Spruch
W261 2294846-1/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX auch XXXX , geb. XXXX auch XXXX , StA. Syrien, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, Außenstelle Linz, vom 15.05.2024, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Syriens, stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 29.10.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Am 30.10.2022 fand seine Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab der Beschwerdeführer unter anderem an, dass er aus XXXX stamme, der Volksgruppe der Araber angehöre und Muslim sei. Er habe zwölf Jahre die Grundschule besucht und danach als Taxifahrer gearbeitet. Neben seiner Mutter würden noch seine Geschwister, Ehefrau und Kinder in Syrien leben. Ein Bruder lebe in Saudi-Arabien.
Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, dass er sein Land aufgrund des Krieges verlassen habe. Bei der Rückkehr befürchte er den Tod.
3. Am 05.02.2024 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er zu seinen persönlichen Verhältnissen im Wesentlichen an, dass er gesund und nicht in medizinischer Behandlung sei. Er gehöre der Volksgruppe der Araber an und sei sunnitischer Muslim. Er sei in XXXX , südlich der Stadt XXXX , geboren. Er habe zwölf Jahre die Grundschule besucht und diese mit Matura abgeschlossen. Danach habe er von 2013 bis 2019 an der XXXX Universität in Latakia arabische Literatur studiert. Er sei traditionell und standesamtlich verheiratet und habe mit seiner Ehefrau vier Kinder. Der Beschwerdeführer habe regelmäßigen Kontakt zu seinen Familienangehörigen. Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer syrische Dokumente vor.
Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass er Syrien verlassen habe, weil er Angst vor dem syrischen Militär habe. Er könne nie wieder zum Regime von Bashar ziehen. Sein Cousin sei vom Regime erwischt und umgebracht worden, weil er desertiert sei. Zudem habe der Beschwerdeführer mehrere Male an einem Checkpoint im Gouvernement Latakia Probleme aufgrund seiner Religion gehabt. Da er aus dem Kurdengebiet stamme, habe er zwei Stunden warten müssen. Rekruten hätten ihn gekannt und auch hin und wieder auf seinen Hals geschlagen. Der Beschwerdeführer habe nie einen Einberufungsbefehl erhalten, aber ein Bekannter habe ihm gesagt, dass er einberufen werden soll. Er wolle den Militärdienst nicht leisten, da er sich vor der „Farbe des Blutes“ fürchte und er das Regime, welches Kinder umbringe, nicht unterstützen wolle. Das Regime befinde sich lediglich einen Kilometer von seinem Herkunftsort entfernt. Im Fall einer Rückkehr befürchte er, dass ihn das Regime erwische oder ihn die Kurden an das Regime ausliefern würden. Er habe Angst vor der Todesstrafe, da er hier Asyl beantragt habe und daher als Verräter gelte.
4. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 15.05.2024 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr (Spruchpunkt III.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer zwar wehrdienstpflichtig sei, aber sich vom Militärdienst mithilfe seiner Brüder freikaufen könne. Er habe keine als oppositionell anzusehenden Handlungen gegen das syrische Regime gesetzt. Seine Herkunftsregion stehe unter Kontrolle der kurdischen Kräfte. Das syrische Regime könne dort keine Wehrpflicht-Kampagnen durchführen. Laut seinen eigenen Angaben habe er bis zu seiner Ausreise aus Syrien ohne Verfolgung durch die Kurden oder das syrische Regime gelebt. Es würden keinerlei Anzeichen bestehen, dass sich die Machtverhältnisse gravierend ändern würden. Für den kurdischen Wehrdienst sei er bereits zu alt. Er könne sein Herkunftsgebiet erreichen ohne mit dem syrischen Regime in Kontakt zu treten. Er sei in Syrien weder vorbestraft noch jemals inhaftiert oder politisch aktiv oder Mitglied einer politischen Partei gewesen. Er habe auch niemals Probleme aufgrund seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit gehabt. Er sei im Herkunftsstaat keiner Verfolgung bzw. Verfolgungsgefährdung durch staatliche Organe oder Privatpersonen ausgesetzt gewesen. Es habe auch aus den sonstigen Umständen keine Verfolgung aus konventionsrelevanten Gründen festgestellt werden können. Es sei ihm nicht gelungen, den vorgebrachten Fluchtgrund glaubhaft und in sich schlüssig darzulegen.
Es würden jedoch Gründe für die Annahme bestehen, dass im Fall einer Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung aufgrund der derzeitigen Lage in Syrien für den Beschwerdeführer eine nicht ausreichende Lebenssicherheit bestehe. Daher sei ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen.
5. Mit Eingabe vom 19.06.2024 erhob der Beschwerdeführer gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides durch seine bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass in seinem Geburtsort sowohl die kurdischen Gruppierungen als auch das syrische Regime vertreten seien. Der Beschwerdeführer sei 2012 freiwillig nach Latakia gezogen, aufgrund dessen sei dies als Herkunftsort des Beschwerdeführers anzusehen. Latakia stehe unter Kontrolle der syrischen Regierung. Der Beschwerdeführer habe seinen verpflichtenden Wehrdienst noch nicht abgeleistet und habe einen mündlichen Einberufungsbefehl erhalten. Ergänzend brachte er vor, dass seine beiden Brüder vor Beginn des Krieges ihren verpflichtenden Wehrdienst abgeleistet hätten. Sie seien aufgrund des drohenden Reservedienstes aus Syrien geflüchtet. Zudem sei sein Cousin aufgrund seiner Desertion vom Wehrdienst vom Regime inhaftiert, gefoltert und getötet worden. Dem Beschwerdeführer drohe daher Reflexverfolgung. Außerdem habe der Beschwerdeführer seit Beginn der Revolution bis ca. 2019 an mehreren Demonstrationen gegen das syrische Regime teilgenommen. Auch in Wien habe er bereits an Demonstrationen teilgenommen und habe sich dadurch (exil-)politisch betätigt und seine oppositionelle Gesinnung objektiviert. Des Weiteren sei er aufgrund seiner Abstammung aus einem oppositionellen Gebiet bei Checkpoints in Latakia angehalten, gedemütigt und geschlagen worden, einmal sei er sogar mit einem Messer attackiert und im Bauchbereich verletzt worden. Die belangte Behörde habe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt, indem sie mangelhafte Länderfeststellungen getroffen und die beigezogenen Länderberichte nicht ausreichend gewürdigt habe. Auch die Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides sei aus näher dargestellten Gründen mangelhaft.
Bei richtiger rechtlicher Beurteilung wäre dem Beschwerdeführer daher internationaler Schutz gemäß § 3 AsylG zu gewähren gewesen.
6. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 28.06.2024 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 03.07.2024 einlangte.
7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 16.09.2024 eine mündliche Verhandlung durch, in welcher der Beschwerdeführer im Beisein seiner Rechtsvertretung zu seinen persönlichen Umständen, seinen Fluchtgründen und der Situation im Falle einer Rückkehr befragt wurde. Die belangte Behörde nahm entschuldigt nicht an der Verhandlung teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Der Beschwerdeführer legte drei Fotos vor und verwies im Übrigen auf die bereits im bisherigen Verfahren vorgelegten Bescheinigungsmittel. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und wurde am XXXX im Dorf XXXX (phonetisch: XXXX ), südlich der Stadt XXXX , im Gouvernement Aleppo in Syrien geboren. Er ist syrischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Araber sowie sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Arabisch, er spricht zudem etwas Deutsch.
Der Beschwerdeführer ist seit dem XXXX traditionell und seit XXXX standesamtlich mit XXXX (geb. XXXX ) verheiratet. Der Ehe entstammen XXXX Kinder, Tochter XXXX (geb. XXXX ) und Söhne, XXXX (geb. XXXX ), XXXX (geb. XXXX ) und XXXX (geb. XXXX ). Seine Ehefrau und seine Kinder leben zusammen mit seiner Familie in seinem Geburtsort in Syrien.
Sein Vater hieß XXXX (verstorben XXXX ) und seine Mutter heißt XXXX (geb. XXXX ). Der Beschwerdeführer hat fünf Schwestern, XXXX (Alter unbekannt), sowie zwei Brüder, XXXX (geb. XXXX , lebt seit zehn Jahren in Saudi-Arabien) und XXXX (geb. XXXX , lebt seit einem Jahr in Saudi-Arabien). Seine Familie wohnt in seinem Geburtsort, im Gouvernement Aleppo, Syrien. Der Beschwerdeführer hat regelmäßigen Kontakt mit seiner Familie.
Der Beschwerdeführer lebte bis 2012 in seinem Geburtsort. Er besuchte zwölf Jahre lang die Grundschule und schloss diese mit Matura ab. Anschließend zog er in die Stadt XXXX im gleichnamigen Gouvernement und studierte von 2013 bis 2019 an der XXXX (auf Deutsch XXXX ) arabische Literatur. Nebenbei arbeitete der Beschwerdeführer als Taxifahrer. 2019 zog er mit seiner Ehefrau wieder in seinen Geburtsort wo er bis zu seiner Ausreise aus Syrien lebte und weiterhin als Taxifahrer arbeitete.
Von 2012 bis XXXX erhielt der Beschwerdeführer als Student befristete Aufschübe des verpflichtenden Wehrdienstes. Insgesamt erhielt er siebenmal einen Wehrdienstaufschub. Er leistete seinen Wehrdienst bislang nicht ab.
Das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers, das Dorf XXXX (phonetisch: XXXX ), südlich der Stadt XXXX , im Gouvernement Aleppo, befindet sich im Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) unter Kontrolle der kurdischen Autonomiebehörden (Kurdische Partei der Demokratischen Union (kurz: PYD), Syrian Democratic Forces (kurz: SDF), Yekîneyên Parastina Gel (kurz: YPG).
Der Beschwerdeführer verließ Syrien im September 2022 zu Fuß in Richtung Türkei. Er hielt sich unter anderem in Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn auf und reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in Österreich ein und stellte am 29.10.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der Beschwerdeführer hat eine Narbe am Bauch. Er ist gesund, arbeitsfähig und in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
1.2.1. Der XXXX -jährige Beschwerdeführer erhielt von 2012 bis XXXX aufgrund seines Studiums befristete Aufschübe des verpflichtenden Wehrdienstes. Er leistete seinen Wehrdienst beim syrischen Militär bislang nicht ab. Der Beschwerdeführer wurde in Syrien weder vonseiten des syrischen Regimes noch von kurdischen Kräften jemals konkret aufgefordert, einen Wehrdienst abzuleisten. Das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers befindet sich unter Kontrolle kurdischer Autonomiebehörden, das syrische Regime hat keine Zugriffsmöglichkeiten auf Wehrpflichtige und kann keine Rekrutierungen durchführen. Dem Beschwerdeführer ist die Einreise in Syrien und eine Weiterreise in sein Herkunftsgebiet, ohne mit dem syrischen Regime in Kontakt zu treten, grundsätzlich über den Grenzübergang Faysh Khabour (Semalka) möglich. Zudem unterstellt das syrische Regime auch nicht jedem Wehrdienstverweigerer pauschal eine oppositionelle politische Gesinnung. Der Beschwerdeführer hat keine als oppositionell anzusehenden Handlungen gesetzt, die ihn ins Blickfeld des syrischen Regimes oder der PYD/SDF gebracht haben. Er hat sich weder in Syrien noch in Österreich jemals politisch betätigt und etwa an Demonstrationen teilgenommen. Bei einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet in Syrien besteht für den Beschwerdeführer nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, zum Wehrdienst der syrischen Armee eingezogen zu werden.
1.2.2. Der Beschwerdeführer fällt mit seinen XXXX Jahren (Geburtsjahrgang XXXX ) nicht mehr in das aktuelle Rekrutierungsalter der PYD/SDF. Die kurdischen Autonomiebehörden unterstellen auch nicht sämtlichen Personen, die sich der „Selbstverteidigungspflicht“ entziehen, eine oppositionelle politische Gesinnung. Es haben sich auch im Fall des Beschwerdeführers keine diesbezüglichen Anhaltspunkte ergeben. Insbesondere weist der Beschwerdeführer keine glaubhaft verinnerlichte politische Überzeugung gegen die kurdischen Autonomiebehörden oder gegen den Dienst an der Waffe an sich, auf. Er läuft auch nicht Gefahr, aufgrund dessen durch kurdische Milizen mit der Anwendung von physischer und/oder psychischer Gewalt bedroht zu werden.
1.2.3. Dem Beschwerdeführer droht nicht aufgrund der Reservedienstverweigerung seiner Brüder und der Desertion seines Cousins und seiner „Familienangehörigeneigenschaft“ Lebensgefahr oder ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die syrische Regierung oder die PYD/SDF.
1.2.4. Der Beschwerdeführer wird weder aufgrund seiner Zugehörigkeit zur arabischen Volksgruppe noch aufgrund seiner Religionszugehörigkeit (sunnitischer Islam) vonseiten der syrischen Regierung oder der PYD/SDF bedroht.
1.2.5. Ihm droht bei einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet in Syrien nicht wegen seiner illegalen Ausreise, der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in Österreich oder der Abstammung aus einem als oppositionell angesehenen Gebiet Lebensgefahr oder ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die syrische Regierung.
1.2.6. Auch sonst ist der Beschwerdeführer nicht der Gefahr ausgesetzt, aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Gesinnung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe in Syrien mit der Anwendung von physischer und/oder psychischer Gewalt bedroht zu werden.
1.3. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Syrien basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien, Version 11, veröffentlicht am 27.03.2024 (LIB);
- UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. aktualisierte Version, März 2021 (UNHCR);
- EUAA, Country of Origin Information Report „Syria: Targeting of Individuals”, September 2022 (EUAA 1);
- EUAA, Country Guidance Syria, April 2024 (EUAA 2);
- EUAA, Bericht über die Sicherheitslage, Oktober 2023 (EUAA 3);
- BFA, Themenbericht der Staatendokumentation Syrien-Grenzübergänge, Version 1, 25.10.2023 (BFA);
- ACCORD, Wehrdienst Syrien, 20.03.2024 (ACCORD).
1.3.1. Politische Lage – Letzte Änderung: 08.03.2024
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba’ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt. Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (LIB).
Der Machtanspruch des syrischen Regimes wird in einigen Gebieten unter seiner Kontrolle angefochten. Dem Regime gelingt es dort nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen. Im Gouvernement Suweida kommt es beispielsweise seit dem 20.8.2023 zu täglichen regimekritischen Protesten, darunter Straßenblockaden und die zeitweise Besetzung von Liegenschaften der Regime-Institutionen. In den vom Regime kontrollierten Gebieten unterdrücken die Sicherheits- und Geheimdienstkräfte des Regimes, die Milizen und die Verbündeten aus der Wirtschaft aktiv die Autonomie der Wähler und Politiker. Ausländische Akteure wie das russische und das iranische Regime sowie die libanesische Schiitenmiliz Hizbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aus. In den übrigen Landesteilen üben unverändert de facto Behörden Gebietsherrschaft aus. Im Nordwesten kontrolliert die von der islamistischen Terrororganisation Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) gestellte Syrische Errettungsregierung (SSG) weiterhin Gebiete in den Gouvernements Idlib, Lattakia, Hama und Aleppo. In Teilen des Gouvernements Aleppo sowie in den von der Türkei besetzten Gebieten im Norden beansprucht weiterhin die von der syrischen Oppositionskoalition (SOC/Etilaf) bestellte Syrische Interimsregierung (SIG) den Regelungsanspruch. Die von kurdisch kontrollierten Kräften abgesicherten sogenannten Selbstverwaltungsbehörden im Nordosten (AANES) üben unverändert Kontrolle über Gebiete östlich des Euphrats in den Gouvernements ar-Raqqah, Deir ez-Zor und al-Hassakah sowie in einzelnen Ortschaften im Gouvernement Aleppo aus. Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen bleibt Syrien, bis hin zur subregionalen Ebene, territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen. Im syrischen Bürgerkrieg hat sich die Grenze zwischen Staat und Nicht-Staat zunehmend verwischt. Im Laufe der Zeit haben sowohl staatliche Akteure als auch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen parallele, miteinander vernetzte und voneinander abhängige politische Ökonomien geschaffen, in denen die Grenzen zwischen formell und informell, legal und illegal, Regulierung und Zwang weitgehend verschwunden sind. Die Grenzgebiete in Syrien bilden heute ein einziges wirtschaftliches Ökosystem, das durch dichte Netzwerke von Händlern, Schmugglern, Regimevertretern, Maklern und bewaffneten Gruppen miteinander verbunden ist (LIB).
Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum März 2023 - Oktober 2023] nicht wesentlich verändert. Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung. Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo in den Regimegebieten, etwa zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht. Auch der politische Prozess für eine von den Konfliktparteien verhandelte, inklusive Lösung des Konflikts gemäß Sicherheitsratsresolution 2254 der Vereinten Nationen (VN) (vorgesehen danach u. a. Ausarbeitung einer neuen Verfassung, freie und faire Wahlen unter Aufsicht der VN und unter Beteiligung der syrischen Diaspora) unter Ägide der VN stagniert. Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert. Alternative politische Formate unter Führung verschiedener Mächte haben bislang keine Fortschritte gebracht. Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen. Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell (LIB).
Im Äußeren gelang es dem syrischen Regime, sich dem Eindruck internationaler Isolation entgegenzusetzen. Das propagierte „Normalisierungsnarrativ“ verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten. Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war. Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels in die Nachbarländer - insbesondere von Captagon, Ängste vor einer Machtübernahme islamistischer Extremisten im Fall eines Sturzes des Assad-Regimes sowie die Eindämmung des Einflusses bewaffneter, von Iran unterstützter Gruppierungen, insbesondere im Süden Syriens. Das syrische Regime zeigt laut Einschätzung eines Experten für den Nahen Osten dagegen bislang kein Interesse, eine große Anzahl an Rückkehrern wiederaufzunehmen und Versuche, den Drogenhandel zu unterbinden, erscheinen in Anbetracht der Summen, welche dieser ins Land bringt, bislang im besten Fall zweifelhaft. Am 3.7.2023 reiste erneut der jordanische Außenminister Ayman Safadi nach Damaskus, um Bemühungen zur Schaffung von Bedingungen für die Rückkehr von syrischen Geflüchteten aus Jordanien zu intensivieren. Die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit und die USA stellen sich den Normalisierungsbestrebungen politisch unverändert entgegen (LIB).
Regional positionierte sich das Regime seit Ausbruch der kriegerischen Kampfhandlungen zwischen Israel und der Hamas in und um Gaza seit dem 7.10.2023 öffentlich an der Seite der Palästinenser und kritisierte Israel, mit dem sich Syrien formell weiterhin im Kriegszustand befindet, scharf (LIB).
1.3.1.1. Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien – Letzte Änderung: 08.03.2024
2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) gekommen sein, deren Mitglieder die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) gründeten. Die PYD, ausgestattet mit einem bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt die kurdische Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der Revolution zu beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen, Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrisch-kurdischer Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine ’zweite Front’ in den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Ba’ath-Regime Stück für Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen Gebieten zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden Afrîn, ’Ain al-’Arab (Kobanê) und die Jazira/Cizîrê von der PYD und der YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten militärischen Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre (LIB).
Im November 2013 - etwa zeitgleich mit der Bildung der syrischen Interimsregierung (SIG) durch die syrische Opposition - rief die PYD die sogenannte Demokratische Selbstverwaltung (DSA) in den Kantonen Afrîn, Kobanê und Cizîrê aus und fasste das so entstandene, territorial nicht zusammenhängende Gebiet unter dem kurdischen Wort für „Westen“ (Rojava) zusammen. Im Dezember 2015 gründete die PYD mit ihren Verbündeten den Demokratischen Rat Syriens (SDC) als politischen Arm der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF). Die von den USA unterstützten SDF sind eine Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheitengruppen, in dem der militärische Arm der PYD, die YPG, die dominierende Kraft ist. Im März 2016 riefen Vertreter der drei Kantone (Kobanê war inzwischen um Tall Abyad erweitert worden) den Konstituierenden Rat des „Demokratischen Föderalen Systems Rojava/Nord-Syrien“ (Democratic Federation of Northern Syria, DFNS) ins Leben. Im März 2018 übernahm die Türkei völkerrechtswidrig die Kontrolle über den kurdischen Selbstverwaltungskanton Afrîn mithilfe der Syrischen Nationalen Armee (SNA), einer von ihr gestützten Rebellengruppe. Im September 2018 beschloss der SDC die Gründung des Selbstverwaltungsgebiets Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) auf dem Gebiet der drei Kantone (abzüglich des von der Türkei besetzten Afrîn). Darüber hinaus wurden auch Gebiete in Deir-ez Zor und Raqqa sowie Manbij, Takba und Hassakah, welche die SDF vom Islamischen Staat (IS) befreit hatten, Teil der AANES (LIB).
Der Krieg gegen den IS forderte zahlreiche Opfer und löste eine Fluchtwelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus. Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen stabilen strategischen Partner verlassen. Die erhoffte Kriegsdividende, für den Kampf gegen den IS mit einem autonomen Gebiet ’belohnt’ zu werden, ist bisher ausgeblieben. Die syrische Regierung erkennt weder die kurdische Enklave noch die Wahlen in diesem Gebiet an. Türkische Vorstöße auf syrisches Gebiet im Jahr 2019 führten dazu, dass die SDF zur Abschreckung der Türkei syrische Regierungstruppen einlud, in den AANES Stellung zu beziehen. Die Gespräche zwischen der kurdischen Selbstverwaltung und der Regierung in Damaskus im Hinblick auf die Einräumung einer Autonomie und die Sicherung einer unabhängigen Stellung der SDF innerhalb der syrischen Streitkräfte sind festgefahren. Mit Stand Mai 2023 besteht kein entsprechender Vertrag zwischen den AANES und der syrischen Regierung. Unter anderem wird über die Verteilung von Öl und Weizen verhandelt, wobei ein großer Teil der syrischen Öl- und Weizenvorkommen auf dem Gebiet der AANES liegen. Normalisierungsversuche der diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und der syrischen Regierung wurden in den AANES im Juni 2023 mit Sorge betrachtet. Anders als die EU und USA betrachtet die Türkei sowohl die Streitkräfte der YPG als auch die Partei PYD als identisch mit der von der EU als Terrororganisation gelisteten PKK und daher als Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (LIB).
Die Führungsstrukturen der AANES unterscheiden sich von denen anderer Akteure und Gebiete in Syrien. Die „autonome Verwaltung“ basiert auf der egalitären, von unten nach oben gerichteten Philosophie Abdullah Öcalans, der in der Türkei im Gefängnis sitzt [Anm.: Gründungsmitglied und Vorsitzender der PKK]. Frauen spielen eine viel stärkere Rolle als anderswo im Nahen Osten, auch in den kurdischen Sicherheitskräften. Lokale Nachbarschaftsräte bilden die Grundlage der Regierungsführung, die durch Kooptation zu größeren geografischen Einheiten zusammengeführt werden. Es gibt eine provisorische Verfassung, die Lokalwahlen vorsieht. Dies ermöglicht mehr freie Meinungsäußerung als anderswo in Syrien und theoretisch auch mehr Opposition. In der Praxis ist die PYD nach wie vor vorherrschend, insbesondere in kurdisch besiedelten Gebieten, und der AANES werden autoritäre Tendenzen bei der Regierungsführung und Wirtschaftsverwaltung des Gebiets vorgeworfen. Die mit der PYD verbundenen Kräfte nehmen regelmäßig politische Opponenten fest. Während die politische Vertretung von Arabern formal gewährleistet ist, werden der PYD Übergriffe gegen nicht-kurdische Einwohner vorgeworfen. Teile der SDF haben Berichten zufolge Übergriffe verübt, darunter Angriffe auf Wohngebiete, körperliche Misshandlungen, rechtswidrige Festnahmen, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten, Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie willkürliche Zerstörung und Abriss von Häusern. Die SDF haben die meisten Vorwürfe gegen ihre Streitkräfte untersucht. Einige Mitglieder der SDF wurden wegen Missbrauchs strafrechtlich verfolgt, jedoch lagen dazu keine genauen Zahlen vor (LIB).
1.3.2. Sicherheitslage – Letzte Änderung: 08.03.2024
Die Gesamtzahl der Kriegstoten wird auf fast eine halbe Million geschätzt. Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (LIB).
Überlappende bewaffnete Konflikte und komplexe Machtverhältnisse
Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen. Die Suche nach einer politischen Beilegung verlief im Sand. Im Wesentlichen gibt es drei Militärkampagnen: Bestrebungen durch eine Koalition den Islamischen Staat zu besiegen, Kampfhandlungen zwischen der Syrischen Regierung und Kräften der Opposition und türkische Militäroperationen gegen syrische Kurden. Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (LIB).
Die militärische Landkarte Syriens hat sich nicht substantiell verändert. Das Regime kontrolliert weiterhin rund 60 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (LIB).
Die militärischen Akteure und Syriens militärische Kapazitäten
Die Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu. Der Sondergesandte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen (VN) für Syrien Geir O. Pedersen wies am 29.11.2022 vor dem Sicherheitsrat insbesondere auf eine langsame Zunahme der Kämpfe zwischen den Demokratischen Kräften Syriens auf der einen Seite und der Türkei und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite im Norden Syriens hin. Er betonte weiter, dass mehr Gewalt noch mehr Leid für die syrische Zivilbevölkerung bedeutet und die Stabilität in der Region gefährden würde - wobei gelistete terroristische Gruppen die neue Instabilität ausnutzen würden. Im Hinblick auf das Niveau der militärischen Gewalt ist eine Verstetigung festzustellen. Auch das Erdbeben am 6.2.2023 hat zu keiner nachhaltigen Verringerung der Kampfhandlungen geführt. In praktisch allen Landesteilen kam es im Berichtszeitraum zu militärischen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Art und Ausprägung. Dabei bestanden auch teils erhebliche Unterschiede zwischen Regionen mit einer hohen Zahl gewalttätiger Auseinandersetzungen und vergleichsweise ruhigeren Landesteilen. Für keinen Landesteil Syriens kann insofern von einer nachhaltigen Beruhigung der militärischen Lage ausgegangen werden (LIB).
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) der VN stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den VN benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind. Im Mai 2023 begannen zusätzlich dazu die jordanischen Streitkräfte Luftangriffe gegen die Drogenschmuggler zu fliegen. Die USA sind mit mindestens 900 Militärpersonen in Syrien, um Anti-Terror-Operationen durchzuführen. Seit Ausbruch des Krieges zwischen der Hamas und Israel begannen die USA mehrere Luftangriffe gegen iranische Milizen in Syrien und dem Irak zu fliegen. Anfang Februar 2024 eskalierten die Spannungen zwischen dem Iran und den USA, nachdem iranische Milizen in Jordanien eine militärische Stellung der USA mit einer Drohne angriffen und dabei mehrere US-amerikanische Soldaten töteten und verletzten. Die USA reagierten mit erhöhten und verstärkten Luftangriffen auf Stellungen der iranischen Milizen in Syrien und dem Irak. In Syrien trafen sie Ziele in den Räumen Deir ez-Zor, Al-Bukamal sowie Al-Mayadeen. Die syrische Armee gab an, dass bei den Luftangriffen auch Zivilisten sowie reguläre Soldaten getötet wurden (LIB).
Seit dem Angriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 intensivierte Israel die Luftangriffe gegen iranische und syrische Militärstellungen. Infolge der kriegerischen Kampfhandlungen zwischen Israel und Hamas in und um Gaza seit dem 7.10.2023, wurde israelisch kontrolliertes Gebiet auch von Syrien aus mindestens dreimal mit Raketen beschossen. Israel habe daraufhin Artilleriefeuer auf die Abschussstellungen gerichtet. Beobachter machten iranisch kontrollierte Milizen für den Raketenbeschuss verantwortlich. Israel soll im selben Zeitraum, am 12.10.2023 und 14.10.2023 jeweils zweimal den Flughafen Aleppo sowie am 12.10.2023 den Flughafen Damaskus mit Luftschlägen angegriffen haben; aufgrund von Schäden an den Start und Landebahnen mussten beide Flughäfen daraufhin den Betrieb einstellen (LIB).
Das Regime, Pro-Regime-Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces - NDF), bewaffnete Oppositionsgruppen, die von der Türkei unterstützt werden, die Syrian Democratic Forces (SDF), extremistische Gruppen wie Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) und IS (Islamischer Staat), ausländische Terrorgruppen wie Hizbollah sowie Russland, Türkei und Iran sind in den bewaffneten Konflikt involviert. Es kann laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts im gesamten Land jederzeit zu militärischer Gewalt kommen. Gefahr kann dabei einerseits von Kräften des Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland und Iran ausgehen, welches unverändert das gesamte Staatsgebiet militärisch zurückerobern will und als Feinde betrachtete „terroristische“ Kräfte bekämpft. Das Regime ist trotz begrenzter Kapazitäten grundsätzlich zu Luftangriffen im gesamten Land fähig, mit Ausnahme von Gebieten unter türkischer oder kurdischer Kontrolle sowie in der von den USA kontrollierten Zone rund um das Vertriebenenlager Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze. Nichtsdestotrotz basiert seine militärische Durchsetzungsfähigkeit fast ausschließlich auf der massiven militärischen Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten Irans, bzw. durch seitens Iran unterstützte Milizen, einschließlich Hizbollah. Wenngleich offene Quellen seit August 2022 den Abzug militärischer Infrastruktur (insb. Luftabwehrsystem S-300) vermelden, lassen sich Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf die russische Einsatzfähigkeit in Syrien bislang nicht substantiieren. Die Menschenrechtsorganisation Syrians for Truth and Justice (STJ) behauptet, dass Russland syrische Söldner u.a. aus den Streitkräften für den Kampfeinsatz in der Ukraine abwirbt. Unter Bezug auf syrische Militärangehörige sowie Familien der Söldner spricht STJ von 300 syrischen Kämpfern, die im Zeitraum Juni bis September 2022 nach Russland oder Ukraine verlegt worden seien. Mehrere von ihnen seien laut einer unbestätigten Mitteilung der rekrutierenden al-Sayyad Company for Guarding and Protection Services, welche der russischen Wagner-Gruppe zugeschrieben wird, gefallen. Russland hatte noch z.B. im Oktober 2022 seine Luftangriffe in der Provinz Idlib verstärkt (LIB).
Das syrische Regime, und damit die militärische Führung, unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen“. Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In Idlib mit seinen über drei Millionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch die von den USA angeführte Koalition gegen den Islamischen Staat (IS) verletzte internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile Todesopfer und Zerstörung verursachten (LIB).
Seit Beginn 2023 wurden mit Stand 1.5.2023 auch 258 ZivilistInnen durch andere Akteure (als dem Regime) getötet, somit 75 Prozent aller zivilen Toten in diesem Jahr. Viele von ihnen wurden beim Trüffelsuchen getötet, und dazu kommen auch Todesfälle durch Landminen. Außerdem bietet die Unsicherheit in vielen Gebieten ein passendes Umfeld für Schießereien durch nichtidentifzierte Akteure (LIB).
1.3.2.1. Nordwest-Syrien – Letzte Änderung: 08.03.2024
Während das Assad-Regime etwa 60 Prozent des Landes kontrolliert, was einer Bevölkerung von rund neun Millionen Menschen entspricht, gibt es derzeit [im Nordwesten Syriens] zwei Gebiete, die sich noch außerhalb der Kontrolle des Regimes befinden: Nord-Aleppo und andere Gebiete an der Grenze zur Türkei, die von der von Ankara unterstützten Syrischen Nationalarmee (Syrian National Army, SNA) kontrolliert werden, und das Gebiet von Idlib, das von der militanten islamistischen Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrolliert wird. Zusammen kontrollieren sie 10 Prozent des Landes mit einer Bevölkerung von etwa 4,4 Millionen Menschen, wobei die Daten zur Bevölkerungsanzahl je nach zitierter Institution etwas variieren (LIB).
Konfliktverlauf im Gebiet
Im Jahr 2015 verlor die syrische Regierung die Kontrolle über Idlib und diverse rivalisierende oppositionelle Gruppierungen übernahmen die Macht, wobei die Freie Syrische Armee (FSA) manche Teile der Provinz schon 2012 erobert hatte. Während die syrische Regierung die gesamte Provinz zurückerobern will, versucht Ankara zu verhindern, dass Idlib an Damaskus fällt, und daraufhin noch mehr Syrer in die Türkei flüchten. Die Türkei hat HTS als terroristische Organisation eingestuft, doch hat sie die Rebellengruppe in den letzten Jahren nicht aktiv daran gehindert, die Verwaltungsmacht in Idlib zu übernehmen. Im Mai 2017 einigten sich Russland, Iran und die Türkei im Rahmen der Astana-Verhandlungen auf die Errichtung vier sogenannter Deeskalationszonen (DEZ) in Syrien, wobei Idlib Teil einer DEZ wurde, die sich von den nordöstlichen Bergen Lattakias bis zu den nordwestlichen Vororten von Aleppo erstreckt und sowohl durch Hama als auch durch Idlib verläuft. Gemeint waren damit kampffreie Räume, in denen Zivilisten vor Angriffen geschützt sein sollten. Gemäß der Übereinkunft von Astana rückte die türkische Armee im Oktober 2017 in die DEZ Idlib ein und errichtete Beobachtungsposten zur Überwachung der Waffenruhe. Ankara hatte sich in Astana verpflichtet, die Rebellen zu entwaffnen und den freien Verkehr auf den Fernstraßen M4 und M5 zu gewährleisten. Im Gegenzug hatten Moskau und Damaskus zugesichert, die Provinz nicht anzugreifen. Zusagen, die letztlich keine Seite einhielt. Die syrische Regierung führte im Zeitraum 2018-2020 Offensiven in Idlib durch, die zur Flucht von rund einer Million Menschen führten (LIB).
Das syrische Regime hat den Wunsch geäußert, die Provinz zurückzuerobern, doch seit einer Offensive im März 2020, die mit einer für die syrische Regierung katastrophalen Niederlage gegen die Türkei endete, hat das Gebiet den Besitzer nicht mehr gewechselt. Im März 2020 vermittelten Russland und die Türkei einen Waffenstillstand, um einen Vorstoß der Regierung zur Rückeroberung von Idlib zu stoppen. Die vereinbarte Waffenruhe in der DEZ Idlib wurde weitestgehend eingehalten, sie führte zu einer längeren Pause in der Gewalt, aber sporadische Zusammenstöße, Luftangriffe und Beschuss gehen weiter. Der Konflikt ist derzeit weitgehend eingefroren, auch wenn es immer wieder zu Kämpfen kommt. Durch den türkisch-russischen Waffenstillstand kam es an der Frontlinie zwischen den Regime-Truppen und HTS zu einem kleinen Rückgang der Gewalt. 2022 änderte sich die Intensität und Art der Vorfälle allerdings. Einerseits erhöhte HTS die Anzahl ihrer direkten Angriffe auf die syrische Regierung und andererseits kam es zu einem Anstieg an direkten bewaffneten Zusammenstößen, wobei Beschuss noch immer die häufigste Kampfart blieb (LIB).
Insbesondere im Süden der DEZ kommt es unverändert regelmäßig zu Kampfhandlungen zwischen Einheiten des Regimes und seiner Verbündeten und regimefeindlichen bewaffneten Oppositionsgruppen, inklusive schwerer Artillerieangriffe durch das syrische Regime und Luftschläge der russischen Luftwaffe. In der Region ist es beispielsweise im November und Dezember 2022 sowie Juni 2023 zu einer spürbaren Eskalation der Militäroperationen durch russische und regimetreue Kräfte und den ihnen nahestehenden Milizen gekommen, einschließlich des täglichen Bombardements mit Dutzenden von Raketen und Artilleriegranaten und russischen Luftangriffen, die alle zu erheblichen menschlichen Verlusten und Sachschäden geführt haben. Die syrischen Weißhelme meldeten Ende 2022, dass sie im Laufe des Jahres auf mehr als 800 Angriffe des Assad-Regimes, russischer Streitkräfte und verbündeter Milizen im Nordwesten Syriens reagiert haben. Dabei wurden 165 Personen, darunter 55 Kinder und 14 Frauen, bei Luftangriffen sowie Artillerie- und Raketenangriffen auf mehr als 200 öffentliche Einrichtungen, darunter Wohnhäuser, landwirtschaftliche Felder, öffentliche Gebäude, Märkte, Schulen und ein Krankenhaus, getötet. Die HTS-Kämpfer greifen die Regierungskräfte dagegen vor allem mit Flugabwehrgeschossen an und sind hauptsächlich mit Maschinengewehren und Panzerfäusten ausgerüstet. Die Miliz hat jedoch auch improvisierte Sprengsätze gegen Assads Streitkräfte gelegt und Selbstmordattentäter eingesetzt (LIB).
Zwar rechtfertigt insbesondere das syrische Regime sein militärisches Vorgehen als Einsatz gegen terroristische Akteure. Ziele der Angriffe des Regimes und seiner Verbündeten bleiben jedoch neben Stellungen der bewaffneten Opposition nicht zuletzt die zivile Infrastruktur in den Zielgebieten, darunter auch für die humanitäre Versorgung kritische Einrichtungen. Diese wurden teilweise mit Präzisionsraketen und zielgenauen Waffensystemen von Kampfflugzeugen unter Beschuss genommen. In ihrem Bericht vom September 2022 dokumentiert die vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UNHRC) eingerichtete internationale unabhängige Untersuchungskommission zur Menschenrechtslage in Syrien (CoI=Commission of Inquiry) acht Angriffe, u.a. auf eine Wasserstation, mit insgesamt 39 getöteten oder verletzten Zivilpersonen. Im November 2022 dokumentierte die CoI den Einsatz von Streumunition durch die Regierungskräfte in einem dicht besiedelten Flüchtlingslager in Idlib, wodurch mindestens sieben Zivilisten getötet wurden. Die CoI sieht zudem begründeten Anlass zu der Annahme, dass HTS-Mitglieder Menschen weiterhin willkürlich ihrer Freiheit beraubten und einige von ihnen in Isolationshaft und andere in einer Weise festhielten, die einem erzwungenen Verschwinden gleichkam. Darüber hinaus haben HTS-Mitglieder möglicherweise die Kriegsverbrechen der Folter und grausamen Behandlung sowie der Verhängung von Strafen ohne vorheriges Urteil eines regulär konstituierten Gerichts begangen (LIB).
Im Oktober 2023 kam es zu einer erneuten Eskalation, die vom Vorsitzenden der CoI als größte Eskalation von Kampfhandlungen in Syrien in vier Jahren bezeichnet. Angefangen hat die Gewaltperiode am 5.10.2023 durch einen Drohnenangriff auf die Ausmusterungsveranstaltung der Militärakademie in Homs, bei dem 89 Personen getötet und 270 verletzt wurden. Die Hay’at Tahrir ash-Sham wird verdächtigt, hinter dem Anschlag zu stehen. Noch am selben Tag reagierten die syrische Regierung gemeinsam mit russischen Streitkräften vor Ort mit intensivem Beschuss der Provinzen Idlib und Aleppo. Weitere Drohnenangriffe folgten zwischen 7.10.2023 auf einen russisch geführten Militärflughafen in der Provinz Lattakia und 18.10. in der Stadt Aleppo. Die russischen Streitkräfte intensivierten ihre Luftangriffe und die Syrische Armee den Beschuss. Die HTS und ihre Verbündeten reagierten wiederum mit Artilleriebeschuss, Scharfschützen, Lenkflugkörpern und mutmaßlich auch weiteren Drohnenangriffen. Die Situation in Nordwestsyrien beruhigte sich im November wieder und die Kampfhandlungen gingen auf das Niveau vor der Eskalation im Oktober 2023 zurück, waren aber auch im Dezember 2023 noch unverändert evident (LIB).
Im Februar 2023 wurde die Region von verheerenden Erdbeben heimgesucht, bei denen Tausende von Menschen ums Leben kamen. Daraufhin wurde in Nordsyrien ein signifikanter, wenn auch zeitlich begrenzter, Rückgang der Kampfhandlungen verzeichnet. Der gegenseitige Beschuss und begrenzte Zusammenstöße zwischen nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen, der syrischen Regierung und regierungsnahen Kräften über die Front hinweg im Nordwesten der Arabischen Republik Syrien hielten jedoch an, wobei es in einigen Fällen zu Opfern unter der Zivilbevölkerung kam. Auch im Juni 2023 wurde ein Wiederaufflammen der Kampfhandlungen zwischen Regierungskräften und Rebellengruppen in den Provinzen Aleppo und Idlib vermeldet (LIB).
1.3.3. Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen – Letzte Änderung: 08.03.2024
Der Präsident stützt seine Herrschaft auf die Loyalität der Streitkräfte sowie die militärischen und zivilen Geheimdienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen. Die Regierung hat die effektive Kontrolle über die uniformierten Polizei-, Militär- und Staatssicherheitskräfte, und setzt diese zur Ausübung von Menschenrechtsverletzungen ein. Sie hat jedoch nur beschränkten Einfluss auf ausländische militärische oder paramilitärische Einheiten, z. B. russische Streitkräfte, die mit dem Iran verbündete Hizbollah und die iranischen Islamischen Revolutionsgarden, deren Mitglieder ebenfalls zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begingen (LIB).
Straflosigkeit unter den Sicherheitsbehörden bleibt ein weitverbreitetes Problem bei Sicherheitskräften, NachrichtendienstmitarbeiterInnen und auch sonst innerhalb des Regimes. In der Praxis sind keine Fälle von Strafverfolgung oder Verurteilung von Polizei- und Sicherheitskräften hinsichtlich Misshandlungen bekannt. Es gibt auch keine Berichte von Maßnahmen der Regierung, um die Einhaltung der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte zu verbessern, wenngleich im März 2022 ein neues Gesetz gegen Folter verabschiedet wurde. Verschiedene Teile des Sicherheitsapparats wie die Streitkräfte sind de facto weiterhin von Strafverfolgung ausgenommen - ebenso wie Gefängnisse, wo Zehntausende gefoltert wurden und werden, was durch Dekrete gedeckt ist, während die Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen kriminalisiert wird. Die Nachrichtendienste haben ihre traditionell starke Rolle verteidigt oder sogar weiter ausgebaut und greifen in die Unabhängigkeit des Justizwesens ein, indem sie RichterInnen und AnwältInnen einschüchtern. Durch die Entwicklungen der letzten Jahre sind die Schutzmöglichkeiten des Individuums vor staatlicher Gewalt und Willkür – welche immer schon begrenzt waren – weiterhin deutlich verringert worden (LIB).
Es ist schwierig, Informationen über die Aktivitäten von spezifischen Regierungs- oder regierungstreuen Einheiten zu spezifischen Zeiten oder an spezifischen Orten zu finden, weil die Einheiten seit dem Beginn des Bürgerkrieges oft zu Einsätzen organisiert („task-organized“), bzw. aufgeteilt oder für spezielle Einsätze mit anderen Einheiten zusammengelegt werden. Berichte sprechen oft von einer speziellen Militäreinheit an einem bestimmten Einsatzort (z. B. einer Brigade), wobei die genannte Einheit aus Teilen mehrerer verschiedener Einheiten nur für diesen speziellen Einsatz oder eine gewisse Zeit zusammengestellt wurde (LIB).
Trotz grob abgesteckter Einflussgebiete überschneiden sich die Gebiete der Sicherheitsorgane und ihrer Milizen, und es herrscht Konkurrenz um Checkpoints und Handelsrouten, wo sie von passierenden ZivilistInnen und Geschäftsleuten Geld einnehmen, sowie um Gebiete, welche Rekrutierungspools von ehemaligen Oppositionskämpfern darstellen. Die Spannungen zwischen Offizieren, Soldaten, Milizionären und lokaler Polizei eskalieren in Verhaftungen niederrangiger Personen, Angriffen und Zusammenstößen sowie Anschuldigungen zufolge in Ermordungen der von der Konkurrenz angeworbenen „versöhnten“ ehemaligen Oppositionskämpfer. So ist z. B. Aleppo Stadt Schauplatz fallweiser Zusammenstöße zwischen Regierungsmilizen untereinander und mit Regierungssoldaten (LIB).
1.3.3.1. Streitkräfte – Letzte Änderung: 17.07.2023
Die syrischen Streitkräfte bestehen aus dem Heer, der Marine, der Luftwaffe, den Luftabwehrkräften und den National Defense Forces (NDF, regierungstreue Milizen und Hilfstruppen). Aktuelle Daten zur Anzahl der Soldaten in der syrischen Armee existieren nicht. Vor dem Konflikt soll die aktive Truppenstärke geschätzt 300.000 Personen umfasst haben. Zu Jahresbeginn 2013 war etwa ein Viertel bis ein Drittel aller Soldaten, Reservisten und Wehrpflichtigen desertiert, bzw. zur Opposition übergelaufen (zwischen 60.000-100.000 Mann). Weitere rund 50.000 Soldaten fielen durch Verwundung, Invalidität, Haft oder Tod aus. Letztlich konnte das Regime 2014 nur mehr auf rd. 70.000 bis 100.000 loyale und mittlerweile auch kampferprobte Soldaten zurückgreifen. 2014 begann die syrische Armee mit Reorganisationsmaßnahmen, und seit 2016 werden irreguläre Milizen in die regulären Streitkräfte integriert, in einem Ausmaß, das je nach Quelle unterschiedlich eingeschätzt wird. Mit Stand Dezember 2022 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von regierungsfreundlichen, proiranischen Milizen unterstützt, deren Truppenstärke in die Zehntausende gehen dürfte. Das Offizierskorps gilt in den Worten von Kheder Khaddour als kleptokratisch, die die Armee als Institution ausgehöhlt. Den Offizieren bleibt nichts übrig, als sich an den Regimenetzwerken zu beteiligen und mit Korruption ihre niedrigen Gehälter aufzubessern. Die Praxis der Bestechung der Offiziere durch Rekruten gegen ein Decken ihrer Abwesenheit vom Dienst durch Offiziere ist so verbreitet, dass sie im Sprachgebrauch als tafyeesh oder feesh (Bezeichnung für den Personalakt, der bei einem Offizier aufliegt) bezeichnet wird. Auch der Einsatz von Rekruten für private Arbeiten für die Offiziere und deren Familien kommt vor - ebenso wie die Annahme von Geschenken oder lokalen Lebensmittelspezialitäten. Die Höhe der Geldsummen für Tafyeesh [Anm.: im Artikel auf eingezogene Reservisten und Soldaten bezogen] variieren zwar nach Einheit und Offizier, aber aufgrund der Verschlechterung der Lebensbedingungen und der zunehmenden geheimdienstlichen Kontrolle über die Militäreinheiten stiegen die verlangten Preise für Tafyeesh seit Anfang 2023, was diejenigen, welche sich dies nicht mehr leisten konnte, dazu veranlasste, zu ihren Einheiten zurückzukehren. Der Hintergrund für die monetäre Abgeltung für das Decken der abwesenden Soldaten durch ihre Offiziere ist, dass die Militärs mindestens zweimal so viel Geld benötigen, als die Löhne im öffentlichen Dienst ausmachen, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien abzudecken. Das führt dazu, dass Männer im Reserve- oder Militärdienst (retention service) mit unbestimmter Dauer auf Tafyeesh zurückgreifen. Einem Präsidialdekret von Ende Dezember 2022 zufolge verdient z.B. ein Oberleutnant regulär umgerechnet 17 US-Dollar monatlich und ein Brigadegeneral 43,5 USDollar pro Monat, während SoldatInnen entsprechend weniger verdienen als die Offiziersränge. Aufgrund der Stationierung (Hauptquartier u.a.) von Divisionen in bestimmten Gebieten im Rahmen des Quta’a- Systems [arab. Sektor, Landstück] verfügen die Divisionskommandanten über viel Freiraum in ihrer Befehlsgewalt wie auch für persönliche Vorteile. Diese Strukturierung kann von Bashar als-Assad auch genutzt werden, den Einfluss einzelner Divisionskommandeure einzuschränken, indem er sie gegeneinander ausspielt, um so das System auch zur Prävention von Militärputschen zu nutzen (LIB).
Die syrische Armee war der zentrale Faktor für das Überleben des Regimes während des Bürgerkriegs. Im Laufe des Krieges hat ihre Kampffähigkeit jedoch deutlich abgenommen und mit Stand September 2022 war die syrische Armee in jeglicher Hinsicht grundsätzlich auf die Unterstützung Russlands, Irans bzw. sympathisierender, vornehmlich schiitischer Milizen angewiesen – d. h. ein eigenständiges Handeln, Durchführung von Militäroperationen usw. durch Syrien sind nicht oder nur in äußerst eingeschränktem Rahmen möglich (LIB).
Das syrische Regime und damit auch die militärische Führung unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und ’rein militärischen Zielen’. Nach Experteneinschätzung trägt jeder, der in der syrischen Armee oder Luftwaffe dient, per defintionem zu Kriegsverbrechen bei, denn das Regime hat in keiner Weise gezeigt, dass es das Kriegsrecht oder das humanitäre Recht achtet. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass eine Person in eine Einheit eingezogen wird, auch wenn sie das nicht will, und somit in einen Krieg, in dem die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kämpfern nicht wirklich ernst genommen wird. Soldaten können in Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen verwickelt sein, weil das Militär in Syrien auf persönlichen Vertrauensbeziehungen, manchmal auch auf familiären Netzwerken innerhalb des Militärs beruht. Diejenigen, die Verbrechen begehen, handeln innerhalb eines vertrauten Netzwerks von Soldaten, Offizieren, Personen mit Verträgen mit der Armee und Zivilisten, die mit ihnen als nationale Verteidigungskräfte oder lokale Gruppen zusammenarbeiten (LIB).
1.3.4. Die syrischen Streitkräfte – Wehrdienst – Letzte Änderung: 11.03.2024
1.3.4.1. Rechtliche Bestimmungen
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes verpflichtend. Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren. Die Dauer des Wehrdienstes beträgt 18 Monate bzw. 21 Monate für jene, die die fünfte Klasse der Grundschule nicht abgeschlossen haben. Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt. In der Vergangenheit wurde es auch akzeptiert, sich, statt den Militärdienst in der syrischen Armee zu leisten, einer der bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppierung anzuschließen. Diese werden inzwischen teilweise in die Armee eingegliedert, jedoch ohne weitere organisatorische Integrationsmaßnahmen zu setzen oder die Kämpfer auszubilden. Wehrpflichtige und Reservisten können im Zuge ihres Wehrdienstes bei der Syrischen Arabischen Armee (SAA) auch den Spezialeinheiten (Special Forces), der Republikanischen Garde oder der Vierten Division zugeteilt werden, wobei die Rekruten den Dienst in diesen Einheiten bei Zuteilung nicht verweigern können. Um dem verpflichtenden Wehrdienst zu entgehen, melden sich manche Wehrpflichtige allerdings aufgrund der höheren Bezahlung auch freiwillig zur Vierten Division, die durch die von ihr kontrollierten Checkpoints Einnahmen generiert. Die 25. (Special Tasks) Division (bis 2019: Tiger Forces) rekrutiert sich dagegen ausschließlich aus Freiwilligen (LIB).
Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Einer vertraulichen Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge sollen Männer auch unabhängig ihres Gesundheitszustandes eingezogen und in der Verwaltung eingesetzt worden sein (LIB).
Die im März 2020, Mai 2021 und Jänner 2022 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetz, darunter Fahnenflucht. Die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (LIB).
Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert. Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (LIB).
Die Umsetzung
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet. Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (LIB).
Sollte ein junger Mann es verabsäumen, innerhalb der gesetzten Fristen bei der Rekrutierungsabteilung oder in weiterer Folge beim Ausbildungszentrum zu erscheinen, wird sein Name in einer nationalen Datenbank von Männern, die für den Militärdienst gesucht werden, registriert und der Mann wird als Wehrdienstverweigerer betrachtet. Manchmal werden junge Männer vom Bürgermeister oder der Militärpolizei benachrichtigt, dass sie zum Militärdienst einberufen sind, bevor sie auf die Liste der Wehrdienstverweigerer kommen (ACCORD).
Die Fahndungsliste der Wehrdienstverweigerer wird in der Regel an Kontrollpunkten (Checkpoints) und in Ämtern der öffentlichen Verwaltung verteilt. Wenn ein Wehrdienstverweigerer Kontrollpunkte passiert oder einen Behördengang tätigt, wird er festgenommen und direkt zur militärischen Ausbildung geschickt. In den Gebieten unter Regierungskontrolle gibt es eine Vielzahl an Kontrollpunkten. Ein syrischer Wissenschaftler erklärt gegenüber European Union Agency for Asylum (EUAA), dass es sich bei den meisten Kontrollpunkten in Damaskus um mobile Checkpoints handelt, die hauptsächlich von der Militärpolizei besetzt und häufig in Gebieten positioniert sind, wo sich viele junge Männer aufhalten. Rekrutierungen finden außerdem an Universitäten und Krankenhäusern statt. Auch an Grenzübergängen werden Wehrpflichtige eingezogen. In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten, wie der Provinz Rif Dimashq, sendet die Armee Listen mit zur Wehrpflicht gesuchten Personen an die Polizei in der Region. Diese Listen werden dann bei staatlichen Institutionen ausgehängt und den Beamten an Kontrollpunkten übermittelt. Viele Männer, die in ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten leben, wurden als Teil von Versöhnungsvereinbarungen rekrutiert. Als Teil der Vereinbarungen sollte es eine sechsmonatige Schonfrist geben. Die Regierung habe sich jedoch wiederholt nicht an die Frist gehalten und Männer verhaftet und rekrutiert, bevor die sechs Monate abgelaufen waren (ACCORD).
Obwohl die offizielle Wehrdienstzeit etwa zwei Jahre beträgt, werden Wehrpflichtige in der Praxis auf unbestimmte Zeit eingezogen, wobei zuletzt von einer „Verkürzung“ des Wehrdienstes auf 7,5 Jahre berichtet wurde. Die tatsächliche Dauer richtet sich laut UNHCR Syrien jedoch nach Rang und Funktion der Betreffenden. Personen, die aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse von großem Wert für die Armee und nur schwer zu ersetzen sind, können daher über Jahre hinweg im Militärdienst gehalten werden. Personen, deren Beruf oder Fachwissen in der Gesellschaft sehr gefragt ist, wie z.B. Ärzte, dürfen eher nach Ablauf der offiziellen Militärdienstzeit ausscheiden (LIB).
Seit März 2020 hat es in Syrien keine größeren militärischen Offensiven an den offiziellen Frontlinien mehr gegeben. Scharmützel, Granatenbeschuss und Luftangriffe gingen weiter, aber die Frontlinien waren im Grunde genommen eingefroren. Nach dem Ausbruch von COVID-19 und der Einstellung größerer Militäroperationen in Syrien Anfang 2020 verlangsamten sich Berichten zufolge die militärischen Rekrutierungsmaßnahmen der SAA. Die SAA berief jedoch regelmäßig neue Wehrpflichtige und Reservisten ein. Im Oktober 2021 wurde ein Rundschreiben herausgegeben, in dem die Einberufung von männlichen Syrern im wehrpflichtigen Alter angekündigt wurde. Auch in den wiedereroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Militärdienst ableisten. Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (LIB).
Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle
Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die SAA eingezogen zu werden. Die Absolvierung des „Wehrdiensts“ gemäß der „Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien“ [Autonomous Administration of North and East Syria (AANES)] befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien. Die syrische Regierung verfügt über mehrere kleine Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese die Bezeichnung „Sicherheitsquadrate“ (al-Morabat al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befinden. Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw. „Sicherheitsquadraten“ auseinander - auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten. Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im „Sicherheitsquadrat“ im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor. Dies wird auch von SNHR bestätigt, die ebenfalls angeben, dass die Rekrutierung durch die syrischen Streitkräfte an deren Zugriffsmöglichkeiten gebunden ist. Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat] hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren. Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z.B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o. Ä.] anerkennt (LIB).
1.3.4.2. Wehrdienstverweigerung – Letzte Änderung: 12.03.2024
In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis. Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen. Rechtsexperten der Free Syrian Lawyers Association (FSLA) mit Sitz in der Türkei beurteilen, dass das syrische Regime die Verweigerung des Militärdienstes als schweres Verbrechen betrachtet und die Verweigerer als Gegner des Staates und der Nation behandelt. Dies spiegelt die Sichtweise des Regimes auf die Opposition wie auch jede Person wider, die versucht, sich seiner Politik zu widersetzen oder ihr zu entkommen. Der Syrien-Experte Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt „ihr Land zu verteidigen“. Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit „gerettet“ haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben. Ein für eine internationale Forschungsorganisation mit Schwerpunkt auf den Nahen Osten tätiger Syrienexperte, der allerdings angibt, dazu nicht eigens Forschungen durchgeführt zu haben, geht davon aus, dass das syrische Regime möglicherweise am Anfang des Konflikts, zwischen 2012 und 2014, Wehrdienstverweigerer durchwegs als oppositionell einstufte, inzwischen allerdings nicht mehr jeden Wehrdienstverweigerer als oppositionell ansieht. Gemäß Auswärtigem Amt legen einige Berichte nahe, dass Familienangehörige von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern ebenfalls Verhören und Repressionen der Geheimdienste ausgesetzt sein könnten (LIB).
Handhabung
Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt, und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen. Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren. Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder „verschwindengelassen“ werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (LIB).
Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird. Die Strafe für Wehrdienstentzug ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als „Kanonenfutter“), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter). Dem hingegegn gibt ein von EUAA interviewter Experte an, dass Wehrdienstverweigerer, die von der syrischen Regierung gefasst werden, der Militärpolizei übergeben werden und schließlich in Trainingslager zur Ausbildung und Stationierung gesendet werden. Bis zum Beginn einer Wehrdienstausbildung, die normalerweise im April und September geplant sind, bleibt der Wehrdienstverweigerer bei der Militärpolizei. Selbst für privilegierte Personen mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden. Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen. Auch einige Quellen des Danish Immigration Service geben an, dass Wehrdienstverweigerer mit einer Haftstrafe von bis zu neun Monaten rechnen müssen. Andere Quellen des Danish Immigration Service wiederum berichteten, dass Wehrdienstverweigerer direkt zum Wehrdienst eingezogen, ohne vorher inhaftiert zu werden. Wer an einem Checkpoint als Wehrdienstverweigerer erwischt wird, wird dem Geheimdienst übergeben. Ein Wehrdienstverweigerer, der nicht aus anderen Gründen gesucht wird, wird dem Militär zur Ableistung des Wehrdienstes übergeben. Wehrdienstverweigerer werden meist direkt an die Front geschickt. Wehrdienstverweigerer aus den Gebieten, die von der Opposition kontrolliert wurden, werden dabei mit größerem Misstrauen betrachtet und mit größerer Wahrscheinlichkeit inhaftiert oder verhaftet (LIB).
Manche Quellen berichten, dass Wehrdienstverweigerung für sich genommen momentan nicht zu Repressalien für die Familienmitglieder der Betroffenen führt. Insbesondere die politische oder militärische Haltung gegenüber der Syrischen Regierung wirkt sich auf die Art der Behandlung der Familie des Wehrdienstverweigerer aus. Familien von Deserteuren sind dabei einem höheren Risiko ausgesetzt als jene von Wehrdienstverweigerern (LIB).
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen berichtete im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen durch die Regierungskräfte, darunter auch von Personen, die sich zuvor mit der Regierung „ausgesöhnt“ hatten. Andere wurden vor der am 21.12.2022 angekündigten Amnestie für Verbrechen der „internen und externen Desertion vom Militärdienst“ aufgrund von Tatbeständen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht inhaftiert (LIB).
1.3.4.3. Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien – Letzte Änderung: 27.03.2024
Wehrpflichtgesetz der „Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien“
Auch aus den nicht vom Regime kontrollierten Gebieten Syriens gibt es Berichte über Zwangsrekrutierungen. Im Nordosten des Landes hat die von der kurdischen Partei PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat, Partei der Demokratischen Union] dominierte „Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien“ [Autonomous Administration of North and East Syria, AANES] 2014 ein Wehrpflichtgesetz verabschiedet, welches vorsah, dass jede Familie einen „Freiwilligen“ im Alter zwischen 18 und 40 Jahren stellen muss, der für den Zeitraum von sechs Monaten bis zu einem Jahr in den YPG [Yekîneyên Parastina Gel, Volksverteidigungseinheiten] dient. Im Juni 2019 ratifizierte die AANES ein Gesetz zur „Selbstverteidigungspflicht“, das den verpflichtenden Militärdienst regelt, den Männer über 18 Jahren im Gebiet der AANES ableisten müssen. Am 4.9.2021 wurde das Dekret Nr. 3 erlassen, welches die Selbstverteidigungspflicht auf Männer beschränkt, die 1998 oder später geboren wurden und ihr 18. Lebensjahr erreicht haben. Gleichzeitig wurden die Jahrgänge 1990 bis 1997 von der Selbstverteidigungspflicht befreit. Der Altersrahmen für den Einzug zum Wehrdienst ist nun in allen betreffenden Gebieten derselbe, während er zuvor je nach Gebiet variierte. So kam es in der Vergangenheit zu Verwirrung, wer wehrpflichtig war. Mit Stand September 2023 war das Dekret noch immer in Kraft (LIB).
Die Wehrpflicht gilt in allen Gebieten unter der Kontrolle der AANES, auch wenn es Gebiete gibt, in denen die Wehrpflicht nach Protesten zeitweise ausgesetzt wurde. Es ist unklar, ob die Wehrpflicht auch für Personen aus Afrin gilt, das sich nicht mehr unter der Kontrolle der „Selbstverwaltung“ befindet. Vom Danish Immigration Service (DIS) befragte Quellen machten hierzu unterschiedliche Angaben. Die Wehrpflicht gilt nicht für Personen, die in anderen Gebieten als den AANES wohnen oder aus diesen stammen. Sollten diese Personen jedoch seit mehr als fünf Jahren in den AANES wohnen, würde das Gesetz auch für sie gelten. Wenn jemand in seinem Ausweis als aus Hasakah stammend eingetragen ist, aber sein ganzes Leben lang z.B. in Damaskus gelebt hat, würde er von der „Selbsverwaltung“ als aus den AANES stammend betrachtet werden und er müsste die „Selbstverteidigungspflicht“ erfüllen. Alle ethnischen Gruppen und auch staatenlose Kurden (Ajanib und Maktoumin) sind zum Wehrdienst verpflichtet. Araber wurden ursprünglich nicht zur „Selbstverteidigungspflicht“ eingezogen, dies hat sich allerdings seit 2020 nach und nach geändert (LIB).
Ursprünglich betrug die Länge des Wehrdiensts sechs Monate, sie wurde aber im Jänner 2016 auf neun Monate verlängert. Artikel zwei des Gesetzes über die „Selbstverteidigungspflicht“ vom Juni 2019 sieht eine Dauer von zwölf Monaten vor. Aktuell beträgt die Dauer ein Jahr und im Allgemeinen werden die Männer nach einem Jahr aus dem Dienst entlassen. In Situationen höherer Gewalt kann die Dauer des Wehrdiensts verlängert werden, was je nach Gebiet entschieden wird. Beispielsweise wurde der Wehrdienst 2018 aufgrund der Lage in Baghouz um einen Monat verlängert. In Afrin wurde der Wehrdienst zu drei Gelegenheiten in den Jahren 2016 und 2017 um je zwei Monate ausgeweitet. Die Vertretung der „Selbstverwaltung“ gab ebenfalls an, dass der Wehrdienst in manchen Fällen um einige Monate verlängert wurde. Wehrdienstverweigerer können zudem mit der Ableistung eines zusätzlichen Wehrdienstmonats bestraft werden (LIB).
Wehrdienstverweigerung
Es kommt zu Überprüfungen von möglichen Wehrpflichtigen an Checkpoints und auch zu Ausforschungen. Die Selbstverwaltung informiert einen sich dem Wehrdienst Entziehenden zweimal bezüglich der Einberufungspflicht durch ein Schreiben an seinen Wohnsitz, und wenn er sich nicht zur Ableistung einfindet, sucht ihn die „Militärpolizei“ unter seiner Adresse. Die meisten sich der „Wehrpflicht“ entziehenden Männer werden jedoch an Checkpoints ausfindig gemacht (LIB).
Die Sanktionen für die Wehrdienstverweigerung ähneln denen im von der Regierung kontrollierten Teil. Laut verschiedener Menschenrechtsorganisationen wird das „Selbstverteidigungspflichtgesetz“ auch mit Gewalt durchgesetzt, während der DIS nur davon berichtet, dass Wehrpflichtige, welche versuchen, dem Militärdienst zu entgehen, laut Gesetz durch die Verlängerung der „Wehrpflicht“ um einen Monat bestraft würden – zwei Quellen zufolge auch in Verbindung mit vorhergehender Haft „für eine Zeitspanne“. Dabei soll es sich oft um ein bis zwei Wochen handeln, um einen Einsatzort für die Betreffenden zu finden. Ähnliches berichteten ein von ACCORD befragter Experte, demzufolge alle Wehrdienstverweigerer nach dem Gesetz der Selbstverteidigungspflicht gleich behandelt würden. Die kurdischen Sicherheitsbehörden namens Assayish würden den Wohnort der für die Wehrpflicht gesuchten Personen durchsuchen, an Checkpoints Rekrutierungslisten überprüfen und die Gesuchten verhaften. Nach dem Gesetz werde jede Person, die dem Dienst fernbleibe, verhaftet und mit einer Verlängerung des Dienstes um einen Monat bestraft. Die ÖB Damaskus erwähnt auch Haftstrafen zusätzlich zur [Anm.: nicht näher spezifizierten] Verlängerung des Wehrdiensts. Hingegen dürften die Autonomiebehörden eine Verweigerung nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung sehen. Einem von ACCORD befragten Syrienexperten zufolge hängen die Konsequenzen für die Wehrdienstverweigerung vom Profil des Wehrpflichtigen ab sowie von der Region, aus der er stammt. In al-Hasakah beispielsweise könnten Personen im wehrpflichtigen Alter zwangsrekrutiert und zum Dienst gezwungen werden. Insbesondere bei der Handhabung des Gesetzes zur Selbstverteidigungspflicht gegenüber Arabern in der AANES gehen die Meinungen der Experten auseinander. Grundsätzlich gilt die Pflicht für Araber gleichermaßen, aber einem Experten zufolge könne die Behandlung je nach Region und Zugriffsmöglichkeit der SDF variieren und wäre aufgrund der starken Stammespositionen oft weniger harsch als gegenüber Kurden. Ein anderer Experte wiederum berichtet von Beleidigungen und Gewalt gegenüber arabischen Wehrdienstverweigerern (LIB).
Eine Möglichkeit zur Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen besteht nicht (LIB).
1.3.5. Ethnische und religiöse Minderheiten – Letzte Änderung: 17.07.2023
Die anhaltende Vertreibung der syrischen Bevölkerung führt zu einem gewissen Grad an Unsicherheit in den demografischen Daten. Schätzungen der US-Regierung zufolge dürften die Sunniten 74 % der Bevölkerung stellen, wobei diese sich aus AraberInnen, KurdInnen, TscherkessInnen, TschetschenInnen und einigen TurkmenInnen zusammensetzen. Andere muslimische Gruppen, einschließlich AlawitInnen, IsmailitInnen und (Zwölfer) SchiitInnen machen zusammen 13 % aus, die DrusInnen 3 %. Verschiedene christliche Gruppen bilden die verbleibenden 10 %, wobei laut Berichten davon auszugehen ist, dass ihre Zahl mit geschätzten 2,5 % nun bedeutend geringer ist. Vor dem Bürgerkrieg gab es in Syrien ungefähr 80.000 JesidInnen (LIB).
Die Situation von Angehörigen religiöser und ethnischer Minderheiten ist von Gebiet zu Gebiet unterschiedlich und hängt insbesondere von den Akteuren ab, die das Gebiet kontrollieren, von den Ansichten und Wahrnehmungen dieser Akteure gegenüber Angehörigen anderer religiöser und ethnischer Minderheitengruppen sowie von den spezifischen Konfliktentwicklungen in diesen Gebieten. Im Zuge des Konflikts wurden Mitglieder religiöser Minderheiten wie auch SunnitInnen Ziel von verschiedenen Gruppen, welche von der UNO, den USA und anderen als Terrorgruppen eingestuft worden waren - darunter auch HTS, in Form von Morden, Entführungen, physischen Misshandlungen und Haft. Tausende tote und verschwundene ZivilistInnen waren die Folge (LIB).
Die syrische Regierung, kurdische Truppen, von der Türkei unterstützte oppositionelle Milizen und islamistisch-extremistische Gruppen haben alle versucht, die ethnische Zusammensetzung ihrer Gebiete zu verändern. Sie haben ZivilistInnen gezwungen, bei ihrer jeweiligen religiösen oder ethnischen Gemeinschaft Zuflucht zu suchen, was zu demografischen Änderungen durch den Bürgerkrieg beiträgt (LIB).
Die sunnitisch-arabische Zivilbevölkerung traf die Hauptlast der Angriffe der alawitisch-geführten Regierung und ihrer Milizen. Von 2018 bis 2019 vertrieb das Regime 900.000 ZivilistInnen - meist sunnitische AraberInnen - aus den zurückeroberten Oppositionsgebieten durch Bombardierungen und Belagerungen in die Provinz Idlib (LIB).
Kurdische Milizen werden beschuldigt, arabische und turkmenische Gemeinschaften vertrieben zu haben. Im Jahr 2021 vertrieben christlichen Anführern zufolge türkische Bombardierungen in Nordost-Syrien ChristInnen und andere Minderheiten aus Tel Tamer und umgebenden Dörfern südöstlich des Gebiets der türkischen Militäroperation ’Friedensquelle’ (LIB).
1.3.6. Bewegungsfreiheit
1.3.6.1. Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens – Letzte Änderung: 13.03.2024
Die Verfassung sieht Bewegungsfreiheit vor, ’außer eine gerichtliche Entscheidung oder die Umsetzung von Gesetzen’ schränken diese ein. Das Regime, HTS (Hay’at Tahrir ash-Sham) und andere bewaffnete Gruppen sehen Restriktionen bei der Bewegungsfreiheit in ihren jeweiligen Gebieten vor und setzen dazu zur Überwachung Checkpoints ein (LIB).
Regierungsangriffe auf die Provinz Idlib und Teile Südsyriens schränkten die Bewegungsfreiheit ein und führten zu Todesfällen, Hunger und schwerer Mangelernährung, während die Angst vor der Vergeltung der Regierung zur Massenflucht von ZivilistInnen und dem Zusammenbruch u. a. der humanitären Hilfe führte. Im Februar 2022 ergab eine UN-Umfrage, dass 51 Prozent der geprüften Gemeinschaften von Bewegungseinschränkungen betroffen waren (LIB).
Checkpoints werden sowohl von Regimesicherheitskräften sowie lokalen und ausländischen Milizen unterhalten. In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig ungeregelte Kontrollen durchführen. Dabei kann es auch zu Forderungen nach Geldzahlungen oder willkürlichen Festnahmen kommen. Insbesondere Frauen sind in diesen Kontrollen einem erhöhten Risiko von Übergriffen ausgesetzt. Auch können Passierende gewaltsam für den Militärdienst eingezogen werden (LIB).
Überlandstraßen und Autobahnen sind zeitweise gesperrt. Reisen im Land ist durch Kampfhandlungen vielerorts weiterhin sehr gefährlich. Es gibt in Syrien eine Reihe von Militärsperrgebieten, die allerdings nicht immer eindeutig gekennzeichnet sind. Darunter fallen auch die zahlreichen Checkpoints der syrischen Armee und Sicherheitsdienste im Land. Für solche Bezirke gilt ein absolutes Verbot, sie zu betreten. Der Begriff der militärischen Einrichtung wird von den syrischen Sicherheitsdiensten umfassend ausgelegt und kann neben klar erkennbaren Kasernen, Polizeistationen und Militärcheckpoints auch schwerer zu identifizierende Infrastruktur wie z. B. Wohnhäuser hochrangiger Personen, Brücken, Rundfunkeinrichtungen oder andere staatliche Gebäude umfassen. Zudem wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um diejenigen, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete leben, am Zugang zu ihren Grundstücken oder Eigentumsdokumenten zu hindern. Es gibt auch Berichte über die Beschlagnahmung von Eigentumsdokumenten und anderen Ausweispapieren an Kontrollpunkten, einschließlich Heiratsurkunden. Dies birgt für Frauen ein besonders hohes Risiko, den Zugang zu ihrem Eigentum zu verlieren, falls das Eigentum auf den Namen des Ehemannes eingetragen ist. Die Regimesicherheitskräfte erpressen Leute an den Checkpoints für eine sichere Passage durch ihre Kontrollpunkte. So werden z. B. an den Checkpoints an der Straße von der jordanisch-syrischen Grenze nach Dara’a üblicherweise Bestechungsgelder eingehoben (LIB).
Die Kontrollpunkte grenzen die Stadtteile voneinander ab. Sie befinden sich auch an den Zugängen zu Städten und größeren Autobahnen wie etwa Richtung Libanon, Flughafen Damaskus, und an der M5-Autobahn, welche von der jordanischen Grenze durch Dara’a, Damaskus, Homs, Hama und Aleppo bis zur Grenze mit der Türkei reicht. Zurückeroberte Gebiete weisen eine besonders hohe Dichte an Checkpoints auf. Die Vierte Division, angeführt von Maher al-Assad, dem Bruder von Bashar al-Assad, übernahm die Kontrolle über alle Transportrouten Richtung Libanon und Jordanien sowie alle Hauptverkehrswege in West- und Süd-Syrien. Eine große Rekrutierungskampagne für die Besatzungen der Kontrollpunkte ist im Gang. Die Checkpoints sichern die Drogentransitrouten [Anm.: Siehe Informationen zu Ceptagon in den jeweiligen Kapiteln] und sind dabei ein Monopol auf Bestechungsgelder für Reisen durch das Land zu schaffen (LIB).
Passierende müssen an den vielen Checkpoints des Regimes ihren Personalausweis und bei Herkunft aus einem wiedereroberten Gebiet auch ihre sogenannte ’Versöhnungskarte’ vorweisen. Die Telefone müssen zur Überprüfung der Telefonate übergeben werden. Es mag zwar eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen geben, aber die Nachrichtendienste führen auch ihre eigenen Suchlisten. Seit 2011 gibt es Computer an den Checkpoints und bei Aufscheinen (in der Liste) wird die betreffende Person verhaftet. Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, u. a. wenn sie z. B. aus früher oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder auch wenn sie Verbindungen zu Personen in Oppositionsgebieten wie Nordsyrien oder zu bekannten oppositionellen Familien haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Kontrollpunkten führen. Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem, wer ihn kontrolliert. Auch die Laune und die Präferenzen des Kommandanten können eine Rolle spielen (LIB).
Die Regimesicherheitskräfte halten in einigen Fällen ZivilistenInnen von der Flucht aus belagerten Städten ab. Im Fall von Dara’a al-Balad im Jahr 2021 verletzte laut UN Commission of Inquiry for Syria die Belagerungstaktik der Pro-Regimekräfte die Bewegungsfreiheit und könnte auf eine Kollektivbestrafung hinauslaufen (LIB).
Ausländischen DiplomatInnen - einschließlich von der UNO und dem OPCW Investigation and Identification Team (IIT) (OPCW - Organization for the Prohibition of Chemical Weapons) – wurde von der syrischen Regierung der Besuch vieler Landesteile untersagt, und sie erhielten selten die Erlaubnis, außerhalb von Damaskus zu reisen (LIB).
Betreten und Verlassen des Regimegebiets
Zum Betreten und Verlassen des Regimegebiets ist eine Sicherheitsfreigabe durch das Regime nötig, was ein Hindernis für Flüchtlinge und Binnenvertriebene darstellt, welche in ihre Heimatorte zurückkehren möchten. Personen, die vom Regime als kritisch wahrgenommen werden, erhalten diese Genehmigung oft nicht - ebenso ihre Verwandten, frühere Oppositionelle sowie ehemalige BewohnerInnen von als Hochburgen der Opposition wahrgenommen Gebieten (LIB).
Laut niederländischem Außenministerium ist es unmöglich, einen Überblick zu vermitteln, welche Übergänge zwischen den Oppositionsgebieten und dem Regimegebiet im Berichtszeitraum offen waren - und zu welchem Zeitpunkt und für welche Personen und Reisezwecke. Es wird aber auf die potenzielle Gefahr von Reisen für ZivilistInnen innerhalb Syriens allgemein und besonders bei Einreisen aus den Oppositionsgebieten in das Regimegebiet wegen der Notwendigkeit des Passierens von Checkpoints der syrischen Geheimdienste, des Militärs und anderer Pro-Regime-Milizen hingewiesen (LIB).
Es ist laut niederländischem Außenministerium nicht möglich, frei vom Regimegebiet in die Gebiete der sog. Errettungsregierung (Anm.: mit HTS als dominante Kraft) oder in das Gebiet der Syrischen Interimsregierung (Anm.: mit den pro-türkischen Einheiten der Syrian National Army) zu reisen und in umgekehrter Richtung. Das gilt für alle BürgerInnen ungeachtet ihres Geschlechts, Alters, ethnischer Zugehörigkeit und Religion, und hat nichts mit der Corona-Pandemie zu tun. Es ist auch nicht möglich, vom kurdischen Selbstverwaltungsgebiet ins Gebiet der Syrischen Interimsregierung zu gelangen. Reisen zwischen dem Gebiet der sog. Errettungsregierung und der Syrischen Interimsregierung sind möglich. Manche Reisen zwischen dem Regimegebiet und dem Selbstverwaltungsgebiet (der SDF) sind möglich, aber die genauen Konditionen sind unbekannt. BewohnerInnen von al-Hassakah und Qamishli sowie Personen, die dort geboren sind, gehören zu den Personengruppen, welche vom Regimegebiet aus in diese beiden Städte reisen können, weil die Behörden dort eine gewisse Präsenz haben. Auch Leute, die im Regimegebiet wohnen, aber aus Teilen von Raqqa und Deir az-Zour stammen, die nun unter Kontrolle der Selbstverwaltung stehen, können Berichten zufolge hin und her reisen, um ihre Besitztümer zu überprüfen oder Land zu kultivieren (LIB).
Die Situation bezüglich des Warenverkehrs stellt sich anders dar als bei Personen – landwirtschaftliche Produkte können vom Regimegebiet aus in andere Landesteile gebracht werden (LIB).
1.3.6.2. Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen – Letzte Änderung: 13.03.2024
Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten geografischen Gebiet verweigern. Das syrische Regime hat zudem Erfordernisse für Ausreisegenehmigungen eingeführt. Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition oder Personen, die als solche wahrgenommen werden oder mit diesen oder mit Oppositionsgebieten in Verbindung stehen. Deshalb zögern diese sowie ihre Familien, eine Ausreise zu versuchen, aus Angst vor Angriffen/Übergriffen und Festnahmen an den Flughäfen und Grenzübergängen. Auch JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen sowie Personen, die sich in der Zivilgesellschaft engagieren, sowie deren Familien und Personen mit Verbindungen zu ihnen werden oft mit einem Ausreiseverbot belegt. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer. Erhalten AktivistInnen oder JournalistInnen eine Ausreiseerlaubnis, so werden sie bei ihrer Rückkehr verhört. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten, und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (LIB).
In Syrien betragen die Kosten für einen Reisepass aktuell 7 USD im regulären Verfahren und 56 USD im sogenannten „Expressverfahren“, welches dennoch mehrere Wochen dauern kann. Im Ausland liegen die Kosten bei 300 USD für das Regel- und 800 USD für das Expressverfahren. Die Gültigkeit beträgt in der Regel nur zwei Jahre. Damit ist der syrische Pass einer der teuersten der Welt. Seit Ende 2022 lässt sich beobachten, dass Ämter in Aleppo und Hama wieder Reisepässe für vertriebene syrische Staatsangehörige aus Oppositionsgebieten ausstellen, bei denen als Ausstellungsort „Idlib Center“ angegeben wird. Eine (nicht-repräsentative) Preisermittlung durch Forschungspartner des Auswärtigen Amts hat ergeben, dass etwa die Gebühren für Reisepässe für syrische Staatsangehörige in den Oppositionsgebieten nahe an den im Ausland erhobenen Preisen liegen (Idlib: 700 USD, Azaz 600 USD) und selbst einfache Auszüge um ein Vielfaches teurer sind als in den Regimegebieten (Idlib 60 USD, Azaz 50 USD). Eine Ausnahme bildet al-Qamishli im Nordosten, wo das Regime in Abstimmung mit den sogenannten Selbstverwaltungsbehörden ein Sicherheits- und Verwaltungszentrum unterhält, in dem entsprechende Dienstleistungen günstiger ausfallen (Reisepass: 300 USD, Registerauszug 6 USD). Die Selbstbeschaffung durch Passieren informeller Checkpoints an der Front ist sowohl lebensgefährlich als auch teuer (1.000 USD/Strecke) (LIB).
Flüchtlingsbewegungen finden in die angrenzenden Nachbarländer statt. Die Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen, bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden, und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen. Das Regime schließt regelmäßig den Flughafen von Damaskus sowie Grenzübergänge und begründet dies mit Gewalt, bzw. drohender Gewalt. Im Anschluss an israelische Luftschläge auf die Flughäfen Aleppo und Damaskus musste der Flugverkehr teilweise eingestellt werden (LIB).
Die auf Grund von COVID-19 verhängten Sperren der Grenzübergänge vom regierungskontrollierten Teil in den Libanon, nach Jordanien (Nasib) und in den Irak (Al- Boukamal) für den Personenverkehr wurden zwischenzeitig aufgehoben. Neue Einschränkungen seitens des Libanon sind mehr der Vermeidung illegaler Migration aus Syrien in den Libanon als COVID-Maßnahmen geschuldet. Der libanesische Druck zur freiwilligen Rückkehr einer wachsenden Zahl syrischer Flüchtlinge steigt. Die Grenzen zwischen der Türkei und den syrischen kurdisch besetzten Gebieten sind geschlossen; zum Irak hin sind diese durchlässiger (LIB).
Fishkhabour/Semalka als einziger für Personen offener Grenzübergang zum Irak ohne direkten Regimekontakt:
Der Fluss Tigris trennt die beiden Seiten des Grenzübergangs Fishkhabour/Semalka [Anm.: verschiedene Umschriften möglich, z. B. auch Faysh Khabour, Peshkhabour]. Es gibt zwei Flussübergänge - einen für private bzw. zivile Reisebewegungen und einen für kommerzielle und humanitäre Güter. Auf der syrischen Seite kontrolliert die PYD (Partei der Demokratischen Union) den Semalka-Übergang, und laut Journalist Hisham Arafat sind zwei Organe der [Anm.: selbst ernannten] Selbstverwaltungsregion AANES (Autonomous Administration of North and East Syria) vor Ort: 1.) die Asayish (Sicherheitspolizei) in Form von Wachen (Polizei oder interne Sicherheitskräfte der AANES) und 2.) die zivile Grenzverwaltung, deren Personal für die Dokumente der Reisenden bei Ein- und Ausreise zuständig ist. Am Grenzübergang Semalka sind keine Beamten des syrischen Staates präsent. Auf der irakischen Seite betreibt das Kurdistan Regional Government (KRG) der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) unter der Leitung von Direktor Shawkat Barbuhari (Berbihary) den Grenzübergang Fishkhabour. Sein Stellvertreter ist Nazim Hamid Abdullah. Hamid Darbandi ist nicht nur Leiter der Abteilung für Public Relations der Präsidentschaft der KRG, sondern auch für die Beziehungen zu Syrien, bzw. den syrischen Kurd:innen. Er spielt eine Rolle bei Genehmigungen, besonders für Ausländer:innen, welche die Grenze überqueren wollen. Einer zweiten syrisch-kurdischen Quelle zufolge werden beide Seiten des Grenzübergangs von den jeweiligen Innenministerien der kurdischen Regionalverwaltungen KRG und AANES betrieben. So sind es auch auf der irakischen Seite Asayish der KRI (Kurdistan Region Irak) bzw. der KDP, welche in manchen Fällen Personen bei der Einreise aus Syrien oder ihrer Rückkehr befragen, insbesondere, wenn es sich um Ausländer:innen handelt, die nach Syrien reisen. Der Grenzübergang Semalka gilt politisch, humanitär und wirtschaftlich als Lebensader der AANES. Nur hier können laut Thomas Schmidinger auch politische Delegationen, NGOs und andere humanitäre Organisationen den Norden und Osten Syriens erreichen (BFA).
Behandlung bei der Ein- und Ausreise am Grenzübergang Semalka/Fishkhabour
Es gibt laut Wladimir van Wilgenburg nur wenige Rückweisungen am Grenzübergang. Dabei handelt es sich auf irakischer Seite um Fälle mit politischem Hintergrund, etwa Personen, gegen die in der KRI Dossiers vorliegen. So wurde Syrer:innen das Betreten der KRI wegen des Verdachts einer Verbindung zur PKK, YPG oder PYD (Kurdische Arbeiterpartei, Volksverteidigungseinheiten, Partei der Demokratischen Union), syrischen Nachrichtendiensten oder pro-türkischen Milizen wie der SNA (Syrian National Army) und FSA (Freie Syrische Armee) verwehrt. Personen mit wahrgenommenen Verbindungen zur Selbstverwaltung (AANES), YPG oder SDF (Syrian Democratic Forces) erlangen laut Einschätzung eines von van Wilgenburg befragten Aktivisten nicht so leicht Zutritt (BFA).
Rückkehr
Die Regierung erlaubt SyrerInnen, die im Ausland leben, ihre abgelaufenen Reisepässe an den Konsulaten zu erneuern. Viele SyrerInnen, die aus Syrien geflohen sind, zögern jedoch, die Konsulate zu betreten, aus Angst, dass dies zu Repressalien gegen Familienangehörige in Syrien führen könnte (LIB).
Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen ’black lists’ betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Je nach Sachlage kann es aber (z.B. aufgrund von Desertion oder Wehrdienstverweigerung oder früherer politischer Tätigkeit) durchaus zu Schwierigkeiten mit den syrischen Behörden kommen. Seit 1.8.2020 wurde – bedingt durch den Devisenmangel – bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt. Damit einher geht ein Kursverlust gegenüber Umtausch zum Marktkurs von mittlerweile bereits mehr als 50 Prozent (LIB).
Auch länger zurückliegende Gesetzesverletzungen im Heimatland (z. B. illegale Ausreise) können von den syrischen Behörden bei einer Rückkehr verfolgt werden. In diesem Zusammenhang kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Z.B. müssen deutsche männliche Staatsangehörige, die nach syrischer Rechtsauffassung auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie syrische Staatsangehörige mit Aufenthaltstitel in Deutschland auch bei nur besuchsweiser Einreise damit rechnen, zum Militärdienst eingezogen oder zur Zahlung eines Geldbetrages zur Freistellung vom Militärdienst gezwungen zu werden. Eine vorab eingeholte Reisegenehmigung der syrischen Botschaft stellt keinen verlässlichen Schutz vor Zwangsmaßnahmen seitens des syrischen Regimes dar. Auch aus Landesteilen, die aktuell nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen, sind Fälle zwangsweiser Rekrutierung bekannt. Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung kommen kann. Häufiger werden die Festgenommenen an Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, oft in den Raum Damaskus (LIB).
Es ist nicht Standard, dass SyrerInnen bei der legalen Ein- und Ausreise nach ihren Login- Daten für ihre Konten für soziale Medien gefragt werden, aber für Einzelfälle kann das nicht ausgeschlossen werden, z. B. wenn jemand - aus welchem Grund auch immer - auf dem Flughafen das Interesse der Behörden bei der Ausreise - erweckt (LIB).
Durch das Fehlen klarer Informationen über das Prozedere für eine Rückkehr, durch das Zurückhalten der Gründe für die Ablehnung einer Rückkehr, bzw. durch das Fehlen einer Einspruchsmöglichkeit enthält die syrische Regierung ihren BürgerInnen im Ausland das Recht auf Einreise in ihr eigenes Land vor (LIB).
1.3.7. Rückkehr – Letzte Änderung: 13.03.2024
Seit 2011 waren 12,3 Millionen Menschen in Syrien gezwungen, zu flüchten - 6,7 Millionen sind aktuell laut OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) Binnenvertriebene (LIB).
Die offizielle politische Position des Regimes hinsichtlich der Rückkehr von Geflüchteten wurde im Berichtszeitraum angepasst. In einem anlässlich des UNHCR-Exekutivkomitees am 12.10.2023 veröffentlichten Statement versicherte das syrische Regime, dass es sichere Rückkehrbedingungen schaffe. Die Versprechungen, z. B. zum Wehrdienst, bleiben jedoch vage. Nach Einschätzung vieler Beobachter könne kaum mit großangelegter Flüchtlingsrückkehr gerechnet werden (LIB).
Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht durch verschiedene Akteure, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen könnten, und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen gegeben. Eine UNHCR-Umfrage im Jahr 2022 unter syrischen Flüchtlingen in Ägypten, Libanon, Jordanien und Irak ergab, dass nur 1,7 Prozent der Befragten eine Rückkehr in den nächsten 12 Monaten vorhatten. Obwohl sich am Bestehen der Fluchtursachen, insbesondere im Hinblick auf verbreitete Kampfhandlungen sowie die in weiten Teilen des Landes katastrophale humanitäre, wirtschaftliche und Menschenrechtslage nichts geändert hat, erhöhen manche Aufnahmestaaten in der Region gezielt den politischen, rechtlichen und sozioökonomischen Druck auf syrische Geflüchtete, um eine „freiwillige Rückkehr“ zu erwirken (LIB).
RückkehrerInnen nach Syrien müssen laut Human Rights Watch mit einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen rechnen, von willkürlicher Verhaftung, Folter, Verschwindenlassen bis hin zu Beschränkungen beim Zugang zu ihren Herkunftsgebieten. Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, in absoluten Zahlen betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert. Unverändert besteht somit in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden. Nach entsprechenden Berichten von Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) von September bzw. Oktober 2021 präsentierten der Zusammenschluss von Zivilgesellschaftsorganisationen Voices for Displaced Syrians Forum und der Think Tank Operations and Policy Center im Frühjahr 2022 eine gemeinsame Studie (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens. Diese dokumentiert innerhalb eines Jahres schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien. UNHCR, IKRK und IOM vertreten unverändert die Auffassung, dass die Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien in Sicherheit und Würde angesichts der unverändert bestehenden, signifikanten Sicherheitsrisiken in ganz Syrien nicht erfüllt sind. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann derzeit insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden (LIB).
Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien laut Auswärtigem Amt weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (LIB).
Wahrnehmung von RückkehrerInnnen ja nach Profil
Nach zuvor vorwiegend rückkehrkritischen öffentlichen Äußerungen hat die syrische Regierung seine Politik seit Ankündigung eines sogenannten „Rückkehrplans“ für Flüchtlinge durch Russland 2018 sukzessive angepasst und im Gegenzug für eine Flüchtlingsrückkehr Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und die Aufhebung westlicher Sanktionen gefordert. Die Rückkehr von ehemaligen Flüchtlingen ist trotzdem nicht erwünscht, auch wenn offiziell mittlerweile das Gegenteil gesagt wird. Rückkehrende werden vom Regime häufig als „VerräterInnen“ deklariert, bzw. insgeheim als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition und/oder bewaffneter Gruppen angesehen. Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (regime-)kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiärer Verbindung zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (LIB).
Jeder, der geflohen ist und einen Flüchtlingsstatus hat, ist in den Augen des Regimes bereits verdächtig. Aus Sicht des syrischen Staates ist es daher besser, wenn diese SyrerInnen im Ausland bleiben, damit ihr Land und ihre Häuser umverteilt werden können, um Assads soziale Basis neu aufzubauen. Minderheiten wie Alawiten und Christen, reiche Geschäftsleute und Angehörige der Bourgeoisie sind hingegen für Präsident al-Assad willkommene Rückkehrer. Für arme Menschen, z. B. aus den Vorstädten von Damaskus oder Aleppo, hat der syrische Staat jedoch keine Verwendung, zumal keine Kapazitäten zur Unterstützung von (mittellosen) Rückkehrenden vorhanden sind (LIB).
Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen, Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (LIB).
Anhand der von der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, NGOs und anderen dokumentierten Einzelschicksalen der Vergangenheit ist die Bedrohung der persönlichen Sicherheit im Einzelfall das zentrale Hindernis für Rückkehrende. Dabei gilt nach Ansicht des deutschen Auswärtigen Amts, dass sich die Frage einer möglichen Gefährdung des Individuums weder auf etwaige Sicherheitsrisiken durch Kampfhandlungen und Terrorismus beschränken lässt, noch ganz grundsätzlich eine Eingrenzung auf einzelne Landesteile möglich ist. Entscheidend für die Sicherheit von Rückkehrenden bleibt vielmehr die Frage, wie der oder die Rückkehrende von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen wird. Rückkehr auf individueller Basis findet, z. B. aus der Türkei, insbesondere in Gebiete statt, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen. Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (LIB).
Das deutsche Auswärtige Amt zieht den Schluss, dass eine sichere Rückkehr Geflüchteter insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden kann. UNHCR ruft weiterhin die Staaten dazu auf, keine zwangsweise Rückkehr von syrischen Staatsbürgern sowie ehemals gewöhnlich dort wohnenden Personen - einschließlich früher in Syrien ansässiger Palästinenser - in irgendeinen Teil Syrien zu veranlassen, egal wer das betreffende Gebiet in Syrien beherrscht (LIB).
1.3.7.1. Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort – Letzte Änderung: 14.03.2024
Administrative Verfahren der syrischen Behörden für RückkehrerInnen
Die syrische Regierung bietet administrative Verfahren an, die Rückkehrwillige aus dem Ausland oder aus von der Opposition kontrollierten Gebieten vor der Rückkehr in durch die Regierung kontrollierte Gebiete durchlaufen müssen, um Probleme mit der Regierung zu vermeiden. Im Rahmen dieser Verfahren führen die syrischen Behörden auf die eine oder andere Weise eine Überprüfung der RückkehrerInnen durch. Während des als ’Sicherheitsüberprüfung’ (arabisch muwafaka amniya) bezeichneten Verfahrens werden die Namen der AntragstellerInnen mit Fahndungslisten verglichen. Beim sogenannten ’Statusregelungsverfahren’ (arabisch: taswiyat wade) beantragen die AntragstellerInnen, wie es in einigen Quellen heißt, die ’Versöhnung’, sodass ihre Namen von den Fahndungslisten der syrischen Behörden gestrichen wird. Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen (LIB).
Hindernisse für die Rückkehr
Laut einer Erhebung der Syrian Association for Citizen’s Dignity (SACD) ist für 58 Prozent aller befragten Flüchtlinge die Abschaffung der Zwangsrekrutierung die wichtigste Bedingung für die Rückkehr in ihre Heimat. Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach der Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar zum Militärdienst eingezogen wurden (LIB).
Rückkehr an den Herkunftsort
Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie von der Region bestimmt, in die sie zurückkehren, sondern davon, wie die RückkehrerInnen von den Akteuren, die die jeweiligen Regionen kontrollieren, wahrgenommen werden. Die Rückkehr an den Herkunftsort innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete erfordert einen anderen Weg, der von lokalen Machthabern wie den Gemeindebehörden oder den die Regierung unterstützenden Milizen gesteuert wird. Die Verfahren, um eine Genehmigung für die Einreise in den Herkunftsort zu erhalten, variieren von Ort zu Ort und von Akteur zu Akteur. Da sich die lokale Machtdynamik im Laufe der Zeit verschiebt, sind auch die unterschiedlichen Verfahren Veränderungen unterworfen (LIB).
Einige ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind für alle, die in ihre ursprünglichen Häuser zurückkehren wollen, praktisch abgeriegelt. In anderen versucht das Regime, die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung einzuschränken, um eine Wiederherstellung des sozialen Umfelds, das den Aufstand unterstützt hat, zu vermeiden. Einige nominell vom Regime kontrollierte Gebiete wie Dara’a, die Stadt Deir ez-Zour und Teile von Aleppo und Homs konfrontieren für Rückkehrer mit schweren Zerstörungen, der Herrschaft regimetreuer Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des Islamischen Staats oder einer Kombination aus allen drei Faktoren. So durften z. B. nach Angaben von Aktivisten bisher nur wenige Familien mit Verbindungen zu regierungsnahen Milizen und ältere Bewohner zurückkehren (LIB).
Rückkehrende werden vom Regime häufig als „VerräterInnen“ deklariert und sehen sich daher oft mit weitreichender systematischer Willkür bis hin zu vollständiger Rechtlosigkeit konfrontiert. Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen. Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu unvorhergesehenen Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass selbst eine von der jeweiligen Sicherheitsbehörde vorgenommene positive Sicherheitsüberprüfung jederzeit von dieser revidiert werden kann und damit keine Garantie für eine sichere Rückkehr leistet (LIB).
Anhand der von der CoI (Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic der Vereinten Nationen), Nichtregierungsorganisationen (NRO) und anderen dokumentierten Einzelschicksalen der Vergangenheit ist die Bedrohung der persönlichen Sicherheit im Einzelfall das zentrale Hindernis für Rückkehrende. Unverändert besteht nach Bewertung des deutschen Auswärtigen Amts in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden (LIB).
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend (abgesehen von transkriptionsbedingt unterschiedlichen Schreibweisen) übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache und weiteren Sprachen, seinen Familienangehörigen, seinem Familienstand, seinem Aufwachsen in Syrien, seiner Schul-und Universitätsbildung und seiner Berufserfahrung gründen sich auf die diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben vor der Behörde und in der mündlichen Verhandlung. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen bzw. nachvollziehbar aktualisierten Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.
Die Feststellung zum Geburtsort des Beschwerdeführers beruht auf seinen Angaben in der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde (vgl. AS 55) und der Übersetzung des vorgelegten syrischen Militärbuches in Kopie (vgl. AS 81: „Registerort: XXXX “). Auch in der schriftlichen Beschwerde und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab der Beschwerdeführer durchgehend an, in der Ortschaft XXXX geboren und aufgewachsen zu sein (vgl. AS 178; Niederschrift vom 16.09.2024, S. 5).
Der vertretene Beschwerdeführer brachte in der Beschwerde (vgl. AS 178, 182, 206, 207) und seine Rechtsvertretung am Ende der mündlichen Verhandlung vor, dass die belangte Behörde den Herkunftsort des Beschwerdeführers nicht richtig festgestellt habe; es sei fälschlich angenommen worden, dass sein Herkunftsort Aleppo darstelle. Dies sei nicht richtig, da er aufgrund seines Studiums, somit freiwillig, nach Latakia gezogen sei und von dort aufgrund der abgelaufenen Wehrdienstaufschübe, somit unfreiwillig, wieder in seinen Geburtsort habe ziehen müssen (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 16). In der mündlichen Verhandlung hierzu befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er im Dorf XXXX geboren sei und bis 2012 dort gewohnt habe. Dann habe er bis 2019 in Latakia gelebt (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 5). In seiner Zeit in Latakia habe er studiert, gearbeitet, geheiratet und auch seine Tochter sei dort geboren. Er habe in Latakia in einer gemieteten Wohnung gelebt (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 6, 7). Von 2019 bis zu seiner Ausreise aus Syrien 2022 habe der Beschwerdeführer wieder in seinem Geburtsdorf gelebt. Er sei aus Latakia weggezogen, da er keine Wehrdienstaufschübe mehr erhalten habe (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 7). Fest steht, dass der Beschwerdeführer im Jahr 2012, als er seinen Geburtsort verließ, XXXX Jahre alt war. Er hat somit den Großteil seines Lebens mit seiner Familie in seinem Geburtsort gelebt, er ist dort aufgewachsen und sozialisiert worden. Er zog zwar nach Latakia und fasste dort auch Fuß, indem er dort heiratete, studierte, arbeitete und seine Ehefrau ihre zwei ältesten Kinder zur Welt brachte, jedoch bestehen weiterhin mehr Bezugspunkte zu seinem Geburtsort. In Latakia wohnte der Beschwerdeführer lediglich in einer Mietwohnung (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 6), seine Heirat und die Geburt seiner beiden ältesten Kinder wurden in seinem Geburtsdorf eingetragen (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 7; AS 57), sein vorgelegter Personalausweis wurde ebenso am 12.06.2019 im Meldeamt „ XXXX “ ausgestellt (vgl. AS 29), seine Ehefrau, seine Kinder und seine Mutter wohnen weiterhin in seinem Geburtsdorf (vgl. AS 55; Niederschrift vom 16.09.2024, S. 7), auch seine Ehefrau stammt aus demselben Dorf (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 7) und seinen in Saudi-Arabien lebenden Brüder gehören Eigentumshäuser in XXXX (vgl. AS 56). Sämtliche familiären Bindungen in Syrien befinden sich somit in seinem Geburtsort. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Beschwerdeführer ein gesellschaftliches Netzwerk in der Stadt Latakia hätte. Auch seine berufliche Tätigkeit übte er laut eigenen Angaben problemlos sowohl in Latakia als auch die Jahre vor seiner Ausreise in seinem Geburtsort aus (vgl. AS 58). Zudem lebte der Beschwerdeführer insgesamt eine deutlich längere Zeitspanne im Dorf XXXX (1994-2012 und 2019-2022, somit insgesamt 21 Jahre) als in der Stadt Latakia (2012-2019, somit 7 Jahre). Zusammengefasst war daher das Dorf XXXX (phonetisch: XXXX ), als Herkunftsort des Beschwerdeführers festzustellen (vgl. hierzu auch die diesbezüglichen Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung unter Punkt 3.1.3.).
Die Feststellung, dass sich das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers, das Dorf XXXX (phonetisch: XXXX ), südlich der Stadt XXXX , im Gouvernement Aleppo, im Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) befindet und von den kurdischen Autonomiebehörden (Kurdische Partei der Demokratischen Union (kurz: PYD), Syrian Democratic Forces (kurz: SDF), Yekîneyên Parastina Gel (kurz: YPG) kontrolliert wird, ergibt sich übereinstimmend aus den vorliegenden Länderberichten und den glaubhaften Aussagen des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 6).
Der Zeitpunkt der Ausreise und die Aufenthalte in durchreisten Staaten ergeben sich aus den Angaben des Beschwerdeführers in der Erstbefragung. Das Datum der Antragstellung ergibt sich aus dem Akteninhalt.
Die Feststellung zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers ergibt sich aus seinen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 3). Seine Arbeitsfähigkeit folgt aus seinem Alter, seinem Gesundheitszustand und seiner bisherigen Erwerbstätigkeit in Syrien.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.
2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:
2.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 liegt es auch am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
Das Asylverfahren bietet, wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 27.05.2019, Ra 2019/14/0143-8, wieder betonte, nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.
Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (vgl. VwGH 29.05.2006, Zl. 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.
Unter diesen Maßgaben ist das Vorbringen eines Asylwerbers also auf seine Glaubhaftigkeit hin zu prüfen. Dabei ist vor allem auf folgende Kriterien abzustellen: Das Vorbringen des Asylwerbers muss – unter Berücksichtigung der jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten –genügend substantiiert sein; dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen. Das Vorbringen hat zudem plausibel zu sein, muss also mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen; diese Voraussetzung ist u. a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegungen mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erscheinen. Schließlich muss das Fluchtvorbringen in sich schlüssig sein; der Asylwerber darf sich demgemäß nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.
2.2.2. Zur behaupteten Zwangsrekrutierung und (zumindest) unterstellten oppositionellen politischen Gesinnung vonseiten der syrischen Regierung:
Der Beschwerdeführer konnte sein Fluchtvorbringen, es drohe ihm eine Zwangsrekrutierung und aufgrund dessen die Unterstellung einer politisch oppositionellen Gesinnung, nicht glaubhaft machen. Dies ergibt sich aus einer Gesamtschau der im Folgenden dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen:
Der Beschwerdeführer brachte im Verfahren unter anderem zusammengefasst vor, dass er mehrere Wehrdienstaufschübe aufgrund seines Studiums erhalten habe, diese mittlerweile jedoch abgelaufen seien, die syrische Regierung ca. zwei Kilometer von seinem Herkunftsort entfernt und er deswegen aus Syrien geflüchtet sei (vgl. AS 57, 60; Niederschrift vom 16.09.2024, S. 11).
Dem aktuellen Länderinformationsblatt ist betreffend eine Einziehung zum Wehrdienst der syrischen Armee zu entnehmen, dass für männliche syrische Staatsbürger im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend ist. Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit. b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren. Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert, wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden. Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konflikts erhöht und hat auch die syrische Regierung das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen. Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (vgl. 1.3.4.1.).
Der Beschwerdeführer fällt mit seinen XXXX Jahren ins wehrdienstpflichtige Alter. Beim Beschwerdeführer haben sich im Verfahren auch keine Befreiungsgründe ergeben, da er weder der einzige Sohn seiner Familie noch Student oder Staatsangestellter ist und auch keine medizinischen Gründe vorliegen. Seine befristeten Wehrdienstaufschübe sind bereits im Jahr 2020 abgelaufen (vgl. Übersetzung des Wehrdienstbuches AS 81-85; vgl. auch Niederschrift vom 16.09.2024, S. 8).
Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft, in Kriegszeiten drohen bis zu fünf Jahre Haft. Die Berichte der verschiedenen Quellen divergieren, bei einer allfälligen Rückkehr nach Syrien drohen dem Beschwerdeführer jedoch Haft, der sofortige Einzug in den Wehrdienst oder im schlimmsten Fall Folter bzw. der Tod (vgl. 1.3.4.2.). Laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes unterliegen Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, einem besonders hohen Folterrisiko. Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichten von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung wahrgenommener Oppositioneller einsetzen, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und bereits vor 2011 dokumentiert wurde. Die willkürlichen Festnahmen, Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen durch syrische Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche Milizen betreffen auch Rückkehrer (vgl. 1.3.7.).
Der Beschwerdeführer hat zwar bereits ein Wehrdienstbuch, aber bislang noch keine konkrete Einberufung zur Ableistung des Wehrdienstes erhalten. Hierzu von der belangten Behörde befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er zwar keinen „Zettel“ erhalten habe, aber dass er „mündlich erwähnt“ worden sei. Auf Nachfrage brachte er vor, dass eine Person namens XXXX ihm das gesagt habe, dieser habe bei einer staatlichen Wasserfirma gearbeitet. Er sei damals „bei der Arbeit darüber informiert“ worden, dass der Beschwerdeführer „einberufen werden“ solle (vgl. AS 60). Auch in der schriftlichen Beschwerde brachte er vor, dass er nach seiner Rückkehr im Dorf XXXX mündlich zum Wehrdienst der syrischen Armee einberufen worden sei (vgl. AS 178). Gleichbleibend gab der Beschwerdeführer auch in der mündlichen Verhandlung an, dass „eine Mitteilung bei [ihm] zu Hause, durch eine Person, die bei der Wasserversorgung arbeitet, zugestellt“ worden sei. Aus dieser Mitteilung gehe hervor, dass „das Regime [ihn] haben möchte“ (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 9). Auch am Ende der mündlichen Verhandlung brachte er abermals vor, dass eine Person des Regimes zu ihm gekommen sei und ihm mitgeteilt habe, dass er sich beim Regime „einzufinden“ habe, dies sei ca. einen Monat vor seiner Ausreise gewesen (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 12).
Dem Vorbringen des Beschwerdeführers ist somit zu entnehmen, dass sich eine Person, die in einer staatlichen Wasserfirma bzw. der Wasserversorgung arbeitet, bei ihm zu Hause eingefunden hat. Dies ist gleichbleibend vorgebracht worden und grundsätzlich auch glaubhaft. Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass ihm diese Person lediglich mitteilte, dass er „bei der Arbeit darüber informiert“ worden sei, dass „der Beschwerdeführer einberufen werden soll“ (vgl. AS 60). Der Beschwerdeführer konnte nicht nachvollziehbar erklären, warum genau diese Person von der Einberufung des Beschwerdeführers erfahren haben sollte, zumal diese Person selbst lediglich in der Wasserversorgung arbeitet. Zudem bleibt auch offen, von wem diese Person informiert worden sein soll. Eine konkrete Einberufung kann diesem unspezifischen „Hörensagen“ daher nicht entnommen werden bzw. ist eine Einberufung daher als nicht glaubhaft zu bewerten. Der Beschwerdeführer hat sich somit auch zu keinem Zeitpunkt einer persönlich an ihn gerichteten Einberufung entzogen oder einer solchen nicht Folge geleistet. Weiters gab der Beschwerdeführer auch selbst in der mündlichen Verhandlung an, dass er seinen Herkunftsort, das Dorf XXXX (phonetisch: XXXX ), aufgrund der drohenden Einnahme durch das syrische Regime verlassen habe (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 11: „Man weiß nicht, wann das Regime zu uns kommt.“). Die Frage der erkennenden Richterin, ob es auch einen spezifischen Vorfall gegeben habe, warum er seinen Herkunftsort schlussendlich verlassen habe, verneinte er explizit.
Zu allfälligen Übergriffen vonseiten der syrischen Regierung bzw. ihren verbündeten Milizen brachte der Beschwerdeführer folgendes vor:
In der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde gab der Beschwerdeführer hierzu an, dass es staatliche Fahndungsmaßnahmen gegen ihn aufgrund des Militärdienstes gebe (vgl. AS 58). Er habe Probleme an einem Checkpoint in Latakia gehabt. Er sei als Busfahrer angehalten worden, weil er aus dem Kurdengebiet stamme und habe zwei Stunden warten müssen (vgl. AS 59). Rekruten hätten ihn „gekannt“ und auch „hin und wieder auf den Hals geschlagen“. Andere Fahrer hätten problemlos durchfahren können. Das sei alles gewesen, es sei ihm aber mehrmals passiert (vgl. AS 60). In der Beschwerde gab er erstmals an, dass er bei diesen Vorfällen an den Checkpoints nicht nur angehalten, gedemütigt und geschlagen, sondern einmal sogar mit einem Messer attackiert und im Bauchbereich lebensgefährlich verletzt worden sei (vgl. AS 179). Gleichbleibend brachte er auch in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll, dass das Leben in Latakia schwer gewesen sei und er Narben und Verletzungen auf seinem Körper habe. Vor der belangten Behörde habe er sich geschämt diese zu zeigen. Er möchte aber vorbringen, dass er als Taxifahrer gearbeitet habe und mehrmals an Checkpoints angehalten und von Leuten des syrischen Regimes mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen worden sei. Einmal sei er mit einem Messer angestochen worden (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 9). Dies sei ca. 2016/2017 passiert. Weiters gab er folgendes an: „Ich war in meinem Wagen. Der Wagen war voll mit Passagieren und Gästen. An einem Checkpoint wurden wir kontrolliert. Wir mussten uns ausweisen. Es waren die Leute von Al-Shabiha. Das sind Schlägertruppen des Regimes. Sie haben uns kontrolliert. Alle Leute, die im Wagen waren, waren aus Latakia, außer mir. Diese Person hat zu mir gesagt, dass ich ein Verräter bin, weil ich aus einem Gebiet stamme, das befreit ist. Deswegen hat diese Person mich am Hemdkragen gepackt und aus dem Auto gezogen, mich mit dem Messer angestochen, mit Fußtritte und flacher Hand geschlagen und mich dort gelassen.“. Auf Nachfrage der erkennenden Richterin, ob das jeder Person aus einem befreiten Gebiet passieren könne oder nur ihm, brachte er weiters vor: „Das Problem ist Folgendes: Ich kenne das Motiv dieser Person nicht.“ (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 10). Die mehrmaligen Beleidigungen und Ohrfeigen von Al Shabiha und syrischen Soldaten seien der Grund gewesen, warum er Latakia verlassen habe (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 11, 14).
Eingangs ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer glaubhaft vorbringen konnte, dass es Diskriminierungen und Anhaltungen bei den Checkpoints in Latakia gab. Auch die Narbe an seinem Bauch konnte er in der mündlichen Verhandlung unter Beweis stellen. Dass diese Narbe jedoch von einem Übergriff an einem Checkpoint stammt und er dabei lebensgefährlich verletzt worden sei, konnte der Beschwerdeführer nicht glaubhaft vorbringen. Es erschließt sich dem erkennenden Gericht nicht, warum er noch vor der belangten Behörde angab, dass er lediglich „hin und wieder auf den Hals geschlagen“ worden sei (vgl. AS 60: „Das war alles, aber es ist mir mehrmals passiert.“), während er diametral dazu erstmals in der Beschwerde und danach in der mündlichen Verhandlung vorbrachte, dass er mit einem Messer lebensgefährlich verletzt worden sei. Zudem erscheint es unglaubhaft, dass der Beschwerdeführer trotz dieses lebensgefährlichen Ereignisses noch ca. zwei bis drei Jahre (bis 2019) in Latakia geblieben sein soll und erst aufgrund des nahenden Ablaufs seines Wehrdienstaufschubes wieder zurück in seinen Herkunftsort ging und weiterhin als Taxifahrer arbeitete. Dass die Narbe auf seinem Bauch von einem Vorfall an einem Checkpoint in Latakia stammt, kann nicht festgestellt werden und ist aufgrund der obigen Ausführungen auch nicht glaubhaft. Des Weiteren kann dem Vorbringen im Gesamten auch keine individuell konkrete Bedrohung des Beschwerdeführers als Person entnommen werden, sondern erscheint eine willkürliche Aussonderung von „stadtfremden“ Personen maßgeblich wahrscheinlicher (vgl. AS 59: „Weil ich aus dem Kurdengebiet stamme, musste ich zwei Stunden warten.“; Niederschrift vom 16.09.2024, S. 13: „[…] ich glaube, es ist nicht wegen meiner Religion gewesen, sondern weil ich aus den befreiten Gebieten bin.“). Letztendlich ist noch darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer aus dem Gouvernement Aleppo stammt und auch dort sein Herkunftsgebiet liegt, er somit auch nicht zurück nach Latakia muss und sich folglich auch keiner Gefahr ebendort aussetzt.
Schließlich haben sich auch im konkreten Einzelfall des Beschwerdeführers – wie bereits ausgeführt – keine glaubhaften Anhaltspunkte ergeben, welche auf eine erhöhte Gefährdungslage wegen einer dem Beschwerdeführer, der von der syrischen Armee bislang keine Einberufung zur Ableistung des Wehrdienstes erhalten hat, unterstellten oppositionellen Gesinnung schließen lassen würden. Es haben sich somit im Verfahren keine Hinweise darauf ergeben, dass die syrische Regierung dem Beschwerdeführer konkret und individuell eine oppositionelle Gesinnung unterstellen würde. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Aus den vorliegenden Länderberichten ergibt sich gerade kein Automatismus, dass jedem im Ausland lebenden Syrer, der seinen Wehrdienst nicht abgeleistet hat, im Herkunftsstaat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt und deswegen eine unverhältnismäßige Bestrafung drohen würde. Danach wird Wehrdienstverweigerung nämlich, auch wenn Wehrdienstverweigerer zuweilen „inoffiziell als Verräter gesehen werden“, „da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt ihr Land zu verteidigen“, nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen (vgl. 1.3.4.2.). Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Ein für eine internationale Forschungsorganisation mit Schwerpunkt auf den Nahen Osten tätiger Syrienexperte, der allerdings angibt, dazu nicht eigens Forschungen durchgeführt zu haben, geht davon aus, dass das syrische Regime möglicherweise am Anfang des Konflikts, zwischen 2012 und 2014, Wehrdienstverweigerer durchwegs als oppositionell einstufte, inzwischen allerdings nicht mehr jeden Wehrdienstverweigerer als oppositionell ansieht (vgl. VwGH vom 26.06.2024, Ra 2024/20/0154-11: „In Bezug auf die - auch im vorliegenden Fall maßgebliche - Situation in Syrien hat der Verwaltungsgerichtshof weiters festgehalten, dass sich aus den Länderberichten ein differenziertes Bild der Haltung des syrischen Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern ergibt und aus dieser Berichtslage nicht mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden könne, dass jedem den Militärdienst verweigernden Syrer eine oppositionelle Haltung unterstellt werde. Der Verwaltungsgerichtshof hat ferner bereits ausgeführt, nach der Berichtslage lasse sich gerade kein Automatismus dahin als gegeben annehmen, dass jedem im Ausland lebenden Syrer, der seinen Wehrdienst nicht abgeleistet hat, im Herkunftsstaat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt und deswegen eine unverhältnismäßige Bestrafung drohen würde.“).
Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass sich auch die Ausführungen in früheren Fassungen des Länderinformationsblattes (vgl. die Version 8 vom 29.12.2022), wonach die syrische Regierung Wehrdienstverweigerung nicht nur als strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen, im aktuellen Länderinformationsblatt (vgl. die Version 11 vom 27.03.2024) nicht mehr wiederfinden.
Darüber hinaus ist den Angaben des Beschwerdeführers aber auch keine glaubhafte verinnerlichte politische Überzeugung gegen die syrische Regierung oder gegen den Dienst an der Waffe an sich zu entnehmen:
Die Feststellung, dass sich der Beschwerdeführer weder in Syrien noch in Österreich jemals politisch betätigt und etwa an Demonstrationen teilgenommen hat, entspricht seinen eigenen Angaben bis zur schriftlichen Beschwerde. In seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde verneinte der Beschwerdeführer explizit die Fragen, ob er sich jemals politisch betätigt habe oder ob er jemals Mitglied einer politischen Partei gewesen sei (vgl. AS 59). In der Beschwerde brachte der Beschwerdeführer erstmals vor, dass er „von Beginn der Revolution bis etwa ins Jahr 2019 in Syrien an mehreren Demonstrationen gegen das syrische Regime teilgenommen“ habe. In Wien habe er seine politische Überzeugung fortgeführt und zu Beginn des Jahres an Demonstrationen teilgenommen. Er habe sich dadurch (exil-)politisch betätigt und seine oppositionelle Gesinnung objektiviert (vgl. AS 179). Weiters zeige sich seine (zumindest unterstellte) oppositionelle politische Gesinnung durch seine Weigerung dem Militärdienst für die syrische Regierung abzuleisten (vgl. AS 206). Auch in der mündlichen Verhandlung führte der Beschwerdeführer aus, dass er niemals Mitglied einer politischen Partei oder einer anderen politisch aktiven Bewegung oder Gruppierung gewesen sei. Das syrische Regime sehe ihn jedoch als „Landesverräter“ an, da er wegen des Militärdienstes gesucht werde (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 8). Auf Nachfrage der erkennenden Richterin bestätigte der Beschwerdeführer, dass er am „Anfang der Revolution an friedlichen Demonstrationen teilgenommen“ habe. Die Demonstrationen hätten in den Jahren 2012 und 2013, sowohl in XXXX (phonetisch: XXXX ) als auch in Latakia, stattgefunden (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 12). Auch in Österreich nehme er an Demonstrationen teil, unter anderem in Linz, da es seine Pflicht sei, an Demonstrationen teilzunehmen. Es sei ein verbrecherisches Regime und sie alle müssten gegen das Regime demonstrieren. Auf Nachfrage gab er an, dass er sich an das Datum der Demonstration nicht erinnern könne. Es würden zwei Personen (Anm.: die auch in der mündlichen Verhandlung als Vertrauenspersonen anwesend waren) von dieser Demonstrationsteilnahme wissen, sie hätten auch Fotos auf ihren Mobiltelefonen. Diese seien jedoch nicht in sozialen Netzwerken veröffentlicht worden. Es gebe aber von der syrischen Community in Österreich Websites, diese hätten Fotos veröffentlicht. Er möchte sich auch der freien syrischen Community in Österreich anschließen. Er sei bereit sich jeder Aktivität, mit Ausnahme bewaffneter Gruppierungen, gegen das Assad-Regime anzuschließen (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 13).
Abgesehen von der offensichtlichen Steigerung seines Vorbringens widerspricht sich der Beschwerdeführer bezugnehmend auf die Zeitpunkte der Demonstrationsteilnahmen. Während er in seiner schriftlichen Beschwerde angibt, dass er bis 2019 an Demonstrationen teilgenommen habe, revidierte er seine Aussage in der mündlichen Verhandlung und führte nun vielmehr aus, dass er lediglich in den Jahren 2012 und 2013 an Demonstrationen teilgenommen habe. Dass der Beschwerdeführer aufgrund der angeblichen Demonstrationsteilnahmen gefährdet sein sollte erscheint nicht plausibel, nachdem der Beschwerdeführer – mit Ausnahme der bereits beweiswürdigend ausgeführten Vorfälle bei Checkpoints in Latakia – bis 2019 einigermaßen problemlos in einem Regime Gebiet leben konnte und diesbezüglich auch niemals angab, Probleme gehabt zu haben. Selbst bei Wahrunterstellung der oppositionellen politischen Gesinnung erscheint es unglaubhaft, dass der Beschwerdeführer diese mit keinem Wort vor der belangten Behörde erwähnte.
Hinsichtlich der angeblichen Demonstrationsteilnahmen in Österreich brachte der Beschwerdeführer am Ende der mündlichen Verhandlung drei Fotos in Vorlage. Das erste Foto zeigt den Beschwerdeführer wie er eine syrische Flagge mit drei Sternen hält und alleine in einer augenscheinlichen Wohnhausgegend im Schnee steht (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 16). Die beiden anderen Fotos zeigen den Beschwerdeführer vor mehreren Menschen, die syrische Flaggen auf der Mariahilfer Straße in Wien schwenken. Der Beschwerdeführer, der selbst weder eine Flagge noch ein Plakat in der Hand hält, deutet mit seinem Zeige- und Mittelfinger ein „V“, wohl im Sinne eines Friedens- bzw. Victory-Zeichens (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 17, 18). Die Fotos belegen jedoch weder, dass der Beschwerdeführer öffentlichkeitswirksam gegen die syrische Regierung auftrat, noch, dass er auf irgendeine Art und Weise in das Visier der syrischen Regierung geraten wäre, zumal er auch selbst angab, dass diese Bilder eben nicht in den sozialen Medien veröffentlicht wurden. Der Beschwerdeführer bringt zwar vor, dass die syrische Community in Österreich Fotos veröffentlicht hätte, er bringt jedoch weder die besagten Fotos in Vorlage, noch behauptet er überhaupt, dass er auf diesen Fotos zu sehen wäre (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 13).
Abgesehen davon, dass dem Beschwerdeführer keine oppositionelle politische Gesinnung von der syrischen Regierung (zumindest) unterstellt wird, ist darauf hinzuweisen, dass sich das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers, das Dorf XXXX (phonetisch: XXXX ), südlich der Stadt XXXX , im Gouvernement Aleppo, im Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) unter Kontrolle der kurdischen Autonomiebehörden (Kurdische Partei der Demokratischen Union (kurz: PYD), Syrian Democratic Forces (kurz: SDF), Yekîneyên Parastina Gel (kurz: YPG) befindet.
Befragt zur Kontrolle seines Herkunftsortes gab der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht an, dass sein Herkunftsort „unter der Kontrolle der Kurden“ stehe und ca. zwei Kilometer vom syrischen Regime entfernt sei (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 6). Man wisse nicht wann das syrische Regime zu ihnen komme. Das syrische Regime drohe ihr Gebiet einzunehmen. Das Regime sei schon in XXXX gewesen, aber nicht in seinem Dorf (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 11). Die Checkpoints würden gemeinsam von den Kurden und vom Regime durchgeführt werden (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 12). Auch vor der belangten Behörde gab der Beschwerdeführer an, dass er Angst habe, dass ihn das Regime erwische und es sein könne, dass ihn die Kurden an das Regime ausliefern würden (vgl. AS 61). Weiters führte er bereits in der schriftlichen Beschwerde aus, dass sowohl Karten von UNHCR, dem Carter Center als auch von Wikipedia belegen würden, dass die syrische Regierung ebenfalls Kontrolle in der Region um XXXX ausübe (vgl. AS 185-187).
Bezugnehmend auf die in der Beschwerde angeführten Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes vom 08.01.2024, W238 2281459-1 und vom 13.02.2024, W233 2278749-1 (vgl. AS 183, 184), ist festzuhalten, dass es sich hierbei um Einzelfallbeurteilungen handelt und den Erkenntnissen aufgrund dessen auch keine Bindungswirkung für das gegenständliche Verfahren zukommt. Abgesehen davon lagen den Erkenntnissen andere Entscheidungsfaktoren zugrunde.
Hinsichtlich der Macht- und Kontrollverhältnisse in seinem Herkunftsgebiet lässt sich den vorliegenden Länderberichten folgendes entnehmen:
Der öffentlich zugänglichen ACCORD „Anfragebeantwortung zu Syrien: Rekrutierung Wehrpflichtiger durch die syrische Regierung in Manbidsch (Provinz Aleppo)“ vom 07.09.2023 ist zu entnehmen, dass der Hauptakteur in der Region in und um Manbij (in der Anfragebeantwortung Manbidsch genannt) weiterhin die SDF ist und diese der syrischen Regierung lediglich erlaubt hat, Truppen einzusetzen, um eine mögliche türkische Militäroperation in Nordsyrien zu verhindern. Daher sind Regierungstruppen zwar präsent, allerdings beschränkt sich diese Präsenz auf die Durchführung von Patrouillen. Ein Syrienexperte bestätigt, dass in dieser Region die SDF zurzeit der wichtigste Kontrollakteur, inkl. Rekrutierungs- und Verhaftungsmöglichkeiten, ist. Der Syrienexperte bestätigt auf Nachfrage im September 2023, dass seines Wissens nach das syrische Regime keine Wehrpflichtigen für den Militärdienst in Manbij einberufen kann. Ein weiterer Syrienexperte bestätigt in einer E-Mail vom September 2023, dass es in Manbij keinen Militärdienst der syrischen Regierung gibt. Die syrische Regierung kann in Gebieten, die von den SDF oder mit ihnen verbundenen Kräften kontrolliert werden, keine Wehrpflichtigen einziehen. Das Syrian Network for Human Rights (SNHR), eine 2011 gegründete unabhängige Menschenrechtsorganisation, die Menschenrechtsverletzungen in Syrien beobachtet und dokumentiert, führt dazu weiters aus, dass die Rekrutierung von Wehrpflichtigen und Reservisten durch die syrische Regierung an deren Zugriffsmöglichkeiten gebunden sei (vgl. auch Anfragebeantwortung der Staatendokumentation „SYRIEN Zugriff des syrischen Regimes auf Deserteure in der AANES“ vom 17.04.2024).
Im vorliegenden aktuellen Länderinformationsblatt (Version 11) wird diesbezüglich angeführt, dass die syrische Regierung über mehrere kleine Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet der AANES verfügt. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese die Bezeichnung „Sicherheitsquadrate“ (Al-Morabat Al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befinden. Das syrische Regime, sowie Pro-Regime-Kräfte, zeigt vor allem entlang der Frontlinien zu den pro-türkischen Rebellengebieten und entlang der türkisch-syrischen Grenze Präsenz. Aufgrund der türkischen Vorstöße bildete sich eine „Kooperation“ zwischen der SDF und syrischen Regierungstruppen, um in dem Gebiet Stellung zu beziehen und den Vorstoß der Türkei Einhalt zu gebieten und sie abzuschrecken. Seitdem sind syrische Regimekräfte in allen größeren Städten in Nordostsyrien präsent (vgl. 1.3.4.1.). Im Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers im Gouvernement Aleppo befindet sich der südliche und zentrale Teil des Gouvernements, inkl. der Stadt Aleppo, weitgehend unter Kontrolle des syrischen Regimes bzw. regimetreuen Gruppierungen. Der nördliche Teil des Gouvernements wird von der kurdisch dominierten PYD/SDF kontrolliert. Das syrische Regime und seine Verbündeten sind in den von den PYD/SDF kontrollierten Gebieten im nördlichen Teil des Gouvernements, wo sie eine gemeinsame Militäroperation gegen die von der Türkei unterstützten SNA/Gruppen durchführen, präsent. Dazu gehören die Gebiete von Manbij, Ain Al-Arab (Kobane) und Tal Rifaat (vgl. EUAA 2, S. 139 ff). Allein die bloße Präsenz von syrischen Regierungstruppen und eine vom Beschwerdeführer geäußerte Angst, dass die syrische Regierung ihn zwangsrekrutiere, lässt jedoch noch nicht darauf schließen, dass das syrische Regime in diesen Gebieten auch zwangsrekrutieren kann bzw. sich ein Kontrollwechsel anbahnen würde, zumal auch die aktuellen Länderberichte festhalten, dass die Bemühungen der syrischen Regierung, die Kontrolle zurückzuerobern, begrenzt sind (vgl. 1.3.2.1.). Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw. „Sicherheitsquadraten“ auseinander – auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten. Ein befragter Rechtsexperte der Österreichischen Botschaft Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im „Sicherheitsquadrat“ im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor. Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren (vgl. 1.3.4.1.). Auch EUAA berichtet, dass die syrische Regierung „Enklaven“ innerhalb der SDF kontrollierten Städte Hasaka und Qamishli hat und zudem den Flughafen in Qamishli kontrolliert (vgl. EUAA 2, S. 139: „GoS forces controlled several security enclaves in and around the cities of Hasaka and Qamishli which also hosted sites of Iranian and Russian forces. In addition, GoS forces were granted permission by the SDF to pass between GoS held and Kurdish-controlled territories. In response to Türkiye’s warnings of a potential new military campaign against Kurdish forces in border areas, the GoS reinforced its presence in northern Hasaka’s borderlands in mid-2022.“).
Unter Gesamtwürdigung der Umstände lassen sich demnach auch der zitierten ACCORD Anfragebeantwortung vom 07.09.2023, sowie den vorliegenden Länderberichten, keine generellen Rekrutierungs- und Zugriffsmöglichkeiten des syrischen Regimes in und um die Stadt XXXX entnehmen. Ein Risiko besteht lediglich, wenn Wehrpflichtige in Checkpoints des syrischen Regimes geraten. Eine generelle Rekrutierungsmöglichkeit der syrischen Regierung wird aber gerade nicht belegt.
Hinsichtlich einer hypothetischen Wiedereinreise des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat und in seine Herkunftsregion, ist anzumerken, dass sein Herkunftsgebiet grundsätzlich über einen der wenigen nicht vom syrischen Regime kontrollierten Grenzübergänge über den Irak, Semalka – Faysh Kabur, erreichbar ist. Dieser Grenzübergang ist laut der öffentlich zugänglichen Information OCHA seit 05.06.2023 für den Personenverkehr wieder geöffnet (vgl. OCHA, Humanitarian Update Syrian Arab Republic, Ausgabe 13, vom 13.06.2023; vgl. auch 1.3.4.2. - Syria Humanitarian Update_issue13_300723 - EN (1) (1).pdf, abgerufen am 02.10.2024). Wenn der Beschwerdeführer diesbezüglich ausführt, dass die Brücke beim Grenzübergang Semalka seit 20.03.2024 eingestürzt und nicht passierbar sei und sich dabei auf einen Onlineartikel der Hawar News Agency vom 20.03.2024 stützt (vgl. AS 198), ist darauf hinzuweisen, dass die Brücke laut mehreren Websites seit April 2024 wieder passierbar ist (vgl. https://aso-network.com/en/archives/36957; https://channel8.com/english/12931, jeweils abgerufen am 02.10.2024).
Den vorliegenden Länderinformationen ist zu entnehmen, dass das Gebiet von der irakischen Grenze – bis auf kleine Enklaven bei den Städten Qamishli und Al-Hassakah und einigen Dörfern südlich von Qamishli und einigen vereinzelten Posten entlang des türkischen Gebietes – im Wesentlichen bis zum Ost- und Nordufer des Euphrat durchgehend unter Kontrolle der kurdischen Kräfte ist. Das Gebiet von der türkischen Grenze bis zum westlichen Teil Syriens wird hauptsächlich von der Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrolliert, während der nördliche Teil Syriens zur türkischen Grenze von pro-türkischen Milizen wie der SNA (Syrian National Army) und FSA (Freie Syrische Armee) kontrolliert wird. Das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers befindet sich westlich des Euphrat im nordwestlichen Teil des AANES Gebietes (vgl. https://syria.liveuamap.com/). Aus der „Anfragebeantwortung zu Syrien: Voraussetzungen für Einreise syrischer Staatsangehöriger in Gebiete unter Kontrolle der SDF/YPG in Nordostsyrien; Legale Einreise aus dem Irak bzw. der Türkei; Informationen zum Grenzübergang Semalka-Faysh Khabur; Kontrolle der Grenzübergänge zwischen Nordostsyrien und der Türkei/dem Irak“ vom 06.05.2022 – auf die im Länderinformationsblatt verwiesen wird – ergibt sich, dass dem Beschwerdeführer beispielsweise der Rückweg über Erbil, Irak (Autonome Region Kurdistan) und von dort der Landweg zum Grenzübergang Semalka-Faysh Khabur nach Syrien offen steht (vgl. 1.3.6.2.). Die irakische Seite des erwähnten Grenzüberganges wird von der Demokratischen Partei Kurdistan und die syrische Seite von der PYD/SDF kontrolliert. Hierbei wird auch nicht verkannt, dass es immer wieder zu Einschränkungen und Sperren bei Grenzübergängen kommen kann, wovon laut herangezogener Berichte jedoch selbst der Flughafen Damaskus regelmäßig betroffen ist. Schließungen von Grenzübergängen sowie Risikofaktoren auf den Reiserouten sind im Wesentlichen der allgemeinen (Bürgerkriegs-) Situation geschuldet, wobei sich die Sicherheitslage laut herangezogener Länderberichte in ganz Syrien als volatil erweist. Hierzu ist zu ergänzen, dass laut Länderfeststellungen auch in den Landesteilen Syriens, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, und auch für vermeintlich friedlichere Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie die Hauptstadt Damaskus weiterhin ein hohes Risiko besteht, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden. Dem Beschwerdeführer wäre es nach rechtskräftig negativem Abschluss des Verfahrens unter hypothetischer Annahme einer Einreise in den Irak auch grundsätzlich möglich, bei syrischen Vertretungsbehörden einen Reisepass und damit ein irakisches Visum zu erhalten bzw. bei Unzumutbarkeit sich als subsidiär Schutzberechtigter einen Fremdenpass nach § 88 FPG ausstellen zu lassen.
Insofern der vertretene Beschwerdeführer in seiner Beschwerde vorbringt, dass die Herkunftsregion des Beschwerdeführers sicher und legal erreichbar sein müsse (vgl. AS 207), ist auf das aktuelle Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 29.02.2024, Ra 2024/18/0043, hinzuweisen, nachdem es nicht auf die Legalität der Einreise ankommt (vgl. Rz 11 „Ergänzend ist dazu auszuführen, dass es aus asylrechtlicher Sicht nicht darauf ankommen kann, ob die Einreise in einen verfolgungssicheren Landesteil aus der Sicht des potentiellen Verfolgers (hier: des syrischen Regimes) legal stattfindet, sondern nur, ob die den Grenzübergang beherrschenden Autoritäten eine Einreise in das sichere Gebiet zulassen.“).
Der Beschwerdeführer konnte insgesamt nicht ausreichend konkret und nicht glaubhaft aufzeigen, dass eine solcherart – über den Grenzübergang Semalka – Faysh Kabur – hypothetische Einreise für diesen konkret generell nicht möglich oder auf ihn persönlich bezogen unmittelbar unzumutbar wäre. Dies ist auch unter Berücksichtigung der Ausführungen der Länderinformationen hinsichtlich einer im Einzelfall allenfalls nicht dauerhaften Öffnung einzelner Grenzübergänge anzunehmen.
Abgesehen von der Möglichkeit, über einen Grenzübergang, der nicht von der syrischen Regierung kontrolliert wird, einzureisen, steht dem Beschwerdeführer, dem wie bereits beweiswürdigend ausgeführt keine oppositionelle politische Gesinnung von der syrischen Regierung (zumindest) unterstellt wird, die Option offen, über den Flughafen Damaskus einzureisen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich der XXXX -jährige Beschwerdeführer zwar im wehrfähigen Alter befindet, seinen Wehrdienst noch nicht abgeleistet hat, dem Beschwerdeführer jedoch keine oppositionelle politische Gesinnung (zumindest) unterstellt wird und sich das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers, wie bereits mehrfach ausgeführt, nicht unter Kontrolle des syrischen Regimes, sondern der kurdisch geführten PYD/SDF befindet und auch die Einreise in sein Herkunftsgebiet etwa über den Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur, welcher von Oppositionsgruppen kontrolliert wird, möglich ist und die syrische Regierung keine Zugriffsmöglichkeiten auf den Beschwerdeführer in seinem Herkunftsgebiet hat. Aufgrund dessen ist es nicht maßgeblich wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsgebiet vom syrischen Regime zum Wehrdienst zwangsrekrutiert wird oder ihm eine oppositionelle politische Gesinnung (zumindest) unterstellt wird.
2.2.3. Zur behaupteten Zwangsrekrutierung vonseiten der PYD/SDF:
Betreffend eine Zwangsrekrutierung seitens der PYD/SDF, ist vorerst anzumerken, dass die AANES (Autonomous Administration of North and East Syria) im Juni 2019 ein Gesetz zur „Selbstverteidigungspflicht“, das den verpflichtenden Militärdienst regelt, den über 18-jährige-Männer im Gebiet der AANES ableisten müssen, ratifizierte. Am 4.9.2021 wurde das Dekret Nr. 3 erlassen, welches die Selbstverteidigungspflicht auf Männer beschränkt, die 1998 oder später geboren wurden und ihr 18. Lebensjahr erreicht haben. Gleichzeitig wurden die Jahrgänge 1990 bis 1997 von der Selbstverteidigungspflicht befreit. Der Altersrahmen für den Einzug zum Wehrdienst ist nun in allen betreffenden Gebieten derselbe, während er zuvor je nach Gebiet variierte. So kam es in der Vergangenheit zu Verwirrung, wer wehrpflichtig war. Mit Stand September 2023 war das Dekret noch immer in Kraft. Artikel zwei des Gesetzes über die „Selbstverteidigungspflicht“ vom Juni 2019 sieht eine Dauer von zwölf Monaten vor. Aktuell beträgt die Dauer ein Jahr und im Allgemeinen werden die Männer nach einem Jahr aus dem Dienst entlassen (vgl. 1.3.4.3.).
Der Beschwerdeführer wurde XXXX geboren und befindet sich mit seinen XXXX Jahren somit nicht mehr im gesetzlich vorgesehenen „Selbstverteidigungsalter“/ „Wehrdienstalter“.
Bezugnehmend auf allfällige Rekrutierungsversuche gab der Beschwerdeführer erstmals auf Nachfrage der erkennenden Richterin in der mündlichen Verhandlung an, dass die kurdischen Kräfte ihn aufgefordert hätten „zu dienen“. Es sei jedem bekannt, dass „alle Leute wegen des Pflichtdienstes gesucht werden“ würden. Sie würden von „den Kurden, von der „Selbstverteidigung“ gesucht“ werden. Auf nochmalige Nachfrage der erkennenden Richterin, was das nun für den Beschwerdeführer bedeute, antwortete er: „Ich bin ein Zivilist. Ich möchte ein normales Leben mit meiner Familie genießen. Ich will mich keinerlei Gruppierung anschließen.“ (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 11). Befragt, ob der Beschwerdeführer jemals konkret aufgefordert worden sei, seinen Selbstverteidigungsdienst abzuleisten, brachte er zu Protokoll, dass er persönlich niemals aufgefordert worden sei, es sei „[ihm] und jedem bekannt, der 1990 geboren [sei]“, dass man zum Militärdienst verpflichtet sei (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 12).
Entgegen dem pauschalen Vorbringen des Beschwerdeführers lässt sich dem aktuellen Länderinformationsbericht nicht entnehmen, dass Männer, die das „Selbstverteidigungsalter“ bereits deutlich überschritten haben, trotzdem rekrutiert werden würden (vgl. 1.3.4.3.). Die pauschalen Behauptungen des Beschwerdeführers vermögen daher nicht zu überzeugen und entkräften die vorliegenden Länderberichte nicht. Abgesehen davon brachte er auch keine konkrete gegen ihn gerichtete Bedrohung vor.
Abschließend ist noch festzuhalten, dass dem Gesamtvorbringen des Beschwerdeführers auch keine verinnerlichte politische Einstellung gegen die PYD/SDF/AANES entnommen werden kann und ihm auch nicht allein aufgrund einer angeblichen Wehrdienstverweigerung eine unterstellt werden würde.
Unter Betrachtung der Gesamtumstände konnte der XXXX -jährige-Beschwerdeführer keine persönliche Bedrohung vonseiten PYD/SDF im Gebiet der AANES aufgrund einer drohenden Zwangsrekrutierung für die „Selbstverteidigungspflicht“ glaubhaft machen.
2.2.4. Zur vorgebrachten Reflexverfolgung aufgrund seiner Familienzugehörigkeit zu seinen Brüdern und seinem Cousin:
Der Beschwerdeführer gab in der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde an, dass sein Cousin vom Regime erwischt worden sei, weil er desertiert sei. Dann hätten sie ihn umgebracht (vgl. AS 59).
In der schriftlichen Beschwerde gab der vertretene Beschwerdeführer erstmals an, dass er aufgrund seiner Familienzugehörigkeit bedroht werde, da seine beiden Brüder Reservedienstverweigerer seien. Sie hätten ihren verpflichtenden Wehrdienst bei der syrischen Armee bereits abgeleistet. Deswegen seien sie aus Syrien geflohen und würden nun in Saudi-Arabien leben. Überdies sei sein Cousin aufgrund seiner Desertion vom Wehrdienst vom syrischen Regime inhaftiert, gefoltert und getötet worden (vgl. AS 179, 192, 193).
Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wiederholte der Beschwerdeführer sein bisheriges Vorbringen und brachte abermals vor, dass sein Cousin gefoltert und getötet worden sei (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 9). Auf Nachfrage der erkennenden Richterin gab der Beschwerdeführer am Ende der mündlichen Verhandlung an, dass sein Cousin vom Militärdienst desertiert und aufgrund dessen festgenommen und getötet worden sei (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 14).
Selbst bei Wahrunterstellung der Reservedienstverweigerung seiner Brüder, sowie der Annahme der Desertion seines Cousins, ist eine Bedrohung aufgrund seiner Familienangehörigeneigenschaft aufgrund folgender Ausführungen nicht maßgeblich wahrscheinlich:
Die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren und ihren Familienmitgliedern ist eingeschränkt, da das syrische Regime nur wenige Informationen bereitstellt. Es ergibt sich jedoch aus den vorliegenden Länderberichten keine eindeutige Bedrohung für den Beschwerdeführer. Die Quellen divergieren in ihren Berichten, einige schildern eine erhöhte Bedrohungsgefahr von Familienmitgliedern von Wehrdienstverweigerern, die aus einem ehemaligen oppositionellen Gebiet stammen, andere dokumentieren, dass Angehörige von Wehrdienstverweigerern keinen Bedrohungen von syrischen Behörden ausgesetzt werden. Gemäß Auswärtigem Amt legen einige Berichte nahe, dass Familienangehörige von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern ebenfalls Verhören und Repressionen der Geheimdienste ausgesetzt sein könnten (vgl. 1.3.4.2.).
Manche Quellen berichten, dass Wehrdienstverweigerung und Desertion für sich genommen momentan nicht zu Repressalien für die Familienmitglieder der Betroffenen führen. Hingegen berichten mehrere andere Quellen von Repressalien gegenüber Familienmitgliedern von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern, wie Belästigung, Erpressung, Drohungen, Einvernahmen und Haft. Eine Quelle berichtete sogar von Folter. Betroffen sind vor allem Angehörige ersten Grades. Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von „high profile“-Deserteuren der Fall sein, also z. B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben. Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie. Insbesondere die politische oder militärische Haltung gegenüber der Syrischen Regierung wirkt sich auf die Art der Behandlung der Familie des Deserteurs bzw. Wehrdienstverweigerer aus. Familien von Deserteuren sind dabei einem höheren Risiko ausgesetzt als jene von Wehrdienstverweigerern (vgl. 1.3.4.2.).
Laut dem aktuellen Bericht des DIS (Danish Immigration Service) zum Militärdienst in Syrien vom Jänner 2024 – auf den auch im aktuellen Länderinformationsbericht verwiesen wird – berichten einige Quellen, dass die Wehrdienstverweigerung und Desertion an sich derzeit keine Auswirkung auf Familienangehörige hat. Es hängt von einer Reihe von Faktoren ab, ob die Familienmitglieder eines Wehrdienstentziehers oder Deserteurs aufgrund der Flucht oder Desertion ihres Familienmitglieds Folgen zu befürchten haben könnten: einerseits hängt es vom Profil des Wehrdienstentziehers/Deserteurs ab. In Fällen, in denen der Wehrdienstentzieher oder Deserteur hochkarätig (politisch oder militärisch gegen die syrische Regierung) aktiv ist, wäre seine Familie gefährdet. Wenn die Umgehung des Militärdienstes als Zeichen dafür angesehen wird, dass die Person ein Gegner der syrischen Regierung ist, könnte die Familie aufgrund der Umgehung ihres Familienmitglieds Konsequenzen haben. Die politische Meinung eines Menschen hat ebenfalls Konsequenzen für seine Familienmitglieder, da die Behörden Familienmitglieder politischer Aktivisten bestrafen. Darüber hinaus besteht ein höheres Risiko, dass seine Familie belästigt oder erpresst wird oder dass seine Familienmitglieder an Kontrollpunkten verhaftet werden. Andererseits hängen die möglichen Folgen für Familienangehörige von Wehrdienstentziehern und Deserteuren von dem Gebiet ab, in dem die Familie lebt. Wenn zum Beispiel die Familie eines Wehrdienstentziehers aus einem Gebiet stammt, von dem bekannt ist, dass es sich um eine Opposition handelt, können sie erpresst, verhört oder verhaftet werden oder sie müssen möglicherweise Geld an lokale Milizen und den Sicherheitsapparat zahlen, um den Wehrdienstentzieher zur Rückkehr zu zwingen. Umgekehrt haben Familien von Wehrdienstentziehern aus loyalistischen Gemeinschaften wie Tartous und Damaskus meistens keine Konsequenzen (vgl. DIS Jänner 2024, S. 29, 30).
UNHCR weist in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen darauf hin, dass auch Familien von Wehrdienstentziehern in einigen Fällen bedroht und misshandelt wurden (vgl. UNHCR, S. 133, FN 593). Dabei bezieht sich UNHCR u.a. auf einen Bericht aus dem Jahr 2011, in dem ein Mann verhaftet und gefoltert wurde, weil sein Bruder sich dem Pflichtwehrdienst entzog. In einem Bericht vom April 2020 wurde weiters dokumentiert, dass Familienangehörige von Wehrdienstentziehern im Rahmen von Festnahmekampagnen geschlagen wurden.
EUAA führt in ihrem aktuellen Country Guidance aus, dass es Berichte gab, dass Familienangehörige von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren mit Vergeltungsmaßnahmen, wie bspw. Druckausübung, Hausdurchsuchungen, Verhöre, Verhaftungen, der Regierung konfrontiert waren. Jüngste Quellen weisen jedoch darauf hin, dass Probleme im Zusammenhang mit dem Militärdienst derzeit nicht zu direkten Konsequenzen für Familienangehörige führen (vgl. EUAA 2, S. 46).
Unter Zugrundelegung der vorliegenden Länderinformationen lässt sich allein aus dem Umstand, dass die zwei älteren Brüder des Beschwerdeführers Reservedienstverweigerer sind und ein Cousin ein Deserteur war, ohne Hinzutreten weiterer risikoerhöhender Faktoren, kein persönliches Bedrohungsrisiko für den Beschwerdeführer ableiten, zumal der Beschwerdeführer zu seinen Brüdern und zu seinem Cousin auch nicht in Verwandtschaft ersten Grades steht. Unter Zugrundelegung des Vorbringens des Beschwerdeführers ist es auch nicht maßgeblich wahrscheinlich, dass ihm eine oppositionelle politische Gesinnung zumindest unterstellt werden würde. Auch UNHCR dokumentiert lediglich Einzelfälle, die teilweise am Anfang des Bürgerkrieges (somit vor ca. 13 Jahren) passiert sind. Zudem brachte der Beschwerdeführer weder in seiner polizeilichen Erstbefragung, in seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde noch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht jemals eine konkrete Bedrohung aufgrund seiner Familienangehörigeneigenschaft vor. Wie oben bereits dargelegt, ist überdies auch nicht davon auszugehen, dass die syrische Regierung jedem Wehrdienstverweigerer bzw. -entzieher alleine aufgrund der Entziehung von der Ableistung des Wehrdienstes und ohne Hinzutreten weiterer individueller Umstände eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellen würde, im Umkehrschluss ist daher davon auszugehen, dass sie umso weniger jedem Familienangehörigen von Wehrdienstverweigerern/Deserteuren eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt. Dass der Cousin ein „high profile“ Deserteur gewesen ist oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen hätte, brachte der Beschwerdeführer ebenso nicht vor.
Dem undetaillierten, vagen und unsubstantiierten Vorbringen des Beschwerdeführers ist auch keine politische Aktivität seiner Verwandten zu entnehmen. Das aktuelle Länderinformationsblatt berichtet, dass für alle, die sich in der Vergangenheit (regime-)kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben, eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiärer Verbindung zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Laut dem Syrien Experten spielen nicht nur eigene Aktivitäten (im Sinne von öffentlichem politischen Aktivismus, aber auch privat in sozialen Medien) eine Rolle, sondern auch Aktivitäten von Verwandten und die geografische Herkunft der rückkehrenden Person. Es gibt auch Berichte, dass Familienmitglieder von Journalisten, die in Europa für oppositionelle Medien schreiben, inhaftiert und tagelang festgehalten und wahrscheinlich gefoltert wurden (vgl. 1.3.7.).
Aus den vorliegenden Länderinformationen ergibt sich eine besondere Gefahrenlage für Personen, die sich oppositionell-politisch betätigten bzw. noch immer betätigen. Eine in jedem Fall einer bloßen Reservedienstverweigerung seiner beiden Brüder, sowie der Desertion seines Cousins unter oppositionell-politischen Unterstellungen anzunehmende maßgebliche Bedrohung ist den Länderinformationen dagegen nicht zu entnehmen. Weder die Reservedienstverweigerung noch die angebliche Desertion seines Cousins wurden – wie bereits beweiswürdigend ausgeführt – jemals vom Beschwerdeführer konkretisiert. Eine derart exponierte Stellung der gesamten Familie und insbesondere des Beschwerdeführers, dass dieser konkret persönlich bedroht wird, konnte den Angaben des Beschwerdeführers nicht entnommen werden. Warum seine Familie weiterhin in Syrien leben kann, aber genau der Beschwerdeführer persönlich in das Visier des syrischen Regimes/der PYD/SDF geraten sollte, erschließt sich dem erkennenden Gericht nicht. Zudem ist abermals darauf hinzuweisen, dass die syrische Regierung im Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers lediglich Präsenz zeigt und wenn überhaupt lediglich vereinzelt Zugriffsmöglichkeiten hat.
Aufgrund seines vagen und undetaillierten Vorbringens konnte der Beschwerdeführer keine persönliche Bedrohung beziehungsweise Gefährdung geltend machen. Der Beschwerdeführer wird nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit vom syrischen Regime oder der PYD/SDF/anderen kurdischen Gruppierungen bedroht. Ihm droht daher aus diesen Gründen im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet kein Eingriff in seine körperliche Integrität, weswegen die entsprechende Feststellung zu treffen war.
2.2.5. Zu einer allfälligen Bedrohung aufgrund seiner Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit (sunnitischer Araber):
Hinsichtlich einer allfälligen Bedrohung aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Arabern oder seiner Religionszugehörigkeit zum sunnitischen Islam, ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer hierzu im gesamten Verfahren kein Vorbringen erstattete. Wenngleich er vor der belangten Behörde angab, dass er Probleme aufgrund seiner Religion bei einem Checkpoint in Latakia Probleme gehabt habe und aufgrund seiner Abstammung aus einem Kurdengebiet zwei Stunden habe warten müssen und mehrmals auf dem Hals geschlagen worden sei (vgl. AS 59, 60), korrigierte er seine Aussage in der mündlichen Verhandlung und gab an, dass er vor der belangten Behörde nicht gemeint habe, dass dieser Vorfall aufgrund seiner Religion gewesen sei, sondern weil er aus einem befreiten Gebiet abstamme (vgl. Niederschrift vom 16.09.2024, S. 13). Ansonsten brachte der Beschwerdeführer im gesamten Verfahren keine Bedrohung aufgrund seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit vor.
Auch den vorliegenden Länderberichten lässt sich keine systematische Bedrohung der Volksgruppe der Araber oder sunnitischer Muslime in der Herkunftsregion des Beschwerdeführers entnehmen:
Schätzungen der US-Regierung zufolge dürften die Sunniten 74 % der Bevölkerung stellen, wobei diese sich aus AraberInnen, KurdInnen, TscherkessInnen, TschetschenInnen und einigen TurkmenInnen zusammensetzen. Die alawitische Gemeinschaft (zu der Bashar al-Assad gehört) genießt in Relation zu ihrem Bevölkerungsanteil weiterhin einen privilegierten politischen Status, auch durch die Dominanz in den Führungspositionen im Militär sowie den Sicherheits- und Geheimdiensten, wobei auch bei Alawiten gilt, dass, so wie bei Angehörigen den anderen Religionsgemeinschaften, nur diejenigen, welche zum inneren Machtzirkel um Bashar al-Assad gehören, politischen Einfluss besitzen. Auch einige Sunniten gehören zur politischen Elite. Familien und Netzwerke mit Verbindungen zur herrschenden Elite werden in Rechtsangelegenheiten bevorzugt behandelt und sind disproportional oft AlawitInnen, während AlawitInnen ohne solche Verbindungen weniger wahrscheinlich von solchen Vorteilen profitieren. Die bewaffnete Opposition ist hingegen in der überwältigenden Mehrheit arabisch-sunnitisch, und Mitglieder dieser Bevölkerungsgruppe sind wahrscheinlich Diskriminierung durch den Staat ausgesetzt, wenn sie nicht enge Verbindungen zum Regime genießen. Daher lässt sich die konfessionalistische Dimension des Regimes besser als ein alawitisch dominiertes säkulares Regime beschreiben, das auf Loyalitäten basierend auf regionale, tribale und familiäre Verbindungen sowie auf gesellschaftliche Kohäsion (’asabiya) aufbaut. Diese Kohäsion bezieht sich auf ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit einer beschränkten Zahl an AlawitInnen aus der alawitischen Gemeinschaft, aber nicht auf die Religionsgemeinschaft als Ganzes. Die sunnitisch-arabische Zivilbevölkerung traf die Hauptlast der Angriffe der alawitisch-geführten Regierung und ihrer Milizen. Von 2018 bis 2019 vertrieb das Regime 900.000 ZivilistInnen – meist sunnitische AraberInnen – aus den zurückeroberten Oppositionsgebieten durch Bombardierungen und Belagerungen in die Provinz Idlib. Kurdische Milizen werden beschuldigt, arabische und turkmenische Gemeinschaften vertrieben zu haben. Die syrische Regierung, kurdische Truppen, von der Türkei unterstützte oppositionelle Milizen und islamistisch-extremistische Gruppen haben alle versucht, die ethnische Zusammensetzung ihrer Gebiete zu verändern. Sie haben ZivilistInnen gezwungen, bei ihrer jeweiligen religiösen oder ethnischen Gemeinschaft Zuflucht zu suchen, was zu demografischen Änderungen durch den Bürgerkrieg beiträgt (vgl. 1.3.5.).
UNHCR weist in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen unter Verweis auf einen Bericht der COAR aus 2019 auf Vorgänge hin, wonach es zu Hausdurchsuchungen bei arabischen Familien nach Dienstverweigerungen und überhaupt zu einer gegen die Selbstverwaltung gerichteten Einstellung in arabischen Bevölkerungsteilen kam (vgl. UNHCR, S. 146, FN 652). Doch werden Araber in den Selbstverteidigungskräften – bei Gesamtbetrachtung – nicht diskriminiert und liefern die Länderinformationen auch keinen sonstigen Anhaltspunkt dafür, dass mit zum arabischen Bevölkerungsteil gehörigen Wehrdienstverweigerern anders umgegangen würde.
Laut EUAA berichteten Araber, dass sie unter Kontrolle der SDF ausgegrenzt werden. In mehrheitlich arabischen Gebieten sind Proteste gegen die Kontrolle der SDF zu Themen wie schlechte Dienstleistungen und hohe Preise sowie Zwangsrekrutierung durch die SDF seit 2017 zum Alltag geworden. Während eine Quelle feststellte, dass „Proteste im Allgemeinen im gesamten Nordosten ohne Einmischung der lokalen Behörden stattfanden“, wurde auch berichtet, dass es mehrfach zu willkürlichen Verhaftungen von Protestierenden sowie zu Gewalt gegen zivile Proteste kam, was mehrfach zum Tod führte. In den verschiedensten mehrheitlich arabischen Gebieten, die von der SDF kontrolliert werden, wurden Hunderte von Menschen verhaftet und zwangsrekrutiert (vgl. EUAA 2, S. 57 ff).
Dementsprechend ist aus der Tatsache, dass es vor allem seit dem Jahr 2017 – generell – zu Repressionen, Anhaltungen oder dem Verschwinden von Kritikern von der kurdischen Selbstverwaltung kritisch eingestellten Personen kam, wobei es sich in vielen Fällen um Araber handelte, allein noch nicht abzuleiten, dass sich dem Wehrdienst entziehende, der arabischen Volksgruppe angehörigen Personen grundsätzlich eine politisch oppositionelle Haltung unterstellt wird. Der Beschwerdeführer hat sich auch niemals politisch geäußert oder ist etwa öffentlichkeitswirksam gegen die PYD/SDF/AANES aufgetreten.
Eine Bedrohung aufgrund seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit ist nicht mit der erforderlichen maßgeblichen Wahrscheinlichkeit gegeben.
2.2.6. Zur vorgebrachten Bedrohung aufgrund seiner illegalen Ausreise, seiner Herkunft aus einem ehemals oppositionellen Gebiet und seiner Asylantragstellung im Ausland:
Als weitere Fluchtgründe brachte der Beschwerdeführer in der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde als auch in seiner Beschwerde vor, dass aufgrund der kumulativen Gefährdungsfaktoren Wehrdienstverweigerung, illegale Ausreise, Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in Österreich, Abstammung aus einem als oppositionell angesehenen Gebiet und Sippenhaftung jedenfalls davon auszugehen sei, dass er bei einer Rückkehr nach Syrien als in Opposition zur Regierung stehend und als „(Landes-)verräter“ angesehen werden würde und ihm somit Verfolgung im Sinne der GFK drohe (vgl. AS 61, 179, 180, 193, 194).
Der Beschwerdeführer konnte jedoch keine ihm aus diesen Gründen – von der bereits behandelten Wehrdienstverweigerung und Reflexverfolgung abgesehen – drohende Verfolgung aber durch Verweis auf entsprechende Länderberichte belegen. Den Länderberichten ist nicht zu entnehmen, dass Personen, sofern sie nicht politisch exponiert sind, allein aufgrund ihrer illegalen Ausreise, Asylantragsstellung im Ausland oder Abstammung aus einem als oppositionell angesehenen Gebiet Verfolgung durch die syrische Regierung zu befürchten hätten. Rückkehrern wird von der Regierung und Teilen der Bevölkerung zwar mit Misstrauen und Ablehnung begegnet, tatsächliche Repressalien richten sich aber insbesondere gegen jene, die als oppositionell oder regimekritisch bekannt sind (vgl. 1.3.7.).
Er entspricht auch sonst keinem Risikoprofil (beispielsweise Journalisten, Menschenrechtsaktivisten, Mediziner, die im von der Regierung besetzten Oppositionsgebiet gearbeitet haben), das vermehrt oder mit höherer Wahrscheinlichkeit Repressalien seitens der Regierung ausgesetzt ist. Es ist daher nicht maßgeblich wahrscheinlich, dass dem Beschwerdeführer allein aufgrund seiner Ausreise oder seiner Abstammung aus einem oppositionell kontrollierten Gebiet Sanktionen wegen einer (ihm unterstellten) politischen Gesinnung drohen. Ebenso wenig führt eine Asylantragstellung in Österreich zu Sanktionen, weil die Antragstellung den syrischen Behörden nicht bekannt ist, zumal es den österreichischen Behörden untersagt ist, diesbezüglich Daten an die syrischen Behörden weiterzuleiten.
Schließlich ist auch in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers nicht unter Kontrolle der syrischen Regierung steht, sodass umso weniger davon auszugehen ist, dass diese ihre dort eingeschränkten Zugriffsmöglichkeiten gerade dafür verwenden würde, den nicht politisch exponierten Beschwerdeführer ausfindig zu machen und zu verfolgen.
Dem Beschwerdeführer droht daher auch aus diesen Gründen im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet kein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die syrische Regierung.
2.3. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Syrien aktuell.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten
3.1.1. § 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:
„Status des Asylberechtigten
§ 3 (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn 1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder 2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.
…“
3.1.2. Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
3.1.3. Die Bestimmung der Heimatregion des Asylwerbers ist Grundlage für die Prüfung, ob dem Asylwerber dort mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung droht und ob ihm – sollte dies der Fall sein – im Herkunftsstaat außerhalb der Heimatregion eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht (vgl. etwa VwGH 25.08.2022, Ra 2021/19/0442). Der rezenten Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 29.02.2024, Ra 2023/18/0370) ist zu entnehmen, dass nach der Rechtsprechung dieses in Fällen, in denen Asylwerber nicht aufgrund eines eigenen Entschlusses, sondern unter Zwang aufgrund einer Vertreibung ihren dauernden Aufenthaltsort innerhalb des Herkunftsstaates gewechselt hatten und an dem neuen Aufenthaltsort nicht Fuß fassen konnten (Zustand innerer Vertreibung), der ursprüngliche Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen ist (vgl. VwGH 30.04.2021, Ra 2021/19/0024, mit Hinweisen auf VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0192, sowie VwGH 27.06.2016, Ra 2016/18/0055). Zur Bestimmung der Heimatregion kommt der Frage maßgebliche Bedeutung zu, wie stark die Bindungen des Asylwerbers an ein bestimmtes Gebiet sind. Hat er vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsland nicht mehr in dem Gebiet gelebt, in dem er geboren wurde und aufgewachsen ist, ist der neue Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen, soweit der Asylwerber zu diesem Gebiet enge Bindungen entwickelt hat (vgl. wiederum VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0192, mit Hinweis auf VwGH 27.06.2016, Ra 2016/18/0055).
Wie festgestellt, wurde der Beschwerdeführer im Jahr XXXX im Dorf XXXX (phonetisch: XXXX ), südlich der Stadt XXXX , im Gouvernement Aleppo, geboren, wuchs ebendort auf und lebte in seinem Geburtsort bis zu seinem Verzug in die Stadt Latakia im Jahr 2012. Als Grund für das Verlassen seines Herkunftsortes, das Dorf XXXX (phonetisch: XXXX ), brachte der Beschwerdeführer glaubhaft sein Studium an der XXXX vor, weshalb auch feststeht, dass der Beschwerdeführer seinen dauernden Aufenthaltsort innerhalb des Herkunftsstaates aufgrund eines eigenen Entschlusses, somit freiwillig, gewechselt hat. Der Beschwerdeführer lebte zwar sieben Jahre in der Stadt Latakia, aber aufgewachsen und den weitaus überwiegenden Teil seines Lebens in Syrien hat er mit ca. 21 Jahren (1994-2012; 2019-2022) im Dorf XXXX (phonetisch: XXXX ) verbracht, wo er auch, wie in der Stadt Latakia, einer Erwerbstätigkeit nachging. Selbst bei der Annahme, dass der Beschwerdeführer nicht freiwillig aus der Stadt Latakia wieder in seinen Geburtsort zog, überwiegen insbesondere aufgrund der zeitlichen Komponente, der Sozialisation und des Aufenthaltsortes der Familie die Bindungen zum Dorf XXXX (phonetisch: XXXX ). Zudem ist mit Verweis auf die eingangs zitierte Rechtsprechung nochmals zu betonen, dass der Beschwerdeführer die letzten drei Jahre vor seiner Ausreise aus Syrien wieder in seinem Geburtsort lebte, dort einer Arbeit nachging und somit auch „Fuß fassen konnte“. Wie beweiswürdigend ausgeführt, konnte das erkennende Gericht nicht feststellen, dass der Beschwerdeführer in der Stadt Latakia, im Vergleich zu seinem dort relativ kürzeren Aufenthalt, ausreichend Fuß gefasst hat, um diesen als neuen Herkunftsort festzustellen, sodass im Lichte der Rechtsprechung des VwGH das Dorf XXXX (phonetisch: XXXX ) im Gouvernement Aleppo als Herkunftsort bzw. -gebiet des Beschwerdeführers festzustellen war.
3.1.4. Wie festgestellt leistete der XXXX -jährige-Beschwerdeführer seinen verpflichtenden Wehrdienst beim syrischen Militär bislang nicht ab. Der Beschwerdeführer erhielt bis XXXX befristete Wehrdienstaufschübe aufgrund seines Studiums. Er wurde jedoch niemals vonseiten der syrischen Regierung konkret aufgefordert einen Wehrdienst abzuleisten. Er erhielt bislang auch keinen Einberufungsbefehl.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrechtlich relevante Verfolgung dar, sondern könnte nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen (vgl. VwGH 26.06.2024, Ra 2024/20/0154-11). Die Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung kann asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen – wie etwa der Anwendung von Folter – jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen kann auch eine „bloße“ Gefängnisstrafe eine asylrelevante Verfolgung darstellen (vgl. VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108; 21.05.2021, Ro 2020/19/0001; VwGH 13.11.2019, Ra 2019/18/0274, mwN; EuGH 26.02.2015, C-472/13, Shepherd).
Für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft kommt es nicht bloß auf die tatsächliche politische Gesinnung an, auch die seitens der Verfolger dem Asylwerber unterstellte politische Gesinnung ist asylrechtlich relevant (vgl. VwGH 28.02.2024, Ra 2023/20/0619 mwN). Ein Automatismus, wonach jedem im Ausland lebenden Syrer, der seinen Wehrdienst nicht abgeleistet hat, im Herkunftsstaat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt und deswegen eine unverhältnismäßige Bestrafung drohen würde, liegt jedoch nicht vor (vgl. VwGH 26.06.2024, Ra 2024/20/0154-11; VwGH 08.11.2023, Ra 2023/20/0520). Nichts anderes gilt für die Frage, ob ein den Militärdienst ableistender syrischer Staatsangehöriger sich dazu gezwungen sähe, zu Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen beizutragen (vgl. wiederum VwGH 28.02.2024, Ra 2023/20/0619 mwN).
Auch UNHCR führt in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, aus, dass Wehrdienstentziehern regelmäßig eine regierungsfeindliche Gesinnung unterstellt werde, ein Automatismus, dass dies bei jedem Wehrdienstverweigerer wäre, lässt sich dem Bericht jedoch eben nicht entnehmen. Der UNHCR Bericht stützt sich unter anderem auf eine Fußnote, die ebenso belegt, dass Wehrdienstentzieher wahrscheinlich die Wahrnehmung verstärken, dass sie eine gegen die Regierung gerichtete Haltung haben (vgl. UNHCR, S. 102, FN 461). UNHCR führt bei beiden Risikoprofilen aus, dass Personen mit diesen Profilen „wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, je nach den Umständen des Einzelfalls aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder anderer maßgeblicher Gründe“ (vgl. UNHCR, S. 123, 138). UNHCR verweist dabei aber wiederum maßgeblich auf das Urteil des EuGH vom 19.11.2020 in der Rechtssache EZ/Deutschland. Dem zitierten Urteil des EuGH ist jedoch gerade keine – abschließende – Beurteilung hinsichtlich der Verknüpfung zum Asylgrund der politischen Gesinnung zu entnehmen. So führte der EuGH im gegenständlichen Urteil zwar aus, dass eine starke Vermutung dafürspricht, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie aufgezählten Gründe in Zusammenhang steht (vgl. EuGH 19.11.2020, C-238/19, Rs. EZ). Wie nachfolgend ausgeführt, liegen im gegenständlichen Fall die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie aufgrund der bestehenden legalen Möglichkeit der Befreiung vom Wehrdienst aber nicht vor. Im Übrigen ist es – wie der EuGH weiters ausführte – auch Sache der zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität der Verknüpfung mit einem der in Art. 10 Statusrichtlinie aufgezählten Gründe zu prüfen (vgl. EuGH 19.11.2020, C-238/19, Rs. EZ).
Nun führte zwar die EUAA zur Verknüpfung einer zu prognostizierenden begründeten Furcht vor Verfolgung wegen einer Wehrdienstverweigerung aus, dass die (verfügbaren) Informationen es indizieren („indicate“) könnten, dass solche Verfolgungshandlungen sehr wahrscheinlich („highly likely“) wegen einer unterstellten politischen Gesinnung erfolgen würden (vgl. EUAA 2, S. 46 ff). In diesem Zusammenhang lässt die EUAA – mit Ausnahme des Verweises auf das Urteil des EuGH vom 19.11.2020, C-238/19, Rs. EZ – aber eine nähere Begründung für diese Beurteilung vermissen und führt auch aus, dass es Sache der nationalen Behörden sei, im Einzelfall zu prüfen, ob ein Zusammenhang nach Art. 10 Statusrichtlinie plausibel sei, dies im Lichte der relevanten aktuellen Informationen über die Situation im Herkunftsland und die persönlichen Umstände des Antragstellers.
Es bedarf sohin unter Bedachtnahme auf die Verhältnisse in Syrien immer einer Beurteilung unter Einbeziehung aller konkreten Umstände des Einzelfalls, ob im Fall der Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes eine Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus asylrechtlich relevanten Gesichtspunkten droht. Da nach der Rechtsprechung die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung nicht genügt, ist es für die Gewährung von Asyl nicht ausreichend, derselben eine bloß theoretisch denkbare Möglichkeit eines Verfolgungsszenarios zugrunde zu legen.
Es ist für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten für sich genommen auch nicht ausreichend, wenn der asylwerbende Fremde, der in der Verhandlung angegeben hat, dass er keine Waffe tragen und keine Menschen töten wolle, Gründe, warum er den Militärdienst nicht ableisten möchte, ins Treffen führt, die Ausdruck einer politischen oder religiösen Gesinnung sein können. Nach der oben wiedergegebenen Rechtsprechung müssen nämlich, damit der Status des Asylberechtigten zuerkannt werden kann, die Verfolgungshandlungen aus asylrechtlich relevanten Gesichtspunkten drohen.
Im Zusammenhang mit syrischen Staatsangehörigen, die ihren Militärdienst nicht abgeleistet haben, dient die Gewährung von subsidiärem Schutz dem Schutz vor (mit realem Risiko drohenden) willkürlichen Zwangsakten bei Fehlen eines kausalen Konnexes zu einem in der GFK genannten Grund (vgl. zum Ganzen wiederum VwGH 28.02.2024, Ra 2023/20/0619).
Wie sich aus den obigen Feststellungen und der zugehörigen Beweiswürdigung – auf welche verwiesen wird – ergibt, ist der Beschwerdeführer gesund und befindet sich im wehrfähigen Alter. In Anbetracht der vorliegenden Länderinformationen droht dem Beschwerdeführer im Falle seiner (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien eine unverhältnismäßige Strafverfolgung wegen der Verweigerung des Wehrdienstes, weil dafür gesetzlich eine mehrjährige Haftstrafe vorgesehen ist, jedenfalls aber eine hohe Wahrscheinlichkeit einer längeren Haftdauer mit Folter besteht. Es besteht im vorliegenden Fall für den Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat sohin eine maßgebliche Gefahr einer Verfolgungshandlung seitens des syrischen Regimes.
Jedoch ist (mittlerweile) von einer differenzierten Haltung der syrischen Regierung Wehrdienstverweigerern gegenüber auszugehen, weshalb jedenfalls nicht mehr von einer automatischen Unterstellung einer oppositionellen Gesinnung aufgrund der Verweigerung des Wehrdienstes ausgegangen werden kann.
Zwar würde der Beschwerdeführer den Wehrdienst in der syrischen Armee (vermutlich) verweigern, jedoch konnte er im gesamten Verfahren keine glaubwürdig verinnerlichte Abneigung bzw. politisch-oppositionelle Haltung der syrischen Regierung gegenüber darlegen. Auch konnte er keine glaubhaften religiösen Gründe bzw. Gewissengründe gegen den Dienst an der Waffe an sich darlegen. Darüber hinaus ist es nicht maßgeblich wahrscheinlich, dass dem Beschwerdeführer von der syrischen Regierung – trotz einer Wehrdienstverweigerung – eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde.
Der Beschwerdeführer betätigte sich, wie festgestellt, niemals politisch, konnte nicht glaubhaft machen, dass er jemals an Demonstrationen teilnahm und geriet aufgrund dessen auch niemals in das Visier der syrischen Regierung. Ihm wird auch nicht von der syrischen Regierung eine oppositionelle politische Tätigkeit oder Gesinnung (zumindest) unterstellt.
Zudem befindet sich das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers unter Kontrolle der PYD/SDF, die syrische Regierung zeigt zwar Präsenz, kann jedoch keine wehrpflichtigen Syrer rekrutieren und hat, wenn überhaupt, lediglich vereinzelt Zugriffsmöglichkeiten.
Bei einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet in Syrien droht ihm daher aus diesen Gründen individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität.
3.1.5. In Bezug auf eine mögliche Gefahr vonseiten der kurdischen Streitkräfte rekrutiert zu werden ist festzuhalten, dass sich der XXXX jährige-Beschwerdeführer nicht mehr im Rekrutierungsalter für die „Selbstverteidigungspflicht“ im AANES-Gebiet befindet. Er wurde auch niemals von der PYD/SDF/anderen kurdischen Gruppierungen aufgefordert für sie zu kämpfen. Ihm droht daher aus diesen Gründen individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die PYD/SDF bzw. ihre kurdischen Streitkräfte.
3.1.6. Wie ebenfalls bereits beweiswürdigend erläutert ist eine Gefährdung des Beschwerdeführers und die Unterstellung einer oppositionellen politischen Gesinnung aufgrund der Reservedienstverweigerung seiner beiden Brüder und der Desertion seines Cousins, nicht maßgeblich wahrscheinlich. Dem Beschwerdeführer droht demnach keine asylrelevante Verfolgung als Familienangehöriger.
3.1.7. Wie beweiswürdigend ausgeführt, läuft der Beschwerdeführer auch nicht Gefahr aufgrund seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit (sunnitischer Araber) verfolgt zu werden.
3.1.8. Schließlich droht einer politisch nicht exponierten Person wie dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in sein Herkunftsgebiet in Syrien auch nicht bloß wegen seiner illegalen Ausreise, der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in Österreich oder der Abstammung aus einem als oppositionell angesehenen Gebiet Lebensgefahr oder ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die syrische Regierung.
Es liegt beim Beschwerdeführer keine Verfolgungsgefahr aus einem Konventionsgrund vor.
3.1.9. Die Durchsicht der aktuellen Länderberichte zur Herkunftsregion des Beschwerdeführers erlaubt es auch nicht anzunehmen, dass gegenständlich sonstige mögliche Gründe für die Befürchtung einer entsprechenden Verfolgungsgefahr vorliegen.
3.1.10. Im Ergebnis droht dem Beschwerdeführer aus den von ihm ins Treffen geführten oder sonstigen Gründen im Herkunftsstaat keine asylrelevante Verfolgung.
3.1.11. Die Beschwerde war daher betreffend Spruchpunkt I. und somit – da sie sich ausdrücklich nur gegen diesen richtete (vgl. AS 177) – zur Gänze als unbegründet abzuweisen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen.
In der Beschwerde findet sich kein Hinweis auf das Bestehen von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren und sind solche auch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegeben. Die Entscheidung folgt der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.