Spruch
W233 2286486-1/11E IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Andreas FELLNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehöriger von Syrien, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 07.01.2024, ZI. 1291164503-211923654, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.07.2024 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 stattgegeben und XXXX der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Syrien zuerkannt.
III. XXXX wird gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von einem Jahr erteilt.
IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein syrischer Staatsangehöriger, stellte nach seiner Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 12.12.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am 13.12.2021 wurde er erstmals vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes befragt, wobei er im Wesentlichen angab, seinen Herkunftsstaat aufgrund des Krieges und der Sicherheitslage vor Ort verlassen zu haben. Bei einer Rückkehr fürchte er um sein Leben sowie das Leben seiner Familie.
3. Am 02.01.2024 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich zu seinem Aufenthalt in Syrien, seinen Fluchtbewegungen, den Gründen für das Verlassen seines Herkunftsstaates, seinen Angehörigen sowie zu seinem Aufenthalt in Österreich befragt. Er präzisierte sein Fluchtvorbringen dahingehend, dass das syrische Regime ihn nach seiner Entlassung aus dem Militär erneut einberufen habe, um mit einer russischen Einheit zusammenzuarbeiten. Der Beschwerdeführer habe sich jedoch der Einberufung durch seine endgültige Ausreise aus dem Herkunftsstaat entzogen.
4. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.01.2024 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status als Asylberechtigter gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich des Status als subsidiär Schutzberechtigter in Bezug auf den Herkunftsstaat Syrien gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den Beschwerdeführer wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 i.V.m. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 9 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Syrien gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für eine freiwillige Ausreise auf 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
5. Gegen diesen Bescheid des Bundesamtes erhob der Beschwerdeführer am 09.02.2024 im Wege seiner Vertretung fristgerecht Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften.
6. Am 14.02.2024 langten die Beschwerde und der zugehörige Verwaltungsakt beim Bundesverwaltungsgericht ein.
7. Zur Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts fand am 11.07.2024 vor dem Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die arabische Sprache eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt. Das Bundesamt blieb der Verhandlung entschuldigt fern. Der Beschwerdeführer wurde zu seiner Identität, seiner Herkunft, seinen persönlichen Lebensumständen, seinem Leben in Österreich, seinen Angehörigen sowie zu seinen Flucht- und Verfolgungsgründen und seiner Situation im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat befragt. Zudem wurde mit dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Syrien, Version 11, erörtert und ihm eine Frist von drei Wochen zur schriftlichen Stellungnahme eingeräumt. Die Stellungnahme langte am 26.07.2024 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
8. Das Bundesverwaltungsgericht holte in der Folge eine amtswegige Übersetzung der in der Beschwerdeverhandlung vorgelegten, in arabischer Sprache verfassten Unterlagen ein, welche am 17.07.2024 einlangte.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1 Zur individuellen Situation des Beschwerdeführers
1.1.1 Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist syrischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Araber an. Seine Erstsprache ist Arabisch; außerdem verfügt er über Grundkenntnisse in Russisch. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in XXXX geboren und wuchs in der Stadt XXXX im gleichnamigen Gouvernement auf. Von 1995 bis 2000 absolvierte er an der Assad-Akademie für Militär und Ingenieurwesen das Studium des Schiffsmaschinenbaus („marine engineering“). Nach Abschluss des Studiums kehrte der Beschwerdeführer nach XXXX zurück und arbeitete dort für das syrische Militär.
Der Beschwerdeführer verließ im Jahr 2021 Syrien und reiste mittels eines serbischen Visums im September 2021 über den Libanon legal nach Serbien ein. Dort hielt er sich drei Monate auf, bevor er über Ungarn unrechtmäßig nach Österreich gelangte. Nach seiner Einreise stellte er am 12.12.2021 in Österreich einen Asylantrag.
Der Beschwerdeführer hat die Seite mit dem serbischen Visum aus seinem Reisepass entfernt, um seine legale Ausreise aus Syrien zu verschleiern.
Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig und strafrechtlich unbescholten. Weiters leidet er an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen.
Der Beschwerdeführer steht weiterhin in regelmäßigem Kontakt mit seiner Familie, die im Dorf XXXX in der Nähe der Stadt XXXX lebt. In Syrien befinden sich seine Eltern, seine Frau, seine Kinder sowie die Familie seines verstorbenen Bruders. Der Lebensunterhalt der Familie wird durch die Erträge aus der Landwirtschaft bestritten.
1.1.2 Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Die Stadt XXXX , wo der Beschwerdeführer bis zu seiner Ausreise gelebt hat, befindet sich aktuell unter Kontrolle des syrischen Regimes.
Nach Absolvierung seines Studiums nahm der Beschwerdeführer beim syrischen Militär den Rang eines Offiziers („Aqid“) im Bereich der Schifffahrt ein und übte diese Funktion bis 2020 aus.
Die Aufgaben des Beschwerdeführers im Militär umfassten die Reparatur von Schiffen, insbesondere der Motoren und anderer Maschinen. Während dieser Zeit war er im Oktober 2012 kurzzeitig mit der Bewachung und Entladung von Schiffen beauftragt, die russische Waffen transportierten. Er nahm nie an Kampfhandlungen teil.
Am 03.07.2020 wurde er aufgrund eines Bandscheibenvorfalls an der Halswirbelsäule vom syrischen Militär auf eigenen Antrag hin entlassen (demobilisiert).
Im verfahrensgegenständlichen Fall hat der Beschwerdeführer mit seinen 47 Jahren das Alter für den Reservedienst von 42 Jahren bereits überschritten. Seit Beendigung seines Militärdienstes hat er keinen Einberufungsbefehl bezüglich einer neuerlichen Einziehung ins Militär erhalten.
Aufgrund seines Alters sowie des Fehlens einer an ihn persönlich gerichteten Einberufung ist es nicht maßgeblich wahrscheinlich, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat als Reservist einberufen wird. Es steht insgesamt nicht fest, dass der Beschwerdeführer ins Blickfeld der syrischen Regierung geraten ist und von dieser gesucht wird. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt droht dem Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht die zwangsweise Rekrutierung durch die syrischen Streitkräfte, und er läuft auch nicht Gefahr, von einer der Konfliktparteien unmittelbar persönlich verfolgt zu werden.
Der Beschwerdeführer ist aufgrund seiner vorgebrachten Konvertierung vom Islam zum Atheismus keiner Verfolgung durch das syrische Regime ausgesetzt.
Er ist weiters wegen seiner Ausreise aus Syrien, wegen seines Aufenthalts in Österreich, wegen seiner allgemeinen Wertehaltung in Syrien keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Er ist auch nicht aus sonstigen Gründen bedroht oder von einer der syrischen Konfliktparteien als politischer Gegner angesehen zu werden.
Dem Beschwerdeführer droht somit in Syrien mit hinreichender Wahrscheinlichkeit keine Verfolgung aufgrund seiner ethnischen, religiösen oder staatsbürgerlichen Zugehörigkeit, wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder aufgrund seiner politischen Gesinnung.
1.2. Auszüge aus der Länderinformation Syrien, Version 11
1.2.1. Sicherheitslage
1.2.1.1 Die militärischen Akteure und Syriens militärische Kapazitäten
Die syrische Regierung hat derzeit die Kontrolle über ca. zwei Drittel des Landes, inklusive größerer Städte, wie Aleppo und Homs. Unter ihrer Kontrolle sind derzeit die Provinzen Suweida, Daraa, Quneitra, Homs sowie ein Großteil der Provinzen Hama, Tartus, Lattakia und Damaskus. Auch in den Provinzen Aleppo, Raqqa und Deir ez-Zor übt die syrische Regierung über weite Teile die Kontrolle aus (Barron 6.10.2023). Aktuell sind die syrischen Streitkräfte mit Ausnahme von wenigen Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben (AA 2.2.2024). Die Opposition konnte eingeschränkt die Kontrolle über Idlib und entlang der irakisch-syrischen Grenze behalten. Das Erdbeben 2023 in der Türkei und Nordsyrien machte die tatsächliche Regierung fast unmöglich, weil die Opposition Schwierigkeiten hatte, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen (CFR 24.1.2024).
1.2.1.2. Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien
Mittlerweile hat das Assad-Regime, unterstützt von Russland und Iran, unterschiedlichen Quellen zu Folge zwischen 60 Prozent (INSS 24.4.2022; vgl. GIS 23.5.2022) und 70 Prozent des syrischen Territoriums wieder unter seine Kontrolle gebracht (USCIRF 11.2022; EUAA 9.2022; vgl. CFR 24.1.2024). Ausländische Akteure und regierungstreue Milizen üben erheblichen Einfluss auf Teile des Gebiets aus, das nominell unter der Kontrolle der Regierung steht (AM 23.2.2021; vgl. SWP 3.2020, FP 15.3.2021, EUI 13.3.2020) (Anm.: siehe dazu auch das Überkapitel Sicherheitslage). Folgende Karte mit Stand 23.5.2023 veranschaulicht diese territoriale nominelle Dominanz der syrischen Regierung und ihrer Verbündeten und das komplexe Verhältnis zum selbsternannten Autonomiegebiet im Nordosten, das hier als "halbautonome kurdische Zone" bezeichnet wird:
DW 30.6.2023
Die zivilen Behörden haben nur begrenzten Einfluss auf ausländische militärische oder paramilitärische Organisationen, die in Syrien operieren, darunter russische Streitkräfte, die libanesische Hizbollah, die iranischen Revolutionswächter (IRGC) und regierungsnahe Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defence Forces - NDF), deren Mitglieder zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begangen haben (USDOS 20.3.2023). Für alle Regionen Syriens gilt dabei, dass eine pauschale ebenso wie eine abschließende Lagebeurteilung nicht möglich ist. Auch innerhalb der verschiedenen Einflussgebiete unterscheidet sich die Lage teilweise von Region zu Region und von Ort zu Ort (AA 2.2.2024).
Die Sicherheitslage zwischen militärischen Entwicklungen und Menschenrechtslage
Ungeachtet der obigen Ausführungen bleibt Syrien bis hin zur subregionalen Ebene territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Die Regierung ist nicht in der Lage, alle von ihr kontrollierten Gebiete zu verwalten und bedient sich verschiedener Milizen, um einige Gebiete und Kontrollpunkte in Aleppo, Lattakia, Tartus, Hama, Homs und Deir ez-Zor zu kontrollieren (DIS/DRC 2.2019). Die Hizbollah und andere von Iran unterstützte schiitische Milizen kontrollieren derzeit rund 20 Prozent der Grenzen des Landes. Obwohl die syrischen Zollbehörden offiziell für die Grenzübergänge zum Irak (Abu Kamal), zu Jordanien (Nasib) und zum Libanon (al-Arida, Jdeidat, al-Jousiyah und al-Dabousiyah) zuständig sind, liegt die tatsächliche Kontrolle bei anderen: Die libanesische Grenze ist von der Hizbollah besetzt, die auf der syrischen Seite Stützpunkte eingerichtet hat (Zabadani, al-Qusayr), von denen aus sie die Bergregion Qalamoun beherrscht. Auch die irakischen schiitischen Milizen verwalten beide Seiten ihrer Grenze von Abu Kamal bis at-Tanf (WI 10.2.2021).
Unabhängig von militärischen Entwicklungen kommt es laut Vereinten Nationen (VN) und Menschenrechtsorganisationen zu massiven Menschenrechtsverletzungen durch verschiedene Akteure in allen Landesteilen, insbesondere auch in Gebieten unter Kontrolle des Regimes (AA 29.11.2021) [Anm.: Siehe dazu Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage]. Die VN-Untersuchungskommission für Syrien hält es für wahrscheinlich, dass das Regime, seine russischen Verbündeten und andere regimetreue Kräfte Angriffe begangen haben, die durch Kriegsverbrechen gekennzeichnet sind und möglicherweise auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen. Dem Regime nahestehende paramilitärische Gruppen begehen Berichten zufolge häufige Verstöße und Misshandlungen, darunter Massaker, wahllose Tötungen, Entführungen von Zivilisten, extreme körperliche Misshandlungen, einschließlich sexueller Gewalt, und rechtswidrige Festnahmen (USDOS 20.3.2023). Die syrische Regierung und andere Konfliktparteien setzen weiterhin Verhaftungen und das Verschwindenlassen von Personen als Strategie zur Kontrolle und Einschüchterung der Zivilbevölkerung ein (GlobalR2P 31.5.2023; vgl. CC 3.11.2022). In Zentral-, West- und Südsyrien kommt es in den von der Regierung kontrollierten Gebieten systematisch zu willkürlichen Verhaftungen, Folterungen und Misshandlungen (GlobalR2P 1.12.2022) [Anm.: Siehe auch Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage]. Aus den Gouvernements Dara'a, Quneitra und Suweida wurden in der ersten Jahreshälfte 2022 gezielte Tötungen, Sprengstoffanschläge, Schusswechsel, Zusammenstöße und Entführungen gemeldet, an denen Kräfte der syrischen Regierung und regierungsfreundliche Milizen, ehemalige Mitglieder bewaffneter Oppositionsgruppen, IS-Kämpfer und andere nicht identifizierte Akteure beteiligt waren (EUAA 9.2022). Generell kommt es in Quneitra trotz geringer Opferzahlen zu einer sehr hohen Anzahl an Angriffen, Kriminalfällen und Kampfhandlungen zwischen sich bekriegenden Fraktionen (NMFA 8.2023).
Verschiebungen bei der militärischen Präsenz von Russland und Iran
Die russischen Kriegsanstrengungen in der Ukraine haben begonnen, sich spürbar auf Russlands militärische und diplomatische Haltung in Syrien auszuwirken (CC 3.11.2022; vgl. NYT 19.10.2022). Russland ist seit 2015 eine dominante militärische Kraft in Syrien und trägt dazu bei, das syrische Regime an der Macht zu halten (NYT 19.10.2022). Allerdings versucht Russland nun auch, seine Position in Europa zu stärken, indem es im Stillen seine Präsenz und sein Engagement in Syrien reduziert. Berichten zufolge wurden diese Soldaten teilweise durch russische Militärpolizisten ersetzt (CC 3.11.2022; vgl. NYT 19.10.2022). Die Bemühungen Russlands, seine Präsenz in Syrien zu verringern, haben auch diplomatische Manöver mit Iran und der Türkei ausgelöst. Iran hat das Vakuum genutzt, um seine Präsenz in Ostsyrien auszubauen (CC 3.11.2022). Obwohl Russland gezwungen war, die militärische Präsenz in Syrien aufgrund des Ukraine-Krieges zu reduzieren und Teile der territorialen Kontrollen an iranische Milizen abzutreten, wird diese von Russland noch immer als wichtig angesehen (ISPI 11.9.2023). Seine Präsenz nützte Russland zuletzt, um die US-amerikanischen Truppen unter Druck zu setzen, indem beispielsweise US-amerikanische Drohnen beschädigt werden, mit dem Ziel die USA aus Syrien zu vertreiben (TWI 27.11.2023).
1.2.2. Folter und unmenschliche Behandlung:
Im März 2022 wurde ein neues Gesetz gegen Folter verabschiedet (HRW 11.1.2024). Das Gesetz Nr. 16 von 2022 sieht Strafen von drei Jahren Haft bis hin zur Todesstrafe vor (OSS 18.1.2023b). Die Todesstrafe gilt für Folter mit Todesfolge oder in Verbindung mit einer Vergewaltigung (HRW 12.1.2023). Eine lebenslange Strafe ist für Fälle vorgesehen, in welchen Kinder oder Menschen mit Beeinträchtigungen gefoltert wurden oder das Opfer einen permanenten Schaden davonträgt (OSS 18.1.2023b). Das Gesetz verbietet auch das Anordnen von Folter durch Behörden (HRW 12.1.2023). Es weist jedoch wichtige Lücken auf, und die Anwendung bleibt unklar. So werden keine Organisationen genannt, auf welche das Gesetz angewendet werden soll. Verschiedene Teile des Sicherheitsapparats einschließlich der Zollbehörden sowie die Streitkräfte sind de facto weiterhin von Strafverfolgung ausgenommen (OSS 18.1.2023), was durch Dekrete gedeckt ist (OSS 1.10.2017b, STJ 12.7.2022) - ebenso wie Gefängnisse (OSS 18.1.2023b). Dort wurden und werden Zehntausende gefoltert (OSS 18.1.2023b, FH 9.3.2023), und zahlreiche Menschen starben in der Haft oder man ließ sie "verschwinden" (FH 9.3.2023). SNHR kritisiert unter anderem, dass das Gesetz keine Folterstraftaten, die vor seinem Erlass begangen wurden, umfasst, keinen Bezug auf grausame Haftbedingungen nimmt und andere Gesetze, welche Angehörigen der vier Geheimdienste Straffreiheit gewähren, weiterhin in Kraft bleiben (SNHR 26.6.2022). Weitere NGOs kritisieren außerdem, dass das Gesetz keine konkreten Schutzmaßnahmen für Zeugen oder Überlebende von Folter sowie keine Wiedergutmachungen vorsieht, und zwar weder für frühere Folteropfer noch für die Angehörigen im Falle des Todes. Auch beinhaltet das Gesetz keine Präventionsmaßnahmen, die ergriffen werden könnten, um Folter in Haftanstalten und Gefängnissen zukünftig zu verhindern (AI 31.3.2022).
Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 20.3.2023).
Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden: Zehn nahe Damaskus, jeweils vier nahe Homs, Latakia und Idlib, drei nahe Dara‘a und zwei nahe Aleppo. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 2.2.2024). In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht, wo sie verschiedenen Formen von Folter unterworfen werden (SHRC 24.1.2019). Auch in den Krankenhäusern Harasta Military Hospital, Mezzeh Military Hospital 601 und Tishreen Military Hospital werden Gefangene gefoltert. Laut Berichten von NGOs gibt es zudem zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leerstehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden (USDOS 20.3.2023).
Laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes unterliegen Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, einem besonders hohen Folterrisiko (AA 2.2.2024). Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichten von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung wahrgenommener Oppositioneller einsetzen, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und bereits vor 2011 dokumentiert wurde (USDOS 12.4.2022). Die willkürlichen Festnahmen, Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen durch syrische Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche Milizen betreffen auch Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen, RückkehrerInnen und Personen aus wiedereroberten Gebieten, die "Versöhnungsabkommen" unterzeichnet haben (HRW 12.1.2023). Auch sexueller Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern wird verübt (USDOS 20.3.2023). Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 2.2.2024; vgl. bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021). Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.4.2022).
Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen bei Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt (AA 2.2.2024). Dem Syrian Network for Human Rights (SNHR) zufolge beträgt die Gesamtzahl der durch Folter seitens der syrischen Regierung seit März 2011 verstorbenen Personen mit Stand Juni 2022 14.464 Menschen, darunter 174 Kinder und 75 Frauen (SNHR 26.6.2022). Neben gewaltsamen Todesursachen ist jedoch eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 2.2.2024).
Die meisten der im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In diesen Fällen wurden die sterblichen Überreste auch nicht den Angehörigen übergeben (SNHR 26.6.2022).
Eine realistische Möglichkeit zur Einforderung einer strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte besteht nicht. Gegenwärtig können sich der einzelne Bürger und die einzelne Bürgerin in keiner Weise gegen die staatlichen Willkürakte zur Wehr setzen. Bis zur Vorführung vor einem Richter können nach Inhaftierung mehrere Monate vergehen, in dieser Zeit besteht in der Regel keinerlei Kontakt zu Familienangehörigen oder Anwälten. Bereits vor März 2011 gab es glaubhafte Hinweise, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt bzw. wiederholt selbst Opfer solcher Praktiken zu werden (AA 2.2.2024).
1.2.3. Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen
1.2.3.1 Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst
Rechtliche Bestimmungen
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes verpflichtend (ÖB Damaskus 12.2022). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Die Dauer des Wehrdienstes beträgt 18 Monate bzw. 21 Monate für jene, die die fünfte Klasse der Grundschule nicht abgeschlossen haben (PAR 1.6.2011). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 2.2.2024). In der Vergangenheit wurde es auch akzeptiert, sich, statt den Militärdienst in der syrischen Armee zu leisten, einer der bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppierung anzuschließen. Diese werden inzwischen teilweise in die Armee eingegliedert, jedoch ohne weitere organisatorische Integrationsmaßnahmen zu setzen oder die Kämpfer auszubilden (ÖB Damaskus 12.2022). Wehrpflichtige und Reservisten können im Zuge ihres Wehrdienstes bei der Syrischen Arabischen Armee (SAA) auch den Spezialeinheiten (Special Forces), der Republikanischen Garde oder der Vierten Division zugeteilt werden, wobei die Rekruten den Dienst in diesen Einheiten bei Zuteilung nicht verweigern können (DIS 4.2023). Um dem verpflichtenden Wehrdienst zu entgehen, melden sich manche Wehrpflichtige allerdings aufgrund der höheren Bezahlung auch freiwillig zur Vierten Division, die durch die von ihr kontrollierten Checkpoints Einnahmen generiert (EB 17.1.2023). Die 25. (Special Tasks) Division (bis 2019: Tiger Forces) rekrutiert sich dagegen ausschließlich aus Freiwilligen (DIS 4.2023).
Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB Damaskus 12.2022). Einer vertraulichen Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge sollen Männer auch unabhängig ihres Gesundheitszustandes eingezogen und in der Verwaltung eingesetzt worden sein (NMFA 8.2023).
Die im März 2020, Mai 2021 und Jänner 2022 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetz, darunter Fahnenflucht. Die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB Damaskus 12.2022).
Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen (AA 2.2.2024). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 2.2.2024; vgl. ICWA 24.5.2022).
Männliche Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge, die zwischen 1948 und 1956 nach Syrien kamen und als solche bei der General Administration for Palestinian Arab Refugees (GAPAR) registriert sind (NMFA 5.2022), bzw. palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht (AA 13.11.2018; vgl. Action PAL 3.1.2023, ACCORD 21.9.2022). Ihren Wehrdienst leisten sie für gewöhnlich in einer Unterabteilung der syrischen Armee, die den Namen Palästinensische Befreiungsarmee trägt: Palestinian Liberation Army (PLA) (BAMF 2.2023, (AA 13.11.2018; vgl. ACCORD 21.9.2022). Es konnten keine Quellen gefunden werden, die angeben, dass Palästinenser vom Reservedienst ausgeschlossen seien (ACCORD 21.9.2022; vgl. BAMF 2.2023).
Die Umsetzung
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten (STDOK 8.2017; vgl. DIS 7.2023). Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).
Obwohl die offizielle Wehrdienstzeit etwa zwei Jahre beträgt, werden Wehrpflichtige in der Praxis auf unbestimmte Zeit eingezogen (NMFA 5.2022; vgl. AA 29.3.2022), wobei zuletzt von einer "Verkürzung" des Wehrdienstes auf 7,5 Jahre berichtet wurde. Die tatsächliche Dauer richtet sich laut UNHCR Syrien jedoch nach Rang und Funktion der Betreffenden (ÖB Damaskus 12.2022). Personen, die aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse von großem Wert für die Armee und nur schwer zu ersetzen sind, können daher über Jahre hinweg im Militärdienst gehalten werden. Personen, deren Beruf oder Fachwissen in der Gesellschaft sehr gefragt ist, wie z.B. Ärzte, dürfen eher nach Ablauf der offiziellen Militärdienstzeit ausscheiden (NMFA 5.2022).
Seit März 2020 hat es in Syrien keine größeren militärischen Offensiven an den offiziellen Frontlinien mehr gegeben. Scharmützel, Granatenbeschuss und Luftangriffe gingen weiter, aber die Frontlinien waren im Grunde genommen eingefroren. Nach dem Ausbruch von COVID-19 und der Einstellung größerer Militäroperationen in Syrien Anfang 2020 verlangsamten sich Berichten zufolge die militärischen Rekrutierungsmaßnahmen der SAA. Die SAA berief jedoch regelmäßig neue Wehrpflichtige und Reservisten ein. Im Oktober 2021 wurde ein Rundschreiben herausgegeben, in dem die Einberufung von männlichen Syrern im wehrpflichtigen Alter angekündigt wurde. Auch in den wiedereroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Militärdienst ableisten (EUAA 9.2022). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (AA 2.2.2024).
Rekrutierungspraxis
Es gibt, dem Auswärtigen Amt zufolge, zahlreiche glaubhafte Berichte, laut denen wehrpflichtige Männer, die auf den Einberufungsbescheid nicht reagieren, von Mitarbeitern der Geheimdienste abgeholt und zwangsrekrutiert werden (AA 2.2.2024). Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert (AA 2.2.2024; vgl. NMFA 5.2022), wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt (NMFA 5.2022; vgl. NLM 29.11.2022). Im September 2022 wurde beispielsweise von der Errichtung eines mobilen Checkpoints im Gouvernement Dara'a berichtet, an dem mehrere Wehrpflichtige festgenommen wurden (SO 12.9.2022). In Homs führte die Militärpolizei gemäß einem Bericht aus dem Jahr 2020 stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 6.3.2020). Im Jänner 2023 wurde berichtet, dass Kontrollpunkte in Homs eine wichtige Einnahmequelle der Vierten Division seien (EB 17.1.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gibt es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 2.2.2024).
Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Lokale Medien berichteten, dass die Sicherheitskräfte der Regierung während der Fußballweltmeisterschaft der Herren 2022 mehrere Cafés, Restaurants und öffentliche Plätze in Damaskus stürmten, wo sich Menschen versammelt hatten, um die Spiele zu sehen, und Dutzende junger Männer zur Zwangsrekrutierung festnahmen (USDOS 20.3.2023).
Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z. B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vgl. ICG 9.5.2022, EB 6.3.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Hausdurchsuchungen finden dabei v.a. eher in urbanen Gebieten statt, wo die SAA stärkere Kontrolle hat, als in ruralen Gebieten (DIS 1.2024). Mehrere Quellen berichteten im Jahr 2023 wieder vermehrt, dass Wehr- und Reservedienstpflichtige aus ehemaligen Oppositionsgebieten von der syrischen Regierung zur Wehrpflicht herangezogen wurden, um mehr Kontrolle über diese Gebiete zu erlangen bzw. um potenzielle Oppositionskämpfer aus diesen Gebieten abzuziehen (NMFA 8.2023; vgl. DIS 7.2023). Eine Quelle des Danish Immigration Service geht davon aus, dass Hausdurchsuchungen oft weniger die Rekrutierung als vielmehr eine Erpressung zum Ziel haben (DIS 1.2024).
Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht (STDOK 8.2017). Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017; vgl. FIS 14.12.2018). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).
Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020). Anfang April 2023 wurde beispielsweise von verstärkten Patrouillen der Regierungsstreitkräfte im Osten Dara'as berichtet, um Personen aufzugreifen, die zum Militär- und Reservedienst verpflichtet sind (ETANA 4.4.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 4.12.2020).
Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB Damaskus 12.2022; vgl. EASO 4.2021). Da die Zusammensetzung der syrisch-arabischen Armee ein Spiegelbild der syrischen Bevölkerung ist, sind ihre Wehrpflichtigen mehrheitlich sunnitische Araber, die vom Regime laut einer Quelle als "Kanonenfutter" im Krieg eingesetzt wurden. Die sunnitisch-arabischen Soldaten waren (ebenso wie die alawitischen Soldaten und andere) gezwungen, den größeren Teil der revoltierenden sunnitisch-arabischen Bevölkerung zu unterdrücken. Der Krieg forderte unter den alawitischen Soldaten bezüglich der Anzahl der Todesopfer einen hohen Tribut, wobei die Eliteeinheiten der SAA, die Nachrichtendienste und die Shabiha-Milizen stark alawitisch dominiert waren (Al-Majalla 15.3.2023).
Im Rahmen sog. lokaler „Versöhnungsabkommen“, in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben (AA 2.2.2024).
Staatenlose Palästinenser werden meistens in die Palestinian Liberation Army (PLA) rekrutiert, seltener auch in die reguläre SAA. Sie sind ebenfalls reservepflichtig. Allerdings dauert ihre Pflicht zum Reservedienst weniger lange, nämlich nur viereinhalb Jahre. Den meisten Quellen des Danish Immigration Service waren keine Fälle bekannt, wonach staatenlose Palästinenser in Syrien zum Reservedienst in der PLA einberufen wurden. Die PLA wurde auch an die Front geschickt (DIS 1.2024).
Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle
Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die SAA eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Absolvierung des "Wehrdiensts" gemäß der "Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien" [Autonomous Administration of North and East Syria (AANES)] befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien. Die syrische Regierung verfügt über mehrere kleinen Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese die Bezeichnung "Sicherheitsquadrate" (al-Morabat al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befinden. Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw. "Sicherheitsquadraten" auseinander - auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten (DIS 6.2022). Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im "Sicherheitsquadrat" im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor (Rechtsexperte 14.9.2022). Dies wird auch von SNHR bestätigt, die ebenfalls angeben, dass die Rekrutierung durch die syrischen Streitkräfte an deren Zugriffsmöglichkeiten gebunden ist (ACCORD 7.9.2023). Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat] hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren (BMLV 12.10.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z.B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o. Ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).
Das Gouvernement Idlib befindet sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann (Rechtsexperte 14.9.2022), mit Ausnahme einiger südwestlicher Sub-Distrikte (Nahias) des Gouvernements, die unter Regierungskontrolle stehen (ACLED 1.12.2022; vgl. Liveuamap 17.5.2023). Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen, um sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der "Gesuchten" zu setzen. Das erleichtert ihre Verhaftung zur Rekrutierung, wenn sie das Gouvernement Idlib in Richtung der Gebiete unter Kontrolle der syrischen Regierung verlassen (Rechtsexperte 14.9.2022).
Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich auf das Gouvernement Aleppo konzentriert. Sie wird von der Türkei unterstützt und besteht aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA). Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann keine Personen aus diesen Gebieten für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Auch mit Stand Februar 2023 hat die syrische Armee laut einem von ACCORD befragten Syrienexperten keine Zugriffsmöglichkeit auf wehrdienstpflichtige Personen in Jarabulus (ACCORD 20.3.2023).
Reservedienst
Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden. Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z. B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung) (STDOK 8.2017). Reservisten können laut Gesetz bis zum Alter von 42 Jahren mehrfach zum Militärdienst eingezogen werden. Die syrischen Behörden ziehen weiterhin Reservisten ein (NMFA 5.2022; vgl. NMFA 8.2023; vgl. DIS 1.2024). Die Behörden berufen vornehmlich Männer bis 27 ein, während ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise nach oben angehoben, sodass auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen wurden bzw. Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen können (ÖB Damaskus 12.2022). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab als von allgemeinen Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen Über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020). V.a. weil die SAA derzeit nicht mehr so viele Männer braucht, werden über 42-Jährige derzeit eher selten einberufen. Das syrische Regime verlässt sich vor allem auf Milizen, in deren Dienste sich 42-Jährige einschreiben lassen können (DIS 1.2024).
Das niederländische Außenministerium berichtet unter Berufung auf vertrauliche Quellen, dass Männer über 42 Jahre, die ihren Wehrdienst abgeleistet hatten, Gefahr laufen, verhaftet zu werden, um sie zum Reservedienst zu bewegen. Männer, auch solche über 42 Jahren, werden vor allem in Gebieten, die zuvor eine Zeit lang nicht unter der Kontrolle der Behörden standen, als Reservisten eingezogen. Dies soll eine Form der Vergeltung oder Bestrafung sein. Personen, die als Reservisten gesucht werden, versuchen, sich dem Militärdienst durch Bestechung zu entziehen oder falsche Bescheinigungen zu erhalten, gemäß derer sie bei inoffiziellen Streitkräften, wie etwa regierungsfreundlichen Milizen, dienen (NMFA 5.2022). Manchen Quellen des Danish Immigration Service zufolge werden Reservisten unabhängig ihrer Qualifikationen einberufen, andere Quellen wiederum geben an, dass das syrische Regime Reservisten je nach ihrer militärischen Spezialisierung einzieht. Eine Quelle glaubt, dass Reservisten oft qualifikationsunabhängig eingezogen werden, aber immer öfter auf die Spezialisierung geachtet wird. Eine besondere Stellung bei der Einberufung zum Reservedienst nehmen Angestellte des öffentlichen Sektors ein. Manche Quellen sprechen davon, dass diese seltener einberufen werden, andere Quellen geben an, dass diese eher entsprechend ihrer Tätigkeiten (z.B. im medizinischen Bereich) im Rahmen ihres Reservedienstes an Orte geschickt werden, wo ihre Funktion gerade dringender gebraucht wird (DIS 1.2024).
Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung
Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Mit der COVID-19-Pandemie und der Beendigung umfangreicher Militäroperationen im Nordwesten Syriens im Jahr 2020 haben sich die groß angelegten militärischen Rekrutierungskampagnen der syrischen Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten jedoch verlangsamt (COAR 28.1.2021), und im Jahr 2021 hat die syrische Regierung damit begonnen, Soldaten mit entsprechender Dienstzeit abrüsten zu lassen. Nichtsdestotrotz wird die syrische Armee auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, nicht nur zur Aufrechterhaltung des laufenden Dienstbetriebs, sondern auch, um eingeschränkt militärisch operativ sein zu können. Ein neuerliches "Hochfahren" dieses Systems scheint derzeit [Anm.: Stand 16.9.2022] nicht wahrscheinlich, kann aber vom Regime bei Notwendigkeit jederzeit wieder umgesetzt werden (BMLV 12.10.2022).
Als die Regierung große Teile des Gebiets von bewaffneten Oppositionellen zurückerobert hatte, wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren (DIS 5.2020). Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Der syrische Präsident erließ einen ab Oktober 2022 geltenden Verwaltungserlass mit Blick auf die unteren Ebenen der Militärhierarchie, der die Beibehaltung und Einberufung von bestimmten Offizieren und Reserveoffiziersanwärtern, die für den obligatorischen Militärdienst gemeldet sind, beendete. Bestimmte Offiziere und Offiziersanwärter, die in der Wehrpflicht stehen, sind zu demobilisieren, und bestimmte Unteroffiziere und Reservisten dürfen nicht mehr weiterbeschäftigt oder erneut einberufen werden (TIMEP 17.10.2022; vgl. SANA 27.8.2022). Ziel dieser Beschlüsse ist es, Hochschulabsolventen wie Ärzte und Ingenieure dazu zu bewegen, im Land zu bleiben (TIMEP 17.10.2022). Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020, vgl. NMFA 5.2022). Ein weiterer Beschluss wurde im Dezember 2023 erlassen, wonach Reserveoffiziere, die mit 31.01.2024 ein Jahr oder mehr aktiv ihren Wehrdienst abgeleistet haben, ab 1.2.2024 nicht mehr einberufen werden. Dieser Beschluss beendet ebenfalls die Einberufung von Unteroffizieren und Reservisten, die mit 31.1.2024 sechs Jahre oder mehr aktiven Wehrdienst geleistet haben (SANA 4.12.2023).
Die Rekruten werden während des Wehrdienstes im Allgemeinen nicht gut behandelt. Der Umgang mit ihnen ist harsch. Nur wer gute Verbindungen zu höheren Offizieren oder Militärbehörden hat oder wer seine Vorgesetzten besticht, kann mit einer besseren Behandlung rechnen. Außerdem ist die Bezahlung sehr niedrig und oft ist es den Rekruten während des Wehrdienstes nicht gestattet, ihre Familien zu sehen (DIS 1.2024).
Einsatz von Rekruten im Kampf
Grundsätzlich vermeidet es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, jedoch können diese aufgrund der asymmetrischen Art der Kriegsführung mit seinen Hinterhalten und Anschlägen trotzdem in Kampfhandlungen verwickelt werden (BMLV 12.10.2022), wie in der Badia-Wüste, wo es noch zu Konfrontationen mit dem IS kommt (DIS 7.2023). Alle Eingezogenen können laut EUAA (European Union Agency for Asylum) unter Berufung auf einen Herkunftsländerbericht vom April 2021 potenziell an die Front abkommandiert werden. (EUAA 2.2023; vgl. DIS 7.2023). Ihr Einsatz hängt laut EUAA vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der Eingezogenen und ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab (EUAA 2.2023). Andere Quellen hingegen geben an, dass die militärische Qualifikation oder die Kampferfahrung keine Rolle spielt, beim Einsatz von Wehrpflichtigen an der Front (DIS 7.2023). Eingezogene Männer aus "versöhnten" Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EUAA 2.2023; vgl. NMFA 8.2023). [Anm.: In welcher Relation die Zahl der Reservisten zu den Wehrpflichtigen steht, geht aus den Berichten nicht hervor.]
1.2.3.2 Wehrdienstverweigerung / Desertion
Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten Zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und vergleichsweise wenige wurden nach diesem Zeitpunkt deswegen verhaftet (Landinfo 3.1.2018).
In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 2.2.2024).
Der verpflichtende Militärdienst führt weiterhin zu einer Abwanderung junger syrischer Männer, die vielleicht nie mehr in ihr Land zurückkehren werden (ICWA 24.5.2022).
Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern
In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Rechtsexperten der Free Syrian Lawyers Association (FSLA) mit Sitz in der Türkei beurteilen, dass das syrische Regime die Verweigerung des Militärdienstes als schweres Verbrechen betrachtet und die Verweigerer als Gegner des Staates und der Nation behandelt. Dies spiegelt die Sichtweise des Regimes auf die Opposition wie auch jede Person wider, die versucht, sich seiner Politik zu widersetzen oder ihr zu entkommen (STDOK 25.10.2023). Der Syrien-Experte Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt "ihr Land zu verteidigen". Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit "gerettet" haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021). Ein für eine internationale Forschungsorganisation mit Schwerpunkt auf den Nahen Osten tätiger Syrienexperte, der allerdings angibt, dazu nicht eigens Forschungen durchgeführt zu haben, geht davon aus, dass das syrische Regime möglicherweise am Anfang des Konflikts, zwischen 2012 und 2014, Wehrdienstverweigerer durchwegs als oppositionell einstufte, inzwischen allerdings nicht mehr jeden Wehrdienstverweigerer als oppositionell ansieht (STDOK 25.10.2023). Gemäß Auswärtigem Amt legen einige Berichte nahe, dass Familienangehörige von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern ebenfalls Verhören und Repressionen der Geheimdienste ausgesetzt sein könnten (AA 2.2.2024).
Gesetzliche Lage
Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Art. 98-99 ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 2.2.2024; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022).
Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung. Das Militärstrafgesetzbuch unterscheidet zwischen "interner Desertion" (farar dakhelee) und "externer Desertion" (farar kharejee). Interne Desertion in Friedenszeiten wird begangen, wenn sich der Soldat sechs Tage lang unerlaubt von seiner militärischen Einheit entfernt. Ein Soldat, der noch keine drei Monate im Dienst ist, gilt jedoch erst nach einem vollen Monat unerlaubter Abwesenheit als Deserteur. Interne Desertion liegt außerdem vor, wenn der reisende Soldat trotz Ablauf seines Urlaubs nicht innerhalb von 15 Tagen nach dem für seine Ankunft oder Rückkehr festgelegten Datum zu seiner militärischen Einheit zurückgekehrt ist (Artikel 100/1/b des Militärstrafgesetzbuchs). Interne Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und wenn es sich bei dem Deserteur um einen Offizier oder einen Berufsunteroffizier handelt, kann er zusätzlich zu der vorgenannten Strafe mit Entlassung bestraft werden (Artikel 100/2). In Kriegszeiten können die oben genannten Fristen auf ein Drittel verkürzt und die Strafe verdoppelt werden (Artikel 100/4). Eine externe Desertion in Friedenszeiten liegt vor, wenn der Soldat ohne Erlaubnis die syrischen Grenzen überschreitet und seine Militäreinheit verlässt, um sich ins Ausland zu begeben. Der betreffende Soldat wird in Friedenszeiten nach Ablauf von drei Tagen seit seiner illegalen Abwesenheit und in Kriegszeiten nach einem Tag als Deserteur betrachtet (Artikel 101/1) (Rechtsexperte 14.9.2022). Externe Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft (Artikel 101/2) (Rechtsexperte 14.9.2022; vgl. AA 2.2.2024). Die Haftstrafen können sich bei Vorliegen bestimmter Umstände noch erhöhen (z. B. Desertion während des Dienstes, Mitnahme von Ausrüstung) (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Todesstrafe ist gemäß Art. 102 bei Überlaufen zum Feind und gemäß Art. 105 bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (AA 2.2.2024).
Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vgl. DIS 5.2020).
Handhabung
Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt (Landinfo 3.1.2018), und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen (Rechtsexperte 14.9.2022). Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vgl. Landinfo 3.1.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder "verschwindengelassen" werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018).
Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für Wehrdienstentzug ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als "Kanonenfutter"), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter) (Üngör 15.12.2021). Dem hingegen gibt ein von EUAA interviewter Experte an, dass Wehrdienstverweigerer, die von der syrischen Regierung gefasst werden, der Militärpolizei übergeben werden und schließlich in Trainingslager zur Ausbildung und Stationierung gesendet werden (EUAA 10.2023). Bis zum Beginn einer Wehrdienstausbildung, die normalerweise im April und September geplant sind, bleibt der Wehrdienstverweigerer bei der Militärpolizei (NMFA 8.2023). Selbst für privilegierte Personen mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021). Auch einige Quellen des Danish Immigration Service geben an, dass Wehrdienstverweigerer mit einer Haftstrafe von bis zu neun Monaten rechnen müssen. Andere Quellen des Danish Immigration Service wiederum berichteten, dass Wehrdienstverweigerer direkt zum Wehrdienst eingezogen, ohne vorher inhaftiert zu werden. Wer an einem Checkpoint als Wehrdienstverweigerer erwischt wird, wird dem Geheimdienst übergeben. Ein Wehrdienstverweigerer, der nicht aus anderen Gründen gesucht wird, wird dem Militär zur Ableistung des Wehrdienstes übergeben. Wehrdienstverweigerer werden meist direkt an die Front geschickt (DIS 1.2024). Wehrdienstverweigerer aus den Gebieten, die von der Opposition kontrolliert wurden, werden dabei mit größerem Misstrauen betrachtet und mit größerer Wahrscheinlichkeit inhaftiert oder verhaftet (NMFA 8.2023).
Bei militärischer Desertion gibt es Fälle, die dem Militärgericht übergeben werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Mehrere Quellen berichten, dass Deserteure verfolgt und mit einer Haftstrafe bestraft werden und dann ihren Wehrdienst ableisten müssen (DIS 1.2024). Eine Quelle berichtet im Jahr 2020, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt (DIS 5.2020). Dem gegenüber berichtet ein vom Danish Immigration Service 2023 interviewter Experte, dass Deserteure aus ehemaligen Oppositionsgebieten, sowie Überläufer, die sich an Handlungen gegen das Regime beteiligt haben, zum Tode verurteilt werden könnten. SNHR berichtet, dass Deserteure ein bestimmtes Zeitlimit, wie beispielsweise ein Jahr haben, um sich freiwillig den Behörden stellen und straffrei davonkommen zu können. Wer sich innerhalb der Frist nicht meldet, wird in Abwesenheit verurteilt (DIS 1.2024). Überläufer, die sich freiwillig stellen, würden vor ein Militärgericht gestellt und müssen entweder nach Ableistung einer Haftstrafe oder, wenn eine Amnestie erlassen wurde, sofort den verbleibenden Wehrdienst in der Einheit, aus der sie desertierten, absolvieren (EUAA 10.2023). Das Omran Center for Strategic Studies wiederum gibt an, dass kein Unterschied zwischen Deserteuren und Überläufern gemacht wird. Die Haftstrafe für Wehrpflichtige und Reservisten, die desertiert sind, beträgt bis zu neun Monate. Wer ein zweites Mal desertiert wird bis zu zwei Jahre inhaftiert, wer ein drittes Mal desertiert für fünf Jahre (DIS 1.2024). Ein Syrienexperte, der von EUAA interviewt wurde, gibt an, dass die Behandlung von Deserteuren und Überläufern abhängig ist von einerseits der Art ihrer Flucht und andererseits den Strafen, die vorgesehen sind in den Artikeln 100 und 104 im Strafgesetzbuch (EUAA 10.2023). Anfang September verfügte Präsident Assad mittels Dekret (32/2023) die Auflösung von ad hoc Gefechtsfeldtribunalen, die laut Menschenrechtsorganisationen mit hunderten Todesurteilen gegen vermeintliche Deserteure und andere Personen in Verbindung gebracht werden (AA 2.2.2024).
Manche Quellen berichten, dass Wehrdienstverweigerung und Desertion für sich genommen momentan nicht zu Repressalien für die Familienmitglieder der Betroffenen führen. Hingegen berichten mehrere andere Quellen von Repressalien gegenüber Familienmitgliedern von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern, wie Belästigung, Erpressung, Drohungen, Einvernahmen und Haft. Eine Quelle berichtete sogar von Folter. Betroffen sind vor allem Angehörige ersten Grades (DIS 1.2024). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von "high profile"-Deserteuren der Fall sein, also z. B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018; vgl. DIS 1.2024). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020; vgl. DIS 1.2024). Insbesondere die politische oder militärische Haltung gegenüber der Syrischen Regierung wirkt sich auf die Art der Behandlung der Familie des Deserteurs bzw. Wehrdienstverweigerer aus. Familien von Deserteuren sind dabei einem höheren Risiko ausgesetzt als jene von Wehrdienstverweigerern (DIS 1.2024).
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen berichtete im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen durch die Regierungskräfte, darunter auch von Personen, die sich zuvor mit der Regierung "ausgesöhnt" hatten. Andere wurden vor der am 21.12.2022 angekündigten Amnestie für Verbrechen der "internen und externen Desertion vom Militärdienst" aufgrund von Tatbeständen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht inhaftiert (UNHRC 7.2.2023).
1.2.4. Allgemeine Menschenrechtslage
Neben der Gefährdung durch militärische Entwicklungen, Landminen und explosive Munitionsreste, welche immer wieder zivile Opfer fordern, bleibt auch die allgemeine Menschenrechtslage in Syrien äußerst besorgniserregend (AA 2.2.2024). Von allen Akteuren agiert das Regime am meisten mit gewaltsamer Repression und die PYD am wenigsten - autoritär sind alle Machthaber nach Einschätzung der Bertelsmann-Stiftung (BS 23.2.2022). Die im August 2011 vom UN-Menschenrechtsrat eingerichtete internationale unabhängige Untersuchungskommission zur Menschenrechtslage in Syrien (Commission of Inquiry, CoI) benennt in ihrem am 13.9.2023 veröffentlichten Bericht (Berichtszeitraum Januar bis Juni 2023) zum wiederholten Male teils schwerste Menschenrechtsverletzungen, identifiziert Trends und belegt diese durch die Dokumentation von Einzelfällen. Nach Einschätzung der CoI dürfte es im Berichtszeitraum in Syrien weiterhin zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekommen sein. Dazu gehörten u. a. gezielte und wahllose Angriffe auf Zivilisten und zivile Ziele (z. B. durch Artilleriebeschuss und Luftschläge) sowie Folter. Darüber hinaus seien willkürliche und ungesetzliche Inhaftierungen, „Verschwindenlassen“, sexualisierte Gewalt sowie willkürliche Eingriffe in die Eigentumsrechte, unter anderem von Geflüchteten, dokumentiert. Obwohl die UN-Kommission die Verantwortung in absoluten Zahlen betrachtet für die große Mehrzahl der Menschenrechtsverletzungen bei Kräften der syrischen Regierung und ihrer Verbündeten sieht, wurden erneut für alle Konfliktparteien und alle Regionen des Landes Menschenrechtsverstöße dokumentiert (AA 2.2.2024).
Regierungsgebiete
Die CoI geht davon, dass die syrische Regierung weiterhin Morde, Folter und Misshandlungen begeht, die sich gegen Personen in Haft richten, darunter auch Praktiken, welche zum Tod in der Haft führen. Hinzukommen willkürliche Haft und Verschwindenlassen. Die UN-Kommission sieht hierin ein Muster von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Im Berichtszeitraum wurden auch Fälle umfassender Verletzungen von Prozessrechten und des Rechts auf ein faires Verfahren im syrischen Justizstrafsystem dokumentiert (UNCOI 7.2.2023). Nach Einschätzung der UN-Kommission liegt die Verantwortung für die - in absoluten Zahlen betrachtet - große Mehrzahl der Menschenrechtsverletzungen bei Kräften des syrischen Regimes und seinen Verbündeten. Darüber hinaus verweist die CoI auf massive Behinderungen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben, sowohl durch die Verweigerung des Zugangs nach Syrien als auch durch erhebliche Sicherheitsbedenken für die zu Befragenden. In ihrem Bericht von September 2022 vermerkte die CoI eine Verschärfung des staatlichen Vorgehens gegen die Zivilgesellschaft. Herauszuheben sind ein im April 2022 verabschiedetes Gesetz gegen Cyberkriminalität, welches für regierungs- und verfassungskritische Äußerungen im Internet Haftstrafen von sieben bis 15 Jahren vorsieht und welches laut dem jüngsten Bericht der CoI vom August 2023 weiter zur Anwendung kommt (AA 2.2.2024). Mit dem Regime verbündete paramilitärische Gruppen begehen Berichten zufolge häufig Menschenrechtsverletzungen, darunter Massaker, willkürliches Töten, Entführungen von Zivilisten, sexuelle Gewalt und ungesetzliche Haft. Alliierte Milizen des Regimes, darunter die Hizbollah, führen etwa zahlreiche Angriffe aus, die Zivilisten töten (USDOS 20.3.2023).
Personen, welche glaubwürdig in Gewaltverbrechen involviert sind, Organisationen innerhalb oder verbunden mit der syrischen Regierung sowie auch der sogenannte Islamische Staat unterliegen weiterhin Sanktionen durch die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und Großbritannien (HRW 11.1.2024). Die syrische Regierung nutzt die Erdbebenkatastrophe unterdessen, um für ein Ende westlicher Sanktionen zu werben (BAMF 13.2.2023). Die umfassenden Sanktionen gegen Syriens Machthaber, Unternehmer und Institutionen haben bislang nicht dazu geführt, dass Verhaltensänderungen eingetreten, politische Zugeständnisse erfolgt oder Menschenrechtsverletzungen abgestellt worden wären (SWP 4.2020). [Zu den Aus- und Nebenwirkungen der breiter gefassten Sanktionen auf die syrische Wirtschaft siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft].
Die Verfassung bestimmt die Ba'ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden wie den Arbeiter- und Frauenorganisationen hat. Die Ba'ath-Partei und neun kleinere Parteien in ihrem Gefolge bilden die Koalition der Nationalprogressiven Front, welche den Volksrat (das Parlament) dominiert. Die Wahlen 2020 wurden international nicht anerkannt und inmitten einer repressiven Ausgangslage und von Anschuldigungen von Wahlbetrug weder als fair noch frei eingestuft. Das Gesetz erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien - auch jenen, die mit der Ba'ath-Partei in der Nationalprogressiven Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Die Polizei verhaftete Mitglieder der verbotenen islamistischen Parteien einschließlich der Hizb ut-Tahrir und der syrischen Muslimbruderschaft (USDOS 20.3.2023). - Siehe auch Kapitel Politische Lage und zur Muslimbruderschaft siehe Kapitel Todesstrafe und außergerichtliche Tötungen).
Die systematische Verfolgung von Oppositionsgruppen und anderen regimekritischen/-feindlichen Akteuren dauert unverändert an. Der Einsatz für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes und die Neuordnung Syriens nach demokratischen, pluralistischen und rechtsstaatlichen Prinzipien werden vom Regime regelmäßig als „terroristische Aktivitäten“, „Verschwörung gegen den Staat“, „Hochverrat“ oder ähnlich gravierende Verbrechen behandelt und entsprechend geahndet. In der Anwendungspraxis der regimekontrollierten syrischen Justiz reicht der Verdacht hierauf aus, um willkürlich vor Militärgerichtshöfen oder gesonderten Gerichtshöfen der Anti-Terror-Gesetzgebung von 2012 verfolgt zu werden, in denen im Grunde keinerlei Rahmenbedingungen eines fairen Rechtsverfahrens bestehen. Die Anti-Terror-Gesetze werden unverändert auch dazu missbraucht, gegen in Syrien und im Ausland lebende Regimegegner und -gegnerinnen ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und auch in Abwesenheit höchste Strafen zu verhängen (AA 2.2.2024). Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet, um Personen mit Verbindungen zu lokalen Menschenrechtsorganisationen, pro-demokratischen Studentenvereinigungen und anderer Organisationen zu verhaften, welche als Unterstützer der Opposition wahrgenommen werden - einschließlich humanitärer Organisationen (USDOS 20.3.2023). Gemäß dem Bericht der CoI von September 2022 sollen Mitarbeitende von zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsorganisationen (NRO) verhaftet, die NROs selbst streng reguliert oder ohne ordentliches Verfahren aufgelöst und ihre Ressourcen eingefroren worden sein. Es bleibt dabei, dass sich die Risiken politischer Oppositionstätigkeit nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung beschränken. Die seit Beginn des Konflikts dokumentierten zahllosen Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, sexualisierter Gewalt, Folter und Tötung im Gewahrsam der Sicherheitskräfte sowie Mordanschlägen, stehen immer wieder in offensichtlichen Zusammenhängen zu regimekritischen Tätigkeiten der Betroffenen. Gewaltsame Unterdrückung jeglichen Widerspruchs bleibt das Mittel der Wahl für den Machterhalt des Regimes (AA 2.2.2024).
Weiterhin besteht laut deutschem Auswärtigem Amt in keinem Teil des Landes ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, in absoluten Zahlen betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert (AA 2.2.2024). Im Rahmen der systematischen Gewalt, die von allen bewaffneten Akteuren gegenüber der Zivilbevölkerung angewandt wurde, wurden insbesondere Frauen Opfer sexueller Gewalt. Regierungstruppen und der Regierung zurechenbare Milizkräfte übten bei Hausdurchsuchungen, im Rahmen von Internierungen sowie im Rahmen von Kontrollen an Checkpoints Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt an Frauen und teilweise auch Männern aus (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren, oder als regimekritisch wahrgenommen werden, unterliegen einem besonders hohen Folterrisiko. Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 2.2.2024). Außerdem sind Fälle von verhafteten Personen wegen ihres Kontakts zu Verwandten oder Freunden in von der Opposition kontrollierten Gebieten bekannt, bzw. wegen des Reisens zwischen den Gebieten der Regierung und anderer Organisationen. Es gibt auch Beispiele für Verhaftungen zwecks Rekrutierung (SNHR 17.1.2023).
Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konflikts, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 1.2019). Ungeachtet des in der syrischen Verfassung verankerten Verbots von Folter wenden Polizei, Justizvollzugsorgane und vor allem Sicherheits- und Geheimdienste systematisch Folterpraktiken an. Der bei Weitem größte Teil dokumentierter Anwendung von Folter wurde in Einrichtungen des Regimes begangen. Besonders hoch ist dabei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung, inklusive sexualisierter Gewalt, in den Verhöreinrichtungen der Sicherheitsdienste. Die CoI und das SNHR dokumentierten indes Fälle von Folter für den gesamten Konfliktzeitraum einschließlich des Berichtszeitraums auch durch oppositionelle bewaffnete Gruppierungen und terroristische Organisationen. Laut dem jüngsten Bericht von SNHR zu Folter von Juni 2022 und daran anschließenden Erhebungen sind seit Beginn des Konflikts mindestens 15.301 Menschen unter Folter zu Tode gekommen (AA 2.2.2024).
Syrische Sicherheitskräfte und regierungsnahe Milizen nehmen weiterhin willkürlich Menschen im ganzen Land fest, lassen sie verschwinden und misshandeln sie (HRW 11.1.2024). Willkürliche Verhaftungen mit häufig daran anschließender Isolationshaft und sogenanntes „Verschwindenlassen“ von Personen bleiben im Syrienkonflikt ein allgegenwärtiges Phänomen. Ungefähr 87 Prozent dieser Fälle werden dem syrischen Regime zugeschrieben. Bei den Fällen von „Verschwindenlassen“, deren Zahl seit Beginn des Konflikts auf über 110.000 geschätzt wird, handelt es sich um Personen, deren Spuren sich bereits vor einer - nie erfolgten - offiziellen Bestätigung der Inhaftierung verliert. In aller Regel erhalten Angehörige jedoch nur in Ausnahmefällen Gewissheit, häufig erst nach Entlassung aus der Haft oder durch plötzlich erteilte Todesmeldungen, die jedoch nicht in jedem Fall belastbar sind. Wiederholt kam es nach Angaben verschiedener Menschenrechtsorganisationen zu Fällen, in denen für tot erklärte Personen aus der Haft entlassen wurden (AA 2.2.2024). Willkürliche Verhaftungen blieben eine gezielte Vergeltungsmaßnahme u. a. für Kritik am Regime. Dieses macht in diesen Fällen wie auch bei Verhaftungen von Wehrdienstverweigerern regelmäßig Gebrauch von der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) (AA 29.11.2021). Die Anti-Terror-Gesetze werden unverändert auch dazu verwendet, gegen in Syrien und im Ausland lebende Regimegegner und -gegnerinnen ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und auch in Abwesenheit höchste Strafen zu verhängen (AA 2.2.2024). Auch die genannten Amnestiedekrete führten nicht zu einem Rückgang willkürlicher Verhaftungen. Für die erste Jahreshälfte 2023 dokumentierte das SNHR bereits 1.047 solche Fälle. Einige dieser Verhaftungen seien durch Regimekräfte an der syrisch-libanesischen Grenze erfolgt, nachdem die Betroffenen durch libanesische Sicherheitskräfte dorthin verbracht worden waren. Willkürliche Verhaftungen gehen dabei von einer Vielzahl von Akteuren aus, insbesondere der Polizei, einer Vielzahl von konkurrierenden Geheimdiensten sowie von staatlich organisierten Milizen. Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt auch, dass es auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung zu Verhaftungen kommen kann. Häufiger werden die Festgenommenen in Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, oft in den Raum Damaskus, zu denen Familienangehörige und Anwälte in der Regel keinen oder nur eingeschränkten Zugang haben. In vielen Fällen bleiben die Personen auch nach Ablauf der verhängten Strafmaße verschwunden. Unterrichtungen über den Tod in Haft erfolgen häufig nicht oder nur gegen Zahlung von Bestechungsgeldern, eine Untersuchung der tatsächlichen Todesumstände erfolgt in aller Regel nicht. Die VN und das Rote Kreuz haben unverändert keinen Zugang zu Gefangenen in Haftanstalten des Militärs und der Sicherheitsdienste und erhalten keine Informationen zum Verbleib von Verschwundenen (AA 2.2.2024).
Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten beschuldigt werden, sind unter anderem willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten und medizinische Einrichtungen, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen; Tötungen von Zivilisten und sexuelle Gewalt; Einsatz von Kindersoldaten sowie Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, einschließlich Zensur (USDOS 20.3.2023). Es kommt auch weiterhin zu Beschlagnahmungen von Eigentum und Einschränkungen des Zugangs für Rückkehrende in ihre Herkunftsgebiete (HRW 11.1.2024).
1.2.5 Haftbedingungen
Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Seit Ausbruch des Konflikts haben sich die Zustände aufgrund von Überfüllung und einer gestiegenen Gewaltbereitschaft der Sicherheitskräfte und Gefängnisbediensteten erheblich verschlechtert (AA 29.3.2023). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind überdies stark überfüllt. Es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind (USDOS 20.3.2023). Diese Lage geht mit grassierenden Krankheiten (AA 2.2.2024), und mit einer entsprechend hohen Sterberate einher (USDOS 20.3.2023). Die hygienischen Zustände sind laut Auswärtigem Amt "katastrophal". Dies gilt generell, jedoch in besonderem Maße für diejenigen Gefängnisse, in denen Oppositionelle und sonstige politische Gefangene untergebracht sind (AA 2.2.2024), und laut US-Außenministerium insbesondere in Hafteinrichtungen der Sicherheits- und Nachrichtendienste (USDOS 20.3.2023).
[…]
Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leerstehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 20.3.2023).
Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen [Anm.: zu Hinrichtungen und Tod durch Folter - siehe Kapitel Todesstrafe und außergerichtlichen Tötungen sowie Folter und unmenschliche Behandlung] von Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt. Neben gewaltsamen Todesursachen ist eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auch auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 2.2.2024). Die meisten der auch im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In diesen Fällen wurden die sterblichen Überreste auch nicht den Angehörigen übergeben (SNHR 26.6.2022).
Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren (AA 2.2.2024). […]
1.2.6. Religionsfreiheit:
Die anhaltende Vertreibung der syrischen Bevölkerung führt zu einem gewissen Grad an Unsicherheit in den demografischen Daten. Schätzungen der US-Regierung zufolge dürften die Sunniten 74 % der Bevölkerung stellen, wobei diese sich aus AraberInnen, KurdInnen, TscherkessInnen, TschetschenInnen und einigen TurkmenInnen zusammensetzen. Andere muslimische Gruppen, einschließlich Alawiten, Ismailiten und (Zwölfer) Schiiten machen zusammen 13 % aus, die Drusen 3 %. Verschiedene christliche Gruppen bilden die verbleibenden 10 %, wobei laut Berichten davon auszugehen ist, dass ihre Zahl mit geschätzten 2,5 % nun bedeutend geringer ist. Vor dem Bürgerkrieg gab es in Syrien ungefähr 80.000 Jesiden (USDOS 2.6.2022).
Bereits vor dem Konflikt wuchs die Bedeutung von religiösen Stiftungen, um fehlende staatliche soziale und wirtschaftliche Leistungen auszugleichen. Im Zuge des Konfliktes verstärkte sich diese Rolle abermals. Religiöse Netzwerke in oppositionellen Gebieten, die in Verbindung mit bewaffneten Fraktionen stehen, wurden quasi Organe der Lokalverwaltung und übernahmen Aufgaben, wie z. B. die Verteilung von Hilfsgütern, Sozialleistungen, Bildung, Verwaltung von Bäckereien und die Verwaltung von Flüchtlingslagern. Begleitend zu diesen sozialen Diensten gab es klare Bemühungen um religiöse Indoktrination, z. B. die Vereinheitlichung der Verschleierung, die Verbreitung des Korans und den Betrieb von Waisenhäusern (in denen sich das Leben um religiöse Lehren und das Auswendiglernen des Korans dreht). Auch in den von der Regierung kontrollierten Gebieten wurden religiösen Akteuren, die vom Staat als vertrauenswürdig erachtet wurden, beispiellose Vorrechte innerhalb ihrer Gemeinschaften eingeräumt. Sie übernahmen kommunale Aufgaben, um den Zerfall staatlicher Strukturen und Leistungen auszugleichen, wie beispielsweise die Stromversorgung durch private Stromgeneratoren (CMEC 19.3.2019).
Gebiete unter Regierungskontrolle:
Der gesetzliche Rahmen gilt nur in den Gebieten unter Regierungskontrolle, und selbst hier gibt es oft einen Niedergang von Recht und Ordnung, welcher Milizen, die oft hauptsächlich aus einer einzigen Religionsgruppe bestehen, eine dominante Position ermöglicht. Die regierende Ba’ath-Partei pflegt ihre Selbstdarstellung als Beschützerin der religiösen Minderheiten. Einerseits kooptierte sie die religiösen Minderheiten unabhängig von deren politischen Ansichten und andererseits dämonisierte sie Millionen sunnitischer Protestierender als angebliche TerroristInnen statt als BürgerInnen, die politische, wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit suchten. Konfessionalistische Staatsrhetorik hat daher zur Vertiefung der Gräben zwischen den Religionsgemeinschaften beigetragen (USDOS 2.6.2022).
In Syrien gibt es keine offizielle Staatsreligion, wobei die Verfassung jedoch vorsieht, dass der syrische Präsident Muslim sein muss und dass die islamische Rechtsprechung eine Hauptquelle der Gesetzgebung darstellt. In Angelegenheiten des Personenstandsrechtes fallen alle Bürger unter die Gesetzgebung ihrer jeweiligen religiösen Gruppe (Christentum, Islam oder Judentum).
Alle Religionsgemeinschaften sind gesetzlich verpflichtet, sich bei den Behörden registrieren zu lassen (USDOS 2.6.2022). Seit 2006 existiert ein eigenes Personenstandsgesetz für Katholiken (Dekret Nr. 31/2006 vom 18.6.2006) (ÖB Damaskus 1.10.2021). Zur Klärung von Fragen des Familienstandes verlangt die Regierung daher von ihren Bürgern, ihre Glaubenszugehörigkeit zu einer dieser drei Religionen (Anm.: Christentum, Islam oder Judentum - siehe oben) registrieren zu lassen. Die Religionszugehörigkeit, abgesehen von der jüdischen Religionszugehörigkeit, wird nicht im Pass und auf dem Personalausweis vermerkt (USDOS 2.6.2022). Es ist nicht möglich, ’keine Religion’ zu registrieren oder eine zivile Ehe zu schließen (Eijk 2013).
Das Regime erlaubt den verschiedenen Konfessionen ihren Glauben zu praktizieren, solange ihre religiösen Aktivitäten nicht als politisch subversiv erachtet werden. Die Regierung überwacht Moscheen und die Ernennung von muslimischen Religionsführern (FH 9.3.2023).
Das Gesetz schränkt Missionierung ein. Es verbietet die Konversion vom Islam zu anderen Religionen (FH 9.3.2023, vgl. USDOS 2.6.2022), erkennt die Konversion zum Islam jedoch an. Das Strafgesetz verbietet „das Verursachen von Spannungen zwischen religiösen Gemeinschaften“.
Der gesellschaftliche Druck und religiöse Konventionen führen außerdem dazu, dass Konversionen, insbesondere vom Islam zum Christentum, relativ selten sind, und viele KonvertitInnen, sind gezwungen, innerhalb des Landes umzuziehen oder Syrien zu verlassen, um ihre neue Religion offen praktizieren zu können (USDOS 2.6.2022).
Verschiedene Medien berichten, dass auch Iran die Religion nutzt, um seinen, seit dem Kriegsausbruch stetig zunehmenden Einfluss in Syrien dauerhaft zu sichern. Laut der Zeitschrift Foreign Policy versucht er Sunniten zum Übertritt zum Schiismus zu bewegen oder zumindest ihre Haltung gegenüber ihren konfessionellen Rivalen zu mildern. Hierzu verteilt Iran Bargeld an bedürftige Syrer, erteilt eine kräftige Dosis Indoktrination in religiösen Seminaren und gewährt Stipendien für Kinder zum Studium an iranischen Universitäten, kostenlose Gesundheitsversorgung, Lebensmittelkörbe und Reisen zu touristischen Zielen, um die Konversion zu fördern. So werden die wirtschaftliche Lage in Syrien und finanzielle Anreize zur Ermutigung von Konversionen oder zum Beitritt zu iranischen Milizen genutzt. Auch wurden alte Schreine restauriert und
neue Schreine für verehrte schiitische Persönlichkeiten errichtet, fast so, als wolle man die religiöse Geschichte Syriens neu schreiben. Eine steigende Zahl an Schiiten erlaubt Iran, die Rolle als deren politische Fürsprecherin zu beanspruchen (FP 15.3.2021, vgl. USDOS 2.6.2022).
Die syrische Gesetzgebung stellt Blasphemie unter Strafe. Die United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF), zum Beispiel, konnte in ihrem Fünfjahresbericht (Zeitraum 2014-2018) jedoch keine Fälle einer diesbezüglichen Anwendung dokumentieren (USCIRF 2020). Die Gesetze zu Blasphemie und andere Strafbestände werden jedoch zur Einschränkung der Redefreiheit sowie gegen als oppositionell wahrgenommene JournalistInnen herangezogen (USDOS 20.3.2023).
Die Mitgliedschaft in bestimmten religiöse ausgerichteten Organisationen ist illegal und in verschiedenem Ausmaß strafbar. Dies betrifft z. B. Organisationen, welche als ’salafistisch’ eingestuft sind, wobei nicht festgelegt ist, was genau die Parameter dafür sind. Es sind auch politische Parteien auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen verboten.
Auf die Zugehörigkeit zur Muslimbruderschaft steht die Todesstrafe oder Haft (USDOS 2.6.2022).
Die Zeugen Jehowahs sind verboten (FH 9.3.2023), weil die Religionsgemeinschaft in Augen der syrischen Regierung als ’politisch motivierte zionistische Organisation’ gilt (USDOS 2.6.2022). Gesetz Nr. 31 vom Oktober 2018 verleiht dem syrischen Ministerium für Religiöse Stiftungen („Ministry of Awqaf“) zusätzliche Befugnisse und verstärkt gleichzeitig die Kontrolle des Staats über dieses Ministerium (CMEC 19.3.2019), während die Position des Großmuftis als höchste islamische Autorität im Land abgeschafft wurde und dessen Zuständigkeiten an das Ministerium übergingen (USDOS 2.6.2022). So beinhaltet das Gesetz die Einrichtung eines „Rechtswissenschaftlichen und Gelehrtenrates“ mit der Entscheidungshoheit über die Definition, welche Inhalte im religiösen Diskurs angemessen sind. Das Ministerium wird mit der Kompetenz ausgestattet, religiöse Persönlichkeiten zu bestrafen, wenn diese extremistisches Gedankengut propagieren oder vom genehmigten Diskurs abweichen (USDOS 2.6.2022, vgl. CEIP 14.11.2018). Der Rat soll außerdem jede Fatwa, die in Syrien veröffentlicht wird, überwachen, um die Verbreitung wahhabitischen oder mit der Muslimbruderschaft in Verbindung stehenden Gedankenguts zu verhindern (CEIP 14.11.2018).
Das syrische Eherecht kennt das Ehehindernis der Religionsverschiedenheit. So ist die Ehe einer muslimischen Frau mit einem nicht-muslimischen Mann nichtig. Nach dem Konsens der islamischen Juristen ist eine Ehe zwischen einem Muslim und einer nicht-muslimischen Frau wirksam, sofern diese einer der zwei anderen Buchreligionen - also Christentum oder Judentum - angehört (MPG o.D.a). Eine christliche Ehefrau eines muslimischen Mannes kann jedoch nichts von ihrem Mann erben, selbst wenn sie zum Islam konvertiert, und sie kann nur auf einem islamischen Friedhof begraben werden, wenn sie konvertiert (USDOS 2.6.2022). Ihre Kinder werden automatisch Muslime (Eijk 2013).
1.2.7. Rückkehr:
Die Regierung erlaubt SyrerInnen, die im Ausland leben, ihre abgelaufenen Reisepässe an den Konsulaten zu erneuern. Viele SyrerInnen, die aus Syrien geflohen sind, zögern jedoch, die Konsulate zu betreten, aus Angst, dass dies zu Repressalien gegen Familienangehörige in Syrien führen könnte (USDOS 20.3.2023).
Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen 'black lists' betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Je nach Sachlage kann es aber (z.B. aufgrund von Desertion oder Wehrdienstverweigerung oder früherer politischer Tätigkeit) durchaus zu Schwierigkeiten mit den syrischen Behörden kommen. Seit 1.8.2020 wurde – bedingt durch den Devisenmangel – bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt. Damit einher geht ein Kursverlust gegenüber Umtausch zum Marktkurs von mittlerweile bereits mehr als 50 Prozent (ÖB Damaskus 12.2022).
Auch länger zurückliegende Gesetzesverletzungen im Heimatland (z. B. illegale Ausreise) können von den syrischen Behörden bei einer Rückkehr verfolgt werden. In diesem Zusammenhang kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Z.B. müssen deutsche männliche Staatsangehörige, die nach syrischer Rechtsauffassung auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie syrische Staatsangehörige mit Aufenthaltstitel in Deutschland auch bei nur besuchsweiser Einreise damit rechnen, zum Militärdienst eingezogen oder zur Zahlung eines Geldbetrages zur Freistellung vom Militärdienst gezwungen zu werden. Eine vorab eingeholte Reisegenehmigung der syrischen Botschaft stellt keinen verlässlichen Schutz vor Zwangsmaßnahmen seitens des syrischen Regimes dar. Auch aus Landesteilen, die aktuell nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen, sind Fälle zwangsweiser Rekrutierung bekannt (AA 16.5.2023). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung kommen kann. Häufiger werden die Festgenommenen an Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, oft in den Raum Damaskus (AA 2.2.2024).
Es ist nicht Standard, dass SyrerInnen bei der legalen Ein- und Ausreise nach ihren Login-Daten für ihre Konten für soziale Medien gefragt werden, aber für Einzelfälle kann das nicht ausgeschlossen werden, z. B. wenn jemand - aus welchem Grund auch immer - auf dem Flughafen das Interesse der Behörden bei der Ausreise - erweckt (NMFA 5.2022) (Anm.: bzgl. Abfrage derartiger Daten bei Verhören siehe Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage).
Durch das Fehlen klarer Informationen über das Prozedere für eine Rückkehr, durch das Zurückhalten der Gründe für die Ablehnung einer Rückkehr, bzw. durch das Fehlen einer Einspruchsmöglichkeit enthält die syrische Regierung ihren BürgerInnen im Ausland das Recht auf Einreise in ihr eigenes Land vor (UNCOI 7.2.2023).
Hindernisse für Rückkehr:
Rückkehrende sind auch Human Rights Watch zufolge mit wirtschaftlicher Not konfrontiert wie der fehlenden Möglichkeit, sich Grundnahrungsmittel leisten zu können. Die meisten finden ihre Heime ganz oder teilweise zerstört vor, und können sich die Renovierung nicht leisten. Die syrische Regierung leistet keine Hilfe bei der Wiederinstandsetzung von Unterkünften (HRW 12.1.2023). In der von der Türkei kontrollierten Region um Afrin nordöstlich von Aleppo Stadt wurde überdies berichtet, dass Rückkehrer ihre Häuser geplündert oder von oppositionellen Kämpfern besetzt vorgefunden haben. Auch im Zuge der türkischen Militäroperation ’Friedensquelle’ im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB Damaskus 12.2022). Neben den fehlenden sozioökonomischen Perspektiven und Basisdienstleistungen ist es oft auch die mangelnde individuelle Rechtssicherheit, die einer Rückkehr entgegensteht. Nach wie vor gibt es Berichte über willkürliche Verhaftungen und das Verschwinden von Personen. Am stärksten betroffen sind davon Aktivisten, oppositionelle Milizionäre, Deserteure, Rückkehrer und andere, die unter dem Verdacht stehen, die Opposition zu unterstützen. Um Informationen zu gewinnen, wurden auch Familienangehörige oder Freunde von Oppositionellen bzw. von Personen verhaftet. Deutlich wird die mangelnde Rechtssicherheit auch laut ÖB Damaskus an Eigentumsfragen. Das Eigentum von Personen, die wegen gewisser Delikte verurteilt wurden, kann vom Staat im Rahmen des zur Terrorismusbekämpfung
erlassenen Gesetzes Nr. 19 konfisziert werden. Darunter fällt auch das Eigentum der Familien der Verurteilten in einigen Fällen sogar ihrer Freunde. Das im April 2018 erlassene Gesetz Nr. 10 ermöglicht es Gemeinde- und Provinzbehörden, Zonen für die Entwicklung von Liegenschaften auszuweisen und dafür auch Enteignungen vorzunehmen. Der erforderliche Nachweis der Eigentumsrechte für Entschädigungszahlungen trifft besonders Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Konkrete Pläne für die Einrichtung von Entwicklungszonen deuten auf Gebiete hin, die ehemals von der Opposition gehalten wurden. Von den großflächigen Eigentumstransfers dürften regierungsnahe Kreise profitieren. Auf Druck von Russland, der Nachbarländer sowie der Vereinten Nationen wurden einige Abänderungen vorgenommen, wie die Verlängerung des Fristenlaufs von 30 Tagen auf ein Jahr (ÖB Damaskus 12.2022). Flüchtlinge und Binnenvertriebene sind besonders von Enteignungen betroffen (BS 23.2.2022). Zudem kommt es zum Diebstahl durch Betrug von Immobilien, deren Besitzer - z. B. Flüchtlinge - abwesend sind (The Guardian 24.4.2023). Viele von ihren Besitzern verlassene Häuser wurden mittlerweile von jemandem besetzt. Sofern es sich dabei nicht um Familienmitglieder handelt, ist die Bereitschaft der Besetzer, das Haus oder Grundstück zurückzugeben, oft nicht vorhanden. Diese können dann die Rückkehrenden beschuldigen, Teil der Opposition zu sein, den Geheimdienst auf sie hetzen, und so in Schwierigkeiten bringen (Balanche 13.12.2021). Der Mangel an Wohnraum und die Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren (AA 29.11.2021). Laut einer Erhebung der Syrian Association for Citizen’s Dignity (SACD) ist für 58 Prozent aller befragten Flüchtlinge die Abschaffung der Zwangsrekrutierung die wichtigste Bedingung für die Rückkehr in ihre Heimat (AA 4.12.2020). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach der Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar zum Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021). Die laut Experteneinschätzung katastrophale wirtschaftliche Lage ist ein großes Hindernis für die Rückkehr: Es gibt wenige Jobs, und die Bezahlung ist schlecht (Balanche 13.12.2021). Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB 1.10.2021). Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien
wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft. Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren (Weltbank 2020). Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom IS gehalten wurden (z. B. Raqqa, Deir Ez-Zor). Laut aktueller Mitteilung von UNMAS vom November 2022 sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen also rund 50 Prozent der Bevölkerung dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Dabei sind Männer aufgrund unterschiedlicher sozialer Rollen dem Risiko stärker ausgesetzt als Frauen. Im Schnitt gab es seit Kriegsbeginn alle zehn Minuten ein Opfer des Kriegs oder mittelbarer Kriegsfolgen. Ein Drittel der Opfer von Explosionen sind gestorben, 85 Prozent der Opfer sind männlich, fast 50 Prozent mussten amputiert werden und mehr als 20 Prozent haben Gehör oder Sehvermögen verloren. Zwei Drittel der Opfer sind lebenslang eingeschränkt. 39 Prozent der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 Prozent auf landwirtschaftlichen Flächen, zehn Prozent auf Straßen oder am Straßenrand. Seit 2019 waren 26 Prozent der Opfer IDPs (ÖB Damaskus 12.2022) [Anm.: Infolge der Erdbeben im Februar 2023 erhöht sich die Gefahr, dass Explosivmaterialien wie Minen durch Erdbebenbewegungen, Wasser etc. verschoben werden]. Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer ’sehr begrenzten’ und ’abnehmenden’ Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück. Hierbei handelte es sich allerdings zu 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022). Insgesamt ging im Jahr 2022 laut UN-Einschätzung die Bereitschaft zu einer Rückkehr zurück, und zwar aufgrund von Sicherheitsbedenken der Flüchtlinge. Stattdessen steigt demnach die Zahl der SyrerInnen, welche versuchen, Europa zu erreichen, wie beispielsweise das Bootsunglück vom 22.9.2022 mit 99 Toten zeigte. In diesem Zusammenhang wird Vorwürfen über die willkürliche Verhaftung mehrerer männlicher Überlebender durch die syrische Polizei und den Militärnachrichtendienst nachgegangen (UNCOI 7.2.2023).
Während die syrischen Behörden auf internationaler Ebene öffentlich eine Rückkehr befürworten, fehlen syrischen Flüchtlingen, im Ausland arbeitenden SyrerInnen und Binnenflüchtlingen, die ins Regierungsgebiet zurückkehren wollen, klare Informationen für die Bedingungen und Zuständigkeiten für eine Rückkehr sowie bezüglich einer Einspruchsmöglichkeit gegen eine Rückkehrverweigerung (UNCOI 7.2.2023).
Wahrnehmung von Rückkehrer je nach Profil:
Nach zuvor vorwiegend rückkehrkritischen öffentlichen Äußerungen hat die syrische Regierung seine Politik seit Ankündigung eines sogenannten „Rückkehrplans“ für Flüchtlinge durch Russland 2018 sukzessive angepasst und im Gegenzug für eine Flüchtlingsrückkehr Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und die Aufhebung westlicher Sanktionen gefordert (AA 20.3.2023). Die Rückkehr von ehemaligen Flüchtlingen ist trotzdem nicht erwünscht, auch wenn offiziell mittlerweile das Gegenteil gesagt wird (The Guardian 23.3.2023; vgl. Balanche 13.12.2021). Rückkehrende werden vom Regime häufig als „VerräterInnen“ deklariert (AA 2.2.2024), bzw. insgeheim als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition und/oder bewaffneter Gruppen angesehen (AI 9.2021). Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (regime-)kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiärer Verbindung zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 2.2.2024).
Jeder, der geflohen ist und einen Flüchtlingsstatus hat, ist in den Augen des Regimes bereits verdächtig (Üngör 15.12.2021). Aus Sicht des syrischen Staates ist es daher besser, wenn diese SyrerInnen im Ausland bleiben, damit ihr Land und ihre Häuser umverteilt werden können, um Assads soziale Basis neu aufzubauen. Minderheiten wie Alawiten und Christen, reiche Geschäftsleute und Angehörige der Bourgeoisie sind hingegen für Präsident al-Assad willkommene Rückkehrer. Für arme Menschen, z. B. aus den Vorstädten von Damaskus oder Aleppo, hat der syrische Staat jedoch keine Verwendung (Balanche 13.12.2021), zumal keine Kapazitäten zur Unterstützung von (mittellosen) Rückkehrenden vorhanden sind (The Guardian 23.2.2023).
Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen [Anm.: für weitere Informationen zu Sicherheitsüberprüfungen siehe Unterkapitel Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort], Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021).
Anhand der von der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, NGOs und anderen dokumentierten Einzelschicksalen der Vergangenheit ist die Bedrohung der persönlichen Sicherheit im Einzelfall das zentrale Hindernis für Rückkehrende.
Dabei gilt nach Ansicht des deutschen Auswärtigen Amts, dass sich die Frage einer möglichen Gefährdung des Individuums weder auf etwaige Sicherheitsrisiken durch Kampfhandlungen und Terrorismus beschränken lässt, noch ganz grundsätzlich eine Eingrenzung auf einzelne Landesteile möglich ist. Entscheidend für die Sicherheit von Rückkehrenden bleibt vielmehr die Frage, wie der oder die Rückkehrende von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen wird. Rückkehr auf individueller Basis findet, z. B. aus der Türkei, insbesondere in Gebiete statt, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen. Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024). Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr (ÖB Damaskus 1.10.2021), und die Aussagen zur Haltung der Regimekräfte gegenüber Rückkehrern heben unterschiedliche Aspekte zu deren Wahrnehmung und Behandlung hervor:
• Der Syrien-Experte Uğur Üngör geht davon aus, dass jeder, der das Land verlassen hat, und nach Europa geflohen ist, vom Regime als verdächtig angesehen wird, weil es im Verständnis des Regimes keinen Grund gab, zu fliehen. Die Flucht nach Europa und das Beantragen von Asyl können negativ gesehen werden - im Sinne einer Zusammenarbeit mit den europäischen Regierungen oder sogar, dass man von diesen bezahlt wurde. Dies gilt jedoch nicht für Personen, die eine offiziell bestätigte regierungsfreundliche Einstellung haben. Weiters werden Personen, die in die Türkei geflohen sind, als Vertreter von oppositionelle Medien schreiben, inhaftiert und tagelang festgehalten und wahrscheinlich gefoltert wurden (Üngör 15.12.2021) [Anm.: siehe hierzu auch Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage].
• Laut dem Syrien-Experten Kheder Khaddour kommt es darauf an, wo im Ausland man sich aufgehalten hat: War man in den Golfstaaten, wird vielleicht davon ausgegangen, dass man geschäftlichen Tätigkeiten nachgegangen ist und nichts mit Politik zu tun hat. Wer in die Türkei gegangen ist, wird als Kollaborateur der Islamisten und Präsident Erdoğans gesehen. Wer in Europa war, wird beschuldigt, von Europa bezahlt worden zu sein, um gegen das Regime zu sein. Der Libanon ist vielleicht noch am neutralsten, quasi wie ein ’erweitertes Syrien’, und durch die geografische Nähe stehen Flüchtlingen im Libanon- Korruptionsnetzwerke (zur Absicherung der Rückkehr) zur Verfügung, auf die man in Europa keinen Zugriff hat (Khaddour 24.12.2021).
• Bashar al-Assad hat erklärt, dass er jene, die gegen sein Regime sind, als ’Krankheitserreger’ sieht. Die Rückkehr ist aber nicht nur für Regimegegner, sondern auch für alle, über deren politischer Position sich das Regime nicht sicher ist, problematisch. Die Behandlung eines Rückkehrers durch die Behörden hängt laut dem syrischen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Mohamad Rasheed allein davon ab, ob die Person für oder gegen das Regime ist. Wer regierungstreu ist, kann auf legalem und gewöhnlichem Weg ein- und ausreisen. Die Unvorhersehbarkeit und Willkür sind große Hindernisse für die Rückkehr nach Syrien. Man kann jederzeit verhaftet und verhört werden und niemand weiß, ob man leben, getötet oder verschwinden gelassen wird. Der Staatsapparat ist durchzogen von Mafias, und im ganzen Land gibt es Milizen, die die Bevölkerung tyrannisieren (Rasheed 28.12.2021).
• Laut dem Nahost-Experten Fabrice Balanche kann man, wenn man Teil der Opposition war oder sogar gekämpft hat, nicht nach Syrien zurückkehren, selbst wenn es laut offiziellem Narrativ des Präsidenten eine Amnestie gibt. Dasselbe gilt auch für (andere) politische Flüchtlinge. Zudem besteht immer die Gefahr, vom Geheimdienst verhaftet zu werden, zum Teil, um Geld zu erpressen. Man wird für ein paar Wochen inhaftiert, weil man vom Ausland zurückkommt und davon ausgegangen wird, dass man Geld hat. Die Familie muss dann ein Lösegeld von ein paar Tausend Dollar bezahlen, oder die Person bleibt weitere zwei Wochen im Gefängnis (Balanche 13.12.2021).
Das deutsche Auswärtige Amt zieht den Schluss, dass eine sichere Rückkehr Geflüchteter insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden kann (AA 2.2.2024). UNHCR ruft weiterhin die Staaten dazu auf, keine zwangsweise Rückkehr von syrischen Staatsbürgern sowie ehemals gewöhnlich dort wohnenden Personen - einschließlich früher in Syrien ansässiger Palästinenser - in irgendeinen Teil Syrien zu veranlassen, egal wer das betreffende Gebiet in Syrien beherrscht (UNHCR 6.2022). Auch die lokale Bevölkerung hegt oft Argwohn gegen Personen, die das Land verlassen haben. Es besteht eine große Kluft zwischen Syrern, die geflohen sind, und jenen, die dort verblieben Präsident Erdoğans Regierung gesehen. Wer im Ausland negative Äußerungen über das Regime gemacht hat (im Sinne von öffentlichem politischen Aktivismus, aber auch privat in sozialen Medien), kann bei der Rückkehr speziell vom politischen Geheimdienst überprüft werden. Wenn man Glück hat, sind die Anschuldigungen laut Üngör nicht sehr ernst, oder man kann ein Bestechungsgeld zahlen, um freizukommen, andernfalls kann man direkt vor Ort verhaftet werden. Hierbei spielen nicht nur eigene Aktivitäten eine Rolle, sondern auch Aktivitäten von Verwandten und die geografische Herkunft der rückkehrenden Person. Es gibt auch Berichte, dass Familienmitglieder von Journalisten, die in Europa für oppositionelle Medien schreiben, inhaftiert und tagelang festgehalten und wahrscheinlich gefoltert wurden (Üngör 15.12.2021).
• Laut dem Syrien-Experten Kheder Khaddour kommt es darauf an, wo im Ausland man sich aufgehalten hat: War man in den Golfstaaten, wird vielleicht davon ausgegangen, dass man geschäftlichen Tätigkeiten nachgegangen ist und nichts mit Politik zu tun hat. Wer in die Türkei gegangen ist, wird als Kollaborateur der Islamisten und Präsident Erdoğans gesehen. Wer in Europa war, wird beschuldigt, von Europa bezahlt worden zu sein, um gegen das Regime zu sein. Der Libanon ist vielleicht noch am neutralsten, quasi wie ein ’erweitertes Syrien’, und durch die geografische Nähe stehen Flüchtlingen im Libanon- Korruptionsnetzwerke (zur Absicherung der Rückkehr) zur Verfügung, auf die man in Europa keinen Zugriff hat (Khaddour 24.12.2021).
• Bashar al-Assad hat erklärt, dass er jene, die gegen sein Regime sind, als ’Krankheitserreger’ sieht. Die Rückkehr ist aber nicht nur für Regimegegner, sondern auch für alle, über deren politischer Position sich das Regime nicht sicher ist, problematisch. Die Behandlung eines Rückkehrers durch die Behörden hängt laut dem syrischen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Mohamad Rasheed allein davon ab, ob die Person für oder gegen das Regime ist. Wer regierungstreu ist, kann auf legalem und gewöhnlichem Weg ein- und ausreisen. Die Unvorhersehbarkeit und Willkür sind große Hindernisse für die Rückkehr nach Syrien. Man kann jederzeit verhaftet und verhört werden und niemand weiß, ob man leben, getötet oder verschwinden gelassen wird. Der Staatsapparat ist durchzogen von Mafias, und im ganzen Land gibt es Milizen, die die Bevölkerung tyrannisieren (Rasheed 28.12.2021).
• Laut dem Nahost-Experten Fabrice Balanche kann man, wenn man Teil der Opposition war oder sogar gekämpft hat, nicht nach Syrien zurückkehren, selbst wenn es laut offiziellem Narrativ des Präsidenten eine Amnestie gibt. Dasselbe gilt auch für (andere) politische Flüchtlinge. Zudem besteht immer die Gefahr, vom Geheimdienst verhaftet zu werden, zum Teil, um Geld zu erpressen. Man wird für ein paar Wochen inhaftiert, weil man vom Ausland zurückkommt und davon ausgegangen wird, dass man Geld hat. Die Familie muss dann ein Lösegeld von ein paar Tausend Dollar bezahlen, oder die Person bleibt weitere zwei Wochen im Gefängnis (Balanche 13.12.2021).
Das deutsche Auswärtige Amt zieht den Schluss, dass eine sichere Rückkehr Geflüchteter insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden kann (AA 2.2.2024). UNHCR ruft weiterhin die Staaten dazu auf, keine zwangsweise Rückkehr von syrischen Staatsbürgern sowie ehemals gewöhnlich dort wohnenden Personen - einschließlich früher in Syrien ansässiger Palästinenser - in irgendeinen Teil Syrien zu veranlassen, egal wer das betreffende Gebiet in Syrien beherrscht (UNHCR 6.2022). Auch die lokale Bevölkerung hegt oft Argwohn gegen Personen, die das Land verlassen haben. Es besteht eine große Kluft zwischen Syrern, die geflohen sind, und jenen, die dort verblieben sind. Erstere werden mit Missbilligung als Leute gesehen, die ’davongelaufen’ sind, während Letztere oft Familienmitglieder im Krieg verloren und unter den Sanktionen gelitten haben (Khaddour 24.12.2021; vgl. Üngör 15.12.2021). Es kann daher zu Denunziationen oder Erpressungen von Rückkehrern kommen, selbst wenn diese eigentlich ’sauber’ [Anm.: aus Regimeperspektive] sind, mit dem Ziel, daraus materiellen Gewinn zu schlagen (Üngör 15.12.2021) [Anm.: siehe hierzu auch die Thematik des Immobiliendiebstahls durch Betrug, der sich oft gegen seit langem Abwesende richtet, z. B. im Überkapitel Rückkehr].
Ein weiteres soziales Problem sind persönliche Racheakte: Wenn bei Kämpfen zwischen zwei Gruppen jemand getötet wurde, kann es vorkommen, dass jemand, der mit dem Mörder verwandt ist, von der Familie des Ermordeten im Sinne der Vergeltung getötet wird. Dies hindert viele an der Rückkehr in ihren Heimatort (Balanche 13.12.2021).
Administrative Verfahren der syrischen Behörden für RückkehrerInnen:
Die syrische Regierung bietet administrative Verfahren an, die Rückkehrwillige aus dem Ausland oder aus von der Opposition kontrollierten Gebieten vor der Rückkehr in durch die Regierung kontrollierte Gebiete durchlaufen müssen, um Probleme mit der Regierung zu vermeiden. Im Rahmen dieser Verfahren führen die syrischen Behörden auf die eine oder andere Weise eine Überprüfung der RückkehrerInnen durch. Während des als ’Sicherheitsüberprüfung’ (arabisch muwafaka amniya) bezeichneten Verfahrens werden die Namen der AntragstellerInnen mit Fahndungslisten verglichen. Beim sogenannten ’Statusregelungsverfahren’ (arabisch: taswiyat wade) beantragen die AntragstellerInnen, wie es in einigen Quellen heißt, die ’Versöhnung’, sodass ihre Namen von den Fahndungslisten der syrischen Behörden gestrichen wird (DIS 5.2022). Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen (AA 2.2.2024).
Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen, zur Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und zu gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) berichtet von Menschenrechtsverletzungen in ihrem Berichtszeitraum, darunter den Tod eines Rückkehrers in Haft, dem man lebensrettende medizinische Versorgung verweigert hatte. Er war Anfang 2022 bei seiner Rückkehr nach Syrien trotz eines erfolgten Beilegungs-, bzw. ’Versöhnungsprozesses’, verhaftet worden (UNCOI 7.2.2023).
So gilt es zum Beispiel für die Rückkehr nach Homs, in die von der Regierung gehaltenen Teile von Idlib sowie ins Umland von Damaskus (Rif Dimashq) mehrere und sich überlappende Genehmigungsprozesse bei einer Reihe von Behörden zu durchlaufen. Oft beinhalten diese Prozedere eine geheimdienstliche Sicherheitsgenehmigung oder ein Beilegungsabkommen (Anm.: auch ’Versöhnungsabkommen’) oder beides, je nachdem woher die Rückkehrenden kommen, wo sie hingehen, und was ihre Profile sind. Einige mussten etwa schon vor ihrer Rückkehr ihren Status bei Zentren zur ’Statusklärung’ in Regierungsgebieten ’klären’, indem Verwandte oder Freunde vor Ort dies für sie durchführten. Andere gingen direkt zu diesen Zentren, nachdem sie durch Schmuggelrouten in das Gebiet zurückkehrten oder nachdem sie an einem Grenzübergang um eine ’Statusklärung’ angesucht hatten. Andere wiederum mussten eine Sicherheitsgenehmigung für einen Wohnsitz, bzw. Aufenthalt (’residence’) bereits vor ihrer Rückkehr einholen.
Andere versuchten an kollektiven Rückkehraktionen aus dem Libanon teilzunehmen (UNCOI 7.2.2023) [Anm.: siehe dazu Unterkapitel Hinweise über Rückkehrende aus den Nachbarstaaten und Europa].
Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu unvorhergesehenen Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass selbst eine von der jeweiligen Sicherheitsbehörde vorgenommene positive Sicherheitsüberprüfung jederzeit von dieser revidiert werden kann und damit keine Garantie für eine sichere Rückkehr leistet (AA 2.2.2024).
Gefährdungslage:
Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt gemäß deutschem Auswärtigem Amt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).
Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (system-) kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiären Verbindungen zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 2.2.2024). Einer Umfrage des Middle East Institute im Februar 2022 zufolge berichteten 27 Prozent der RückkehrerInnen, dass sie oder jemand Nahestehender aufgrund ihres Herkunftsorts, für das illegale Verlassen Syriens oder für das Stellen eines Asylantrags Repression ausgesetzt sind. Ein Rückkehrhindernis ist zudem laut Menschenrechtsberichten das Wehrdienstgesetz, das die Beschlagnahmung von Besitz von Männern ermöglicht, die den Wehrdienst vermieden haben, und nicht die Befreiungsgebühr bezahlt haben (USDOS 20.3.2023).
Syrische Flüchtlinge müssen bereit sein, der Regierung gegenüber vollständig Rechenschaft über ihre Beziehungen zur Opposition abzulegen, um nach Hause zurückkehren zu dürfen.
Die RückkehrerInnen sind Schikanen oder Erpressungen durch die Sicherheitsbehörden sowie Inhaftierung und Folter ausgesetzt, um Informationen über die Aktivitäten der Flüchtlinge im Ausland zu erhalten (TWP 2.6.2019) [Anm.: siehe hierzu auch Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen im Ausland und deren Folgen].
Gemäß der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic könnte das Unterlassen einer klaren Information über die Rückkehrverfahren und das
Vorenthalten der Gründe für Rückkehrverweigerungen, bzw. einer Einspruchsmöglichkeit in solchen Fällen eine ’willkürliches Vorenthalten des Rechts auf Einreise von SyrerInnen im Ausland in ihr eigenes Land’ durch die syrische Regierung darstellen. Dieses Vorgehen könnte auch als Verletzung des internationalen humanitären Gewohnheitsrechts gelten (UNCOI 7.2.2023).
Rückkehr an den Herkunftsort:
Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele Faktoren die Möglichkeit dazu beeinflussen. Ethnisch-konfessionelle, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber den der Opposition nahestehenden Gemeinschaften. Wenn es darum geht, wer in seine Heimatstadt zurückkehren darf, können laut einem Experten ethnische und religiöse, aber auch praktische Motive eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018). Einem Syrien-Experten zufolge dient eine von einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat erteilte Sicherheitsgenehmigung lediglich dazu, dem Inhaber die Einreise nach Syrien zu ermöglichen. Sie garantiert dem Rückkehrer nicht, dass er seinen Herkunftsort in den von der Regierung kontrollierten Gebieten auch tatsächlich erreichen kann (EASO 6.2021). Auch über Damaskus wurde berichtet, dass SyrerInnen aus anderen Gebieten sich dort nicht niederlassen durften. Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020). SyrerInnen, die nach Syrien zurückkehren, können sich nicht einfach an einem beliebigen Ort unter staatlicher Kontrolle niederlassen (ÖB Damaskus 21.8.2019). Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020). Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie von der Region bestimmt, in die sie zurückkehren, sondern davon, wie die RückkehrerInnen von den Akteuren, die die jeweiligen Regionen kontrollieren, wahrgenommen werden (AA 2.2.2024). Die Rückkehr an den Herkunftsort innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete erfordert einen anderen Weg, der von lokalen Machthabern wie den Gemeindebehörden oder den die Regierung unterstützenden Milizen gesteuert wird. Die Verfahren, um eine Genehmigung für die Einreise in den Herkunftsort zu erhalten, variieren von Ort zu Ort und von Akteur zu Akteur. Da sich die lokale Machtdynamik im Laufe der Zeit verschiebt, sind auch die unterschiedlichen Verfahren Veränderungen unterworfen (EASO 6.2021).
Übereinstimmenden Berichten der Vereinten Nationen (VN) und Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) und Betroffenen zufolge werden Verstöße gegen Wohn-, Land- und Eigentumsrechte seitens des Regimes fortgesetzt.
Dies dokumentieren nicht zuletzt offizielle staatliche Gazetten. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut der oben angeführten
Berichte hätten Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen zudem der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 2.2.2024). Das Gesetz Nr. 10 von 2018 wird weiterhin zur Belohnung von regimeloyalen Personen verwendet und schafft Hürden für die Rückkehr von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, die in ihre Heime zurückkehren möchten. Laut Berichten ersetzt die Regierung so ehemalige BewohnerInnen von vormaligen Oppositionsgebieten durch ihr gegenüber loyalere Personen. Dies betrifft disproportional sunnitische Flüchtlinge und IDPs. Laut Einschätzung von SNHR (Syria Network for Human Rights) steckt die Regierungsstrategie dahinter, durch einen demografischen und gesellschaftlichen Wandel des Staats, automatisch eine Hürde für die Rückkehr von IDPs und Flüchtlingen zu schaffen (USDOS 2.6.2022).
Andere RückkehrerInnen müssen Berichten zufolge Bestechungsgelder an die Lokalverwaltung zahlen, um Zugang zu ihren Heimen zu erhalten. Anderen wird der Zugang zu ihren Heimen verwehrt. Auch gibt es Fälle, wo Immobilien von Nachbarn übernommen wurden, und die Rückkehrwilligen bedrohen, wenn sie versuchen, ihren Besitz wieder zu beanspruchen. Eine regierungstreue Miliz erlangte z. B. durch öffentliche Versteigerungen an enteignetes Land, was einer bereits dokumentierten Praxis entspricht. Gegenmaßnahme für derartige Situationen fehlen oder sind ineffektiv (UNCOI 7.2.2023).
Einige ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind für alle, die in ihre ursprünglichen Häuser zurückkehren wollen, praktisch abgeriegelt. In anderen versucht das Regime, die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung einzuschränken, um eine Wiederherstellung des sozialen Umfelds, das den Aufstand unterstützt hat, zu vermeiden. Einige nominell vom Regime kontrollierte Gebiete wie Dara’a, die Stadt Deir ez-Zour und Teile von Aleppo und Homs konfrontieren für Rückkehrer mit schweren Zerstörungen, der Herrschaft regimetreuer Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des Islamischen Staats oder einer Kombination aus allen drei Faktoren (ICG 13.2.2020). So durften z. B. nach Angaben von Aktivisten bisher nur wenige Familien mit Verbindungen zu regierungsnahen Milizen und ältere Bewohner zurückkehren (MEI 6.5.2020).
Vor zwei Jahren haben die syrischen Behörden begonnen, ehemaligen Bewohnern die Rückkehr nach Yarmouk zu erlauben, wenn diese den Besitz eines Hauses nachweisen können, und eine Sicherheitsfreigabe vorliegt. Bislang sollen allerdings nur wenige zurückgekommen sein. UNRWA dokumentierte bis Juni 2022 die Rückkehr von rund 4.000 Personen, weitere 8.000 haben im Laufe des Sommers eine Rückkehrerlaubnis bekommen (zur Einordnung: Vor 2011 lebten dort 160.000 PalästinenserInnen zusätzlich zu SyrerInnen) (TOI 17.11.2022). Viele kehren aus Angst vor Verhaftungen und Zwangsrekrutierungen oder aufgrund der nicht mehr vorhandenen Wohnung nicht zurück. Die Rückkehrer kämpfen laut UNRWA mit einem ’Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, begrenzten Transportmöglichkeiten und einer weitgehend zerstörten öffentlichen Infrastruktur’ (TOI 17.11.2022).
Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren. Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft (Weltbank 2020). Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer ’sehr begrenzten’ und ’abnehmenden’ Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück und davon handelte es sich bei 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022), wenngleich von der UNO auch Fälle dokumentiert sind, dass Binnenvertriebene von aktuell oppositionell gehaltenen Gebieten aus nicht in ihre Heimatdörfer im Regierungsgebiet zurückkehren durften - trotz vorheriger Genehmigung (UNCOI 7.2.2023).
Laut Einschätzung der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic könnte das Vorgehen der Regierung möglicherweise eine Verletzung von Unterkunfts-, Land- und Besitzrechten dar. Die Duldung der Inbesitznahme von Immobilien durch Dritte könnte eine Verletzung des Schutzes genannter Rechte darstellen. Sie haben auch mögliche Verletzungen des internationalen humanitären Gewohnheitsrechts zur Folge bezüglich der Besitzrechte von Vertriebenen (UNCOI 7.2.2023).
Syrische Rückkehrende aus Europa:
Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann laut deutschem Auswärtigen Amt für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden. Auch UNHCR und andere Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 2.2.2024).
Die verfügbaren Informationen über SyrerInnen, die aus Europa nach Syrien zurückkehren, sind begrenzt (Rechtsexperte 14.9.2022, DIS 5.2022). Zur Situation von rückkehrenden Flüchtlingen aus Europa gibt es auch aufgrund deren geringer Zahl keine Angaben (ÖB Damaskus 12.2022): Im Jahr 2020 kehrten 137 syrische Flüchtlinge freiwillig und mit Unterstützung der dänischen Behörden aus Dänemark nach Syrien zurück. Im selben Jahr suchten zehn SyrerInnen bei den niederländischen Behörden um Hilfe für eine Rückkehr nach Syrien an. In Dänemark leben rund 35.000 Syrer und Syrerinnen, in den Niederlanden ca. 77.000 (EASO 6.2021). Nach Angaben des deutschen Innenministeriums kehrten von 2017 bis Juni 2020 über 1.000 SyrerInnen mit finanzieller Unterstützung Deutschlands aus Deutschland nach Syrien zurück (Daily Sabah 15.6.2020). Die meisten syrischen Flüchtlinge in der EU erwägen nicht, in (naher) Zukunft nach Syrien zurückzukehren, wie Umfragen aus verschiedenen europäischen Staaten illustrieren Diejenigen, die nicht nach Syrien zurückkehren wollten, wiesen auf verschiedene Hindernisse für eine Rückkehr hin, darunter das Fehlen grundlegender Dienstleistungen (wie Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit) und die derzeitige syrische Regierung, die an der Macht geblieben ist (Rechtsexperte 14.9.2022).
Die meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die Europäische Union selbst sowie der
UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), bleiben bei ihrer Einschätzung, dass Syrien nicht sicher für eine Rückkehr von Flüchtlingen ist. Im Juli 2022 entschied das Netherlands Council of State, dass syrische Asylsuchende nicht automatisch nach Dänemark transferiert werden dürften angesichts der dortigen Entscheidung, Teile Syriens für ’sicher’ zu erklären (HRW 12.1.2023). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) kommt zum Schluss, dass die Bedingungen für eine sichere Rückkehr in Würde nicht gegeben sind, auch angesichts von Fällen von Rückkehrverweigerungen, willkürlichen Verhaftungen und der Verhinderung der Rückkehr zu ihren Heimen in Regierungsgebieten (UNCOI 7.2.2023). Das deutsche Auswärtige Amt weist darauf hin, dass UNHCR, das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und die International Organization for Migration (IOM) unverändert die Auffassung vertreten, dass die Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien in Sicherheit und Würde angesichts der unverändert bestehenden, signifikanten Sicherheitsrisiken in ganz Syrien nicht erfüllt sind. UNHCR bekräftigte, dass sich seine Position und Politik nicht geändert hätten. Im Einklang mit dieser Einschätzung führt laut deutschem Auswärtigem Amt weiterhin kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union Rückführungen nach Syrien durch (AA 2.2.2024). Auch der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, sieht nicht die menschenrechtlichen Voraussetzungen für Abschiebungen nach Syrien gegeben (Die Presse 5.6.2023).
1.3. Auszüge aus der EUAA Country Guidance: Syria
Political activists, opposition party members and protesters
This sub-profile refers to individuals who would be seen by the government as opposing it, in particular to perceived political activists, protesters, opposition party members, and those who have expressed criticism towards the regime.
COI summary
Political activism in Syria had been kept in check by the government for decades. Although a 2011 decree allowed for the registration of independent political parties, in practice the government enforced it selectively, permitting only pro-government groups to form official parties. [Targeting 2020, 1.2.2, p. 20]
The GoS has been reported to ban ‘genuine’ political opposition [Country Focus 2023, 1.1.2, p. 14]. Members of political parties, which are known to support the calls for overthrowing the Assad government, are considered enemies of the state [Targeting 2020, 1.2.2, p. 20]. In this context, the GoS used its intelligence and security apparatus to ‘monitor and punish opposition movements that could meaningfully challenge Assad’s rule’ and reportedly harassed parties with a Socialist/Communist or Islamist agenda. The GoS was reportedly relatively tolerant towards independent politicians and members of parties labelled as ‘domestic’ opposition as long as these groups did not call for the overthrow of the Syrian President. Nevertheless, such members of domestic opposition were not completely ‘immune’ to harassment and arrest [Country Focus 2023, 1.1.2, p. 14].
Most of the members of the political opposition to the Assad government have either fled Syria, were killed or were in prison [Targeting 2020, 1.2.2, p. 20]. Opposition activists refrained from forming parties out of fear that the GoS might use party lists to pursue opposition members [Targeting 2022, 1.2, p. 23].
Since the beginning of the conflict, the targeting of political activists and protesters who sided with the opposition has been a key element in the GoS’s counterinsurgency strategy.
Opposition protests in government-held areas were often met with gunfire, mass arrests, and torture and killing of those detained. The GoS forces conducted regular raids to detain political and civil activists [Targeting 2020, 1.2.2, p. 20]. There were also reports that persons believed to have been involved in opposition-related activities, including protesters, were on the ‘wanted lists’ [Targeting 2020, 1.1.3, p. 17, 1.3.6, p. 28]. Persons who took part in previous activities, for instance by joining a protest during the early stages of the uprising, were targeted by GoS with arbitrary arrests ‘individually in a slow systematic manner’ in more recent years, including in 2021 [Targeting 2022, 1.2.2, p. 24]. GoS engaged in practices of seizing lands and properties of its opponents, redistributing these assets among members of the security services and local pro-GoS militias [Targeting 2022, 1.2.3, p. 23]. More recently, protests criticising the economic situation and the Assad regime took place in Sweida and Dar’a governorates, but also in the cities of Damascus, Aleppo and the coastal regions of Latakia and Tartous. On certain occasions protests were followed by arrests and detentions as well as raids on the homes of protesters for the purpose of intimidation. In two documented incidents security forces reportedly opened fire at protesters in Sweida who attempted to storm governorate buildings [COI update 2023, 2, p. 10; Country Focus 2023, 1.1.2, pp. 16-17].
Conclusions and guidance
[…] Acts reported to be committed against individuals under this profile are of such severe nature that they amount to persecution (e.g., detention, torture, killing).
[…] For individuals considered by the government as opposing it, such as political activists, opposition party members, persons who took part in protests, and persons who expressed criticism towards the regime, well-founded fear of persecution would in general be substantiated
Civilians originating from areas associated with opposition to the government
This sub-profile refers to civilians from areas associated with opposition to the government, in particular (former) opposition-held areas in Dar’a, Rural Damascus, Idlib, Latakia, Aleppo, Hama, Homs, Quneitra. It addresses the situation of civilians from recaptured areas as well as, briefly, from areas which continue to be under the control of anti-government armed groups.
COI summary
The government’s territorial gains over the course of the conflict have been followed by continued arbitrary arrests and detention [Targeting 2020, 1.2.3, p. 21]. There were numerous reports of deliberate targeting, arbitrary arrests and enforced disappearances of civilians in GoS-controlled areas, including those reconquered by the GoS. Among those detained were IDPs, including some who had signed settlement agreements with the GoS upon their return to GoS-held territory. [Country Focus 2023, 1.1.2, p. 17. For more detailed information on reconquered areas see Recaptured areas COI report] GoS treats individuals from former opposition-held areas with a heavy degree of suspicion. The intelligence agencies created a wide network of informants and surveillance to ensure that the government kept a close watch of all aspects of Syrians’ everyday life and restricted criticism of the GoS [Targeting 2020, 1.1.1, p. 15]. The scrutiny of individuals from former opposition-held areas is the highest in Damascus, given the concentration of security personnel in the city as well as the importance of the capital to the government. The GoS also restricted the access of civilians that wished to return to Damascus and Rural Damascus and unlawfully demolished houses of residents [Targeting 2020, 1.2.3, p. 23]. Persons in GoScontrolled areas whose origin is from areas controlled by anti-government groups may also be perceived as disloyal [Targeting 2022, 1.2.3, p. 25]. Furthermore, GoS security forces in recent years have also been harassing, detaining and extorting individuals who had relatives in armed opposition-controlled areas [Country Focus 2023, 1.1.2, p. 18]. Civilians were arrested for communicating with their relatives or friends in rebel-held territory or abroad and they were prevented from establishing further contact [Targeting 2020, 1.1.1, p. 15]. Similarly, civilians were arrested for travelling between GoS-held areas and areas controlled by other parties [Country Focus 2023, 1.1.2, p. 18]. GoS also punished family members of alleged opposition supporters by applying a number of laws that violate their individual property rights. Women with familial ties to opposition fighters were reportedly detained for intelligence-gathering purposes or retribution [Targeting 2020, 1.2.3, p. 21]. There were also reports of indiscriminate attacks such as bombing and shelling from GoS forces resulting in civilian casualties along the borders of the different areas of control, including areas held by opposition groups. Pro-GoS forces targeted civilians in hospitals, residential areas, schools, and IDP settlements throughout 2022. These forces reportedly employed the ‘deliberate killing of civilians, as well as their forced displacement, starvation, and protracted siege-like conditions’. [Security 2023, 1.5.1, p. 35]
Conclusions and guidance
[…] Acts reported to be committed against individuals under this profile are of such severe nature that they amount to persecution (e.g., arbitrary arrests, arbitrary detention, enforced disappearance).
[…] The individual assessment of whether there is a reasonable degree of likelihood for the applicant to face persecution should take into account risk-impacting circumstances, such as: regional aspects (who is in control in the area, whether it was considered an opposition stronghold, etc.), and level of perceived support or collaboration with anti-government forces, familial ties or other connection to suspected members of anti-government armed groups and/or political opposition members, perceived support for the government, ethno-religious background (e.g. being Sunni Arab), etc.
[…] Available information indicates that persecution of this profile is highly likely to be for reasons of (imputed) political opinion.”
Person who evaded or deserted military service
[…] Reservist: a reservist is a Syrian male who has previously completed his mandatory military service in Syria and can still be called up for reserve service in the Syrian Armed Forces.
[…] Reservists continue to be called up for service, albeit in smaller numbers compared to previous years due to the reduction of armed confrontations. Individuals with specific skills such as tank crewmen are more likely to be called up for reserve service. It has also been reported that reservists from former opposition-held areas are increasingly called up for service, as the GoS wants to assert more control over these areas. If those who are called up for reserve service do not report within the given deadline, their name will be added to wanted lists and they would risk being arrested by the authorities. Between August 2022 and August 2023, sources reported that GoS security forces arrested men wanted for reserve service, including in Rural Damascus and Idlib governorates. [Country Focus 2023, 1.2.2, p. 25-26]
[…] Discharge
According to Law No. 35/2011, military service lasts between 18 and 21 months. However, since the outbreak of the conflict, reservists and military personnel have reportedly served for an indefinite period of time. A source from March 2022 pointed out that people with special military skills served longer, while those in socially demanded professions, such as doctors, were more likely to be demobilised at the end of the official duration of military service [Targeting 2022, 2.3, p. 41]. Between August 2022 and August 2023, three administrative orders were issued to discharge certain groups of conscripts and reservists who had already served a certain number of years [Country Focus 2023, 1.2.6, p. 28-29].
[…] General Situation:
In a speech to the UN Security Council in January 2023, the UN Special Envoy for Syria noted that, after 12 years of war, the financial collapse in Lebanon, the Covid-19 pandemic, sanctions and other events, the country was facing an economic crisis ‘of epic proportions’. [Country Focus 2023, 2.2.1, p. 53]
In a March 2023 report, the World Bank indicated that currency devaluation and in particular the increase in food prices have contributed to rising inflation since early 2022. According to the World Bank, since the war on Ukraine, food prices in Syria have been increasing faster than global food prices, partly due to a reduction of state subsidies, a ‘record-low’ domestic agricultural production, and shortages caused by supply-chain interruptions, which also contributed to higher prices for some food and energy goods. Food prices, however, had been increasing already before: according to the WFP, they had increased by 532 % in the period from 2020 to 2022, or by almost 12 times in the period from 2020 to 2023. Several sources reported of severe fuel shortages due to delayed fuel imports in the winter of 2022- 2023. [Country Focus 2023, 2.2.1, pp. 54-55]
Moreover, households in Damascus continued to face recurring electricity cuts, and difficulties in heating their homes, with some reportedly resorting to burning pistachio shells or old clothes, shoes and plastic bags (despite the health risks) to stay warm. Electricity remained in short supply in 2023, with people in the GoS-controlled areas reportedly getting just about one hour of electricity per day. [Country Focus 2023, 2.2.1, p. 55].
Means of basic subsistence and employment
Years of conflict, displacement, the economic crisis, and prices that had risen stratospherically’ contributed to growing levels of poverty among the population, forcing families to rely on measures such as reducing food consumption or sending children to work in order to survive [Damascus 2022, 3.2.2, p. 40]. In a survey on the socio-economic situation in the cities of Damascus, Aleppo and Homs, 10 % of respondents from Damascus stated that their children worked / contributed to the household income [Country Focus 2023, 2.2.4, p. 58]. According to UN data, 90 % of the Syrian population were living below the poverty line as of June 2023. UNOCHA pointed to the existence of and potential increase in ‘working poor’ households who were unable to cover living costs despite having an income: in areas under GoS control, incomes would need to increase by 67 % to cover the rising costs of basic needs. In Damascus governorate, 74 % of households reported being either completely unable or insufficiently able to meet basic needs. UNOCHA also pointed to the ‘increasingly desperate’ coping mechanisms to cover basic needs, including buying on credit, borrowing, and relying on protracted debt, remittances and humanitarian assistance. In Damascus governorate, 66 % of households reported relying on remittances, while particularly IDPs were relying on humanitarian aid needs. [Country Focus 2023, 2.2.4, p. 57]
In August 2023, GoS doubled the minimum wage for public sector workers, the first increase of its kind since December 2021. Pensions were also doubled. At the same time, the GoS cut subsidies for fuel and bread as part of new austerity measures. Despite the increase, the new minimum wage could cover only 13 % of the July 2023 minimum expenditure basket (MEB) - a monetary threshold for what a family of five needs in a month to cover its essential needs, including goods, services, utilities, and resources. [COI Update 2023, 4, p. 13]
Food security As of April 2023, 12.1 million people were food insecure, according to the WFP. These included the 2 million people living in camps. Moreover, an additional 2.9 million people were estimated to be at risk of food insecurity. Food was the third-most reported unmet need in Damascus governorate, according to UNOCHA’s 2023 Humanitarian Needs Overview, while it was the most reported one in the majority of the other governorates. [Country Focus 2023, 2.2.5, p. 58]
According to a survey conducted by the German Friedrich Ebert Foundation (FES) in six Syrian cities in 2022, food accounted for the largest share of the total consumption of families. In Damascus, the rate of spending on food was 42 % of families’ total consumption. 81 % of respondents in Damascus stated that their entire income (including money transfers and aid) was not sufficient to cover their basic needs. UNOCHA pointed to harmful changes in food consumption due to the economic crisis, including buying less expensive or less preferable food, and/or reducing the size of their meals at least once a week. These practices were particularly common among female-headed households, where 19 % also reported that at least one household member would go to bed hungry due to a lack of food. [Country Focus 2023, 2.2.5 p. 59]
As of September 2023, the cost of the standard reference food basket price reached SYP 938 000 (USD 81 at the official exchange rate of SYP 11 557), doubling since the start of 2023. [COI Update 2023, 4, p. 14]
In June 2023, the WFP announced that it would have to cut its assistance in Syria by about half – from 5.5 million to 3 million people – due to lack of funding and after exhausting other options, including the gradual downsizing of monthly rations to half the standard size [Country Focus 2023, 2.2.5, p. 59]. From July onwards, the WFP food assistance provided to Syrians was reportedly reduced by 40 % [COI Update 2023, 4, p. 14].
Housing and shelter According to UN-Habitat estimates, about 328 000 houses have been destroyed or damaged beyond repair as a result of the war, while a further 600 000 up to 1 million buildings have been ‘moderately or lightly’ damaged. In Damascus governorate, the estimated total damage of housing units was 12 %, or 56 792 housing units. The UN Mine Action Service (UNMAS) pointed in its Annual Report for 2022 to the presence of explosives in 140 buildings in Damascus and Rural Damascus. [Country Focus 2023, 2.2.6, p. 60]
Legislation on urban re-development was reportedly used by the GoS to confiscate or destroy property, mainly in pro-opposition informal settlements. Urban development projects often served to change the demographic composition of the affected neighbourhoods. Moreover, many residents who were displaced abroad were unable to return to Syria to claim ownership and consequently lost their property [Damascus 2022, 3.5.2, p. 48]. Due to new regulatory measures related to real estate and property, anyone with a record of government opposition might face difficulties in buying or selling property [Damascus 2022, 3.5.3, p. 49]. Pro- opposition IDPs and refugees, who owned property in development zones of Damascus were reportedly most likely to sell their properties in the near future, out of fear that they might not receive security clearance or might be expropriated [Damascus 2022, 3.5.3, p. 50].
According to the survey conducted by the FES in six Syrian cities in 2022, the quality of housing and its assets, including the availability of electricity and furniture, was considered best in Damascus city. [Country Focus 2023, 2.2.6, pp. 60-61].
An increase in house rents in Damascus by 300 % in recent years was also reported by UNOCHA. As a result of the high prices, around 600 000 IDPs were renting houses in slum areas. [COI Update 2023, 4, p. 14]
Water and sanitation The UN Secretary-General noted in a May 2023 report that the availably of drinking water in the country had decreased by 40 % since the beginning of the conflict. Moreover, access to water was hampered by a lack of electricity and fuel to run water pumping stations, as well as drought. An outbreak of cholera with thousands of suspected cases was related to poor water quality [Country Focus 2023, 2.2.6 p. 61]. As of March 2023, 43 suspected cases were reportedly recorded in Damascus governorate [Country Focus 2023, 2.2.6, p. 63].
UNOCHA stated in a report of August 2022 that 35 % of households had to spend more than 5 % of their monthly income to pay for water; some sub-districts in Damascus governorate were the most affected. [Country Focus 2023, 2.2.6, pp. 61-62]
Sources further note that two of the main water springs in Syria and source of drinking water for the population of Damascus and Rural Damascus governorates have been severely damaged between 2015 and 2017. [Country Focus 2023, 2.2.6, p. 62]
Basic healthcare
UNOCHA stated that countrywide people’s access to basic services continued to decline, due to damaged infrastructure, lack of critical supplies, and lack of financial means as well as restrictions on free and safe movement. Particularly serious was the lack of technical personnel needed for delivery and maintenance of basic health services and to operate potable water supply systems. In December 2021, WFP reported that almost 23 % of interviewed households across Syria had difficulties in accessing medical care facilities, 48 % struggled with purchasing necessary medicines, mainly because they lacked financial means (55 %), but also due to shortages in pharmacies (17 %) [Damascus 2022, 3.6.1, p.51]. Civilians perceived to be opposed to the government claimed to have been denied access to medical treatment in Damascus [Damascus 2022, 3.6.1, p.52]. According to the latest WHO data available, as of December 2020, Damascus had 15 public hospitals, 11 of which were classified as ‘fully functioning’ and 4 as ‘partially functioning’ [Damascus 2022, 3.6.2, p.51]. As of March 2022, public health care was reportedly generally available in Damascus city. However, people would often have to wait long to get treatment and would have to pay for all medical products. In addition, a general shortage of doctors has been noted, as many had left the country [Damascus 2022, 3.6.1, p.52].
According to a report of May 2023 by the UN Secretary-General on the protection of civilians in armed conflict, only 53 % of health centres were operational in Syria. In December 2022, a representative of the World Health Organisation (WHO) noted that almost 30 % of the country’s public health facilities remained non-functional. He also pointed to the ‘chronic shortage of health care staff’. According to WHO estimates, up to 50 % of the health workforce had left the country and the remaining health workers were unequally distributed across the country, with Damascus being among the governorates with a comparably higher ratio of health personnel per population than other governorates such as Hasaka, Raqqa or Dar’a. [Country Focus 2023, 2.2.7, p. 62]
Tartous:
General information
Tartous and Latakia governorates form the coastal region of Syria. Tartous governorate borders the Mediterranean Sea in the west, Latakia governorate in the north, the governorates of Hama and Homs to the east, and Lebanon to the south. Tartous consists of five administrative districts: Tartous City, Baniyas, Dreikish, Safita and Sheikh Badr. As of May 2022, UNOCHA estimated the population of Tartous governorate at 948 274 inhabitants.
Background and actors involved in armed confrontations
Since the beginning of the conflict in 2011, the governorate of Tartous has largely been controlled by GoS and experienced no major attacks. However, in 2016, the city of Tartous was targeted by ISIL and in 2017, the seaside promenade of the city was hit by several explosions carried out by suicide bombers [Security 2020, 2.5.2., p. 112; 2.5.3, p. 114].
The governorate is considered a ‘regime stronghold’. However, changes in the traditional pattern of loyalty expressed by Alawites towards the government have been observed, mainly consisting in a series of anti-government protests over the past few years.
During the reference period, the whole of Tartous governorate was under GoS control.
The Russian-led naval facility in the port of Tartous is still operational and it represents the only Russian naval foothold in the Mediterranean, in use since the days of the Soviet Union.
Anti-government armed groups were reportedly not present in the governorate of Tartous.
Nature of violence and examples of incidents
Airstrikes by Israel were documented during the reference period. In August 2022, Israeli airstrikes hit Iranian targets with multiple attacks in proximity of Tartous military naval base. The airstrikes reportedly targeted an air defence base, where Iranian-backed groups were active, killing three soldiers and wounding another three. In March 2023, Israel reportedly launched rocket strikes hitting Tartous countryside. The attack resulted in three military personnel injured. Few targeted attacks against GoS forces and civilians which led to casualties were also reported.
Incidents: data
Tartous recorded the lowest number of security incidents out of all governorates [Security 2023, 1.5.2, p. 38]. ACLED recorded 6 security incidents (average of 0.1 security incidents per week) in Tartous governorate in the period from 1 August 2022 to 28 July 2023. Of the reported incidents, 3 were coded as ‘explosions/remote violence’, 2 as incidents of ‘violence against civilians’ and 1 as ‘battle’. In the period 1 August – 30 November 2023, 5 security incidents were recorded in Tartous representing an average of 0.3 security incident per week.
Geographical scope
Specific information about the geographical scope of the indiscriminate violence within Tartous was not available at the time of writing.
Civilian fatalities: data
The SNHR did not record any conflict-related civilian fatalities in Tartous between August 2022 and July 2023. Similarly, no civilian fatalities were recorded in August – November 2023 by the same source.
Displacement
As of May 2022, there were 180 735 IDPs in Tartous governorate. According to UNOCHA, between January and December 2022, approximately 1 000 persons were displaced from Tartous governorate, as well as 3 000 within the governorate. Approximately 3 000 persons were also displaced from other governorates to Tartous. UNOCHA did not record any IDP movement from and to Tartous between January and June 2023. Likewise, no displacement within the governorate has been documented in the same period.
In terms of IDP returns, Tartous was one of the governorates with the fewest recorded returns in 2022. UNOCHA recorded 5 IDP returns to Tartous and 2 000 returnee movements from the governorate in 2022. From January to June 2023, 5 IDP returns from the governorate were recorded.
Further impact on civilians
Tartous is the only governorate cluster munitions were not extensively used since 2012 [Security 2022, 2.5.3, p. 127]. No death related to landmines have been recorded in Tartous during the reference period.
Looking at the indicators, it can be concluded that in the governorate of Tartous, there is, in general, no real risk for a civilian to be personally affected within the meaning of Article 15(c) QD.
1.4. Auszug aus den „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“, 6. aktualisierte Fassung
a) Umgang mit Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner der Regierung sind
Die syrische Regierung geht in den von ihr kontrollierten Gebieten weiterhin gewaltsam gegen tatsächlich oder vermeintlich abweichende politische Meinungen vor, um diese zu unterdrücken oder zu bestrafen.456 Bei der Einstufung, was als abweichende politische Meinung betrachtet wird, wendet die Regierung sehr weite Kriterien an: Jegliche Art oder Form von Kritik, Widerstand oder unzureichender Loyalität gegenüber der Regierung457 führen regelmäßig zu schweren Vergeltungsmaßnahmen für die betreffende Person.458 Zu den Personen, denen regelmäßig eine regierungsfeindliche Gesinnung unterstellt wird, zählen Zivilpersonen (insbesondere Männer und Jungen im kampffähigen Alter459) aus oder in derzeit oder ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten460; Wehrdienstentzieher und Deserteure461; oppositionelle Mitglieder lokaler Räte462; Aktivisten aus der Zivilgesellschaft und politische Aktivisten463; Demonstrierende464; Journalisten und Bürgerjournalisten aus der Zivilbevölkerung465; Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen und Freiwillige der Zivilverteidigung466; Ärzte und sonstige medizinische Fachkräfte467; Verteidiger der Menschenrechte468 sowie Lehrer, Hochschullehrkräfte und -wissenschaftler.469
Berichten zufolge setzen die Sicherheitsbehörden470 der Regierung Informanten ein, um vermeintliche Regierungsgegner zu identifizieren.471 Außerdem wird gemeldet, dass Menschen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aufgrund falscher Anschuldigungen verhaftet werden, weil Personen, die sich rächen wollen oder der Regierung ihre Loyalität beweisen möchten, sie gegenüber den Sicherheitsbehörden beschuldigen, in oppositionelle Aktivitäten verwickelt zu sein.472
Personen mit diesem Profil werden regelmäßig Opfer von willkürlicher Verhaftung473 und Verschwindenlassen474, Inhaftierung unter lebensbedrohlichen Umständen475, systematischer und weitverbreiteter Folter und sonstigen Formen der Misshandlung476 einschließlich sexueller Gewalt477, Strafverfolgung nach der zu weit gefassten Antiterrorgesetzgebung von 2012 unter Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren vor Antiterror- und militärischen Feldgerichten478 sowie summarischer und außergerichtlicher Hinrichtung.479 IICISyria hat seit 2011 dokumentiert,
„… wie die syrische Regierung die Verbrechen der Ausrottung, des Mordes, der Vergewaltigung und sonstiger Formen sexueller Gewalt, der Folter und der Freiheitsentziehung im Zusammenhang mit den umfassenden und systematischen Festnahmen von Dissidenten sowie Personen, die als Sympathisanten bewaffneter Gruppen wahrgenommen wurden, begangen hat“.480
Das Einfrieren von Vermögen und die Beschlagnahme von Eigentum von Personen, die als Gegner der Regierung angesehen werden481, ist ebenfalls gemeldet worden und wurde in manchen Fällen auch gegenüber den Familienangehörigen und Bekannten482 der Betroffenen praktiziert.483 Laut IICISyria sind zwischen 2016 und 2018 gegen ca. 70.000 Syrer Entscheidungen des Finanzministeriums ergangen, die das Einfrieren ihres Vermögens anordneten, und diese Praxis wird laut Berichten fortgesetzt.484 Der Erlass zeitlich begrenzter Amnestien seit 2011485 hat Berichten zufolge nur eine eingeschränkte Wirkung in Bezug auf die Freilassung tatsächlicher und vermeintlicher Regierungsgegner, von denen viele aufgrund des Antiterrorgesetzes inhaftiert sind.486
[…]
b) Umgang mit Familienangehörigen
Die tatsächliche oder vermeintliche regierungskritische Haltung einer Person wird häufig auch Menschen in ihrem Umfeld zugeschrieben, einschließlich Familienmitgliedern. Für Familienangehörige besteht die Gefahr, dass sie zwecks Vergeltung und/oder mit dem Ziel, tatsächliche oder vermeintliche Regierungskritiker zum Schweigen zu bringen, bedroht, schikaniert, willkürlich verhaftet, gefoltert, zwangsverschleppt und zum Verschwinden gebracht werden.487 Was Regierungskritiker betrifft, die in den von der Opposition kontrollierten Gebieten oder im Ausland leben, besteht für ihre Familienangehörigen und manchmal ihre Bekannten Berichten zufolge die Gefahr, dass sie den vorgenannten Maßnahmen zwecks Vergeltung oder mit der Absicht ausgesetzt werden, die gesuchten Personen dazu zu bringen, ihre Aktivitäten einzustellen oder nach Syrien zurückzukehren.488 Zudem sind die Familienangehörigen politischer Gefangener gefährdet, Opfer von Erpressungs- und Einschüchterungsversuchen zu werden489, und in einigen Fällen kommt es zum rechtswidrigen Einfrieren von Vermögen und der Beschlagnahme von Eigentum zwecks „kollektiver Bestrafung“.490
c) Wehrdienstentzieher und Deserteure der syrischen Streitkräfte
Pflichtdienst und Reservist:
Der Wehrdienst ist für alle syrischen Männer zwischen 18 und 42 Jahren obligatorisch (sofern sie nicht vom Wehrdienst befreit oder ihnen Aufschub gewährt wurde; siehe unten)555, einschließlich derjenigen, die während eines Auslandsaufenthalts das wehrpflichtige Alter erreichen.556 Nachfahren palästinensischer Flüchtlinge, die zwischen 1948 und 1956 in Syrien eintrafen und bei der General Administration for Palestinian Arab Refugees (GAPAR) registriert wurden, müssen ebenfalls den Pflichtwehrdienst ableisten.557 Die Gesetze sehen einen Pflichtwehrdienst von 18 oder 21 Monaten vor, je nach Ausbildungsstand.558 Seit 2011 wurden jedoch viele Rekruten gezwungen, über einen längeren Zeitraum zu dienen, der die gesetzlich festgelegte Dauer des Pflichtwehrdienstes überschreitet.559 Nach ihrer Entlassung aus dem Wehrdienst werden ehemalige Soldaten automatisch als Reservisten angesehen und können für den Reservedienst eingezogen werden.560
Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist gesetzlich nicht anerkannt, und ein Ersatz- oder Alternativdienst ist nicht vorgesehen.561
Einige angehende Rekruten, Reservisten und Wehrdienstentzieher oder ihre Familien zahlen laut Berichten Bestechungsgelder, um den Wehrdienst zu umgehen, z. B. um einen Aufschub zu erhalten, Zusicherungen zu bekommen, dass sie die Kontrollstellen unbehelligt passieren können, oder um eine vorübergehende Streichung ihres Namens aus den Einberufungslisten zu erwirken.562 Mitglieder der Sicherheits- oder Geheimdienste verhaften laut Berichten Männer, die wegen des Wehrdienstes gesucht sind, um Bestechungsgelder von Verwandten zu erhalten, mit denen die Freilassung der Männer bewirkt wird. 563 Es gibt auch Berichte, nach denen Rekruten Bestechungsgeld bezahlen, um an sicheren Orten ihren Dienst leisten zu können sowie über Offiziere, die Rekruten nutzen, um nicht- militärische Aufgaben auf den privaten Grundstücken der Offiziere auszuführen. 564
Umgang mit Wehrdienstentziehern:
Das Militärstrafgesetzbuch sieht für Wehrdienstentzug573 eine Gefängnisstrafe vor.574 Personen, die das wehrpflichtige Alter (42 Jahre) überschritten haben, ohne den Pflichtwehrdienst vollendet zu haben, werden mit finanziellen Sanktionen belegt, und ihnen droht die Beschlagnahme ihres beweglichen und unbeweglichen Vermögens sowie Inhaftierung.575 Viele Wehrdienstentzieher, die sich in den von der Regierung kontrollierten Gebieten in Syrien aufhalten, verstecken sich und leben in der ständigen Angst, festgenommen und zwangsrekrutiert zu werden.576 Zudem ist es ihnen nicht möglich, Rechtsgeschäfte oder administrative Handlungen vorzunehmen, wie z. B. Anmietung, Kauf oder Verkauf von Grundeigentum577, Eheschließung oder Beantragung (bzw. Verlängerung) von Ausweisdokumenten und Pässen.578 Darüber hinaus müssen Männer zwischen 17 und 42 Jahren eine Erlaubnis von der Rekrutierungsbehörde einholen, wenn sie das Land verlassen möchten.579 Berichten zufolge wurden Regierungsangestellte entlassen, weil sie sich dem Reservewehrdienst entzogen haben.580 Unter Einsatz von Fahndungslisten setzen die Armee und die Sicherheitsbehörden laut Berichten ihre Anstrengungen fort, Wehrdienstentzieher aufzuspüren und unter Zwang zu rekrutieren, vor allem an mobilen und festen Kontrollstellen581, aber auch in staatlichen Einrichtungen wie Universitäten und Krankenhäusern582, Aufnahmestellen der Regierung583 und bei Hausdurchsuchungen.584 Berichten zufolge gehören Rückkehrer aus dem Ausland zu den Personen, die nach der Rückkehr verhaftet und zwangsrekrutiert werden.585 Solche Kampagnen werden aus allen Gebieten gemeldet, die unter der Kontrolle der Regierung stehen,586 insbesondere aus den zurückeroberten Gebieten587, allerdings hat die Regierung wegen lokaler Vereinbarungen588 und ihrer begrenzten Präsenz nur eingeschränkte Möglichkeiten, Wehrdienstentzieher aus bestimmten Gebieten unter Zwang zu rekrutieren.589
In der Praxis droht Wehrdienstentziehern statt einer strafrechtlichen Sanktion und Haftstrafen nach dem Militärstrafgesetzbuch590 mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Festnahme und kurzfristige Inhaftierung, bevor sie eingezogen werden.591 Wehrdienstentzieher, die für Regierungsgegner gehalten werden, unterliegen laut Berichten dem Risiko einer besonders strengen Behandlung während der Festnahme, beim Verhör und in Haft sowie – nach Einziehung – im Militärdienst rechnen.592 Auch die Familien von Wehrdienstentziehern wurden in einigen Fällen bedroht und misshandelt.593
[…]
Da ein Ersatz- oder Alternativdienst nicht vorgesehen ist, vertritt UNHCR die Auffassung, dass Personen, die sich dem Pflichtwehrdienst oder dem Reservewehrdienst aus Gewissensgründen entzogen haben („Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen“)618, wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, je nach den Umständen des Einzelfalls auf der Grundlage einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder ihrer Religion.
Angesichts der weitverbreiteten Berichte über schwere Verstoße der Regierungstruppen gegen internationale Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht und das Völkerstrafrecht619 in Verbindung mit dem Umstand, dass individuelle Rekruten und Reservisten grundsätzlich keinen Einfluss auf ihre Funktion innerhalb der Streitkräfte (einschließlich des Gebiets, in dem sie eingesetzt werden, und der Art der Aufgaben, die ihnen zugewiesen werden) nehmen können620, ist UNHCR der Auffassung, dass bei einer Einberufung zu den Streitkräften die vernünftige Wahrscheinlichkeit besteht, an Aktivitäten teilnehmen zu müssen, die Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, das Völkerstrafrecht und/oder internationale Menschenrechte darstellen.621 Dementsprechend ist UNHCR der Auffassung, dass Personen, die sich dem Pflichtwehrdienst oder dem Reservewehrdienst entzogen haben, da sie mit den Mitteln und Methoden der Kriegsführung der Regierungstruppen nicht einverstanden sind („Verweigerung des Militärdienstes in Konflikten, die den Grundregeln menschlichen Verhaltens zuwiderlaufen“)622, wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, je nach den Umständen des Einzelfalls auf der Grundlage einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder ihrer Religion. 623 In seinen Richtlinien zu Anträgen auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus Gründen des Militärdienstes hat UNHCR festgestellt, dass die Anerkennung des Rechts auf Verweigerung des Militärdienstes mit der Begründung, dass der Militärdienst die Teilnahme an Aktivitäten beinhalte, die einen Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht, Völkerstrafrecht oder internationale Menschenrechte darstellten, und die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft in diesen Fällen angesichts des Grundgedankens der Ausschlussklauseln der GFK ein konsistenter Schluss ist.624 Ausführungen zu Wehrdienstentziehern, die Gegner der Regierung sind oder aufgrund ihrer regierungskritischen Aktivitäten (z. B. Teilnahme an regierungskritischen Protesten, regierungskritische Äußerungen in der Presse oder den sozialen Medien, Unterstützung oder Beitritt zu einer bewaffneten oppositionellen Gruppe), ihrer Herkunft aus zurückeroberten Gebieten oder ihrer familiären Bindungen zu einer Person, die tatsächlich oder vermeintlich Gegner der Regierung ist, für Regierungsgegner gehalten werden, finden sich in Kapitel III.A.1 („Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner der Regierung sind“).
Darüber hinaus ist UNHCR der Auffassung, dass Personen, die aus den syrischen Streitkräften desertiert sind, wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, je nach den Umständen des Einzelfalls aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder anderer maßgeblicher Gründe. UNHCR ist ferner der Auffassung, dass Familienangehörige von Wehrdienstentziehern und Deserteuren aufgrund ihrer vermeintlichen politischen Meinung möglicherweise internationalen Flüchtlingsschutz benötigen.
Bei Asylgesuchen von Deserteuren der syrischen Streitkräfte und von ehemaligen Mitgliedern bewaffneter oppositioneller Gruppen können Ausschlussgründe gegeben sein (siehe auch Kapitel III.D).
Teilamnestien, die von der syrischen Regierung erlassen wurden und Straffreiheit vorsehen, müssen sorgfältig geprüft werden, da sie zeitlich begrenzt sind und nicht vom Pflichtwehrdienst befreien. Außerdem muss geprüft werden, ob für die betreffende Person die Gefahr besteht, dass sie anderen Formen der Verfolgung ausgesetzt wird, die nicht die strafrechtliche Verantwortlichkeit betreffen, von der sie durch die Amnestie befreit wurden.625
2. Beweiswürdigung
2.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers (Staatsangehörigkeit, Geburtsdatum und Geburtsort) stützen sich auf seine konsistenten und übereinstimmenden Angaben sowie auf die in Kopie vorliegenden Auszüge aus seinem syrischen Personalausweis und dem vorgelegten Dienstausweis (vgl. AS 103 ff., OZ 4, S. 5).
Die Feststellungen zu seiner Volksgruppe, seinen Sprachkenntnissen, seiner Herkunft, seinen Familienstand und seinem Leben im Herkunftsstaat basieren auf seinen im Wesentlichen glaubhaften Angaben im gesamten Verfahren, insbesondere in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 11.07.2024 (vgl. OZ 4, S. 6 ff.).
Der Abschluss des Studiums des Schiffsmaschinenbaus und der darauffolgende Eintritt ins syrische Militär ergeben sich aus den konsistenten Ausführungen des Beschwerdeführers sowie aus dem von ihm vorgelegten Bachelor-Abschluss in Ingenieurwissenschaften und dem Dekret der Assad-Akademie, das ihn als Absolvent zum Oberleutnant und Militäringenieur ernannte. Diese Dokumente wurden einer amtswegigen Übersetzung unterzogen (vgl. OZ 7).
Die Feststellungen zur legalen Einreise nach Serbien und zur Weiterreise nach Österreich beruhen auf den Angaben des Beschwerdeführers vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, die sowohl im Verfahren vor dem BFA als auch in der Beschwerdeverhandlung unwidersprochen geblieben sind (vgl. AS 17 ff., AS 139).
Dass der Beschwerdeführer Seiten seines syrischen Reisepasses, darunter auch jene wo sich das serbische Visum befunden hat, mit dem Zweck entfernt hat, seine legale Ausreise aus Syrien zu verschleiern, wird auf Grund seiner eigenen Angaben in der mündlichen Beschwerdeverhandlung festgestellt (vgl. OZ 4, S. 7).
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen Aussagen in der niederschriftlichen Einvernahme sowie der mündlichen Verhandlung. Sie stützen sich zusätzlich auf den Umstand, dass keine medizinischen Unterlagen vorgelegt wurden, die auf eine ernsthafte Erkrankung hinweisen (vgl. AS 136, OZ 4, S. 3).
Ferner ergibt sich die Feststellung zur Unbescholtenheit aus einem amtswegig eingeholten Auszug aus dem Strafregister vom 15.02.2024.
Die Feststellungen zu den Familienangehörigen des Beschwerdeführers sowie zu deren Aufenthaltsorten basieren ebenfalls auf seinen schlüssigen Angaben in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (vgl. OZ 4, S. 7 ff.).
2.2. Zu den Flucht- und Verfolgungsgründen des Beschwerdeführers:
Aus den Angaben des Beschwerdeführers in Verbindung mit den im Verfahren eingeführten Länderberichten sowie der Einsicht in die „Syria Live Map“ ergibt sich, dass das Gouvernement Tartus derzeit unter der Kontrolle des syrischen Regimes steht.
2.2.1. Zum Vorbringen einer Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee sowie der Gefahr einer Verfolgung aufgrund einer unterstellten oppositionellen Gesinnung durch das syrische Regime:
Die Tätigkeit und Stellung des Berufsoffiziers ergibt sich aus dem vorgelegten Dienstausweis des Beschwerdeführers, welcher amtswegig einer Übersetzung unterzogen wurde (vgl. OZ 7).
Aus den Angaben des Beschwerdeführers in Verbindung mit dem von ihm in Vorlage gebrachten Militärbuch lässt sich weiterhin ableiten, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach er im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat vom syrischen Militär zum Reservedienst eingezogen werde, nicht glaubhaft ist. Dies liegt daran, dass der Beschwerdeführer weder in der Erstbefragung noch in seiner Einvernahme vor dem Bundesamt oder in der Beschwerdeverhandlung auch nur ansatzweise dargetan hat, während seines Aufenthalts im Herkunftsstaat einen Einberufungsbefehl zum Reservedienst erhalten zu haben (vgl. OZ 4, S. 6 ff.). Ferner fehlen im Militärbuch mehrere Seiten bezüglich des Reservedienstes, weshalb zu keinem Zeitpunkt festgestellt werden konnte, dass der Beschwerdeführer sich einer persönlich an ihn gerichteten Einberufung entzogen oder einer solchen nicht Folge geleistet hätte (vgl. OZ 7).
Zu prüfen bleibt, ob der Beschwerdeführer – unabhängig vom Vorliegen eines Einberufungsbefehls zum Entscheidungszeitpunkt – zum Reservedienst eingezogen werden könnte. Nach den im Wesentlichen unbestrittenen Länderberichten bleibt ein syrischer Mann gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet. Aus dem Militärbuch ergibt sich, dass das Eintrittsdatum als Reservist mit 04.07.2020 datiert. Weiters liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat; das gilt z. B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung. Im gegenständlichen Fall ist jedoch entscheidend, dass der Beschwerdeführer aktuell 47 Jahre alt ist und somit die Altersgrenze zur Einberufung zum Reservedienst bereits erheblich überschritten hat. Ferner hat er im Verfahren nicht substantiiert dargetan, weshalb seitens des syrischen Militärs auch nach Überschreitung der Altersgrenze von 42 Jahren ein Interesse an seiner Rekrutierung bestünde.
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass der Beschwerdeführer über Fachkenntnisse verfügt, zumal er in der mündlichen Verhandlung seine Tätigkeit in der Durchführung von Reparaturen von Schiffen schilderte (vgl. OZ 4, S. 9 ff.). Allerdings wurde der Beschwerdeführer auf eigenen Wunsch aufgrund von Gesundheitsproblemen aus dem Militärdienst entlassen und wurde ihm von der syrischen militärischen Sicherheitsabteilung am 05.01.2020 die Ausreise aus Syrien bewilligt. Daher liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte vor, dass er im Fall der Rückkehr trotz seiner Fachkenntnisse zum Reservedienst eingezogen wird.
Auch die Angaben des Beschwerdeführers bezüglich seiner oppositionellen Gesinnung erweisen sich als nicht glaubhaft, nicht zuletzt aufgrund des Umstandes, dass er von 1995 bis 2020 für das syrische Militär tätig war und bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Auseinandersetzungen mit dem syrischen Regime zu verzeichnen sind. Es wurden seitens des Beschwerdeführers keine Tatsachen benannt, die erklären, wieso er dem Reservedienst bzw. dem Regime aufgrund seiner inneren Motivation abneigend gegenübersteht. Vielmehr bediente sich der Beschwerdeführer allgemeiner Ausführungen, insbesondere der Abneigung gegenüber dem Einsatz russischer Waffen und dem Präsidenten Bashar al-Assad (vgl. OZ 4, S. 11).
Unabhängig davon ist sein Vorbringen nicht glaubhaft, da der Beschwerdeführer sich im gesamten Verfahren in mehrere Widersprüche verstrickte.
Der Beschwerdeführer hat erstmals im Zuge seiner Beschwerde ausgeführt, im März 2021 erfahren zu haben, dass sein Name auf der Einberufungsliste stehe (AS 386). Dem ist jedoch entgegenzusetzen, dass er in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht davon berichtet, nicht zum Reservedienst einberufen worden zu sein (OZ 4, S. 12).
Auch sonst ist es dem Beschwerdeführer nicht gelungen, inhaltlich schlüssig darzulegen, dass er aufgrund seiner Fachausbildung zum Reservedienst für den Zweck der Zusammenarbeit mit russischen Militärangehörigen in Syrien einberufen oder gesucht werden würde:
Die Behauptung des Beschwerdeführers, im März 2021 von einem Offizier in seiner früheren Werkstatt mündlich informiert worden zu sein, dass er sich auf einen Russischkurs vorbereiten soll, um später mit den russischen Einheiten zusammenzuarbeiten, beschränkt sich auf vage Behauptungen, die für die Glaubhaftmachung einer konkreten asylrelevanten Verfolgung nicht geeignet sind (OZ 4, S. 11).
Ebenfalls ist anzumerken, dass zwischen dem behaupteten Gespräch mit dem Offizier und der endgültigen Ausreise aus dem Herkunftsstaat bis zu sechs Monate vergangen sind, in denen er unbehelligt im Herkunftsstaat leben bzw. seinen Angaben zufolge in einer Telefongesellschaft als Architekt arbeiten haben können (AS 138).
Der Beschwerdeführer konnte darüber hinaus mit seinem syrischen bis 16.10.2026 gültigen Reisepass seinen eigenen Angaben zufolge am 23.09.2021, also rund 6 Monate nach dem von ihm behaupteten Gespräch mit dem Offizier, legal von Syrien in den Libanon ausreisen (AS 139). Der Umstand, dass der Beschwerdeführer legal aus Syrien in den Libanon ausreisen konnte, widerspricht – auch unter Beachtung seiner in seinem Militärbuch eingetragenen Ausreisegenehmigung – seinen Aussagen in der mündlichen Beschwerdeverhandlung, dass er Syrien ohne Erlaubnis verlassen habe (vgl. OZ 4, S 12).
Es ist dem Beschwerdeführer somit insgesamt nicht gelungen, glaubhaft darzulegen, dass das syrische Regime tatsächlich ein Interesse an seiner Einziehung zum Reservedienst mit dem Zweck ihn als - wie in seiner Beschwerde behauptet - „Verbindungsmann“ zwischen der syrischen und russischen Armee zu verwenden, habe, da sonst davon auszugehen ist, dass er an der Ausreise gehindert worden wäre.
Bezugnehmend auf das Vorbringen der Beschwerde, wonach der Vater des Beschwerdeführers seinen Namen geändert und der Beschwerdeführer bei der Ausreise Dokumente verwendet habe, die den alten Namen des Vaters anzeigen (AS 386 ff.), ist anzuführen, dass der Beschwerdeführer in der mündlichen Beschwerdeverhandlung dazu keine weiteren substantiierten Angaben machte und darüber hinaus auch in seiner Befragung vor dem Bundesamt diese Behauptung nicht getätigt hat und sich auf in seinen von ihm selbst vorgelegten Identitätsdokumenten bzw. sonstigen Unterlagen ein solcher Hinweis nicht findet.
Auch seine Ausführungen, dass das syrische Regime im Heimatstaat Kontakt wegen seiner Einberufung zum Reservedienst bzw. aufgrund der Suche nach ihm, mit seiner Familie und seiner Frau aufgenommen habe, erweisen sich als sehr vage. Der Beschwerdeführer konnte keine konkreten Vorfälle schildern oder nähere Details darlegen, wie oft nach ihm gesucht wurde, wie die Kontaktaufnahme konkret erfolgte und was genau die Anweisungen seitens des syrischen Militärs gewesen sein sollen. Vielmehr beschränkte sich der Beschwerdeführer pauschal darauf zu verweisen, dass seine Familie in Syrien zwar leben könne und das Regime ihnen nichts machen könne, jedoch seines Wissens das syrische Regime immer wieder bei seiner Familie nach ihm frage (vgl. OZ 4, S. 12). Damit zeigt der Beschwerdeführer allerdings nicht glaubhaft auf, dass nach ihm in Syrien tatsächlich gefahndet werden würde.
2.2.2. Zum Vorbringen der religiösen Überzeugung:
Aus den Länderberichten lässt sich nicht ableiten, dass Atheisten in Syrien konkret einer Verfolgung seitens des Regimes unterliegen. Den Berichten zufolge erlaubt es das Regime, dass verschiedene Konfessionen ihren Glauben praktizieren können, solange ihre religiösen Aktivitäten nicht als politisch subversiv erachtet werden.
Der Beschwerdeführer führte im Verfahren keine näheren Darstellungen und Details zu den Beweggründen seiner Konversion an und vermag auch keine konkreten Angaben dazu zu tätigen, wie er den Atheismus praktiziert, ob er an Aktivitäten teilgenommen hat, warum er dem Islam ablehnend gegenübersteht und wie sich sein Leben nun gestaltet. Daher ist davon auszugehen, dass er aufgrund seiner religiösen Überzeugung nicht ins Blickfeld des Regimes geraten ist (vgl. OZ 4, S. 9). Das Vorbringen des Beschwerdeführers bezüglich seiner religiösen Überzeugung erweist sich als zu vage und pauschal, weshalb aus seinem Vorbringen allein nicht der Schluss gezogen werden kann, dass die Religionsüberzeugung vom syrischen Regime als subversiv erachtet wird.
2.2.3. Zum Vorbringen einer Verfolgung aufgrund der Ausreise und Asylantragstellung im Ausland:
Als weitere Fluchtgründe brachte der Beschwerdeführer in seiner Beschwerde vor, dass er aufgrund seiner Ausreise und seiner Asylantragstellung in Österreich asylrelevante Verfolgung befürchte, da ihm aus diesen Gründen vonseiten des syrischen Regimes eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt werde (vgl. AS 395 ff.).
Aus den Länderberichten ist nicht ersichtlich, dass jedem Rückkehrer, der ausgereist ist und im Ausland einen Asylantrag gestellt hat, eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und dieser deshalb asylrelevante Verfolgung zu befürchten hat. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass die Schwelle, als oppositionell betrachtet zu werden, in Syrien allgemein niedrig ist und dass Personen aus unterschiedlichen Gründen und teilweise willkürlich als regierungsfeindlich angesehen werden. Es übersieht auch nicht, dass in Syrien ganz bestimmte Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder wahrgenommenen politischen Meinung oder Zugehörigkeit direkt angegriffen oder ihnen auf andere Weise Schaden zugefügt wird. In Bezug auf den Beschwerdeführer ergeben sich jedoch im Verfahren keine Hinweise darauf, dass allgemeine Berichte und darauf basierende Gefährdungsmomente im konkreten Fall auf die Situation des Beschwerdeführers anzuwenden sind.
Darüber hinaus kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Stellung des Antrags auf internationalen Schutz dem syrischen Staat bekannt geworden ist, da es den österreichischen Behörden verboten ist, Daten über Asylwerber an die Behörden des Herkunftsstaates zu übermitteln. Somit finden sich keine ausreichend validen Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer mit verfahrensrelevanter Wahrscheinlichkeit unmittelbar und konkret gefährdet ist, in Syrien ins Blickfeld der syrischen Regierung zu geraten und von dieser wegen einer ihm zugeschriebenen oppositionellen Gesinnung unmittelbar und konkret persönlich verfolgt zu werden. Gegenteiliges wurde weder in der Beschwerde noch in der mündlichen Verhandlung substantiiert dargetan.
2.2.4. Zu den Länderfeststellungen:
Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger, regierungsoffizieller und nicht-regierungsoffizieller Stellen beruhen und dennoch ein übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist anzuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums nicht wesentlich geändert haben. Die Feststellungen zur Lage in Tartus ergeben sich insbesondere aus der EUAA: Country Guidance Syria, April 2024, S. 162 ff.
3. Rechtliche Beurteilung
Zu A)
3.1. Zur Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten:
3.1.1. § 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:
„Status des Asylberechtigten“
§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn 1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder 2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.
[…]“
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischer Überzeugung außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG liegt es am Beschwerdeführer, glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht. Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, und diese muss zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen. Die Prognose im Entscheidungszeitpunkt muss sich darauf stützen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen eine Verfolgung zu befürchten hat (vgl. VwGH 19.10.2000, 98/20/0233). Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Allgemeine Behauptungen über Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen zu finden sind, sind in der Regel nicht ausreichend zur Darlegung selbst erlebter Erfahrungen (vgl. VwGH 02.09.2019, Ro 2019/01/0009, mwN).
Schon nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht. Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist, dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen steht (vgl. VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001, mwN).
Die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung erfolgt auf Grundlage positiv getroffener Feststellungen seitens des erkennenden Verwaltungsgerichts. Im Fall der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können solche positiven Feststellungen jedoch nicht getroffen werden (vgl. VwGH 13.01.2022, Ra 2021/14/0386, mwN).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrechtlich relevante Verfolgung dar. Diese könnte nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen. Wie der Verwaltungsgerichtshof zur möglichen Asylrelevanz der Wehrdienstverweigerung näher ausgeführt hat, kann auch der Gefahr, der allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung, asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen – wie etwa der Anwendung von Folter – jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Unter dem Gesichtspunkt des Zwangs zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen kann auch eine "bloße" Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung darstellen (vgl. VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108, Rn. 27 ff; VwGH 21.05.2021, Ro 2020/19/0001, Rn. 19; 19.06.2019, Ra 2018/18/0548, ua.).
Für eine Bedrohung oder Verfolgung durch das syrische Regime kommt es nicht zwingend darauf an, ob eine Einberufung zum Militärdienst bereits vor der Ausreise erfolgt ist, ob eine behördliche Suche (wegen des Militärdienstes) bereits vor der Ausreise stattgefunden hat oder ob die Ausreise legal erfolgt ist, sondern vielmehr darauf, mit welcher Wahrscheinlichkeit von einem Einsatz beim Militär (im Falle einer nunmehrigen Rückkehr/Wiedereinreise in den Herkunftsstaat) auszugehen ist. Dies ist anhand der Situation bezüglich der Einberufung zum Militärdienst im Herkunftsstaat und dem Profil der betroffenen Person zu beurteilen.
3.1.2. Subsumiert man den vom Bundesverwaltungsgericht festgestellten Sachverhalt den relevanten und im Lichte der zitierten Judikatur auszulegenden Rechtsvorschriften, ergibt sich, dass dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten nicht zuzuerkennen ist. Das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach das syrische Regime ihn aufgrund seiner Weigerung, den Militärdienst aufgrund einer oppositionellen politischen Gesinnung abzuleisten, nicht glaubhaft. Folglich droht ihm im Fall der Rückkehr nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Gefahr für sein Leben ausgesetzt zu sein. Unabhängig davon droht dem Beschwerdeführer, wie unter Punkt II.2.2.1 dargelegt wurde, keine Einberufung als Reservist in die syrische Armee.
Dem Beschwerdeführer ist es überdies nicht gelungen, glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung aufgrund der religiösen Konvertierung droht. Wie unter Punkt II.2.2.4. ebenfalls dargelegt wurde, ist aus den getroffenen Länderfeststellungen auch nicht abzuleiten, dass jede Person, die ausgereist ist und im Ausland einen Asylantrag gestellt hat, bei einer Rückkehr nach Syrien automatisch als oppositionell angesehen wird. Es ergibt sich aus den Berichten keine Verfolgung aller Rückkehrer, die im Ausland um Asyl angesucht haben. Im Übrigen liegen auch keine Anhaltspunkte vor, die darauf schließen lassen würden, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit im Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung zu gewärtigen hätte.
Der Beschwerdeführer konnte zusammengefasst nicht glaubhaft machen, dass ihm im Herkunftsstaat seitens einer der syrischen Konfliktparteien aufgrund einer vermeintlich unterstellten politischen Gesinnung oder aus anderen Gründen Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht. Der Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl war daher der Erfolg zu versagen.
3.2. Zur Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides):
§ 8 AsylG lautet auszugsweise:
1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,
1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder
2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,
wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht.
3.2.1. Status des subsidiär Schutzberechtigten
Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn dieser in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und der Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird.
Eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat muss eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention darstellen oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen.
Nach § 8 Abs. 3 AsylG sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) besteht. Dies gilt ebenso, wenn der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden kann (§ 8 Abs. 6 AsylG). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK eine Einzelfallprüfung. In diesem Rahmen sind konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu treffen, ob einer Person im Falle der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer Behandlung droht, die gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstößt.
Eine ganzheitliche Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen im Verhältnis zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat beziehen, ist erforderlich (vgl. VwGH 25.06.2024, Ra 2024/18/0151; mVa VwGH 21.2.2017, Ra 2016/18/0137, mwN).
3.2.2. In Bezug auf den konkreten Fall ist festzuhalten, dass EUAA-Berichten zufolge in Tartus zwar nur wenige Sicherheitsvorfälle verzeichnet sind, sich aus den Informationen aus dem LIB deutliche Anzeichen ergeben, dass die allgemeine Sicherheits- und Menschenrechtslage in Syrien – abseits der Kampfhandlungen – äußerst kritisch ist.
Die aktuelle Länderinformation zur Situation in Syrien zeigt, dass es in allen Landesteilen, auch in Gebieten unter der Kontrolle des syrischen Regimes, zu massiven Menschenrechtsverletzungen kommt. Sowohl das syrische Regime als auch andere Konfliktpartner setzen Verhaftungen und das Verschwindenlassen von Personen als Strategien zur Kontrolle und Einschüchterung der Zivilbevölkerung ein. Hinsichtlich der Rückkehrenden wird in den Berichten festgestellt, dass die UNO die Menschenrechtslage in Syrien weiterhin als „katastrophal“ einstuft und dass die Voraussetzungen für eine nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen nicht gegeben sind.
Es besteht keine Rechtssicherheit oder Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt unvorhersehbar. Diese Bedrohung der persönlichen Sicherheit ist das zentrale Hindernis für Rückkehrende.
Besonders die Berichte zur Rückkehr von Flüchtlingen belegen, die mangelnde Rechtssicherheit ein erhebliches Hindernis für eine sichere Rückkehr darstellt. Das deutsche Auswärtige Amt kommt zu dem Schluss, dass eine sichere Rückkehr von Geflüchteten weder für bestimmte Regionen in Syrien noch für spezifische Personengruppen gewährleistet oder verlässlich vorhergesagt werden kann. Aus diesem Grund appelliert der UNHCR an die Staaten, keine Zwangsrückführungen syrischer Staatsbürger in irgendeinen Teil Syriens vorzunehmen, unabhängig davon, welche Kräfte das jeweilige Gebiet kontrollieren.
Diese Einschätzung steht im Einklang mit den UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen. Laut der 6. aktualisierten Fassung sollen syrische Staatsangehörige und Personen, die zuvor in Syrien gewohnt haben, einschließlich Palästinensern mit ehemaligem Wohnsitz in Syrien, nicht zwangsweise nach Syrien zurückgeführt werden, unabhängig von der Kontrolle des betreffenden Gebiets durch die Regierung oder eine staatliche oder nichtstaatliche Organisation. Dem Beschwerdeführer droht somit sowohl bei einer Rückkehr ins Gouvernement Tartus als auch in andere Landesteile Syriens die reale Gefahr einer Verletzung seiner in Art. 2 und Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte. Angesichts der Länderberichte ist es als maßgeblich wahrscheinlich einzustufen, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Syrien – in seinen Heimatort oder in andere Landesteile – landesweit dem realen Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bis hin zu erheblichen Eingriffen in seine psychische oder physische Unversehrtheit ausgesetzt sein würde.
Da diese Gefährdungslage gegenwärtig im gesamten Staatsgebiet Syriens vorherrscht, steht ihm auch keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 AsylG 2005 offen (vgl. dazu auch VwGH 25.06.2024, Ra 2024/18/0151).
Ausschlussgründe nach § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 AsylG liegen nicht vor, da diese einerseits nicht hervorgekommen sind (Z 1 und Z 2) und der Beschwerdeführer andererseits unbescholten ist (Z 3).
Der Beschwerde bezüglich Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides war daher gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG stattzugeben und dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
3.2.3. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG ist einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Diese Aufenthaltsberechtigung gilt für ein Jahr und wird, sofern die Voraussetzungen weiterhin vorliegen, über Antrag des Fremden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl um jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden bleibt die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts in Kraft, sofern der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt wurde.
Dem Beschwerdeführer wird mit diesem Erkenntnis der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt, sodass gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr, beginnend mit der Zustellung des gegenständlichen Erkenntnisses, erteilt wird (vgl. dazu VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0281; VwGH 27.04.2016, Ra 2015/05/0069; VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0281).
3.3. Zur Aufhebung der sonstigen Spruchpunkte (Spruchpunkte III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides)
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt wird.
Da dem Beschwerdeführer der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, verlieren die auf einer Nichtzuerkennung des subsidiären Schutzes basierenden Absprüche der belangten Behörde (Spruchpunkte III. bis VI.) ihre rechtliche Grundlage, weshalb diese ersatzlos aufzuheben sind.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen. Nach Art. 133 Abs. 4 erster Satz B-VG idF BGBl. I Nr. 51/2012 ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere, weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. die unter Punkt II.3. angeführten Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes) ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stützen, die bei den jeweiligen Erwägungen wiedergegeben wurde. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
3.4. Daher war spruchgemäß zu entscheiden.