen oder zu verhaften, die aus irgendeinem Grund als Bedrohung oder Problem wahrgenommen wurden (EIP 7.2019). Das Verfassen eines 'Taqrir' (eines 'Berichts', d. h., die Meldung von Personen an die Sicherheitsbehörden) war im ba'athistischen Syrien jahrzehntelang gang und gäbe und wird laut International Crisis Group (ICG) auch unter Flüchtlingen im Libanon praktiziert. Die Motive können persönlicher Gewinn oder die Beilegung von Streitigkeiten sein, oder die Menschen schreiben 'Berichte', um nicht selbst zur Zielscheibe zu werden. Selbst Regimevertreter geben zu, dass es aufgrund unbegründeter Denunziationen zu Verhaftungen kommt (ICG 13.2.2020). Eine Umfrage des Middle East Institute veröffentlicht im Februar 2022 ergab, dass 27 Prozent der RückkehrerInnen berichteten, dass sie oder ihnen nahestehende Personen aufgrund ihres Herkunftsorts, ihres illegalen Verlassens von Syrien oder wegen eines Asylantrags im Ausland Repressionen ausgesetzt sind (USDOS 20.3.2023).
Zur digitalen Überwachung einschließlich Hackerangriffen durch die Syrian Electronic Army siehe Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage sowie bzgl. Abfrage von Login-Daten bei Ein- und Ausreise siehe Kapitel Bewegungsfreiheit im Unterkapitel Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen.
Überwachung von SyrerInnen im Ausland
Die Überwachung im Ausland ist ein Eckpfeiler der syrischen Außenpolitik, und wird von einem koordinierten Netzwerk von Botschaftsangestellten, nachrichtendienstlichen Quellen und Sicherheitsdiensten umgesetzt. Es sind keine Änderung diesbezüglich absehbar. Das Syria Justice and Accountability Centre sieht die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen Syriens und die Wiedereröffnung ausländischer Botschaften auch als Weg zu einer verstärkten Kontrolle der im Ausland aufhältigen SyrerInnen. Seit 2011 mehren sich die Berichte über syrische Botschaften als Ausgangspunkt für die Überwachung und Einschüchterung von Oppositionellen. Bereits vor dem SJAC-Bericht mit einer Auswertung von interner Korrespondenz der involvierten syrischen Behörden (SJAC 3.5.2023) gingen Berichte verschiedener Stellen davon aus, dass syrische Sicherheitsdienste in der Lage sind, politische Aktivitäten im Exil auszuspionieren und darüber zu berichten (ÖB Damaskus 29.9.2020; vgl. TWP 2.6.2019, EASO 6.2021). Dabei erstreckt sich die Überwachung über die Länder mit großen Zahlen an SyrerInnen hinaus rund um die Welt (SJAC 3.5.2023). Nach Angaben von Jusoor for Studies haben die syrischen Behörden Agenten und Informanten in Asylstaaten, unter anderem in die EU und der Türkei entsandt, die Syrer in der Diaspora beobachten und wöchentlich über sie berichten. Diese Agenten und Informanten arbeiten für verschiedene Abteilungen der Sicherheitsbehörden: die 4. Division des Sicherheitsbüros, die Abteilung 279 des Allgemeinen Nachrichtendienstes, die Abteilung 297 der Abteilung für militärische Aufklärung, das Direktorat für den Geheimdienst der Luftwaffe und die Abteilung 300 (EASO 6.2021). In Staaten mit etablierter syrischer diplomatischer Präsenz, wie die Türkei und der Libanon, werden besonders große Ressourcen für die Überwachung eingesetzt. In der Türkei werden auch die Kreise der politischen Exilopposition unterwandert, z. B. indem sich in einem dokumentierten Fall ein Agent als Unterstützer der Opposition ausgab, um Informationen über diese zu sammeln (SJAC 3.5.2023).
Trotz der Konkurrenz zwischen den Organisationen des syrischen Sicherheitsapparats koordinieren sich diese, wenn notwendig, zwecks Sammlung von Informationen über für sie interessante Personen. Gleichwohl ist z. B. ein Fall aus Zypern bekannt, wo ein Oppositioneller es schaffte, aufgrund seiner Rolle als vermeintlicher Informant für das Büro des syrischen Militärattachés weiterhin offen seinen regimegegnerischen Aktivitäten nachzugehen (SJAC 3.5.2023).
Syrische Sicherheitsdienste setzen auch Drohungen gegen in Syrien lebende Familienmitglieder ein, um Druck auf Verwandte im Ausland auszuüben, die z.B. in Deutschland leben (AA 13.11.2018): Seit 2011 sind in Syrien lebenden Familien von im Ausland aufhältigen oppositionellen Ziele. Dabei taucht in schriftlichen Anweisungen des Sicherheitsapparats an ihre MitarbeiterInnen der Befehl 'das Notwendige zu tun' auf. Diese Anweisung erlaubt den Mitgliedern des Sicherheitsapparats bei der Ausführung von Befehlen den Einsatz einer Bandbreite an Maßnahmen bis hin zu tödlicher Gewalt nach ihrem Ermessen (SJAC 3.5.2023). Auch Gewalt und Drohungen gegen Personen außerhalb Syriens werden berichtet, darunter Fälle, in denen SyrerInnen zur Rückkehr nach Syrien mit dem Ziel politischer Repressalien gegen sie gezwungen wurden (USDOS 20.3.2023).
Einem Syrien-Experten des Europäischen Friedensinstituts zufolge werden Syrer in der Diaspora auf zwei Arten überwacht: informell und formell. Die formelle Art der Überwachung besteht darin, dass staatliche Einrichtungen wie Botschaften und Sicherheitsdienste Informationen über im Ausland lebende Dissidenten sammeln einschließlich durch Überwachung von Social-Media-Konten und Social-Media-Gruppen im Ausland lebender Syrerinnen und Syrern. Bei der informellen Überwachung melden Einzelpersonen andere Personen an die syrischen Behörden. Diese Informanten sind nicht offiziell bei den Sicherheitsbehörden angestellt, melden aber andere Personen, um der Regierung gegenüber loyal zu erscheinen. Auf diese Weise versuchen sie, mögliche negative Aufmerksamkeit von sich abzuwenden (EASO 6.2021). Laut Syrien-Experten Prof. Uğur Ümit Üngör war ein Auslandsaufenthalt schon vor dem Krieg ein Grund für Misstrauen. SyrerInnen mit einem europäischen Pass nach der Asylantragstellung und mit einer bewiesenen regimeloyalen Haltung können seiner Erfahrung nach sehr nützlich für das Regime sein. Bei manchen Fällen stellt sich die Frage, ob das Regime ihre Flucht erlaubt hat. Z. B. gab es in den Niederlanden einen derartigen Fall, wo der Betreffende syrische Gemeinschaften ausspionierte, und sich zurück in Syrien mit diversen offiziellen Funktionären fotografieren ließ, bevor er wieder in die Niederlande zurückkehrte, wo dann ein Verfahren gegen ihn eingeleitet wurde (Üngör 15.12.2021).
Die syrische Regierung sammelt nicht nur Informationen über oppositionelle Aktivitäten im Ausland, sondern verwendet diese auch gegen diese, was Fragen zur Sicherheit zurückkehrender SyrerInnen aufwirft (SJAC 3.5.2023). Die Informationen, welche die syrischen Botschaften sammeln, sind detailliert und genau, einschließlich Details, die eine Identifizierung von Rückkehrenden und ihrer vorhergehenden Aktivitäten im Ausland erlaubt (Enab 5.5.2023). Die Gefährdung eines Rückkehrers im Falle politischer Aktivitäten im Exil hängt jedoch von den Aktivitäten selbst, dem Profil der Person und vielen anderen Faktoren ab, wie dem Hintergrund der Familie und den der Regierung zur Verfügung stehenden Ressourcen (STDOK 8.2017). Politische und humanitäre Aktivisten, die erwägen, nach Syrien zurückzukehren, sind nach Ansicht von Jusoor for Studies aufgrund der Auslandsüberwachung großen Gefahren ausgesetzt (EASO 6.2021).
Es gibt nicht nur eine Unzahl weiter zurückliegender Fälle, bei denen Personen am Flughafen Damaskus aufgrund von Informantenberichten aus dem Ausland verhaftet wurden, sondern auch in der Gegenwart: So wurde bereits eine Anzahl an RückkehrerInnen in Syrien verhaftet und gezwungen, Informationen über ihre Familienmitglieder bekannt zu geben. Andere wurden auch zwecks Erhalt von Informationen über oppositionelle Aktivitäten im Ausland gefoltert (SJAC 3.5.2023).
Unterstützung von nach dem Prinzip der universellen Jurisdiktion angeklagten ehemaligen Regimemitarbeitern und das Vorgehen gegen syrische ZeugInnen
Die Wiedereröffnung von syrischen Botschaften schafft auch Hindernisse für Gerichtsverfahren im Rahmen universeller Jurisdiktion. Überwachungen sind eine zusätzliche Hürde für die Behörden und die Menschenrechtsorganisationen bei den Gerichtsverfahren in Europa, denn ZeugInnen werden eingeschüchtert und mit ihren Familien (in Syrien) erpresst: So wurden im Fall eines in Deutschland wegen Mordes, Folter und sexuellen Missbrauchs in syrischen Militärspitälern angeklagten Arztes die Angehörigen der Zeugen in Syrien bedroht. Aufgrund der Gefahr für die Angehörigen im Regimegebiet Syriens haben viele ZeugInnen die Aussage verweigert, weil der Angeklagte sonst ihre Namen erfahren hätte. Ein Syrer, der im Verdacht steht, Zeugen in diesem Gerichtsverfahren bedroht zu haben, wurde von Norwegen an Deutschland ausgeliefert. Der angeklagte Arzt erhielt zudem von einem syrischen Botschaftsmitarbeiter Angebote zur Hilfe bei der Flucht nach Syrien (SJAC 3.5.2023). […]
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt, den Gerichtsakt und die Einvernahme des Beschwerdeführers im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 02.09.2024.
Zur Person des Beschwerdeführers
Die Feststellungen zum Alter, zur Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- sowie Religionszugehörigkeit des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen diesbezüglich gleichbleibenden Angaben im Verfahren.
Die Sprachkenntnisse des Beschwerdeführers beruhen auf seinen Ausführungen in der Erstbefragung sowie dem Umstand, dass die Erstbefragung sowie die Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem BFA unter der Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch durchgeführt werden konnte und sich der Beschwerdeführer vor dem BFA mit der Einvernahme in arabischer Sprache einverstanden erklärte.
Die Feststellungen zum schulischen Werdegang des Beschwerdeführers bzw. seiner Berufserfahrung im Libanon ergeben sich aus den nachvollziehbaren Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und sind vor dem Hintergrund der bestehenden sozioökonomischen Strukturen in Syrien plausibel. Hinsichtlich der Dauer seines Schulbesuches machte der Beschwerdeführer vor der Behörde und dem Verwaltungsgericht unterschiedliche Angaben, weshalb die genaue Dauer seines Schulbesuches nicht festgestellt werden konnte. Fest steht lediglich, dass der Beschwerdeführer entsprechend seiner gleichbleibenden Angaben die Schule nicht abgeschlossen hat.
Dass der Beschwerdeführer aus dem Dorf XXXX , in der Nähe der Stadt XXXX in der Provinz Deir-ez-Zor stammt, ergibt sich aus dem diesbezüglich gleichbleibenden Vorbringen während des gesamten Verfahrens.
Die Machtverhältnisse im Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers werden im Länderinformationsblatt sowie der aktuellen Karte unter https://syria.liveuamap.com/ im Wesentlichen übereinstimmend dargestellt. Durch Einsichtnahme in die aktuell verfügbare Karte hat sich das Bundesverwaltungsgericht davon vergewissert, dass die Feststellungen bezogen auf den Herkunftsstaat dem derzeitig verfügbaren Informationsstand entsprechen.
Die Feststellung zum Aufenthalt der Familie des Beschwerdeführers ergibt sich aus seinen diesbezüglich gleichlautenden Angaben im Verfahren.
Dass der Beschwerdeführer im Jahr 2014 Syrien verlassen hat und bis kurz vor seiner Asylantragstellung im Libanon gelebt und gearbeitet hat, ergibt sich aus seinen diesbezüglich gleichlautenden und glaubhaften Angaben im Verfahren.
Was die Ausreise des Beschwerdeführers in den Libanon betrifft, hat er bei seiner Erstbefragung angegeben, illegal aus Syrien ausgereist zu sein. Diese Angabe hat er auf ausdrückliche Nachfrage vor dem BFA widerholt. Als vor dem Verwaltungsgericht mit dem BF der Verbleib seines Personalausweises erörtert wurde, gab dieser an, dass er mit diesem und der Bestätigung über seinen Aufschub vom Militärdienst aus Syrien ausgereist sei und bestätigte auf Nachfrage, dass er legal aus Syrien ausgereist sei. Darauf hingewiesen, dass er bisher im Verfahren ausdrücklich angegeben hatte, illegal ausgereist zu sein, gab der Beschwerdeführer an, dass er damit gemeint habe, illegal im Libanon aufhältig gewesen zu sein, was jedoch seiner zuvor getätigten Angabe, dass er legal in den Libanon eingereist sei, widerspricht. Schließlich gab der Beschwerdeführer an, dass er deswegen illegal im Libanon aufhältig gewesen sei, weil er sich keine libanesischen Dokumente habe ausstellen lassen, um sogleich jedoch auszuführen, dass er zwar Syrien am syrischen Grenzposten legal verlassen, jedoch in den Libanon illegal eingereist zu sein. Der Rechtsvertreter gab in diesem Zusammenhang an, dass der Beschwerdeführer einem Kollegen bei der Bescheidberatung gegenüber angegeben habe, dass er legal in den Libanon eingereist sei. Dieses fast schon als willkürlich zu bezeichnende Antwortverhalten des Beschwerdeführers beeinträchtigte seine Glaubhaftigkeit insgesamt, wobei nicht unberücksichtigt werden soll, dass der Beschwerdeführer noch am Beginn der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht bekräftigt hatte, bei Asylantragstellung sowie vor dem BFA wahrheitsgemäße Angaben getätigt zu haben.
In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass der oben aufgezeigte Widerspruch bei den Angaben des Beschwerdeführers nicht der einzige ist. So hat der Beschwerdeführer bei Asylantragstellung angegeben, dass sich sein syrischer Personalausweis bei seinem Freund in der Türkei befände und er sich dieses Dokument beschaffen könne. In weiterer Folge legte der Beschwerdeführer noch vor seiner Einvernahme bei der Behörde ein Foto einer syrischen ID-Karte vor, wobei auffällt, dass die beiden Fotos eine Person unterschiedlichen Alters zeigen, sodass nicht klar ist, um was für ein Dokument es sich handelt. In der mündlichen Verhandlung gab der Beschwerdeführer auf die Frage, ob er seinen Personalausweis schon beigeschafft habe, an, dass dieser auf dem Postweg vom Libanon nach Österreich verloren gegangen sei. Als dem Beschwerdeführer seine Aussage, dass sich der Personalausweis in der Türkei bei einem Freund befände, vorgehalten wurde, erklärte er diese Falschaussage mit seiner Nervosität und dem Umstand, dass seine Befragung in der Nacht stattgefunden habe. Weiters brachte er vor, dass er dies so gesagt habe, weil er vorgehabt habe, sich den Personalausweis vom Libanon zunächst in die Türkei und von dort nach Österreich schicken zu lassen und begründete dies damit, dass dies kostengünstiger wäre. Aus dem Libanon habe die Karte nicht mitgenommen, weil er ohne Dokumente in die Türkei mit dem Schiff gefahren sei. Darauf hingewiesen, dass diese Angaben nicht nachvollziehbar seine ursprüngliche Falschangabe erklären würde, erklärte der Beschwerdeführer schließlich lapidar: „So ist es mir damals eingefallen anzugeben.“ Nachdem der Beschwerdeführer wie bereits zuvor angeführt, stets die Richtigkeit seiner Angaben nach Rückübersetzung bekräftigt hatte, wird durch seine zugestandenen Falschangaben in an sich nicht verfahrenswesentlichen Details insgesamt seine Glaubhaftigkeit erneut in Mitleidenschaft gezogen und ziehen auch seine übrigen nicht zur Gänze nachvollziehbaren Angaben, wie zum Beispiel nach dem Verbleib seines Militärbuches oder der Bestätigung über den Aufschub vom Militärdienst, in Zweifel.
Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer gesund und arbeitsfähig ist, gründet sich auf seinem diesbezüglichen Vorbringen vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer strafgerichtlich unbescholten ist, ergibt sich aus dem vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Strafregisterauszug.
Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer Syrien nicht aufgrund einer glaubwürdigen ihn persönlich unmittelbar konkret betreffenden asylrelevanten Bedrohung verlassen hat, bzw. dieser im gesamten Verfahren es nicht glaubwürdig machen konnte, dass dieser im Falle einer Rückkehr nach Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ihn unmittelbar konkrete asylrelevante Verfolgung oder Bedrohung im Sinne des § 3 AsylG zu befürchten hätte, ergibt sich aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers im Verfahren beim BFA sowie insbesondere auch aufgrund der Angaben anlässlich der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Zusammenschau mit den Länderfeststellungen und sämtlichen Ausführungen des Beschwerdeführers selbst bzw. dessen Vertretung in der Beschwerdeschrift bzw. im Beschwerdeverfahren.
Das Vorbringen des Beschwerdeführers war aus folgenden Gründen in Bezug auf das Bestehen einer diesen unmittelbar und konkret betreffenden Gefährdung iSd § 3 AsylG, als nicht glaubwürdig zu qualifizieren:
Zur vorgebrachten Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund einer drohenden Einberufung zum Militärdienst:
Der Beschwerdeführer gab bei der Asylantragstellung an, dass er Syrien wegen des Kriegs und der Wirtschaftskrise verlassen habe. Vor dem Bundesamt gab der Beschwerdeführer an, dass er Syrien verlassen habe, weil er im Sommer 2014 erlebt habe, wie ein vor ihm fahrender Bus auf eine Mine gefahren sei und er zudem auf dem Weg ein Schusswechsel zwischen unbekannten Gruppierungen stattgefunden habe. Ausdrücklich gab er an, dass er keine weiteren Fluchtgründe habe. Außerdem gab der BF an, dass er, als er Syrien im Herbst 2014 verließ bis März 2015 einen Aufschub vom Militärdienst gehabt hatte. Wenn er nun nach Syrien zurückkehren würde, müsse er seinen Militärdienst leisten. Damit würde er zu einem Verbrecher werden, weil helfen müsste, andere Menschen zu töten. Auf die Frage, warum er es ablehne Militärdienst zu leisten antwortete der Beschwerdeführer „Soll ich mein Volk töten? In unserem Gebiet gibt es iranische und russische Milizen.“
In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 02.09.2024 wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben, seine ihm nochmals vorgetragenen Fluchtgründe nämlich, die schlechte Sicherheitslage und dass er nicht Wehrdienst leisten wolle, zu ergänzen. Dazu erklärte der Beschwerdeführer Folgendes:
„Ja, ich habe damals auch gesagt, dass ich nicht will, ein Verbrecher sein zu müssen: Damit meinte ich und meine heute auch, dass ich mich dem Regime nicht anschließen möchte. Wäre ich zum Militärdienst gegangen, wäre ich gezwungen, unschuldige Zivilisten zu töten. Das will ich aber nicht, ich will kein Verbrecher sein. Ich bin gegen Baschar Al Assad. Er ist ein Diktator, der gegen Menschenrechte kämpft. Ich bin gegen ihn und will keine Zivilisten töten“
und gab auf Nachfrage, ob er etwas über die Wehrersatzgebühr für im Ausland lebende Syrer wisse an:
„1. Ich habe kein Geld. 2. Ich will nicht da Regime von Baschar Al Assad unterstützen, weil es mir bekannt ist, was er mit dem Geld macht. Baschar Al Assad wird damit Waffen kaufen und meine Landsleute, seine eigene Bevölkerung, Zivilisten töten. Deswegen will ich ihn nicht unterstützen. Es ist mir außerdem bekannt, auch wenn man sich freikauft, ist man in der Praxis nicht wirklich vom Militärdienst befreit. […]“
Aus diesen floskelhaften Äußerungen ergibt sich jedoch nicht, dass der Beschwerdeführer eine glaubwürdig verinnerlichte politische Überzeugung gegen die syrische Zentralregierung oder gegen den Dienst an der Waffe an sich aufweist. Denn der BF hat vor dem BFA angegeben, dass er in Syrien niemals politisch tätig war, nicht vorbestraft, inhaftiert oder Probleme mit den Behörden gehabt habe. In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht ergab sich sodann, zwischen Rechtsvertreter und Beschwerdeführer folgender Dialog:
„RV: Sie sagten bei der Vorbereitung zu mir, dass Sie an Demos teilgenommen haben. Wo und wann war das?
P: Das war damals, als ich noch Schüler war. Ich habe in den befreiten Gebieten heimlich gegen das Regime demonstriert. Heimlich, weil ich vorsichtig war. Ich wollte nicht von Seiten des Regimes festgenommen werden, weil ich in das Regimegebiet eintreten musste. Ich habe aber auch einmal hier in Wien demonstriert.“
Dazu fällt zunächst auf, dass der Beschwerdeführer im gesamten Verfahren von sich aus eine gegen die syrische Regierung gerichtete oppositionelle Haltung oder die Teilnahme an Demonstrationen niemals vorgebracht hat, sondern es für dieses Vorbringen gleichsam einer Suggestivfrage seines Rechtsvertreters bedurfte. Aus der Antwort selbst ergibt sich jedoch, ebenfalls keine oppositionelle Haltung hatte, weil der Beschwerdeführer, obwohl aus einem „befreiten“ Gebiet stammend, nur „heimlich“ demonstrierte, um gerade nicht ins Blickfeld der syrischen Regierung zu geraten. Auch die Vorgangsweise des Beschwerdeführers, aus einem Gebiet, das nicht unter Kontrolle der Zentralregierung steht, mit 18 Jahren zur Musterung der syrischen Regierungsarmee nach Deir-ez-Zor zu fahren, spricht gerade nicht dafür, dass der Beschwerdeführer eine verinnerlichte politische Überzeugung gegen die syrische Zentralregierung oder gegen den Dienst an der Waffe an sich aufweist (vgl Protokoll über die mündliche Verhandlung Seite 7 Mitte)
Die Feststellungen zum verpflichtenden Wehrdienst in Syrien gründet sich auf das aktuelle Länderinformationsblatt.
Wie sich aus den Länderfeststellungen ergibt, ist für männliche syrische Staatsbürger im Alter zwischen 18 und 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend, wobei Ausnahmen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind, bestehen. Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert, wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden. Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konflikts erhöht und hat auch die syrische Regierung das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen. Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch.
Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer, der Syrien im Alter von 19 Jahren verlassen hat, seinen Grundwehrdienst in der syrischen Armee noch nicht abgeleistet hat, ergibt sich aus seinen diesbezüglich nachvollziehbaren und glaubwürdigen Angaben im Verfahren.
Der nunmehr 29-jährige Beschwerdeführer befindet sich somit aktuell im wehrpflichtigen Alter und er hat seinen Grundwehrdienst bislang auch noch nicht abgeleistet. Es ist jedoch nicht glaubwürdig, dass der Beschwerdeführer die Ableistung des Wehrdienstes aus innerer/politischer Überzeugung ablehnt. Er weist im Hinblick darauf keine glaubwürdige, verinnerlichte politische Überzeugung gegen die syrische Zentralregierung oder gegen den Dienst an der Waffe an sich, auf. Im konkreten Einzelfall des Beschwerdeführers haben sich keine glaubwürdigen Anhaltspunkte ergeben, welche auf eine Verweigerung des Wehrdienstes bei der syrischen Armee schließen lassen würde. Zwar gab der Beschwerdeführer im gesamten Verfahren stets an, nicht Wehrdienst leisten zu wollen, jedoch ist dieses Vorbringen allein nicht geeignet, eine oppositionelle Haltung gegenüber dem syrischen Regime glaubhaft zu machen.
Insgesamt ist dem Vorbringen des Beschwerdeführers eine gegen die syrische Zentralregierung gerichtete, verinnerlichte politische Gesinnung nicht zu entnehmen. Aus den Schilderungen des Beschwerdeführers ergibt sich vielmehr, dass er sich grundsätzlich nicht an Kämpfen in Syrien beteiligen wolle, zumal in seinem Herkunftsgebiet im Jahr 2014 iranische und russische Milizen mit Regierungstruppen kämpften. Daraus ergibt sich jedoch gerade keine politisch-oppositionelle Gesinnung des Beschwerdeführers. Eine tiefer liegende, über die mit den typischen Gefahren eines Krieges hinausgehende und insofern seinem Wesen immanente verweigerungsbedingende (etwa) politisch-pazifistische oder religiöse Überzeugung konnte der Beschwerdeführer damit nicht glaubhaft machen. Somit ist aber davon auszugehen, dass im Falle einer hypothetischen Rekrutierung durch das Regime die Ableistung des Wehrdienstes nicht aus einer inneren politischen Überzeugung verweigern würde.
Aber selbst wenn die Wehrdienstverweigerung hypothetisch als glaubwürdig erachtet und den Feststellungen zugrunde gelegt werden würde, so stellt die Wehrdienstverweigerung nicht das einzige Mittel dar, der Ableistung des Wehrdienstes und der damit allenfalls verbundenen Beteiligung an Kriegsverbrechen zu entgehen:
Denn wie sich aus den oben zitierten Länderberichten ergibt, erlaubt das syrische Militärdienstgesetz es syrischen Männern im Militärdienstalter (18-42 Jahre) und mit Wohnsitz im Ausland, eine Gebühr ("badal an-naqdi") zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit und nicht wieder einberufen zu werden. Bis 2020 konnten Männer, die sich mindestens vier aufeinanderfolgende Jahre außerhalb Syriens aufgehalten haben, einen Betrag von USD 8.000,- zahlen, um vom Militärdienst befreit zu werden, wobei noch weitere Konsulargebühren anfallen. Im November 2020 wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 31 die Dauer des erforderlichen Auslandsaufenthalts auf ein Jahr reduziert und die Gebühr erhöht. Das Wehrersatzgeld ist nach der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 gestaffelt nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts und beträgt USD 10.000,- (ein Jahr), USD 9.000,- (zwei Jahre), USD 8.000,- (drei Jahre) bzw. USD 7.000,- (vier Jahre). Bei einem Aufenthalt ab fünf Jahren kommen pro Jahr weitere USD 200,- Strafgebühr hinzu. Laut der Einschätzung verschiedener Organisationen dient die Möglichkeit der Zahlung des Wehrersatzgeldes für Auslandssyrer maßgeblich der Generierung ausländischer Devisen. Für jedes Jahr, in welchem ein Wehrpflichtiger weder eine Befreiungsgebühr bezahlt, noch den Wehrdienst aufschiebt oder sich zu diesem meldet, fallen zusätzliche Gebühren an. Auch Männer, die Syrien illegal verlassen haben, können Quellen zufolge durch die Zahlung der Gebühr vom Militärdienst befreit werden. Diese müssen ihren rechtlichen Status allerdings zuvor durch einen individuellen "Versöhnungsprozess" bereinigen.
Informationen über den Prozess der Kompensationszahlung können auf den Webseiten der syrischen Botschaften in Ländern wie Deutschland, Ägypten, Libanon und der Russischen Föderation aufgerufen werden. Bevor die Zahlung durchgeführt wird, kontaktiert die Botschaft das syrische Verteidigungsministerium, um eine Genehmigung zu erhalten. Dabei wird ermittelt, ob die antragstellende Person sich vom Wehrdienst freikaufen kann. Die syrische Botschaft in Berlin gibt beispielsweise an, dass u.a. ein Reisepass oder Personalausweis sowie eine Bestätigung der Ein- und Ausreise vorgelegt werden muss, welche von der syrischen Einwanderungs- und Passbehörde ausgestellt wird ("bayan harakat"). So vorhanden, sollten die Antragsteller auch das Wehrbuch oder eine Kopie davon vorlegen. Offiziell ist der Prozess zur Bezahlung der Befreiungsgebühr relativ einfach, auch wenn er in Wirklichkeit sehr lange dauert.
Wie den Länderfeststellungen weiters zu entnehmen ist, werden Personen, die die Befreiungsgebühr entrichtet haben und offiziell vom Wehrdienst befreit sind, im Falle einer Rückkehr nach Syrien auch nicht eingezogen. In diesem Zusammenhang wird nicht verkannt, dass – ausgehend von den herangezogenen Länderberichten – die Handhabung von Befreiungsgründen in der Praxis teils von Willkür geprägt sei und die Frage, ob die Entrichtung der Gebühr tatsächlich zu einer Befreiung von der Wehrpflicht führt, auch vom Profil des Betroffenen abhängig sein könne. Einer Quelle zufolge schütze auch der Freikauf vom Wehrdienst nicht davor manchmal sogar Jahre danach trotzdem eingezogen zu werden. Den zitierten Quellen ist insgesamt aber keine systematische und generelle Praxis einer Einberufung bzw. Einziehung von Personen, die von der Bezahlung einer Wehrersatzgebühr Gebrauch machen, zu entnehmen, weshalb auch eine dem Beschwerdeführer – trotz Zahlung einer Befreiungsgebühr – drohende Einziehung zum Militärdienst der syrischen Armee zwar nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, aber nicht mit der erforderlichen maßgeblichen Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist.
In Bezug auf die Verweisquelle aus dem Jahr 2017, wonach es in Einzelfällen in der Vergangenheit trotz Freikaufs von der Wehrpflicht zu einer Einziehung gekommen sei, ist weiters festzuhalten, dass die Rekrutierungspraxis am Höhepunkt des syrischen Bürgerkriegs eine deutliche „aggressivere“ war, als sie es derzeit ist. Dies ist vor allem auf das überwiegende Ende von breitflächigen Kampfhandlungen nach Aushandlung mehrerer Abkommen zwischen der syrischen Regierung und oppositionellen Kräften unter Vermittlung der russischen Regierung ab Anfang des Jahres 2018 zurückzuführen. Es wird dabei nicht verkannt, dass nach wie vor ein hoher Personalbedarf der syrischen Armee besteht, jedoch ist den Länderinformationen nicht zu entnehmen, dass dieser angesichts des nun überwiegend statischen Konflikts, der sich fast ausschließlich an den Grenzen der unter Kontrolle der von der HTS bzw. FSA/SNA gehaltenen Gebiete in Nordwestsyrien stattfindet, auch nur annähernd so hoch ist, wie auf dem Höhepunkt des syrischen Bürgerkrieges in den Jahren 2014 bis 2017.
Dass es – wie den Länderberichten weiters zu entnehmen ist – in Einzelfällen notwendig sein könnte, im Fall, dass ein Einreisender an einen korrupten Grenzbeamten gerät, zusätzlich trotz erfolgter Befreiung Bestechungsgelder zu bezahlen, ändert an dieser Einschätzung nichts, weil die Einforderung von (illegalen) Bestechungsgeldern durch korrupte syrische Beamte Ausfluss der allgemein in Syrien weit verbreiteten Korruption in der öffentlichen Verwaltung ist.
Im konkreten Fall des Beschwerdeführers brachte dieser im Verfahren vor der belangten Behörde vor, das er zuerst das Geld für die befreiungsgebühr nicht gehabt habe, aber derzeit das Regime nicht mit Geld unterstützen wolle. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht bekräftigte der Beschwerdeführer diese Haltung. In Anbetracht des Umstandes, dass der Beschwerdeführer, wie er selbst angibt, die gesamte Zeit seines Aufenthaltes von acht Jahren im Libanon gearbeitet hat, seine Schleppung nach Europa € 4.500,- kostete, erscheint es nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer die Befreiungsgebühr nicht hätte aufbringen können. Unabhängig von der Person des Beschwerdeführers ist in diesem Kontext aber ganz allgemein darauf hinzuweisen, dass subsidiär Schutzberechtigte vollen Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt haben und ihnen daher die grundsätzliche Möglichkeit offensteht, von dieser Arbeitsberechtigung auch Gebrauch zu machen und somit durch eigenes Erwerbseinkommen die Wehrersatzgebühr in absehbarer Zeit zu erwirtschaften, um einen Freikauf von der Wehrpflicht zu realisieren und damit die Verhältnisse zum Herkunftsstaat zu regeln. Im Übrigen hat der Beschwerdeführer angegeben, dass er selbst aktuell, so wie auch sein im Libanon verbliebener Bruder seine Familie in Syrien finanziell unterstützt, weshalb davon auszugehen ist, dass auch die angesprochene Gebühr aufgebracht werden kann.
Im konkreten Fall des Beschwerdeführers sind auch keine individuellen Gründe erkennbar, die es wahrscheinlich erscheinen ließen, dass ihm die Entrichtung einer Wehrersatzgebühr verweigert werden würde bzw. dass er trotz der Entrichtung einer solchen zum Wehrdienst eingezogen werden würde. So haben sich im Verfahren keine – glauwürdigen – Anhaltspunkte ergeben, dass dem Beschwerdeführer von Seiten der syrischen Regierung eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde.
Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass der Beschwerdeführer die Ableistung des Wehrdienstes nicht grundsätzlich ablehnt. Er weißt keine glaubwürdige, verinnerlichte politische Überzeugung gegen die syrische Zentralregierung oder gegen den Dienst an der Waffe an sich, auf. Ihm wird daher im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine oppositionelle politische Gesinnung durch das syrische Regime unterstellt. Aber selbst wenn die Wehrdienstverweigerung hypothetisch als glaubwürdig erachtet und den Feststellungen zugrunde gelegt werden würde, so steht dem Beschwerdeführer die Möglichkeit durch die Leistung einer Befreiungsgebühr sich dauerhaft vom Wehrdienst freizukaufen.
Schließlich ist ergänzend auszuführen, dass dem Beschwerdeführer auch aufgrund seiner Asylantragstellung keine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde. Demnach ist abschließend anzumerken, dass den getroffenen Feststellungen zur Lage in Syrien nicht entnommen werden kann, dass jedem Rückkehrer, der illegal ausgereist ist und/oder im Ausland einen Asylantrag gestellt hat, eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird. Den Länderfeststellungen zufolge hängt die Behandlung von Menschen, die nach Syrien einreisen, stark vom Einzelfall ab, wobei es keine zuverlässigen Informationen über den Kenntnisstand der syrischen Behörden über einzelne Rückkehrende gibt. Ferner ist es schwierig, Informationen über die Situation von Rückkehrenden in Syrien zu erhalten. Doch sind die syrische Regierung und ihr Sicherheitsapparat immer wieder gegen Personen vorgegangen, die sich abweichend oder oppositionell geäußert haben, unter anderem durch willkürliche Inhaftierung, Folter und Schikanen gegen Kritiker und ihre Angehörigen. Insbesondere für Personen, die sich in der Vergangenheit (system-)kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben, besteht eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden. Personen, die das Land verlassen haben, werden mitunter als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition und/oder bewaffneter Gruppen sowie als „Verräter“ angesehen. Grundsätzlich sind Personen bei der Rückkehr nach Syrien gefährdet, wenn diesen eine Regimegegnerschaft unterstellt wird. Zu als oppositionell oder regierungsfeindlich angesehenen Personen gehören einigen Quellen zufolge unter anderem medizinisches Personal, insbesondere wenn die Person diese Tätigkeit in einem von der Regierung belagerten oppositionellen Gebiet ausgeführt hat, AktivistInnen sowie JournalistInnen, die sich mit ihrer Arbeit gegen die Regierung engagieren und diese offen kritisieren oder Informationen oder Fotos von Geschehnissen in Syrien, wie Angriffe der Regierung, verbreitet haben, sowie allgemein Personen, die offene Kritik an der Regierung üben. Auch der Umstand, dass eine Person an einem Ort lebt oder aus einem Ort kommt, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, kann das Misstrauen des Kontrollpersonals wecken. Schließlich geht aus den Länderberichten hervor, dass es nach wie vor willkürliche Verhaftungen und andere Repressionen gegenüber Rückkehrenden gibt und verschiedene Quellen immer wieder von derartigen Einzelfällen berichten. Allerdings lässt sich daraus nicht ableiten, dass Rückkehrende per se als politisch oppositionell angesehen würden oder der weitaus überwiegende Teil aller Rückkehrenden systematischen Repressionen ausgesetzt wäre.
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass die Schwelle, als oppositionell betrachtet zu werden, in Syrien allgemein niedrig ist sowie dass Personen aus unterschiedlichen Gründen und teilweise willkürlich als regierungsfeindlich angesehen werden. Es übersieht auch nicht, dass in Syrien ganz bestimmte Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder wahrgenommenen bzw. zugeschriebenen politischen Meinung oder Zugehörigkeit direkt angegriffen werden oder ihnen auf andere Weise Schaden zugefügt wird. In Bezug auf den Beschwerdeführer haben sich im Verfahren jedoch keine Hinweise darauf ergeben, dass allgemeine Berichte und darauf basierende Gefährdungsmomente im gegenständlichen Fall auf die konkrete Situation des Beschwerdeführers anzuwenden sind. Insbesondere entspricht der Beschwerdeführer auch keinem Risikoprofil (wie zum Beispiel JournalistInnen, AktivistInnen, MedizinerInnen, die im von der Regierung besetzten Oppositionsgebiet gearbeitet haben), das vermehrt oder mit höherer Wahrscheinlichkeit Repressalien ausgesetzt ist, und – wie bereits erörtert – konnte er auch nicht glaubwürdig darlegen, dass ihm aus einem anderen Grund eine Verfolgung aufgrund einer ihm unterstellten oppositionellen Gesinnung droht. Insbesondere folgt aus der allgemeinen Möglichkeit, dass eine Person aus einem Ort kommt, der von der Opposition kontrolliert wurde, nicht, dass das Misstrauen des Kontrollpersonals systematisch geweckt wird und somit auch nicht mit der notwendigen, maßgeblichen Wahrscheinlichkeit.
Ebenso wenig genügt eine Asylantragstellung in Österreich für die Asylzuerkennung, weil nicht anzunehmen ist, dass die Antragstellung den syrischen Behörden bekannt ist, zumal es den österreichischen Behörden untersagt ist, diesbezüglich Daten an die syrischen Behörden weiterzuleiten. Im gegenständlichen Verfahren sind auch keine Anhaltspunkte für die Annahme hervorgekommen, dass dem syrischen Staat die Antragstellung entgegen dem Verbot oder durch sonstige Umstände tatsächlich bekannt geworden wäre.
Zusammenfassend ist es daher nicht maßgeblich wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer unmittelbar und konkret persönlich gefährdet ist, in ganz Syrien unmittelbar und konkret in das Blickfeld der syrischen Regierung zu geraten und von dieser etwa wegen einer ihn zugeschriebenen oppositionellen Gesinnung asylrelevant verfolgt zu werden.
Zur maßgeblichen Situation in Syrien:
Betreffend die Lage im Herkunftsstaat wurden die folgenden Quellen konsultiert:
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Version 10, veröffentlicht am 14.03.2024 (LIB).
Live Universal Awareness Map Syrien, Stand 31.08.2024, https://syria.liveuamap.com/ (Liveuamap)
The Carter Center, Exploring Historical Control in Syria, Stand 06.09.2024, https://www.cartercenter.org/news/multimedia/map/exploring-historical-control-in-syria.html
Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.
3. Rechtliche Beurteilung
Zu A) Abweisung der Beschwerde:
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185, mwN).
Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie). Ob dies der Fall ist, haben die Asylbehörde bzw. das Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen (vgl. VwGH 16.12.2021, Ra 2021/18/0387, mwN).
Das Asylverfahren bietet nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen. Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (vgl. VwGH 02.09.2019, Ro 2019/01/0009, mwN).
Schon nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht. Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist also, dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen steht (vgl. VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001, mwN).
Die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung ist auf der Grundlage positiv getroffener Feststellungen von Seiten des erkennenden Verwaltungsgerichts vorzunehmen, aber im Fall der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können derartige positive Feststellungen vom Verwaltungsgericht nicht getroffen werden (vgl. VwGH 13.01.2022, Ra 2021/14/0386, mwN).
Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass ein Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung („Vorverfolgung“) für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn der Asylwerber daher im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, ob er im Zeitpunkt der Entscheidung (der Behörde bzw. des Verwaltungsgerichts) weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108, mwN).
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 10.04.2020, Ra 2019/19/0415, mwN).
Der Verwaltungsgerichtshof hat auch ausgesprochen, dass die Schutzfähigkeit und -willigkeit der staatlichen Behörden grundsätzlich daran zu messen ist, ob im Heimatland wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, vorhanden sind und ob die schutzsuchende Person Zugang zu diesem Schutz hat. Dabei muss auch bei Vorhandensein von Strafnormen und Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall geprüft werden, ob die revisionswerbenden Parteien unter Berücksichtigung ihrer besonderen Umstände in der Lage sind, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben (vgl. VwGH 14.04.2021, Ra 2020/18/0126, mwN).
Auch stellt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrechtlich relevante Verfolgung dar, sondern könnte nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen. Wie der Verwaltungsgerichtshof zur möglichen Asylrelevanz von Wehrdienstverweigerung näher ausgeführt hat, kann auch der Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen – wie etwa der Anwendung von Folter – jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen kann auch eine „bloße“ Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein (vgl. ausführlich VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108, Rn. 27 ff; 21.05.2021, Ro 2020/19/0001, Rn. 19, mwN; siehe auch VwGH 19.06.2019, Ra 2018/18/0548, wonach es für die Frage eines möglichen Asylanspruchs entscheidend ist, ob einem Beschwerdeführer bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat angesichts des in den Länderfeststellungen ausgewiesenen erhöhten Rekrutierungsdrucks der syrischen Armee und der besonderen Gefährdung von einreisenden Männern im wehrfähigen Alter mit maßgebender Wahrscheinlichkeit eine Einziehung zum Wehrdienst droht; vgl. überdies VwGH 03.05.2022, Ra 2021/18/0250, mit Verweis auf VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0203; siehe auch EuGH 19.11.2020, C-238/19, wonach im Kontext des Bürgerkriegs in Syrien eine starke Vermutung dafür spricht, dass die Weigerung, dort Militärdienst zu leisten, mit einem Grund in Zusammenhang steht, der einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen kann; darauf Bezug nehmend auch VfGH 22.09.2022, E 1138/2022, und VwGH 26.01.2023, Ra 2022/20/0358; vgl. auch EUAA, Country Guidance: Syria 2023).
Für eine Bedrohung oder Verfolgung (durch das syrische Regime) kommt es nicht (unbedingt) darauf an, ob eine Einberufung zum Militärdienst bereits vor der Ausreise erfolgt ist, ob eine behördliche Suche (wegen des Militärdienstes) bereits (vor der Ausreise) stattgefunden hat oder ob die Ausreise legal erfolgen konnte, sondern vielmehr darauf, mit welcher Wahrscheinlichkeit von einem Einsatz beim Militär (im Falle einer nunmehrigen Rückkehr/Wiedereinreise in den Herkunftsstaat) auszugehen ist, was anhand der Situation (hinsichtlich der Einberufung zum Militärdienst) im Herkunftsstaat und anhand des Profils der betroffenen Person zu beurteilen ist.
Davon ausgehend ist nicht in jedem Fall einer durch männliche syrische Staatsangehörige vorgebrachten Wehrdienstverweigerung vom Vorliegen eines Asylgrundes auszugehen (vgl. zB VwGH 26.01.2023, Ra 2022/20/0358).
In diesem Zusammenhang vertritt UNHCR die Auffassung, dass Personen, die sich dem Pflichtwehrdienst oder dem Reservewehrdienst aus Gewissensgründen entzogen haben, wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, je nach den Umständen des Einzelfalls auf der Grundlage einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder ihrer Religion. Angesichts der weitverbreiteten Berichte über schwere Verstöße der Regierungstruppen gegen internationale Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht und das Völkerstrafrecht in Verbindung mit dem Umstand, dass individuelle Rekruten und Reservisten grundsätzlich keinen Einfluss auf ihre Funktion innerhalb der Streitkräfte (einschließlich des Gebiets, in dem sie eingesetzt werden, und der Art der Aufgaben, die ihnen zugewiesen werden) nehmen können, ist UNHCR der Auffassung, dass bei einer Einberufung zu den Streitkräften die vernünftige Wahrscheinlichkeit besteht, an Aktivitäten teilnehmen zu müssen, die Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, das Völkerstrafrecht und/oder internationale Menschenrechte darstellen. Dementsprechend ist UNHCR der Auffassung, dass Personen, die sich dem Pflichtwehrdienst oder dem Reservewehrdienst entzogen haben, da sie mit den Mitteln und Methoden der Kriegsführung der Regierungstruppen nicht einverstanden sind, wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, je nach den Umständen des Einzelfalls auf der Grundlage einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder ihrer Religion (vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, März 2021).
Ebenso führt die EUAA zum Risikoprofil der „Wehrdienstverweigerer“ aus, dass eine Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie aufgrund des andauernden bewaffneten Konflikts in Syrien, in dem verschiedene asylausschließende Handlungen von den syrischen Streitkräften begangen worden sein sollen, in Verbindung mit der Tatsache, dass die einzelnen Rekruten und Reservisten im Allgemeinen keine Kontrolle über ihre Rolle innerhalb der Streitkräfte hätten, weder in Bezug auf ihren Einsatzort noch in Bezug auf die Zuweisung bestimmter Aufgaben, im Allgemeinen begründet sei. In Anbetracht der Tatsache, dass es keine Bestimmungen für einen Ersatzdienst gebe und außer für christliche und muslimische Religionsführer kein Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen bestehe, wäre eine Furcht vor Verfolgung im Allgemeinen auch für andere Personen begründet, die sich der Wehrpflicht aus Gewissensgründen entzogen hätten und keinen Befreiungsgrund vorweisen könnten. Andere Maßnahmen, denen sich Wehrdienstverweigerer ausgesetzt sehen könnten, könnten ebenfalls so schwerwiegend sein, dass sie einer Verfolgung gleichkommen würden (z. B. willkürliche Verhaftung in Verbindung mit anderen Formen der Misshandlung wie körperliche Gewalt, die mit der Behandlung in Haftanstalten verbundenen Risiken, einschließlich Folter) (vgl. EUAA, Country Guidance: Syria, Februar 2023, Kapitel 4.2.2).
Als Verfolgungshandlungen gegen Wehrdienstverweigerer kommen – im Lichte des Unionsrechts – insbesondere solche nach Art. 9 Abs. 2 lit. b, c und e Statusrichtlinie in Betracht, also etwa diskriminierende bzw. unverhältnismäßige Maßnahmen, Strafverfolgung oder Bestrafung (Art. 9 Abs. 2 lit. b und c) oder eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Art. 12 Abs. 2 fallen (Art. 9 Abs. 2 lit. e); Letzteres betrifft u.a. Fälle, in denen der Militärdienst die Begehung von Kriegsverbrechen umfassen würde, einschließlich solcher, in denen der Asylwerber nur mittelbar an der Begehung solcher Verbrechen beteiligt wäre, wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass er durch die Ausübung seiner Funktionen eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würde (vgl. EuGH 26.02.2015, C-472/13, Rs. Shepherd). Hätte der Wehrpflichtige seinen Militärdienst im Kontext eines allgemeinen Bürgerkriegs abzuleisten, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Statusrichtlinie durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist, so besteht nach den Ausführungen des EuGH eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem – allenfalls noch nicht bekannten – Einsatzgebiet dazu veranlasst sein würde, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung der betreffenden Verbrechen teilzunehmen (vgl. VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108, Rn. 28, mit Hinweis auf EuGH 19.11.2020, C-238/19, Rs. EZ).
Nach Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie müssen die Verfolgungshandlungen, denen derjenige, der gemäß dieser Bestimmung als Flüchtling anerkannt werden möchte, nach seinen Angaben ausgesetzt ist, aus seiner Verweigerung des Militärdienstes resultieren. Die Verweigerung des Wehrdienstes muss das einzige Mittel darstellen, das es dem Betroffenen erlaubt, der Beteiligung an Kriegsverbrechen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Statusrichtlinie zu entgehen (vgl. VfGH 20.09.2022, E 1138/2022, unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGHs). Der Umstand, dass der Antragsteller kein Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer angestrengt hat, schließt daher jeden Schutz nach Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie aus, sofern er nicht beweist, dass ihm in seiner konkreten Situation kein derartiges Verfahren zur Verfügung stand (vgl. EuGH 26.02.2015, C-472/13, Rs. Shepherd, Rn. 45 f).
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl begründete die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten im Wesentlichen damit, dass eine Gefährdung, die auf eine Verfolgungsgefahr iSd Genfer Flüchtlingskonvention hindeuten könnte, nicht feststellbar gewesen sei. Mit dieser Beurteilung ist die belangte Behörde im Ergebnis im Recht:
Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung dargestellt, ist es dem Beschwerdeführer nicht gelungen, eine aktuelle, konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete Verfolgungsgefahr maßgeblicher Intensität, die ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen bzw. darzutun.
Wie festgestellt, befindet sich der aktuell 29-jährige Beschwerdeführer zwar im wehrpflichtigen Alter. Er hat seinen verpflichtenden Wehrdienst bei der syrischen Armee auch noch nicht abgeleistet. Den Länderberichten ist zu entnehmen, dass die Wehrpflicht durch die syrische Armee auch tatsächlich umgesetzt wird. Wie beweiswürdigend festgestellt, haben sich keine glaubwürdigen Anhaltspunkte ergeben, welche auf eine Verweigerung des Wehrdienstes bei der syrischen Armee schließen lassen würde. Bereits aus diesem Grund, liegt gegenständlich der Tatbestand einer glaubhaft gemachten Verfolgungshandlung gemäß Art. 9 Abs. 2 lit. e der Statusrichtlinie nicht vor. Insgesamt ist dem Vorbringen des Beschwerdeführers eine gegen die syrische Zentralregierung gerichtete, verinnerlichte politische Gesinnung nicht zu entnehmen.
Doch selbst wenn die Wehrdienstverweigerung als Verfolgungshandlung hypothetisch als glaubhaft erachtet wird, so stellt die Verweigerung des Wehrdienstes nicht das einzige Mittel dar, das es dem Beschwerdeführer erlaubt, der Beteiligung an Kriegsverbrechen zu entgehen:
Dem Beschwerdeführer steht die nach syrischem Militärdienstgesetz legale Möglichkeit offen, als Alternative zur (bloßen) Verweigerung des Wehrdienstes in der syrischen Armee eine nach syrischem Recht vorgesehene Wehrersatzgebühr zu leisten, die zu seiner – nach Maßgabe der asylrechtlichen Prognoseeinschätzung – rechtsgültigen und rechtssicheren Befreiung vom Wehrdienst führt. Durch das Bestehen dieser legalen Alternative zur Verweigerung, die den zentralen Anknüpfungspunkt sowohl für die Verfolgungshandlungen der lit. b und c als auch lit. e des Art. 9 Abs. 2 Statusrichtlinie darstellt, fällt die alleinige Notwendigkeit der Verweigerung des Wehrdienstes weg, weshalb die Tatbestandselemente der genannten Verfolgungshandlungen nicht vorliegen.
Aus der Berichtslage ergibt sich, dass die Entrichtung der Wehrersatzgebühr dauerhaft und zur Gänze von der Ableistung des Militärdienstes befreit. Die Gebühr ist nicht in einer Höhe festgesetzt, der „Pönalcharakter“ zukommt (vgl. zu diesen Kriterien Binder/Haller/Nedwed, Wehrdienstverweigerung als Asylgrund, in Filzwieser/Kasper [Hrsg.], Jahrbuch Asyl- und Fremdenrecht 2023, 221 ff [245 f]). Die Gebühr ist in überwiegend sachlicher Art und Weise nach der Dauer des Auslandsaufenthalts gestaffelt und berücksichtigt die geringere Bindung an den Heimatstaat bei längerem Auslandsaufenthalt durch Reduzierung der Gebühr im Zeitverlauf. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es grundsätzlich nicht als willkürlich anzusehen ist, dass ein Staat die Gebühr für kürzere Auslandsaufenthalte höher ansetzt, um das Fernbleiben der Wehrdienstpflichtigen vom Wehrdienst durch kurzfristige Ausreise nicht zu attraktiv zu machen, während er durch die Verringerung der Gebühr im Zeitverlauf den nachlassenden Bindungen seiner Staatsbürger zum Heimatstaat bei längerfristiger Verlagerung des Lebensmittelpunktes in das Ausland Rechnung trägt. Dass ab dem fünften Jahr des Auslandsaufenthaltes zusätzliche Gebühren iHv USD 200,- pro Jahr anfallen, ist schon aufgrund der Höhe des Entgelts ebenso kein Hinweis auf einen signifikanten Pönalcharakter, zumal sie dazu dienen mag (ähnlich der Verspätungszuschläge im Steuerrecht), Auslandsyrer zur zeitnahen Regelung ihrer Wehrdienstpflichtangelegenheiten anzuhalten (dies vor dem Hintergrund, dass die Wehrpflichtleistung in Syrien grundsätzlich ab dem achtzehnten Lebensjahr vorgesehen wäre). In diesem Sinne führt auch der Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 08.11.2023, Ra 2023/20/0520, zu dieser gesetzlich vorgesehenen Befreiungsgebühr aus, dass auf Grundlage der aktuellen – auch der gegenständlichen Entscheidung zugrunde gelegten – Länderinformationen das Verlangen des Herkunftsstaates nach einer solchen Leistung angesichts der festgestellten Kosten nicht als Verfolgung einzustufen ist.
Für den Ausschluss einer asylrelevanten Verfolgungshandlung ist es nicht erforderlich, dass der Beschwerdeführer im Entscheidungszeitpunkt bereits einen Freikauf erwirkt hat, sondern es reicht aus, dass ihm diese Möglichkeit im Rahmen der erforderlichen Prognosebeurteilung mit der hinreichenden Wahrscheinlichkeit zur Verfügung steht (vgl. idS zuletzt VfGH 13.06.2023, E 588/2023; allgemein zur Prognosebeurteilung siehe auch VfGH 13.06.2023, E 2987/2022; VwGH 29.06.2023, Ra 2022/01/0285; vgl. auch VwGH jeweils 14.09.2016, Ra 2016/18/0085-0087; Ra 2016/18/0107, zur – künftigen – Möglichkeit der Ableistung eines zivilen Ersatzdienstes).
Von einer solchen Prognose ist – wie in der Beweiswürdigung ausgeführt – im Entscheidungszeitpunkt anhand der vorliegenden Länderberichte in Zusammenschau mit den individuellen Umständen des Beschwerdeführers auszugehen. Es wäre dem Beschwerdeführer, der als subsidiär Schutzberechtigter über vollen Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt verfügt, möglich, sich die erforderlichen finanziellen Mittel für einen Freikauf durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zeitnah zu beschaffen. Darüber hinaus haben sich im Verfahren auch keine Anhaltspunkte ergeben, dass dem – von der syrischen Regierung nicht als oppositionell angesehenen – Beschwerdeführer die Möglichkeit der Leistung einer Wehrersatzgebühr verweigert werden würde und ihm diese somit nicht offenstehen würde.
Den Länderberichten ist – wie in der Beweiswürdigung dargelegt – nicht zu entnehmen, dass das syrische Regime die Möglichkeit der Leistung einer Wehrersatzgebühr systematisch verwehrt bzw. betroffene Personen im Fall der Entrichtung einer solchen dennoch systematisch zum Militärdienst einzieht (vgl. VwGH 13.11.2019, Ra 2019/18/0274). Eine dem Beschwerdeführer – trotz Zahlung einer Befreiungsgebühr – drohende Einziehung zum Militärdienst der syrischen Armee kann daher zwar nicht gänzlich ausgeschlossen werden, ist aber nicht mit der erforderlichen maßgeblichen Wahrscheinlichkeit anzunehmen.
Ebenso wenig lässt der Umstand, dass im Einzelfall die Zahlung von Bestechungsgeldern verlangt werden kann, die Leistung einer Wehrersatzgebühr generell als untaugliche Möglichkeit der Anerkennung der Wehrdienstverweigerung erscheinen. Allfällige im Einzelfall zu leistende Bestechungsgelder werden im Regelfall zur persönlichen Bereicherung einzelner Beamter und nicht vom syrischen Staat in Zusammenhang mit bestimmten in Art. 10 der Statusrichtlinie als Verfolgungsgrund definierten Merkmalen verlangt.
Im Fall des Beschwerdeführers sind somit keine Umstände hervorgekommen, anhand derer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen wäre, dass aus individuell in seiner Person gelegenen Gründen ein Freikauf von der Wehrpflicht seitens des syrischen Regimes nicht akzeptiert werden würde bzw. dass es trotz Entrichtung der Wehrersatzgebühr dennoch mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu einer Einziehung seiner Person kommen würde. Wenngleich die Länderberichte beschreiben, dass Handlungen des syrischen Regimes, so auch Rekrutierungen, teils von Willkür geprägt sind, ist ein maßgebliches Risiko, dass der Beschwerdeführer durch Entrichtung der gesetzlich vorgesehenen Gebühr keine tatsächliche dauerhafte Befreiung vom Wehrdienst erreichen wird, nicht festzustellen (zum Erfordernis, dass Verfolgungshandlungen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohen müssen, um Asylrelevanz zu entfalten vgl. z.B. VwGH 13.06.2023, Ra 2023/20/0195; zur Beweislast hinsichtlich der Frage eines zur Verfügung stehenden Verfahrens zur Anerkennung als Wehrdienstverweigerer vgl. erneut EuGH 26.02.2015, C-472/13, Rs. Shepherd, Rn. 45 f).
Zusammengefasst kommt das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Einzelfall somit zum Ergebnis, dass – selbst wenn die Wehrdienstverweigerung hypothetisch als glaubhaft erachtet wird – es dem Beschwerdeführer als männlichen, im wehrdienstpflichtigen Alter befindlichen Syrer mit Aufenthalt außerhalb Syriens offensteht, sich als alternative Möglichkeit zur bloßen Verweigerung der Ableistung seines Wehrdienstes bei der syrischen Armee durch Leistung einer im syrischen Wehrrecht vorgesehenen Wehrersatzgebühr von einer Einziehung zum Wehrdienst bei der syrischen Armee zuverlässig befreien zu lassen. Der Beschwerdeführer ist somit fallbezogen nicht zur Wehrdienstverweigerung gezwungen, um dem mit der Ableistung dieses Wehrdienstes eventuell verbundenen Zwang zur Begehung von Kriegsverbrechen (Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie) bzw. einer Strafverfolgung bei Verweigerung (Art. 9 Abs. 2 lit. b und c Statusrichtlinie) zu entgehen.
In Anbetracht der von der syrischen Regierung zur Verfügung gestellten legalen Möglichkeit, sich der Ableistung des Wehrdienstes in der syrischen Armee zu entziehen, in Zusammenschau mit den hier zugrunde gelegten Länderberichten, ist – wie oben im Rahmen der Beweiswürdigung bereits ausgeführt wurde – schließlich auch nicht anzunehmen, dass die syrische Regierung jedem Wehrdienstverweigerer bzw. -entzieher alleine aufgrund der Entziehung von der Ableistung des Wehrdienstes und ohne Hinzutreten weiterer individueller Umstände eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellen würde. In diesem Sinne führt auch der Verwaltungsgerichtshof in seiner rezenten Entscheidung vom 08.11.2023, Ra 2023/20/0520, aus, dass auf Grundlage der aktuellen – der gegenständlichen Entscheidung zugrunde gelegten – Länderinformationen gerade nicht anzunehmen ist, dass jedem im Ausland lebenden Syrer, der seinen Wehrdienst nicht abgeleistet hat, im Herkunftsstaat automatisch eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und ihm deswegen eine unverhältnismäßige Bestrafung drohen würde.
Wie dargelegt, ist unter Heranziehung der aktuellen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen aber nicht anzunehmen, dass sämtlichen Wehrdienstverweigerern bzw. -entziehern per se und ohne Hinzutreten weiterer individueller Umstände von Seiten der syrischen Zentralregierung eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde und haben sich auch im konkreten Einzelfall des Beschwerdeführers – wie beweiswürdigend ausgeführt wurde – keine Hinweise auf eine von ihm tatsächlich verinnerlichte oder ihm zumindest unterstellte oppositionelle politische Gesinnung ergeben. Ein Konnex zu einem der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 genannten Gründe der GFK kann daher nicht erkannt werden.
Schließlich wurde dargelegt, dass einer politisch nicht exponierten Person wie dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet in Syrien auch nicht bloß wegen seiner legalen Ausreise und/oder der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in Österreich ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die syrische Regierung droht.
Da im vorliegenden Fall keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung festgestellt werden konnte und somit keine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung iSd § 3 AsylG 2005 vorliegt, erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit der Frage der Erreichbarkeit der Heimatregion des Beschwerdeführers (vgl. VfGH 29.06.2023, E 3450/2022; VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108).
Im Ergebnis ist es dem Beschwerdeführer insgesamt nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen, auch nicht, wenn man die einzelnen Aspekte kumuliert betrachtet. Das Verlassen des Herkunftsstaates aus persönlichen Gründen oder wegen der dort vorherrschenden prekären Lebensbedingungen stellt keine relevante Verfolgung im Sinne der GFK dar. Auch Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen für sich genommen keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention dar.
Im Übrigen ist darauf zu verweisen, dass dem Beschwerdeführer gerade aufgrund seiner individuellen Situation zum Entscheidungszeitpunkt der Status des subsidiär Schutzberechtigten von der belangten Behörde bereits zuerkannt wurde.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Die Entscheidung folgt der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.