JudikaturBVwG

W177 2286243-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
15. Oktober 2024

Spruch

W177 2286243-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH – Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom XXXX , Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.07.2024 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan erteilt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 05.06.2023 einen Antrag auf internationalen Schutz. Noch am selben Tag wurde er durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich erstbefragt. Er gab an, aus der Provinz Nangarhar zu stammen sowie paschtunischer Volksgruppenzugehörigkeit zu sein und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams anzugehören. Seine Muttersprache sei Paschtu. Er sei in acht Jahre in die Schule gegangen und habe keinen Beruf ausgeübt. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Eltern, drei Brüder und eine Schwester würden noch in Afghanistan, in XXXX , Provinz Logar, dem Herkunftsort des BF, leben. In Österreich oder im sonstigen Europa habe der BF keine weiteren Verwandten. Sein Heimatland habe er vor fünf Monaten zu Fuß verlassen. Er sei über Pakistan, den Iran, die Türkei, Bulgarien, Serbien und Ungarn nach Österreich gekommen, wo er am 05.06.2023 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, gab der BF an, dass seit dem Regierungssturz die Taliban regieren würden und die Armut hoch sei. Ansonsten habe er keine weiteren Fluchtgründe. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst vor den Taliban.

I.1.2. Am 13.12.2023 wurde der BF vom zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Nach eingehender Belehrung gab der BF an, dass er gesund sei und neben Paschtu auch Dari spreche. Er habe seine Tazkira am Weg nach Europa verloren und nie einen Reisepass besessen, weshalb er kein identitätsbezeugendes Dokument vorlegen könne. Er vermeinte, bei der Erstbefragung die Wahrheit gesagt zu haben und regte die Änderung seines Namens an, der bei der Erstbefragung falsch protokolliert worden sei. Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Moslem. Er stamme aus dem Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Logar, wo er auch geboren worden und aufgewachsen sei. Er habe acht Jahre die Schule besucht habe und bei seinem Vater in der Landwirtschaft mitgeholfen. Er sei ledig und habe keine Kinder. Sein genaues Geburtsdatum kenne er nicht. Afghanistan habe er zu Fuß verlassen. Seine Familie habe ein Haus und ein landwirtschaftliches Grundstück beim Nachbarn gepachtet. Seine Eltern, seine drei Brüder und seine Schwester wären nach wie vor dort aufhältig. Sein Vater sei Landwirt, seine Mutter Hausfrau. Zahlreiche weitschichtige Verwandte wären ebenfalls noch in Afghanistan aufhältig. Zu seiner Familie habe er regelmäßigen Kontakt. Es gehe ihnen gut, jedoch sei die Versorgungslage schlecht. In Österreich habe er keine Verwandten. Es lebe ein Sohn einer Tante hier, zu diesem habe er nur telefonischen Kontakt gehabt. Es bestehe kein Abhängigkeitsverhältnis zu ihm. Dessen Mutter habe ihn jedoch finanziell bei seiner Flucht unterstützt. In Österreich lebe er von der Grundversorgung. Sein Heimatland habe er Anfang des Jahres 2023 verlassen. Er sei in seinem Heimatland weder politisch aktiv gewesen noch habe er Probleme mit den Behörden gehabt noch habe er strafbare Handlungen begangen.

Zu seinem Fluchtgrund gefragt, gab der BF an, dass es in Afghanistan keine Arbeit und kein Einkommen gegeben habe. Sein Cousin habe trotz Schulabschluss keine Arbeit gefunden. Der ausschlaggebende Grund für das Verlassen seiner Heimat sei die Armut gewesen. Eine weitere Ausbildung des BF habe sich die Familie auch nicht leisten können. Der Cousin sei einer von sieben Brüdern. Diese Familie betreibe ein Lebensmittelgeschäft. Er sei niemals persönlich bedroht worden. Im Falle einer Rückkehr befürchte er die Armut, denn er habe Angst. keine Arbeit zu finden, um sich den Lebensunterhalt sichern zu können.

Nach Vorhalt und Erörterung der Länderberichte wurde dem BF mitgeteilt, dass sein Antrag wohl in allen Spruchpunkten negativ beurteilt werde. Darauf vermeinte der BF, dass er keine Stellungnahme abgeben möchte. Danach erfolgte die wortwörtliche Rückübersetzung und der BF bestätigte, dass alles richtig aufgenommen worden wäre. Er auch über den weiteren Verlauf des Verfahrens aufgeklärt worden. Er habe nichts mehr hinzuzufügen und den Dolmetscher einwandfrei verstanden. Danach bestätigte er mit seiner Unterschrift die Richtigkeit und Vollständigkeit der Niederschrift.

I.1.3. Mit Bescheid vom 11.01.2024 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.). Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen angeführt, dass die Angaben des BF, dessen Identität in Ermangelung der Vorlage von identitätsbezeugenden Dokumenten nicht festgestellt habe werden können, bezüglich seines Wohnorts, seiner familiären Verhältnissen und seinem Bildungsweg plausibel gewesen wären, sodass daran nicht zu zweifeln gewesen wäre.

Eine asylrechtlich relevante Verfolgung habe der BF nicht glaubhaft vorbringen können. Der BF habe sich ausschließlich darauf berufen, dass der BF Afghanistan aufgrund der schlechten Versorgungslage verlassen habe.

Ebenso habe der BF das Land nicht fluchtartig verlassen und die Familie habe auch keine Repressalien zu gegenwärtigen. Sämtliche Familienmitglieder und Verwandte würden nach wie vor völlig unbehelligt in Afghanistan leben und Einkünfte aus diversen arbeitenden Tätigkeiten lukrieren.

Daher habe das Vorbringen des BF in einer Gesamtschau auch keine individuelle, persönliche betreffende und glaubhaft gemachte Verfolgungshandlung beinhaltet. Daher habe nicht erkannt werden können, dass der BF aus asylrechtlich relevanten Gründen sein Heimatland verlassen habe.

Eine Gefahrenlage im Sinne der Art. 2 und 3 EMRK würde beim BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht vorliegen. Es bestünde daher im Falle seiner Rückkehr auch keine reale Gefahr, die einer Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Eine Rückkehr in seine Heimatprovinz Logar sei zumutbar. Dieser Ort stünde ihm als innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, zumal er arbeitsfähig und arbeitswillig sei und er dort über familiäre Anknüpfungspunkte verfüge. Ebenfalls könnten er auf Rückkehrhilfe oder die Hilfe seiner Familie zurückgreifen. Betreffend die Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen.

I.1.4. Mit Verfahrensanordnung vom 11.01.2024 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die BBU GmbH für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 11.01.2024 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

I.1.5. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 02.02.2024 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung, nunmehr die BBU GmbH, in vollem Umfang erhobene Beschwerde. In dieser wurde eine Verletzung von Verfahrensvorschriften durch ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren und mangelhafte Länderfeststellungen sowie eine mangelhafte Beweiswürdigung moniert. Die belangte Behörde habe es nämlich im Grundsatz der amtswegigen Wahrheitsfindung verabsäumt, den entscheidungswesentlichen Sachverhalt zu ermitteln. Bezüglich § 3 sei das Vorbringen des BF mit den Länderberichten, die vom Vorgehen gegen die Gegner des Regimes und von neuen Methoden der Taliban zur Ausfindigmachung dieser Personen berichten und in denen auch von den Konsequenzen betreffend zahlreiche Risikogruppen zu entnehmen gewesen sei, deren Situation sich durch die Machtübernahme der Taliban maßgeblich verschlechtert habe. Ebenfalls drohe ihm eine asylrechtlich relevante Verfolgung, weil er als verwestlicht angesehen werde. Hierzu reiche bereits ein Aufenthalt im Westen aus. Dem BF würde daher in Afghanistan eine asylrechtliche relevante Verfolgung drohen. In Folge einer mangelhaften Beweiswürdigung und einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung sei der bekämpfte Bescheid rechtswidrig erlassen worden.

Ebenfalls seien die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan noch immer derart schlecht, dass dem BF eine innerstaatliche Fluchtalternative bzw. eine Niederlassung in Afghanistan nicht zumutbar sei. Daher hätte die belangte Behörde, bei ordnungsgemäßer Heranziehung der Länderberichte, dem BF zumindest den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen müssen. Der BF habe sich in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes gut integriert und stelle keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit dar, weshalb die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig erklärt hätte werden müssen.

Es werde daher beantragt, dem BF Asyl zu gewähren, in eventu ihm den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu erteilen oder die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig zu erklären sowie eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.

I.1.6. Die Beschwerde und der Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 06.02.2024, eingelangt beim BVwG am 09.02.2024, vorgelegt. Das BFA beantragte, das Bundesverwaltungsgericht möge die Beschwerde als unbegründet abweisen.

I.1.7. Am 23.07.2024 fand eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit des BF, seiner Rechtsvertretung, sowie eines Dolmetschers für die Sprache Dari statt. Das BFA als belangte Behörde verzichtete, mit Schreiben vom 19.06.2024 entschuldigt, auf eine Teilnahme an der Verhandlung.

Nach der eingehenden Belehrung des BF wurde auf die Verlesung der Aktenteile verzichtet. und das bisherige Vorbringen und der Akteninhalt für den BF mündlich zusammengefasst und mit diesem die vorläufige Beurteilung der politischen und menschen-rechtlichen Situation im Herkunftsstaat erörtert. Ebenso erfolgte eine ausführliche Erörterung der Sach- und Rechtslage. Dem BF wurde die Möglichkeit eingeräumt binnen vier Wochen (auf Antrag erstreckbar) einen Schriftsatz einzubringen, der das Vorbringen noch einmal detailliert darstellt und, allfällig vorhanden, Informationen zur Situation im Herkunftsland beifügt.

Die Rechtsvertretung des BF brachte vor, dass ein Cousin des Vaters des BF unter der gestürzten afghanischen Regierung als Polizist tätig gewesen sei. Sein Einsatzort sei XXXX , der Heimatort des BF, gewesen.

Der BF gab an, er könne in Paschtu und Dari lesen und schreiben. Der BF könne sich noch an die Befragung/en bei der Polizei und die Einvernahme/n beim Bundesamt (BFA) erinnern und habe damals die Wahrheit gesagt. Dies würde er heute auch so wiederholen.

Die Rechtsvertretung legte Medienbericht zur Lage in Logar, welcher verlesen und als Beilage 1 zum Akt genommen wurde, vor.

Der BF gab an, dass es keine Neuigkeiten aus seiner Heimat gebe. Seine Familie lebe in der Provinz Logar. Diese bestehe aus seinen Eltern, drei Brüdern und einer Schwester. Sein Vater sei Landwirt gewesen, jedoch wären ihm die gepachteten Grundstücke weggenommen und an jemanden anderen gegeben worden. Der ältere Bruder arbeite gelegentlich. Er stehe für alle Formen von Arbeiten zur Verfügung. Sein Bruder bemühte sich etwas zu verdienen. Manchmal finde er etwas, manchmal nicht. Sonstige Unterstützung von weitschichtigen Verwandten gebe es nicht, weil es denen, nach dem Sturz der Regierung, finanziell nicht so gut gehe.

Er selbst habe keine sonstige Ausbildung sei aber bereit, überall zu arbeiten. Er habe sein Heimatland Anfang 2023 verlassen und sei gesund. Sein Heimatland habe er verlassen, weil junge Menschen in Afghanistan nicht mehr leben hätten können. Einen konkreten Anlass hätten die Taliban, die er gehasst hätte, geliefert. Unter diesen Bedingungen sei es ihm nicht mehr möglich gewesen, in Afghanistan zu leben.

Er wolle in Österreich zuerst die Sprache gut beherrschen und danach eine Ausbildung erlernen sowie arbeiten. Er würde gerne Elektriker werden. Derzeit habe er einen afghanischen Freund, den er begleite. Derzeit würde ihm kein Deutschkurs geben werden, so lerne er es über Videos. Er mache bisschen Sport, in dem er an unterschiedlichen Sportgeräten im Park trainiere.

Er hasse die Taliban, weil sie ihn durchgehend terrorisiert hätten. Etwa, weil er keinen Vollbart habe oder, weil er seine Haare so geschnitten habe. Sein Cousin sei ein Polizist in Logar gewesen. Er habe das Land verlassen und sei mit seiner Familie in den Iran gegangen. Das war ca. einen Monat vor dem Sturz der Regierung. Dessen Haus in Logar hätten nur die Taliban, so wie das Grundstück, weggenommen. Er sei jedenfalls kein Dorfpolizist gewesen und er habe zwölf Jahre Dienst geleistet. Es bestehe kein Kontakt mehr zu ihm.

Danach wurde die mündliche Verhandlung geschlossen. Gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel die Verkündung der Entscheidung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den zugrundeliegenden Verwaltungsakt, insbesondere durch Einsicht in die im Verfahren vorgelegten Dokumente, Unterlagen und Befragungsprotokolle, Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, Einsicht in die ins Verfahren eingebrachten Länderberichte, in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF führt den im Spruch angeführten Namen und ist Staatsangehöriger von Afghanistan. Der BF ist der Volksgruppe der Paschtunen zugehörig und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensgemeinschaft des Islam. Er spricht sowohl Paschtu als auch Dari.

Der BF ist in Afghanistan stammt aus Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Logar, wo er sich die meiste Zeit seines Lebens in Afghanistan aufhielt und bis zu seiner erstmaligen und legalen Ausreise aus Afghanistan lebte. Der BF hat in Afghanistan acht Jahre die Schule besucht, danach Berufserfahrung in der familieneigenen Landwirtschaft gesammelt.

Er reiste illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 05.06.2023 einen Antrag auf internationalen Schutz. Der BF leidet aktuell an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung, ist gesund und arbeitsfähig.

Er ist ledig und hat keine Kinder. Seine Eltern, drei Brüder und eine Schwester leben, so wie einige weitschichtige Verwandte, noch in Afghanistan. In Österreich oder im sonstigen Europa habe der BF, abgesehen von einem Cousin in Österreich, zum dem nur telefonischer Kontakt besteht, keine weiteren Verwandten. Anzeichen für ein sonstiges Familienleben oder ein Abhängigkeitsverhältnis zu im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigten Personen sind nicht hervorgekommen.

1.2. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Nicht festgestellt werden kann, dass dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund einer Bedrohung aufgrund einer Bedrohung durch die Taliban konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt droht.

Nicht festgestellt werden kann, dass der BF in Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des BF in Afghanistan festgestellt werden.

Dem BF droht wegen seiner ethnisch-religiösen Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sunniten oder zur Volksgruppe der Paschtunen konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt in Afghanistan.

Es wird festgestellt, dass der BF als Rückkehrer mit westlicher Orientierung oder als vom Islam abgefallener Apostat in Afghanistan einer Verfolgung nicht ausgesetzt wäre. Darüber hinaus wäre der BF aufgrund seines Aufenthalts in einem europäischen Land in Afghanistan einer psychischen oder physischen Gewalt nicht ausgesetzt.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Der BF ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und der Sprache seines Herkunftsstaates vertraut, wuchs innerhalb eines afghanischen Familienverbandes auf und wurde zum weitaus überwiegenden Teil seines Lebens innerhalb dessen sozialisiert.

Der BF ist ein junger, generell gesunder, arbeits- und selbsterhaltungsfähiger Mann und leidet an keiner akuten oder lebensbedrohlichen psychischen oder physischen Erkrankung, welche ein Hindernis für die Rückführung nach Afghanistan darstellen würde.

Dem BF würde jedoch bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der derzeit herrschenden allgemeinen Sicherheits- und Versorgungslage infolge der Machtübernahme der Taliban (im gesamten Staatsgebiet) die reale Gefahr drohen, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Kleidung nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation bzw. existenzbedrohende Notlage zu geraten. Ihm wäre es nicht möglich, im Fall einer Niederlassung Fuß zu fassen und in Afghanistan ein Leben ohne unbillige Härte zu führen, zumal er auf kein tragfähiges soziales Netz zurückgreifen kann. Zu diesem Schluss ist im Zuge einer Einzelfallprüfung auszugehen, zumal die Angehörigen in Afghanistan ihre Landwirtschaft verloren haben, der Bruder des BF die Familie mit Gelegenheitsarbeiten erhalten muss und weitschichtige Verwandte die Familie des BF auch nicht unterstützen könnten.

Der BF wäre daher in der Gesamtbetrachtung aufgrund seiner individuellen Umstände und der Volatilität der Sicherheitslage bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung seinen Rechte gemäß Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt. Daher ist dem BF der subsidiäre Schutz zu gewähren.

1.4. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der BF hält sich seit seiner Einreise zumeist in Österreich auf, jedenfalls seit der Stellung seines Asylantrages im Juni 2023 durchgehend im Bundesgebiet auf. Er hat sich die Grundkenntnisse der deutschen Sprache angeeignet und erste Integrationsschritte gesetzt.

1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers – Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

Bezogen auf die Situation des BF sind folgende Länderfeststellungen als relevant zu werten (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 10.04.2024, Version 11):

Politische Lage

Letzte Änderung 2024-04-05 15:33

Die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan haben sich mit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 grundlegend verändert (AA 26.6.2023). Die Taliban sind zu der ausgrenzenden, auf die Paschtunen ausgerichteten, autokratischen Politik der Taliban-Regierung der späten 1990er-Jahre zurückgekehrt (UNSC 1.6.2023a). Sie bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USIP 17.8.2022; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen. Seit ihrer Machtübernahme hat die Gruppe jedoch nur vage erklärt, dass sie im Einklang mit dem "islamischen Recht und den afghanischen Werten" regieren wird, und hat nur selten die rechtlichen oder politischen Grundsätze dargelegt, die ihre Regeln und Verhaltensweise bestimmen (USIP 17.8.2022). Die Verfassung von 2004 ist de facto ausgehebelt. Ankündigungen über die Erarbeitung einer neuen Verfassung sind bislang ohne sichtbare Folgen geblieben. Die Taliban haben begonnen, staatliche und institutionelle Strukturen an ihre religiösen und politischen Vorstellungen anzupassen. Im September 2022 betonte der Justizminister der Taliban, dass eine Verfassung für Afghanistan nicht notwendig sei (AA 26.6.2023).

Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan übernahmen die Taliban auch schnell staatliche Institutionen (USIP 17.8.2022) und erklärten Haibatullah Akhundzada zu ihrem obersten Führer (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. REU 7.9.2021a, VOA 19.8.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 8.9.2021; vgl. DIP 4.1.2023). Haibatullah hat sich dem Druck von außen, seine Politik zu mäßigen, widersetzt (UNSC 1.6.2023a) und baut seinen Einfluss auf Regierungsentscheidungen auf nationaler und subnationaler Ebene auch im Jahr 2023 weiter aus (UNGA 20.6.2023). Es gibt keine Anzeichen dafür, dass andere in Kabul ansässige Taliban-Führer die Politik wesentlich beeinflussen können. Kurz- bis mittelfristig bestehen kaum Aussichten auf eine Änderung (UNSC 1.6.2023a). Innerhalb weniger Wochen nach der Machtübernahme kündigten die Taliban "Interims"-Besetzungen für alle Ministerien bis auf ein einziges an, wobei die Organisationsstruktur der vorherigen Regierung beibehalten wurde (USIP 17.8.2022) - das Ministerium für Frauenangelegenheiten blieb unbesetzt und wurde später aufgelöst (USIP 17.8.2022; vgl. HRW 4.10.2021). Alle amtierenden Minister waren hochrangige Taliban-Führer; es wurden keine externen politischen Persönlichkeiten ernannt, die überwältigende Mehrheit war paschtunisch, und alle waren Männer. Seitdem haben die Taliban die interne Struktur verschiedener Ministerien mehrfach geändert und das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters wiederbelebt, das in den 1990er-Jahren als strenge "Sittenpolizei" berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.8.2022). Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (ICG 24.8.2021; vgl. USDOS 12.4.2022a), wobei weibliche Angestellte aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben (BBC 19.9.2021; vgl. Guardian 20.9.2021). Die für die Wahlen zuständigen Institutionen, sowie die Unabhängige Menschenrechtskommission, der Nationale Sicherheitsrat und die Sekretariate der Parlamentskammern wurden abgeschafft (AA 26.6.2023).

Der Ernennung einer aus 33 Mitgliedern bestehenden geschäftsführenden Übergangsregierung im September 2021 folgten zahlreiche Neuernennungen und Umbesetzungen auf nationaler, Provinz- und Distriktebene in den folgenden Monaten, wobei Frauen weiterhin gar nicht und nicht-paschtunische Bevölkerungsgruppen nur in geringem Umfang berücksichtigt wurden (AA 26.6.2023).

Die Regierung der Taliban wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 8.9.2021; vgl. REU 7.9.2021b, Afghan Bios 18.7.2023).

Stellvertretende vorläufige Premierminister sind Abdul Ghani Baradar (AJ 7.9.2021; vgl. REU 7.9.2021b, Afghan Bios 16.2.2022), der die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten in Doha vertrat und das Abkommen mit ihnen am 29.2.2021 unterzeichnete (AJ 7.9.2021; vgl. VOA 29.2.2020), und Abdul Salam Hanafi (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 7.7.2022b), der unter dem ersten Taliban-Regime Bildungsminister war (Afghan Bios 7.7.2022b; vgl. UNSC o.D.a). Im Oktober 2021 wurde Maulvi Abdul Kabir zum dritten stellvertretenden Premierminister ernannt (Afghan Bios 27.11.2023; vgl. 8am 5.10.2021, UNGA 28.1.2022).

Weitere Mitglieder der vorläufigen Taliban-Regierung sind unter anderem Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerkes (Afghan Bios 4.3.2023; vgl. JF 5.11.2021) als Innenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 4.3.2023) und Amir Khan Mattaqi als Außenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 14.12.2023), welcher die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinten Nationen vertrat und im ersten Taliban-Regime unter anderem den Posten des Kulturministers innehatte (Afghan Bios 14.12.2023; vgl. UNSC o.D.b). Der Verteidigungsminister der vorläufigen Taliban-Regierung ist Mohammed Yaqoob (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 6.9.2023), dem 2020 der Posten des militärischen Leiters der Taliban verliehen wurde (Afghan Bios 6.9.2023; vgl. RFE/RL 29.8.2020).

Sah es in den ersten sechs Monaten ihrer Herrschaft so aus, als ob das Kabinett unter dem Vorsitz des Premierministers die Regierungspolitik bestimmen würde, wurden die Minister in großen und kleinen Fragen zunehmend vom Emir, Haibatullah Akhundzada, überstimmt (USIP 17.8.2022). Diese Dynamik wurde am 23.3.2022 öffentlich sichtbar, als der Emir in letzter Minute die lange versprochene Rückkehr der Mädchen in die Oberschule kippte (USIP 17.8.2022; vgl. RFE/RL 24.3.2022, UNGA 15.6.2022). Seitdem ist die Bildung von Mädchen und Frauen und andere umstrittene Themen ins Stocken geraten, da pragmatische Taliban-Führer dem Emir nachgeben, der sich von ultrakonservativen Taliban-Klerikern beraten lässt. Ausländische Diplomaten haben begonnen, von "duellierenden Machtzentren" zwischen den in Kabul und Kandahar ansässigen Taliban zu sprechen (USIP 17.8.2022) und es gibt auch Kritik innerhalb der Taliban, beispielsweise als im Mai 2022 ein hochrangiger Taliban-Beamter als erster die Taliban-Führung offen für ihre repressive Politik in Afghanistan kritisierte (RFE/RL 3.6.2022a). Doch der Emir und sein Kreis von Beratern und Vertrauten in Kandahar kontrollieren nicht jeden Aspekt der Regierungsführung. Mehrere Ad-hoc-Ausschüsse wurden ernannt, um die Politik zu untersuchen und einen Konsens zu finden, während andere Ausschüsse Prozesse wie die Versöhnung und die Rückkehr politischer Persönlichkeiten nach Afghanistan umsetzen. Viele politische Maßnahmen unterscheiden sich immer noch stark von einer Provinz zur anderen des Landes. Die Taliban-Beamten haben sich, wie schon während ihres Aufstands, als flexibel erwiesen, je nach den Erwartungen der lokalen Gemeinschaften. Darüber hinaus werden viele Probleme nach wie vor über persönliche Beziehungen zu einflussreichen Taliban-Figuren gelöst, unabhängig davon, ob deren offizielle Position in der Regierung für das Problem verantwortlich ist (USIP 17.8.2022).

In seiner traditionellen jährlichen Botschaft zum muslimischen Feiertag Eid al-Fitr im Jahr 2023 sagte Haibatullah Akhundzada, sein Land wünsche sich positive Beziehungen zu seinen Nachbarn, den islamischen Ländern und der Welt, doch dürfe sich kein Land in deren innere Angelegenheiten einmischen. Er vermied es, direkt auf das Bildungsverbot von Mädchen und die Beschäftigungseinschränkungen von Frauen einzugehen, sagte jedoch, dass die Taliban-Regierung bedeutende Reformen in den Bereichen Kultur, Bildung, Wirtschaft, Medien und anderen Bereichen eingeleitet hat, und "die schlechten intellektuellen und moralischen Auswirkungen der 20-jährigen Besatzung" dabei seien, zu Ende zu gehen (AnA 18.4.2023; vgl. BAMF 30.6.2023).

Anfang Juni 2023 wurde berichtet, dass es Anzeichen dafür gibt, dass die Taliban die Stadt Kandahar zu ihrem Stützpunkt machen würden. Dies wir als ein Zeichen für den schwindenden Einfluss der gemäßigteren Taliban-Mitglieder in der Hauptstadt Kabul gesehen, während das Regime seine repressive Politik weiter verschärft. In den letzten Monaten haben Vertreter des Regimes Delegationen aus Japan und Katar nach Kandahar eingeladen, anstatt sich mit anderen Beamten in Kabul zu treffen. Der oberste Sprecher der Taliban, Zabihullah Mujahid, und ein zweiter Informationsbeauftragter aus Nordafghanistan, Inamullah Samangani, wurden von ihren Büros in Kabul nach Kandahar verlegt (WP 5.6.2023; vgl. BAMF 30.6.2023).

Im Mai 2023 traf sich der Außenminister der Taliban mit seinen Amtskollegen aus Pakistan und China in Islamabad. Im Mittelpunkt des Treffens stand die Einbeziehung Afghanistans in den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor (CPEC) sowie die Situation von Frauen in Afghanistan (AnA 5.5.2023; vgl. VOA 6.5.2023).

Am 22.11.2023 verkündeten die Taliban den Abschluss einer zweitägigen Kabinettssitzung in der Provinz Kandahar unter der Leitung von Hebatullah Akhundzada. Auffallend war, dass Themen wie das Recht der Frauen auf Arbeit und Zugang zu Bildung sowie ihre Teilhabe an der Gesellschaft nicht Gegenstand der Beratungen waren. Es wurden Gespräche über Themen wie die Rückführung von Migranten, die Entwicklung diplomatischer Beziehungen zur Bewältigung bestehender Probleme, Import-Export- und Transitfragen sowie die Beibehaltung der Geldpolitik der Taliban geführt (AT 22.11.2023; vgl. AMU 22.11.2023).

Internationale Anerkennung der Taliban

Mit Anfang 2024 hat noch kein Land die Regierung der Taliban anerkannt (TN 9.1.2024; vgl. VOA 10.12.2023) dennoch sind Vertreter aus Indien, China, Usbekistan, der Europäischen Union, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten in Kabul präsent (TN 30.10.2022). Im März 2023 gab der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid bekannt, dass Diplomaten in mehr als 14 Länder entsandt wurden, um die diplomatischen Vertretungen im Ausland zu übernehmen (PBS 25.3.2023; vgl. OI 25.3.2023). Im November 2023 sagte der stellvertretende Taliban-Außenminister, dass derzeit 20 Botschaften in Nachbarländern aktiv wären (TN 29.11.2023), einschließlich der afghanischen Botschaft in Teheran (TN 27.2.2023) und des strategisch wichtigen Generalkonsulats in Istanbul (Afintl 27.2.2023; vgl. KP 23.2.2023a). Berichten zufolge nahm auch die Türkei im Oktober 2023 einen neuen von den Taliban ernannten Diplomaten in der afghanischen Botschaft in Ankara auf (Afintl 14.2.2024). Eine Reihe von Ländern verfügt auch weiterhin über offizielle Botschafter in Afghanistan. Dazu gehören China und andere Nachbarländer wie Pakistan, Iran und die meisten zentralasiatischen Republiken, aber auch Russland, Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Japan (AAN/Ruttig 7.12.2023). Aber auch westliche Länder (mit Ausnahme Australiens) haben weder ihre Botschaften in Kabul offiziell geschlossen noch die diplomatischen Beziehungen offiziell abgebrochen. Vielmehr unterhalten sie kein diplomatisches Personal im Land. Einige Länder haben immer noch amtierende Botschafter oder nachrangige Diplomaten, die nicht in Kabul ansässig sind, und es gibt auch eine (schrumpfende) Anzahl von Sonderbeauftragten für Afghanistan (im Rang eines Botschafters). Die meisten westlichen Kontakte mit Taliban-Beamten finden in Katars Hauptstadt Doha statt, wo Diplomaten unterhalb der Botschafterebene ihre Länder bei den Treffen vertreten (AAN/Ruttig 7.12.2023).

Am 24.11.2023 entsandten die Taliban ihren ersten Botschafter in die Volksrepublik China (KP 26.11.2023; vgl. AMU 25.11.2023). Dieser Schritt folgt auf die Ernennung eines Botschafters Chinas in Afghanistan zwei Monate zuvor, womit China das erste Land ist, das einen Botschafter nach Kabul unter der Taliban-Regierung entsandt hat (AMU 25.11.2023; vgl. VOA 10.12.2023). Nach Ansicht einiger Analysten sowie ehemaliger Diplomatinnen und Diplomaten bedeutet dieser Schritt die erste offizielle Anerkennung der Taliban-Übergangsregierung durch eine große Nation (VOA 31.1.2024; vgl. REU 13.9.2023). Nach Angaben des US-Außenministeriums prüfen die USA die Möglichkeit von konsularischem Zugang in Afghanistan. Dies solle keine Anerkennung der Taliban-Regierung bedeuten, sondern dem Aufbau funktionaler Beziehungen dienen, um eigene Ziele besser verfolgen zu können (USDOS 31.10.2023). Ebenso am 24.11.2023 wurde die afghanische Botschaft in Neu-Delhi, die von loyalen Diplomaten der Vor-Taliban-Regierung geleitet wurde, endgültig geschlossen. Einige Tage später erklärten Taliban-Vertreter, dass die Botschaft bald wieder eröffnet und von ihren Diplomaten geleitet werden wird (Wilson 12.12.2023; vgl. VOA 29.11.2023).

Drogenbekämpfung

Im April 2022 verfügte der oberste Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada, dass der Anbau von Mohn, aus dem Opium, die wichtigste Zutat für die Droge Heroin, gewonnen werden kann, streng verboten ist (BBC 6.6.2023).

Die vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) im Jahr 2023 durchgeführte Opiumerhebung in Afghanistan ergab, dass der Schlafmohnanbau nach einem von den Taliban-Behörden im April 2022 verhängten Drogenverbot um schätzungsweise 95 % zurückgegangen ist (UNODC 11.2023; vgl. UNGA 1.12.2023), wobei ein anderer Experte den Rückgang des Mohnanbaus zwischen 2022 und 2023 auf 80 % schätzt (BBC 6.6.2023). Der Opiumanbau ging in allen Teilen des Landes von 233.000 Hektar auf 10.800 Hektar im Jahr 2023 zurück, was zu einem Rückgang des Opiumangebots von 6.200 Tonnen im Jahr 2022 auf 333 Tonnen im Jahr 2023 führte. Der drastische Rückgang hatte unmittelbare humanitäre Folgen für viele gefährdete Gemeinschaften, die auf das Einkommen aus dem Opiumanbau angewiesen sind. Das Einkommen der Bauern aus dem Verkauf der Opiumernte 2023 an Händler sank um mehr als 92 % von geschätzten 1,36 Milliarden Dollar für die Ernte 2022 auf 110 Millionen Dollar im Jahr 2023 (UNODC 11.2023; vgl. UNGA 1.12.2023). Der weniger rentable Weizenanbau hat den Mohn auf den Feldern verdrängt - und viele Landwirte berichten, dass sie finanziell darunter leiden (BBC 6.6.2023).

Am 30.9.2023 veröffentlichte der Oberste Gerichtshof der Taliban eine Reihe von Drogenstrafverfahren, die Strafen für den Anbau, den Verkauf, den Transport, die Herstellung und den Konsum von Mohn, Marihuana und anderen Rauschmitteln vorsehen. Die vorgeschriebenen Freiheitsstrafen reichen von einem Monat bis zu sieben Jahren ohne die Möglichkeit, eine Geldstrafe zu zahlen (UNGA 1.12.2023).

Anfang 2024 verkündete der amtierende Verteidigungsminister der Taliban, dass im Zuge der Bekämpfung der Drogenproduktion im Jahr 2023 4.472 Tonnen Rauschgift vernichtet, 8.282 an der Produktion und am Schmuggel beteiligte Personen verhaftet und 13.904 Hektar Mohnanbaufläche gerodet wurden. Experten gehen jedoch davon aus, dass die Armut in den ländlichen und landwirtschaftlichen Gemeinden wieder zum Mohnanbau führen könnte (VOA 3.1.2024). So gab ein Farmer, dessen Feld von den Taliban wegen Mohnanbaus zerstört wurde an, dass er durch Weizenanbau nur einen Bruchteil dessen verdienen würde, was er mit Mohn verdienen könnte (BBC 6.6.2023).

Sicherheitslage

Letzte Änderung 2024-04-05 15:33

Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes zurückgegangen (UNGA 28.1.2022, vgl. UNAMA 27.6.2023). Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es beispielsweise weniger konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) (UNGA 28.1.2022) sowie eine geringere Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung (UNAMA 27.6.2023; vgl. UNAMA 7.2022). Die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) hat jedoch weiterhin ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs) dokumentiert (UNAMA 27.6.2023).

UNAMA registrierte im Zeitraum 15.08.2021 - 30.05.2023 mindestens 3.774 zivile Opfer, davon 1.095 Tote (UNAMA 27.6.2023; vgl. AA 26.6.2023) und vom 20.5.2023 bis 22.10.2023 mindestens 344 zivile Opfer, davon 96 Tote (UNGA 18.9.2023; vgl. UNGA 1.12.2023). Im Vergleich waren es in den ersten sechs Monaten nach der Machtübernahme der Taliban 1.153 zivile Opfer, davon 397 Tote, während es in der ersten Jahreshälfte 2021 (also vor der Machtübernahme der Taliban) 5.183 zivile Opfer, davon 1.659 Tote gab. In der Mehrzahl handelte es sich um Anschläge durch Selbstmordattentäter und IEDs. Bei Anschlägen auf religiöse Stätten wurden 1.218 Opfer, inkl. Frauen und Kinder, verletzt oder getötet. 345 Opfer wurden unter den mehrheitlich schiitischen Hazara gefordert. Bei Angriffen auf die Taliban wurden 426 zivile Opfer registriert (AA 26.6.2023).

Im Jahr 2023 war ein Rückgang der von ACLED (Armed Conflict Location Event Data Project) und UCDP (Uppsala Conflict Data Program) erfassten sicherheitsrelevanten Vorfälle zu verzeichnen. Die Zahl der von ACLED bis September 2023 erfassten Ereignisse ging im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2022 um 34,8 % zurück (1.979 gegenüber 689 Ereignissen), während die UCDP-Daten für denselben Zeitraum einen Rückgang um 48,2 % anzeigten (720 gegenüber 347 Ereignissen) (EUAA 12.2023; vgl. ACLED 17.10.2023).

Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Machtübernahme der Taliban folgend:

19.8.2021 - 31.12.2021: 985 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 91 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.1.2022)

1.1.2022 - 21.5.2022: 2.105 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 467 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 15.6.2022)

22.5.2022 - 16.8.2022: 1.642 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 77,5 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 14.9.2022)

17.8.2022 - 13.11.2022: 1.587 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 23 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 7.12.2022)

14.11.2022 - 31.1.2023: 1.088 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 10 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 27.2.2023)

1.2.2023 - 20.5.2023: 1.650 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 20.6.2023)

25.5.2023 - 31.7.2023: 1.259 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 18.9.2023)

1.8.2023 - 21.10.2023: 1.414 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 2 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 1.12.2023)

Ende 2022 und während des Jahres 2023 nehmen die Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppierungen und den Taliban weiter ab (UNGA 27.2.2023; vgl. UNGA 20.6.2023, UNGA 18.9.2023, UNGA 20.6.2023), wobei diese nach Einschätzung der Vereinten Nationen den Taliban die Kontrolle über ihr Gebiet nicht streitig machen können (UNGA 1.12.2023). Die dem Taliban-Verteidigungsministerium unterstehenden Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen gegen Oppositionskämpfer durch, darunter am 11.4.2023 eine Operation gegen die Afghanische Freiheitsfront (AFF) im Distrikt Salang in der Provinz Parwan, bei der Berichten zufolge acht Oppositionskämpfer getötet wurden (UNGA 20.6.2023).

Ca. 50 % der sicherheitsrelevanten Vorfälle des Jahres 2023 entfielen auf die Regionen im Norden, Osten und Westen wobei die Provinzen Nangarhar, Kunduz, Herat (UNGA 20.6.2023), Takhar (UNGA 18.9.2023) und Kabul am stärksten betroffen waren (UNGA 1.12.2023).

Die Vereinten Nationen berichten, dass Afghanistan nach wie vor ein Ort von globaler Bedeutung für den Terrorismus ist, da etwa 20 terroristische Gruppen in dem Land operieren. Es wird vermutet, dass das Ziel dieser Terrorgruppen darin besteht, ihren jeweiligen Einfluss in der Region zu verbreiten und theokratische Quasi-Staatsgebilde zu errichten (UNSC 25.7.2023). Die Grenzen zwischen Mitgliedern von Al-Qaida und mit ihr verbundenen Gruppen, einschließlich TTP (Tehreek-e Taliban Pakistan), und der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) sind zuweilen fließend, wobei sich Einzelpersonen manchmal mit mehr als einer Gruppe identifizieren und die Tendenz besteht, sich der dominierenden oder aufsteigenden Macht zuzuwenden (UNSC 25.7.2023).

Hatten sich die Aktivitäten des ISKP nach der Machtübernahme der Taliban zunächst verstärkt (UNGA 28.1.2022; vgl. UNGA 15.6.2022, UNGA 14.9.2022, UNGA 7.12.2022), so nahmen auch diese im Lauf der Jahre 2022 (UNGA 7.12.2022; vgl. UNGA 27.2.2023) und in 2023 wieder ab (UNGA 20.6.2023; vgl. UNGA 18.9.2023, UNGA 1.12.2023). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara (HRW 12.1.2023; vgl. UNAMA 22.1.2024). Die Taliban-Sicherheitskräfte führten Operationen zur Bekämpfung des ISKP durch, unter anderem in den Provinzen Kabul, Herat, Balkh, Faryab, Jawzjan, Nimroz, Parwan, Kunduz und Takhar (UNGA 20.6.2023).

Mit Verweis auf das United Nations Department of Safety and Security (UNDSS) berichtet IOM (International Organization for Migration), dass organisierte Verbrechergruppen in ganz Afghanistan an Entführungen zur Erlangung von Lösegeld beteiligt sind. 2023 wurden 21 Entführungen dokumentiert, 2024 waren es, mit Stand Februar 2024, zwei. Anscheinend werden nicht alle Entführungen gemeldet, und oft zahlen die Familien das Lösegeld. Die meisten Entführungen (soweit Informationen verfügbar waren) fanden in oder in der Nähe von Wohnhäusern statt und nicht auf der Straße. Von den 21 im Jahr 2023 gemeldeten Entführungen ereigneten sich vier in Kabul. Zwei der Vorfälle in Kabul betrafen die Entführung ausländischer Staatsangehöriger, wobei nur wenige Einzelheiten über die Umstände der Entführungen bekannt wurden. Die Taliban-Sicherheitskräfte reagierten aktiv auf Entführungsfälle. Im Juni 2023 leiteten die Taliban beispielsweise in Kabul eine erfolgreiche Rettungsaktion eines entführten ausländischen Staatsangehörigen. In der Provinz Balkh führte eine Reaktion der Taliban gegen die Entführer im Februar 2023 zum Tod eines Entführers und zur Festnahme von zwei weiteren Personen (IOM 22.2.2024).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul-Stadt, Herat-Stadt und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 70,7 % bzw. 79,7 % der Befragen an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.1.2022).

Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt. Diesmal ausschließlich in Kabul-Stadt. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 3.2.2023).

Verfolgungungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Letzte Änderung 2024-04-03 14:28

Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitsbehörden abzusehen (AA 26.6.2023; vgl. USDOS 20.3.2023), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer "schwarzen Liste" der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021a; vgl. DW 20.8.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 1.11.2021; vgl. NYT 29.8.2021), unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.8.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Irisscans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.3.2022). So wurde beispielsweise berichtet, dass ein ehemaliger Militäroffizier nach seiner Abschiebung von Iran nach Afghanistan durch ein biometrisches Gerät identifiziert wurde und danach von den Taliban gewaltsam zum Verschwinden gebracht wurde. Ein weiterer Rückkehrer aus Iran berichtet, dass im Zuge der Abschiebung aus Iran Daten der Rückkehrer vom iranischen Geheimdienst an die Taliban weitergegeben werden (KaN 18.10.2023).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung nutzt soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.8.2021; vgl. BBC 20.8.2021a, 8am 14.11.2022), was dazu führt, dass Afghanen seit der Machtübernahme der Taliban in den sozialen Medien Selbstzensur verüben, aus Angst und Unsicherheit (Internews 12.2023). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 9.1.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021). Ein hochrangiges Mitglied der ehemaligen Streitkräfte berichtet, dass ihm vor seiner Rückkehr verschiedene Versprechen gemacht wurden, er bei Ankunft auf dem Flughafen in Kabul jedoch wie ein Feind behandelt wurde. Er wurde sofort erkannt, da die Taliban sein Bild und weitere Informationen zu seiner Person über die sozialen Medien verbreiteten. Mit Stand Oktober 2023 lebt er in Kabul, sein Haus wurde mehrfach durch die Taliban durchsucht und sein Bankkonto gesperrt. Ein anderes Mitglied der ehemaligen Streitkräfte gab an, dass seine Informationen vor seiner Rückkehr auf Twitter [Anm.: jetzt X] verbreitet wurden und ein weiterer Rückkehrer berichtete, dass er eine biometrische Registrierung durchlaufen musste (KaN 18.10.2023).

Im Sommer 2023 wurde berichtet, dass die Taliban ein groß angelegtes Kameraüberwachungsnetz für afghanische Städte aufbauen (AI 5.9.2023; vgl. VOA 25.9.2023), das die Wiederverwendung eines Plans beinhalten könnte, der von den Amerikanern vor ihrem Abzug 2021 ausgearbeitet wurde, so ein Sprecher des Taliban-Innenministeriums. Die Taliban-Regierung hat sich auch mit dem chinesischen Telekommunikationsausrüster Huawei über eine mögliche Zusammenarbeit beraten, sagte der Sprecher (VOA 25.9.2023; vgl. RFE/RL 1.9.2023), wobei Huawei bestritt, beteiligt zu sein (RFE/RL 1.9.2023). Beobachter befürchten jedoch, dass die Taliban ihr Netz von Überwachungskameras auch dazu nutzen werden, abweichende Meinungen zu unterdrücken und ihre repressive Politik durchzusetzen (RFE/RL 1.9.2023), einschließlich der Einschränkung des Erscheinungsbildes der Afghanen, der Bewegungsfreiheit, des Rechts zu arbeiten oder zu studieren und des Zugangs zu Unterhaltung und unzensierten Informationen (RFE/RL 1.9.2023).

Regionen Afghanistans

Letzte Änderung 2024-04-05 15:34

Afghanistan verfügt über 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.230 Quadratkilometern (CIA 1.2.2024) leben ca. 34,3 (NSIA 4.2022) bis 39,2 Millionen Menschen (CIA 1.2.2024). Es grenzt an sechs Länder: China (91 km), Iran (921 km) Pakistan (2.670 km), Tadschikistan (1.357 km), Turkmenistan (804 km), Usbekistan (144 km) (CIA 1.2.2024). Seit der beinahe kampflosen Einnahme Kabuls durch die Taliban am 15.8.2021 steht Afghanistan nahezu vollständig unter der Kontrolle der Taliban (AA 26.6.2023; vgl. EUAA 12.2023).

Kabul-Stadt

Letzte Änderung 2024-04-05 15:34

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und verfügt über eine geschätzte Einwohnerzahl zwischen 4,589.000‬ (CIA 1.2.2024) und ca. 4,801.200 Personen (NSIA 4.2022). Die Stadt ist aufgeteilt in 22 Bezirke und verfügt über einen internationalen Flughafen, der sich im 15. Stadt-Bezirk befindet (AAN 2019). Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus sowie Kutschi (PAN o.D.; vgl. NPS o.D.a).

Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen

2023

Bei einer Explosion außerhalb des Militärflughafens von Kabul wurden am 1.1.2023 mehrere Menschen getötet oder verletzt (REU 1.1.2023; vgl. RFE/RL 1.1.2023). Nach Angaben der Taliban war für den Angriff die Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) verantwortlich. Am 5.1.2023 kam es zu Razzien in Kabul und Nimroz, die gegen die Verantwortlichen der Attacke gerichtet waren. Acht ISKP-Mitglieder wurden getötet und neun weitere verhaftet (AP 5.1.2023; vgl. AJ 5.1.2023).

Am 11.1.2023 starben mindestens zehn Menschen bei einer Explosion nahe dem Außenministerium der Taliban. Der ISKP übernahm die Verantwortung für den Angriff (RFE/RL 13.1.2023; vgl. BBC 12.1.2023).

Im Februar 2023 gaben die Taliban bekannt, dass sie am 13.2.2023 (VOA 14.2.2023) und am 27.2.2023 Razzien in ISKP-Verstecken in Kabul durchgeführt und mehrere Mitglieder der militanten Gruppe sowie zwei wichtige Kommandanten des Islamischen Staates getötet hätten (VOA 27.2.2023; vgl. KaN 27.2.2023).

Am 23.2.2023 wurden bei einem Bombenanschlag in Kabul nach Angaben lokaler Quellen ein Taliban-Kommandeur getötet und vier Menschen verletzt (MEHR 23.2.2023; vgl. BAMF 30.6.2023).

Am 21.3.2023 haben die Taliban nach eigenen Angaben ein ISKP-Versteck in Kabul ausgehoben und dabei drei ISKP-Mitglieder getötet (BAMF 30.6.2023; vgl. KaN 22.3.2023).

Nach Angaben der Taliban-Behörden wurden bei einem Selbstmordanschlag vor dem Außenministerium am 27.3.2023 in Kabul mindestens sechs Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt (VOA 27.3.2023; vgl. AJ 27.3.2023). Der ISKP bekannte sich zu dem Anschlag (VOA 27.3.2023).

Am 21.8.2023 wurden bei der Detonation einer Haftbombe zwei Personen in Kabul getötet. Keine Gruppierung hat die Verantwortung für die Explosion übernommen (Crisis 24 22.2.2024; vgl. PAN 21.8.2023).

Zwischen Oktober 2023 und Jänner 2024 kam es zu einer Reihe von IED (improvisierte Sprengsätze)-Angriffen im vornehmlich von Hazara besiedelten Distrikt Dasht-e Barchi für die der ISKP die Verantwortung übernahm. So wurden am 26.10.2023 bei einem Angriff auf einen Sportklub mindestens vier Menschen getötet (FR24 27.10.2023; vgl. VOA 28.10.2023). Bei einem Angriff auf einen Minibus am 7.11.2023 wurden mindestens sieben Menschen getötet und etwa 20 verwundet (UNAMA 22.1.2024; vgl. TN 7.11.2023).

2024

Am 6.1.2024 kam es zu einer Explosion eines Minibusses im Distrikt Dasht-e Barchi (VOA 6.1.2024; vgl. RFE/RL 7.1.2024). Die Angaben zu den Opferzahlen schwanken, jedoch wurden nach Angaben von UNAMA mindestens 25 Menschen getötet oder verwundet (RFE/RL 7.1.2024; vgl. AP 7.1.2024).

Am 11.1.2024 kam es erneut zu einer Explosion in Dasht-e Barchi, bei der zwei Menschen getötet wurden (RFE/RL 12.1.2024; vgl. AP 11.1.2024). Es bekannte sich niemand zu dem Anschlag (AP 11.1.2024).

Ost-Afghanistan

Letzte Änderung 2024-04-03 15:25

Der Osten Afghanistans grenzt an Pakistan und ist ein wichtiger Teil des paschtunischen Heimatlandes, dessen Stammeseinfluss sich bis nach Westpakistan erstreckt. Jalalabad, die Hauptstadt der Provinz Nangarhar, liegt auf halbem Weg zwischen Torkham (Ende des Khyber-Passes/Grenze zu Pakistan) und Kabul. Sie gilt als die wichtigste afghanische Stadt im Osten und als das Tor nach Afghanistan vom Khyber-Pass aus. Berge und Täler (oft sehr abgelege) dominieren die Region (NPS o.D.d).

Distrikte nach Provinz (NSIA 4.2022)

Kabul: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-eJabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara, Surubi/Surobi/Sarobi

Kapisa: Alasay, Hesa Awal Kohistan, Hesa Duwum Kohistan, Koh Band, Mahmud Raqi, Nijrab, Tagab

Khost: Ali Sher (Tirzayee), Baak, Gurbuz, Jaji Maidan, Khost (Matun), Manduzay (EsmayelKhil), Muza Khel, Nadir Shah Kot, Qalandar, Sabari (Yaqubi), Shamul, Spera, Tanay

Kunar: Bar Kunar (auch Asmar), Chapa Dara, Sawkay (auch Chawkay), Dangam, Dara-e-Pech (auch Manogi), Ghazi Abad, Khas Kunar, Marawara, Narang wa Badil, Nari, Noorgal, Sar Kani, Shigal, Watapoor sowie der temporäre Distrikt Sheltan

Laghman: Alingar, Alishing, Dawlat Shah, Mehtarlam, Qarghayi, Bad Pash (also Bad Pakh)

Logar: Azra, Baraki Barak, Charkh, Khar War, Khushi, Mohammad Agha, Pul-e-Alam

Nangarhar: Achin, Bati Kot, Behsud, Chaparhar, Dara-e-Nur, Deh Bala (auch Haska Mena), Dur Baba, Goshta, Hesarak, Jalalabad, Kama, Khugyani, Kot, Kuzkunar, Lalpoor, Muhmand Dara, Nazyan, Pachiragam, Rodat, Sher Zad, Shinwar, Surkh Rud

Paktia: Ahmadaba, Jaji, Dand Patan, Gardez, Jani Khel, Laja Ahmad Khel (auch Laja Mangel), Samkani (auch Chamkani, Tsamkani), Sayyid Karam (auch Mirzaka), Shwak, Wuza Zadran, Zurmat sowie die vier temporären Distrikte Laja Mangel, Mirzaka, Garda Siray, Rohany Baba

Paktika: Barmal, Dila Wa Khushamand, Gomal, Giyan, Jani Khel, Mata Khan, Nika (Naka), Omna, Surobi, Sar Rawzah, Sharan, Turwo, Urgoon, Wazakhwah, Wormamay, Yahya Khel, Yosuf Khel, Zarghun Shahr (auch Khairkot), Ziruk sowie die vier temporären Distrikte Shakeen, Bak Khil, Charbaran, Shakhil Abad

Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen

Letzte Änderung 2024-04-03 15:25

2023

Die National Resistance Front (NRF) behauptete, am 24.1.2023 in Kapisa drei Taliban-Kämpfer getötet und zwei weitere verletzt zu haben (BAMF 30.6.2023; vgl. 8am 25.1.2023).

Die Afghanistan Freedom Front (AFF) gab bekannt, dass drei Taliban-Mitglieder getötet und vier weitere verwundet wurden, nachdem sie am 8.5.2023 einen Raketenangriff auf das Gouverneursbüro der Taliban in Mahmud-i-Raqi, der Hauptstadt von Kapisa, verübt hatten (Afintl 10.5.2023; vgl. 8am 9.5.2023). Ein Sprecher der Taliban in Kapisa wies jedoch die Behauptungen der AFF zurück (Afintl 10.5.2023).

Im Distrikt Paghman in Kabul wurden im Juli 2023 vier Menschen wegen "moralischer Verbrechen" öffentlich ausgepeitscht (ANI 12.7.2023; vgl. AMU 12.7.2023), darunter auch eine Frau (BAMF 31.12.2023).

Die NRF gab 5.8.2023 an, im Distrikt Shakar Dara in Kabul vier Mitglieder der Taliban getötet zu haben. Die Taliban haben nicht auf die Erklärung der NRF reagiert (Afintl 5.8.2023).

Am 19.8.2023 wurde Berichten zufolge ein hochrangiger Kommandant der pakistanischen Taliban (TTP) in Nangarhar durch einen Luftangriff getötet (KaN 19.8.2023; vgl. BAMF 31.12.2023).

Berichten zufolge wurden bei einem Angriff der AFF in Laghman am 3.9.2023 zwei Taliban getötet und vier weitere verletzt (KaN 3.9.2023). Darauf erfolgte ein Gegenangriff der Taliban gegen die AFF in verschiedenen Regionen des Distriktes Dawlat Shah in Laghman (Afintl 31.8.2023).

Berichten zufolge wurden am 6.12.2023 in Kunar 25 Schüler der Amra Khan High School aus der Stadt Asad-Abad während ihrer Abschlussfeier in einem Park festgenommen, weil sie sich mit der Flagge der [Anm.: ehemaligen] Republik gezeigt hätten (BAMF 31.12.2023; vgl. 8am 6.12.2023).

Erreichbarkeit

Letzte Änderung 2024-04-05 15:36

Straßen sind die wichtigsten Transportwege in Afghanistan, das über ein Straßennetz von etwa 3.300 km regionalen Fernstraßen, 4.900 km nationalen Fernstraßen, 9.700 km Provinzstraßen, 17.000-23.000 km ländlichen Straßen und etwa 3.000 km städtischen Straßen, darunter 1.060 km in Kabul-Stadt, verfügt. 7 % der Straßen in Afghanistan sind asphaltiert (TSI 19.6.2022). Die ca. 2.300 km lange sogenannte "Ring Road" verbindet die vier größten Städte Afghanistans, nämlich Kabul, Kandahar, Herat und Mazar-e Sharif (TSI 19.6.2022; vgl. RTP 6.4.2022). 700 km grenzüberschreitende Straßen verbinden die Ring Road mit den Nachbarländern (TSI 19.6.2022).

Medien berichten weiterhin von Taliban-Kontrollpunkten an den Straßen (IOM 22.2.2024; vgl. VOA 14.8.2022, AP 3.5.2023, UN-AFGH 7.3.2023) und in den Grenzregionen Afghanistans (8am 24.7.2022; vgl. RFE/RL 19.2.2022), beispielsweise zwischen dem Flughafen Kabul und Kabul-Stadt (NPR 9.6.2022; vgl. VOA 12.5.2022). Einem ehemaligen afghanischen Militärkommandanten zufolge überprüfen Taliban-Kräfte die Namen und Gesichter von Personen an Kontrollpunkten anhand von "Listen mit Namen und Fotos ehemaliger Armee- und Polizeiangehöriger" (HRW 30.3.2022). Meistens handelt es sich um Routinekontrollen (IOM 22.2.2024), bei denen nur wenig kontrolliert wird (SIGA 25.7.2023). Wenn jedoch ein Kontrollpunkt aus einem bestimmten Grund eingerichtet wird, kann diese Durchsuchung darauf abzielen, bestimmte Gegenstände wie Drogen, Waffen oder Sprengstoff aufzuspüren. Kontrollpunkte, die von den Taliban besetzt sind, sind über ganz Afghanistan verteilt und befinden sich in der Regel entlang der Hauptversorgungsrouten und in der Nähe der Zugänge zu größeren Städten. Die Haltung und der Umfang der Durchsuchungen an diesen Kontrollpunkten variieren je nach Sicherheitslage. Darüber hinaus werden je nach Bedarf Kontrollpunkte und Straßensperren für Suchaktionen, Sicherheitsvorfälle oder VIP-Bewegungen eingerichtet (IOM 22.2.2024).

Dennoch wurden im Vergleich zur Zeit vor der Machtübernahme der Taliban Hunderte Checkpoints an Straßen und Autobahnen abgebaut, weil die Taliban nicht genügend Personal haben, um sie aufrechtzuerhalten, und weil sie in den ländlichen Dörfern, in denen ihre Kämpfer während des jahrzehntelangen Aufstands stationiert waren, keine größere Bedrohung sehen (EAR 24.10.2023; vgl. ICG 12.8.2022).

Nach der Machtübernahme der Taliban sind die Treibstoffpreise zunächst gestiegen (IOM 12.1.2023; vgl. WEA 17.7.2022). Im Februar 2023 kostete ein Liter Diesel in Kabul ca. 48 AFN (WFP 27.8.2023), mit Februar 2024 lag der Preis für Treibstoff in Kabul zwischen 62 AFN (Diesel) (WFP 18.2.2024) und 70 AFN (IOM 22.2.2024).

Transportwesen

Busse und Taxis sind, abgesehen von Flugzeugen, die einzigen öffentlichen Verkehrsmittel, die in Afghanistan zur Verfügung stehen (RA KBL 23.1.2023). Sie sind 24 Stunden am Tag verfügbar (IOM 12.4.2022). Schätzungen zufolge gibt es ca. zehn führende Anbieter (RA KBL 23.1.2023).

Mit Stand Februar 2024 kosten eine Busfahrt von Kabul nach Mazar-e Sharif AFN 850 (ca. EUR 10,53) und ein Taxi AFN 1.300 (EUR 16,10) (IOM 22.2.2024).

Flugverbindungen

Afghanistan verfügt über mehrere internationale und nationale Flughäfen, wie den internationalen Hamid-Karzai-Flughafen in Kabul, der mit Stand 13.2.2024 unter anderem Flüge zwischen Afghanistan und den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi Arabien, der Türkei, Russland, Pakistan und Indien anbietet (Flightradar 24 13.2.2024a), oder der internationale Flughafen in Mazar-e Sharif, der mit Stand 13.2.2024 die Türkei und Pakistan anfliegt (Flightradar 24 13.2.2024b). Internationale Flüge werden auch auf den Flughäfen in Kandahar (Flightradar 24 13.1.2024) und Herat angeboten (Flightradar 24 13.2.2024c). Die Flughäfen Jalalabad, Khost, Lashkargah, Farah, Kunduz, Faiz Abad, Kandahar und Balkh bieten derzeit nur Inlandsflüge innerhalb Afghanistans an (Flightradar 24 13.2.2024d; vgl. IOM 22.2.2024).

Grenzübergänge

Die Taliban haben die Überquerung der Grenze nach Pakistan und Iran ohne gültige Papiere verboten (RFE/RL 3.6.2022b; vgl. USDOS 20.3.2023) und man benötigt für das Verlassen von Afghanistan einen gültigen Reisepass und eine Einreiseerlaubnis des Ziellandes (RA KBL 11.3.2024). Jedoch wird dieses Verbot von Schmugglern durch Bestechung von Grenzbeamten umgangen (RFE/RL 3.6.2022b; vgl. RFE/RL 27.5.2022). Am Grenzübergang Chaman [Belutschistan – Kandahar] galt eine Ausnahmeregelung für Einwohner der benachbarten Grenzregionen, mit dem afghanischen Identitätsausweis Tazkira einzureisen (ExT 2.10.2023). Mit 1.11.2023 wurde diese Möglichkeit aufgehoben und es gilt nun für alle eine Pass- und Visa-Vorschrift zur Einreise (DAWN 13.11.2023; vgl. VOA 3.10.2023).

Berichten zufolge kam es in den ersten zwei Jahren seit der Machtübernahme der Taliban bis September 2023 zu mindestens 50 Zwischenfällen an den Grenzen Afghanistans zu Iran, Pakistan, Tadschikistan und Usbekistan (AT 4.9.2023). So kam es im Jahr 2022 beispielsweise zu Zusammenstößen zwischen Taliban und Grenzsoldaten an den Grenzen zwischen Afghanistan und Pakistan (AJ 13.12.2022; vgl. DAWN 22.11.2022, AA 26.6.2023, USDOS 20.3.2023) sowie Afghanistan und Iran (REU 31.7.2022; vgl. AJ 31.5.2023, AA 26.6.2023), die sich im Jahr 2023 fortsetzten (AJ 31.5.2023; vgl. VOA 5.6.2023, UNGA 20.6.2023, UNGA 1.12.2023).

Es kommt zu temporären Schließungen pakistanischer (AJ 6.9.2023; vgl. VOA 21.2.2023) und iranischer Grenzübergange (TN 23.1.2023; vgl. AnA 23.1.2023, AJ 31.5.2023). Beispielsweise wurde am 6.9.2023 der Grenzübergang Torkham zwischen Afghanistan und Pakistan vorübergehend geschlossen, nachdem es zu einem Schusswechsel zwischen Sicherheitskräften beider Länder kam (AJ 6.9.2023; vgl. REU 7.6.2023, UNGA 1.12.2023), wobei der Grenzübergang neun Tage später wieder geöffnet wurde (REU 15.9.2023).

Zentrale Akteure

Taliban

Letzte Änderung 2024-04-05 15:33

Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe (CFR 17.8.2022), die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.8.2022; vgl. USDOS 20.3.2023). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USDOS 20.3.2023; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.8.2022).

Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.8.2022; vgl. Rehman A./PJIA 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. CFR 17.8.2022, Rehman A./PJIA 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022; vgl. Afghan Bios 7.7.2022a, REU 7.9.2021a).

Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban sich von "einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität" zu entwickeln (EUAA 8.2022; vgl. NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021) und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022; vgl. REU 10.9.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021).

Haqqani-Netzwerk

Das Haqqani-Netzwerk hat seine Wurzeln im Afghanistan-Konflikt der späten 1970er-Jahre. Mitte der 1980er-Jahre knüpfte Jalaluddin Haqqani, der Gründer des Haqqani-Netzwerks (GSSR 12.11.2023), eine Beziehung zum Führer von al-Qaida, Osama bin Laden (UNSC o.D.c; vgl. FR24 21.8.2021). Jalaluddin schloss sich 1995 der Taliban-Bewegung an (UNSC o.D.c; vgl. ASP 1.9.2020), behielt aber seine eigene Machtbasis an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan (UNSC o.D.c). Der Kern der Ideologie der Gruppe ist eine antiwestliche, regierungsfeindliche und "sunnitisch-islamische Deobandi"-Haltung, die an die Einhaltung orthodoxer islamischer Prinzipien glaubt, die durch die Scharia geregelt werden, und die den Einsatz des Dschihad zur Erreichung der Ziele der Gruppe befürwortet. Die Haqqanis lehnen äußere Einflüsse innerhalb des Islams strikt ab und fordern, dass die Scharia das Gesetz des Landes ist (GSSR 12.11.2023).

Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 übernahm Jalaluddins Sohn, Sirajuddin Haqqani, die Kontrolle über das Netzwerk (UNSC o.D.c, vgl. VOA 4.8.2022). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.8.2021; vgl. UNSC o.D.c). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom (FR24 21.8.2021), auch wenn es den Taliban angehört (UNSC 21.11.2023; vgl. FR24 21.8.2021).

Das Netzwerk unterhält Verbindungen zu al-Qaida und, zumindest zeitweise bis zur Machtübernahme der Taliban, der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) (VOA 30.8.2022; vgl. UNSC 26.5.2022). Es wird angemerkt, dass nach der Machtübernahme und der Eskalation der ISKP-Angriffe kein Raum mehr für Unklarheiten in der strategischen Konfrontation der Taliban mit ISKP bestand und es daher nicht im Interesse der Haqqanis lag, solche Verbindungen zu pflegen (UNSC 26.5.2022). Zudem wird vermutet, dass auch enge Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst (VOA 30.8.2022; vgl. DT 7.5.2022) und den Tehreek-e-Taliban (TTP), den pakistanischen Taliban, bestehen (UNSC 26.5.2022).

Anti-Taliban-Widerstandsgruppen / politische Opposition

Letzte Änderung 2024-04-05 15:37

Eine formelle, organisierte politische Opposition im Land ist nicht vorhanden (AA 26.6.2023; vgl. TN 16.8.2023, FH 9.3.2023). Eine Reihe ehemaliger politischer Akteure, sowohl aus ehemaligen Regierungskreisen als auch aus der ehemaligen politischen Opposition, befinden sich im Ausland (AA 26.6.2023). Der Kampf gegen die Taliban ist unter ehemaligen afghanischen Amtsträgern zu einem umstrittenen Thema geworden, auch wenn die politische Opposition gegen das Machtmonopol der Taliban und ihre extremistische Politik stärker geworden ist (VOA 6.12.2023). Auch wenn die politische Opposition im Ausland als zersplittert gilt, wurde diese jedoch aktiver und fordert die Taliban in innen- und außenpolitischen Fragen heraus (UNGA 1.12.2023). Einige prominente Politiker, wie der ehemalige Vorsitzende des Hohen Rates für Nationale Versöhnung, Abdullah Abdullah, und der ehemalige Präsident Hamid Karzai, befinden sich weiterhin in Kabul. Ihr Aktionsradius ist äußerst eingeschränkt, ihre öffentlichen Äußerungen sind von großer Zurückhaltung geprägt (AA 26.6.2023). Karzai und auch der andere ehemalige Präsident, Ashraf Ghani, haben sich beide gegen einen Sturz der Taliban durch Krieg ausgesprochen und plädieren stattdessen für eine friedliche Lösung (VOA 6.12.2023). Die ehemalige Bürgermeisterin von Maidan Shar, Zarifa Ghafari, ist eine der wenigen Politikerinnen, die seit der Machtübernahme temporär nach Kabul zurückgekehrt ist (AA 26.6.2023). Abdul Hakim Sharai, amtierender Justizminister der Taliban, untersagte am 16.8.2023 auf einer Pressekonferenz jegliche politische Betätigung von Parteien im Land. Er sagte, dass die Existenz politischer Parteien im Land weder auf der Scharia basiere, noch für die Nation von Vorteil sei (BAMF 31.12.2023; vgl. TN 16.8.2023).

In Afghanistan gibt es eine Reihe verschiedener Gruppierungen, die sich der Taliban-Herrschaft widersetzen (EUAA 12.2023). Auch wenn diese ähnliche oder identische Ziele verfolgen, findet zwischen diesen Gruppierungen wenig bis gar keine Koordinierung bzw. Zusammenarbeit statt (EUAA 12.2023; vgl. FP 14.12.2023, VOA 28.4.2022). Obwohl das Taliban-Regime international geächtet und für seine frauenfeindliche Politik verurteilt wird, hat bisher kein Land die Unterstützung für einen Krieg gegen die Taliban angeboten und auch die Vereinigten Staaten, die die Taliban 20 Jahre lang bekämpft haben, haben davon abgesehen, die Anti-Taliban-Aufständischen zu unterstützen. Die Taliban haben den bewaffneten Aufstand heruntergespielt (VOA 6.12.2023) und auch internationale Experten gehen nicht davon aus, dass die bewaffneten Gruppen, die in Afghanistan aktiv sind und gegen die Taliban kämpfen, eine tatsächliche Gefahr für das Regime darstellen (EUAA 12.2023; vgl. AA 26.6.2023, UNGA 1.12.2023). Ein Experte gab an, dass die Aufständischen zumindest in naher Zukunft nicht über genügend Kräfte verfügen, um die Taliban zu stürzen, aber sie scheinen das islamistische Regime vor politische und ordnungspolitische Herausforderungen zu stellen. Auch haben viele Länder, obwohl sie keine der Kriegsparteien in Afghanistan unterstützen, die Anführer der aufständischen Anti-Taliban-Gruppen und andere afghanische Politiker, die gegen die Taliban sind, eingeladen. Die Taliban haben öffentlich ihre Frustration gegenüber Ländern geäußert, die ihre Gegner empfangen, während die meisten Taliban-Führer aufgrund von Sanktionen der Vereinten Nationen nicht reisen können (VOA 6.12.2023).

Im Jahr 2023 ging die Zahl der Angriffe der bewaffneten Opposition und der bewaffneten Zusammenstöße mit den Taliban-Behörden im Vergleich zum Vorjahr zurück (UNGA 1.12.2023; vgl. UNGA 20.6.2023). UNAMA verzeichnete Angriffe, zu denen sich die drei wichtigsten in Afghanistan tätigen bewaffneten Widerstandsgruppen bekannten. Die National Resistance Front (NRF), die Afghanistan Freedom Front (AFF) und das Afghanistan Liberation Movement (ALM) übernahmen die Verantwortung für Angriffe in acht Provinzen. Die Sicherheitskräfte, die dem Taliban-Verteidigungsministerium unterstehen, führten weiterhin Operationen gegen Oppositionskämpfer durch (UNGA 20.6.2023).

In den ersten drei Monaten des Jahres 2023 operierten die vorgenannten Gruppen in den Provinzen Badakhshan, Balkh, Helmand, Jawzjan, Kabul, Kandahar, Kapisa, Nangarhar, Nuristan, Parwan, Samangan und Takhar. Bis September führten sie Operationen in fünf weiteren Provinzen durch (Baghlan, Ghazni, Kunduz, Laghman und Paktika). Die Zahl der Angriffe stieg von 23 (Jänner-März) auf 57 (Juni-August). Obwohl die militärischen Fähigkeiten dieser Gruppen insgesamt unklar sind, haben die Taliban immer wieder signalisiert, dass sie die von ihnen ausgehende Bedrohung ernst nehmen, indem sie eine große Zahl von Truppen und Militärführern in den nördlichen Provinzen stationiert haben (ACAPS 1.10.2023).

Die AFF war im dritten Quartal 2023 die aktivste Gruppe, auch wenn ihre Angriffe weiterhin von geringem Umfang waren, während die NRF deutlich weniger aktiv war als 2022 und in ihrer traditionellen Hochburg Panjsher keine Angriffe verübte (UNGA 1.12.2023).

National Resistance Front (NRF)

Letzte Änderung 2024-04-05 15:37

Im Panjsher-Tal, rund 145 km von Kabul entfernt (DIP 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 die National Resistance Front (NRF) (AA 26.6.2023; vgl. LWJ 6.9.2021, ANI 6.9.2021). Die Gruppierung wird von Ahmed Massoud angeführt (REU 29.9.2023; vgl. Afintl 20.2.2024).

Die NRF besteht Berichten zufolge aus Zivilisten, ehemaligen ANDSF-Mitarbeitern (SIGAR 30.4.2022; vgl. RFE/RL 13.5.2022) und ehemaligen Mitgliedern der Regierung sowie politischen Opposition (UNGA 28.1.2022). Die meisten Mitglieder der Gruppe sind ethnische Tadschiken (RFE/RL 19.5.2022; vgl. AJ 17.10.2022). Die NRF besteht auch aus mehreren regionalen Einheiten, deren Kommandeure loyal zu Massoud sind (VOA 28.4.2022; vgl. REU 30.11.2022). Unter den Kämpfern sind auch Einheiten der ehemaligen afghanischen Armee (BBC 16.5.2022; vgl. BAMF 10.2022).

Im Jahr 2022 berichteten Medien von mehreren Angriffen, die vor allem auf Kontrollpunkte und Außenposten der Taliban abzielten und der NRF zugeschrieben wurden (NYT 4.3.2022), wobei von verstärkten Kämpfen im Jänner/Februar (ACLED/APW 4.2022; vgl. 8am 25.5.2022, 8am 17.1.2022) sowie im Mai 2022 berichtet wurde (RFE/RL 19.5.2022; vgl. 8am 5.5.2022). Aus dem Panjsher-Tal wurde berichtet, dass Angriffe auf Taliban-Stellungen regelmäßig stattfanden und Dutzende von Menschen, sowohl Taliban-Kämpfer (VOA 14.9.2022; vgl. Telegraph 12.5.2022) als auch Mitglieder der Widerstandsbewegung, getötet worden waren (VOA 14.9.2022; vgl. AMU 14.9.2022, AN 18.10.2022). Auch in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 gingen die Kämpfe zwischen NRF und den Taliban weiter. Zusammenstöße gibt es in den Provinzen Panjsher (Afintl 15.8.2022; vgl. AJ 14.9.2022, 8am 13.10.2022, AMU 13.12.2022), Takhar (8am 14.8.2022; vgl. AaNe 21.8.2022, 8am 23.10.2022), Baghlan (8am 17.8.2022; vgl. KP 21.8.2022, Afintl 12.12.2022), Khost (8am 13.8.2022), Kapisa (AaNe 24.8.2022; vgl. 8am 21.11.2022) und Badakhshan (Afintl 11.10.2022a; vgl. AMU 13.12.2022, Afintl 26.12.2022).

Auch wenn die Angriffe der NRF im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr abnahmen (UNGA 20.6.2023; vgl. UNGA 1.12.2023), kam es weiterhin zu Zusammenstößen mit den Taliban. So kam es nach Angaben der NRF zu Kämpfen beispielsweise in Baghlan (Afintl 18.7.2023; vgl. KaN 18.7.2023), Kabul (Afintl 5.8.2023), Badakhshan (KaN 8.8.2023; vgl. Afintl 8.8.2023a), Parwan, Kapisa und Nuristan (KaN 8.8.2023). Im November 2023 haben die NRF und die AFF, nach eigenen Erklärungen auf X, mindestens 50 Talibankämpfer getötet (VOA 6.12.2023).

Weitere Widerstandsbewegungen

Letzte Änderung 2024-04-04 08:22

Afghanistan Freedom Front (AFF)

Die AFF erklärte ihre Gründung am 11.3.2022 (SIGA 7.4.2022; vgl. VOA 28.4.2022). Zwar gab die Gruppierung ihre Führungspersönlichkeiten nicht offiziell bekannt, jedoch wird vermutet, dass General Yasin Zia, ein ehemaliger Verteidigungsminister und Generalstabschef, zu den Anführern der Gruppe gehört (VOA 28.4.2022). Eigenen Angaben zufolge zählt die AFF "Tausende Kämpfer" und ist "in allen 34 Provinzen Afghanistans aktiv", wobei diese Behauptungen nicht durch andere Quellen belegt werden können. Die Gruppe veröffentliche regelmäßig Videos von Anschlägen, die sie für sich reklamiert, unter anderem in den Provinzen Kapisa, Parwan, Takhar, Baghlan, Sar-e Pul, Badakhshan und Kandahar, wobei auch hier eine unabhängige Überprüfung dieser Behauptungen schwierig ist (SIGA 7.4.2022). Die AFF scheint aus einzelnen Milizen zu bestehen, die sich zu der Front zusammengeschlossen haben (BAMF 10.2022). So wurden im August 2022 Videos von drei Gruppen in den Provinzen Farah (BAMF 10.2022; vgl. 8am 20.8.2022), Ghor und Faryab gepostet, die ihren Kampf gegen die Taliban als Teil der AFF ankündigten (BAMF 10.2022). Ein Angriff der AFF auf eine Polizeistation in Takhar am 23.3.2022 wurde von den Taliban bestätigt (SIGA 7.4.2022).

Die AFF verübte im August 2023 nach eigenen Angaben einen Angriff auf einen Taliban-Stützpunkt in Parwan, bei dem fünf Taliban-Mitglieder getötet und drei weitere verletzt wurden (KaN 15.8.2023; vgl. Afintl 15.8.2023). Berichten zufolge wurden bei einem Angriff der AFF in Laghman am 3.9.2023 zwei Taliban getötet und vier weitere verletzt (KaN 3.9.2023). Darauf erfolgte ein Gegenangriff der Taliban gegen die AFF in verschiedenen Regionen des Distriktes Dawlat Shah in Laghman (Afintl 31.8.2023). Im November haben die NRF und die AFF, nach eigenen Erklärungen auf X [Anm.: ehemals Twitter], mindestens 50 Talibankämpfer getötet (VOA 6.12.2023).

Afghanistan Liberation Movement (ALM)

Das Afghanistan Liberation Movement (auch Afghanistan Islamic National and Liberation Movement) (ALM) (CT 28.2.2024) gab seine Gründung Mitte Februar 2022 bekannt. Es wird angenommen, dass es die bislang einzige Anti-Taliban-Bewegung ist, die zum größten Teil aus Paschtunen besteht. Sie wird von Abdul Matin Suleimankhel angeführt, einem Kommandeur der ehemaligen ANA Special Operations Corps (SIGA 7.4.2022; vgl. VOA 14.9.2022). Mitte März 2022 gab die Gruppierung an, dass sie über "Tausende Kämpfer" in mehr als zwei Dutzend Provinzen verfügen würde, wobei sich ihre Aktivitäten offenbar hauptsächlich auf die von Paschtunen bewohnten südlichen und östlichen Teile des Landes konzentrieren (Helmand, Kandahar, Paktika und Nangarhar) (SIGA 7.4.2022). Experten zufolge sind die Kapazitäten und Fertigkeiten der Gruppe begrenzter als von ihr behauptet (SIGA 7.4.2022; vgl. VOA 28.4.2022). Die Gruppierung beansprucht verschiedene Angriffe auf die Taliban in den Jahren 2022 (SIGA 7.4.2022) und 2023 für sich (UNGA 20.6.2023; vgl. ACAPS 1.10.2023).

Weitere Gruppierungen

Zu den anderen Widerstandsgruppen, die ihre Präsenz angekündigt haben, gehören die Turkestan Freedom Tigers, die Berichten zufolge am 7.2.2022 einen kleinen Angriff auf einen Kontrollpunkt der Taliban in der Nähe der Stadt Sheberghan (Provinz Jawzjan) verübt haben (ISW 13.1.2023), der National Resistance Council (dem angeblich eine Reihe prominenter Anti-Taliban-Persönlichkeiten aus dem Exil wie Ata Mohammad Noor und Abdul Rashid Dostum angehören), die Liberation Front of Afghanistan, die Unknown Soldiers of Hazaristan, die angeblich aus Hazara bestehende Freedom and Democracy Front und eine Gruppe namens Freedom Corps (angeblich in Teilen der Provinz Takhar aktiv) (SIGA 7.4.2022; vgl. VOA 28.4.2022). Über die Führung und die Fähigkeiten dieser Gruppen ist wenig bekannt (VOA 28.4.2022). Im Dritten Quartal 2023 gaben vier weitere Widerstandsgruppen ihre Existenz bekannt - die Afghanistan National Guard Front, die National Mobilization Front, die National Battle Front und die Afghanistan United Front - wobei sich die beiden letztgenannten Gruppen, mit Stand November 2023, zu keinen Anschlägen bekannten (UNGA 1.12.2023).

Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Letzte Änderung 2024-04-05 15:37

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh) bzw. Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) in Afghanistan gehen auf die Jahre 2014/2015 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015, MEE 27.8.2021). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP), wobei "Khorasan" die historische Bezeichnung einer Region ist, welche Teile des heutigen Iran, Zentralasiens, Afghanistans und Pakistans umfasst (EB 3.1.2023; vgl. MEE 27.8.2021). Zu seinen Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.8.2017).

Während die Taliban bereits in der Vergangenheit behaupteten, sie hätten den Aufstand des ISKP im Land unter Kontrolle gebracht und fast besiegt (AOV 20.3.2022; vgl. ICCT 30.1.2024), sehen externe Beobachter hingegen diesen häufig auf dem Vormarsch (ICCT 30.1.2024). So bewerten die Vereinten Nationen und das United States Institute of Peace den ISKP aktuell als die schwerwiegendste terroristische Bedrohung in Afghanistan und der gesamten Region (UNSC 25.7.2023; vgl. USIP 7.6.2023, VOA 6.12.2023). Der ISKP hat schätzungsweise 4.000 bis 6.000 Mitglieder, einschließlich Familienangehörige. Sanaullah Ghafari (alias Shahab al-Muhajir) wird als der Anführer des ISKP angesehen (UNSC 25.7.2023), jedoch wurde im Juni 2023 berichtet, dass Ghafari in Afghanistan getötet worden ist (VOA 9.6.2023; vgl. UNSC 25.7.2023).

Das "Kerngebiet" des ISKP bleibt Afghanistan und Pakistan. Obwohl der ISKP zunächst als ein von Pakistan dominiertes Netzwerk auftrat, konzentrierte es sich bald auf Afghanistan. Dort hat es seine Strategie von der Kontrolle des Territoriums auf die Führung eines urbanen Krieges umgestellt. Es stellte eine ernsthafte Sicherheitsbedrohung für die frühere afghanische Regierung dar und versucht nun, die Regierungsbemühungen der Taliban zu stören (USIP 7.6.2023). Die Kernzellen des ISKP in Afghanistan befinden sich vor allem in den östlichen Provinzen Kunar, Nangarhar und Nuristan in Afghanistan, wobei eine große Zelle in Kabul und Umgebung aktiv ist. Kleinere Gruppen wurden in den nördlichen und nordöstlichen Provinzen Badakhshan, Faryab, Jawzjan, Kunduz, Takhar und Balkh entdeckt. Da Balkh eine der wirtschaftlich am weitesten entwickelten Provinzen im Norden ist, ist sie für den ISKP nach wie vor von vorrangigem Interesse in Hinblick auf die Erzielung von Einnahmen (UNSC 13.2.2023).

Die Gruppe geht bei ihren Anschlägen gegen die Taliban und internationale Ziele immer raffinierter vor und konzentriert sich auf die Durchführung einer Strategie mit öffentlichkeitswirksamen Anschlägen, um die Fähigkeit der Taliban zur Gewährleistung der Sicherheit zu untergraben. Insgesamt zeigten die Angriffe des ISKP starke operative Fähigkeiten in den Bereichen Aufklärung, Koordination, Kommunikation, Planung und Ausführung. Darüber hinaus haben die Anschläge gegen hochrangige Taliban-Persönlichkeiten in den Provinzen Balkh, Badakhshan und Baghlan die Moral des ISKP gestärkt und die Rekrutierung gefördert (UNSC 25.7.2023). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara (UNGA 1.12.2023; vgl. HRW 12.1.2023, UNGA 18.9.2023).

Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die Angriffe des ISKP seit der Machtübernahme der Taliban folgend:

19.8.2021 - 31.12.2021: 152 Angriffe in 16 Provinzen (20 Angriffe in 5 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 28.1.2022)

1.1.2022 - 21.5.2022: 82 Angriffe in 11 Provinzen (192 Angriffe in 6 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 15.6.2022)

22.5.2022 - 16.8.2022: 48 Angriffe in 11 Provinzen (113 Angriffe in 8 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 14.9.2022)

17.8.2022 - 13.11.2022: 30 Angriffe in 6 Provinzen (121 Angriffe in 14 Provinzen im Jahr davor (UNGA 7.12.2022)

14.11.2022 - 31.1.2023: 16 Angriffe in 4 Provinzen (53 Angriffe in 6 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 27.2.2023)

1.2.2023 - 20.5.2023: 11 Angriffe in 5 Provinzen (62 Angriffe in 12 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 20.6.2023)

21.5.2023 - 31.7.2023: 5 Angriffe in 3 Provinzen (34 Angriffe in 8 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 18.9.2023)

1.8.2023 - 7.11.2023: 8 Angriffe in 3 Provinzen (27 Angriffe in 6 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 1.12.2023)

Seit Mitte 2022 gehen die Angriffe des ISKP zurück (UNGA 7.12.2022), ein Trend, der sich auch im Jahr 2023 fortsetzt (ICCT 30.1.2024; vgl. UNGA 27.2.2023, UNGA 20.6.2023, UNGA 18.9.2023, UNGA 1.12.2023). Im April und Mai 2023 gab es keinen einzigen bestätigten Anschlag. Von Juni bis September konnte der ISKP nur ein oder zwei Anschläge pro Monat verüben, darunter auch Schüsse auf Taliban-Patrouillen. Ab Oktober kam es zu einem bescheidenen Wiederaufschwung, aber selbst dann gab es nur vier bestätigte Anschläge in diesem Monat, darunter zwei mit Sprengstoff (ICCT 30.1.2024).

Ein Bericht verweist im Zusammenhang mit den abnehmenden Aktivitäten des ISKP einerseits auf erfolgreiche Razzien der Taliban gegen die Gruppierung (ICCT 30.1.2024; vgl. UNSC 29.1.2024) und andererseits auf fehlende finanzielle Mittel (ICCT 30.1.2024).

Beispiele für Angriffe des ISKP seit der Machtübernahme der Taliban

Der ISKP bekannte sich zu Selbstmordanschlägen auf eine sunnitische Moschee in Kabul am 3.10.2021 (UNGA 28.1.2022; vgl, REU 4.10.2021) und auf zwei schiitische Moscheen in den Städten Kunduz am 8.10.2021 (UNGA 28.1.2022; vgl. TN 9.10.2021) und Kandahar am 15.10.2021 (UNGA 28.1.2022; vgl. KP 16.10.2021) sowie zu einem Anschlag auf ein Militärkrankenhaus in Kabul am 2.11.2021 (UNGA 28.1.2022; vgl. 8am 3.11.2021).

Im April 2022 führte der ISKP Anschläge in einem Erholungsgebiet in Herat (UNGA 15.6.2022), auf eine schiitische Moschee in Mazar-e Sharif (UNGA 15.6.2022; vgl. DW 21.4.2022) sowie auf eine Madrassa in Kunduz durch (UNGA 15.6.2022; vgl. PAN 23.4.2022). Außerdem gab es Angriffe auf zwei Kleinbusse in Mazar-e Sharif (UNGA 15.6.2022; vgl. AJ 28.4.2022) und auf einen Kleinbus in Kabul (UNGA 15.6.2022; vgl. FR24 1.5.2022).

Am 22.5.2022 kam es zu Anschlägen auf eine Zeremonie zum Jahrestag des Todes von Mullah Akhtar Mohammad Mansour in Kabul und am 25.5.2022 auf drei Kleinbusse in Mazar-e Sharif (UNGA 14.9.2022; vgl. AJ 25.5.2022). Am 18.6.2022 griff der ISKP einen Sikh-Tempel in Kabul an (UNGA 14.9.2022; vgl. TN 18.6.2022) und am 4.7.2022 einen Bus mit Taliban-Sicherheitskräften in Herat (UNGA 14.9.2022; vgl. Afintl 5.7.2022).

Im August kam es zu einer Reihe von Angriffen durch den ISKP in Kabul. Am 8.8.2022 beispielsweise wurden bei einem Bombenanschlag auf eine schiitische Moschee in Kabul mindestens acht Menschen getötet (VOA 5.8.2022; vgl. REU 5.8.2022). In der Vorwoche führten die Sicherheitskräfte der Taliban eine Razzia gegen eine ISKP-Zelle in der afghanischen Hauptstadt durch, bei der sie vier Kämpfer töteten und einen weiteren bei dem anschließenden Feuergefecht gefangen nahmen. Die Taliban sagten in einer Erklärung nach der Razzia, dass der ISKP "Anschläge auf unsere schiitischen Landsleute während der laufenden Muharram-Rituale" geplant hatten (VOA 5.8.2022). Am 11.8.2022 wurde ein prominenter afghanischer Geistlicher bei einem Selbstmordanschlag durch den ISKP getötet (BBC 11.8.2022; vgl. VOA 11.8.2022). Am 18.8.2022 kam es zu einem weiteren Anschlag auf eine Moschee in Kabul, bei dem mindestens 21 Personen getötet und 33 verletzt wurden. Auch hier war ein prominenter afghanischer Geistlicher unter den Opfern (AP 18.8.2022; vgl. BBC 18.8.2022).

Des Weiteren beansprucht der ISKP einen Selbstmordanschlag auf die russische Botschaft in Kabul am 5.9.2022 für sich (UNGA 7.12.2022; vgl. KP 6.9.2022). Zu Angriffen auf Sicherheitskräfte der Taliban, bei denen auch Zivilisten getötet wurden, kam es am 10.10.2022 in Laghman (UNGA 7.12.2022; vgl. Afintl 11.10.2022b) und am 27.10.2022 in Herat (UNGA 7.12.2022; vgl. 8am 27.10.2022).

Am 22.10.2022 haben die Taliban eine Zelle des ISKP in Kabul ausgehoben, dabei gab es mehrere Explosionen und Schusswechsel. Sechs Mitglieder des ISKP wurden dabei getötet. Nach Angaben der Taliban waren sie in die Anschläge auf die Wazir Akbar Khan Moschee und die Bildungseinrichtung im September beteiligt (REU 22.10.2022; vgl. VOA 22.10.2022).

Bei einer Explosion außerhalb des Militärflughafens von Kabul wurden am 1.1.2023 mehrere Menschen getötet oder verletzt (REU 1.1.2023; vgl. RFE/RL 1.1.2023). Nach Angaben der Taliban war für den Angriff der ISKP verantwortlich. Am 5.1.2023 kam es zu Razzien in Kabul und Nimroz, die gegen die Verantwortlichen der Attacke gerichtet waren. Acht ISKP-Mitglieder wurden getötet und neun weitere verhaftet (AP 5.1.2023; vgl. AJ 5.1.2023).

Nach Angaben der Taliban-Behörden wurden bei einem Selbstmordanschlag vor dem Außenministerium am 27.3.2023 in Kabul mindestens sechs Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt (VOA 27.3.2023; vgl. AJ 27.3.2023). Der ISKP bekannte sich zu dem Anschlag (VOA 27.3.2023). Am 13.10.2023 kam es zu einer Explosion zum Freitagsgebet in der schiitischen Imam Zaman Moschee in der Hauptstadt Pul-e Khumri in Baghlan (Afintl 13.10.2023; vgl. RFE/RL 14.10.2023). Berichten zufolge sollen bis zu 30 Personen getötet worden sein (BAMF 31.12.2023). Der Islamische Staat bekannte sich zu der Tat (BAMF 31.12.2023; vgl. RFE/RL 14.10.2023).

Am 26.10.2023 kam es zu einem Bombenanschlag auf einen Sportklub im vornehmlich von Hazara besiedelten Distrikt Dasht-e Barchi. Dabei sollen mehrere Personen getötet und verletzt worden sein. Der Islamische Staate bekannte sich zu der Tat (FR24 27.10.2023; vgl. VOA 28.10.2023, UNGA 1.12.2023).

Al-Qaida und weitere bewaffnete Gruppierungen

Letzte Änderung 2024-04-05 15:33

Al-Qaida

Es gibt Berichte über Spannungen zwischen Taliban und hochrangigen al-Qaida-Mitgliedern, die sich über Kontrollversuche ärgern, aber die Beziehungen sind nach wie vor eng (UNSC 29.1.2024), wobei al-Qaida das von den Taliban verwaltete Afghanistan als sicheren Hafen betrachtet. Al-Qaida ist nach wie vor bestrebt, ihre Position in Afghanistan zu stärken, und interagiert mit den Taliban, indem sie das Regime unterstützt und hochrangige Taliban-Persönlichkeiten schützt (UNSC 1.6.2023b). Am 1.8.2022 gab der US-Präsident bekannt, dass der Anführer von al-Qaida, Ayman Mohammed Rabie al-Zawahiri, bei einem Drohnenangriff in der Innenstadt von Kabul getötet wurde (BBC 2.8.2022; vgl. VOA 2.8.2022). Berichten zufolge befindet sich der neue de facto Anführer von al-Qaida, Saif al-Adel mit Stand Februar 2024 in Iran (IRINTL 8.3.2024; vgl. KP 27.2.2024). Die Taliban-Führung gab an, sie habe keine Informationen darüber, dass al-Zawahiri nach Kabul gezogen sei und sich dort aufgehalten habe, während er sich nach Angaben von US-Beamten in einer Wohnung von Sirajuddin Haqqani [Anm.: dem Innenminister der Taliban-Übergangsregierung] aufhielt (FR24 4.8.2022; vgl. Guardian 5.8.2022).

Die Zahl der al-Qaida-Kernmitglieder in Afghanistan blieb mit 30 bis 60 stabil, wobei es sich hauptsächlich um hochrangige Persönlichkeiten in Kabul, Kandahar, Helmand und Kunar handelte. Die Anzahl der Kämpfer (ca. 400), deren Familienmitglieder und Unterstützer werden auf ca. 2.000 geschätzt, die im Süden (Provinzen Helmand, Zabul und Kandahar), im Zentrum (Ghazni, Kabul und Parwan) und im Osten (Kunar, Nangarhar und Nuristan) Afghanistans operieren (UNSC 1.6.2023b).

Berichten zufolge hält sich "al-Qaeda in the Indian Subcontinent" (AQIS), eine der Kernorganisation von al-Qaida untergeordnete Organisation, auch innerhalb Afghanistans auf (UNSC 26.5.2022), wobei die Anzahl ihrer Kämpfer auf ca. 180 bis 400 geschätzt wird (UNSC 1.6.2023a; vgl. CRS 19.4.2022), die in den Provinzen Kandahar, Nimroz, Farah, Helmand und Herat stationiert sein sollen. Ihr Anführer Osama Mahmood und sein Stellvertreter Atif Yahya Ghouri sollen sich beide in Afghanistan aufhalten (UNSC 1.6.2023a). Einem Report des UN-Sicherheitsrates zufolge unterstützt AQIS die Tehreek-e Taliban Pakistan (TTP) bei Operationen und arbeitet an der Verbesserung von deren Fähigkeiten (UNSC 29.1.2024).

Laut einem Bericht des UN-Sicherheitsrates vom Jänner 2024 hat al-Qaida in Afghanistan bis zu acht neue Ausbildungslager eingerichtet, darunter vier in den Provinzen Ghazni, Laghman, Parwan und Uruzgan, sowie einen neuen Stützpunkt zur Lagerung von Waffen im Panjsher-Tal. Einige Lager könnten vorübergehend sein. Fünf al-Qaida-Madrasas operieren dem Bericht zufolge in den Provinzen Laghman, Kunar, Nangarhar, Nuristan und Parwan; die Gruppe unterhält sichere Unterkünfte in den Provinzen Herat, Farah und Helmand, um den Verkehr zwischen Afghanistan und der Islamischen Republik Iran zu erleichtern, sowie weitere sichere Unterkünfte in Kabul (UNSC 29.1.2024).

Tehreek-e Taliban Pakistan (TTP)

Die TTP, auch bekannt als pakistanische Taliban, ist eine militante Gruppe, deren Ziele sich gegen die pakistanische Regierung richten. Sie hat sich jedoch auch in der Vergangenheit mit den afghanischen Taliban an Operationen gegen die afghanische Regierung in Afghanistan beteiligt (CRS 19.4.2022) und wird einem Bericht des UN-Sicherheitsrates vom Jänner 2024 zufolge von al-Qaida unterstützt (UNSC 29.1.2024). Die Vereinten Nationen schätzten im Mai 2022, dass die Gruppe über 3.000 bis 4.000 bewaffnete Kämpfer in den afghanisch-pakistanischen Grenzgebieten verfügt (UNSC 1.6.2023a), während ein unabhängiger afghanischer Analyst im Jahr 2022 schätzte, dass die TTP rund 10.000 Mitglieder in Afghanistan hat (EUAA 8.2022). Die Gruppe operiert von Stützpunkten in Afghanistan aus (UNSC 29.1.2024) und ist vor allem in den östlichen Provinzen Nangarhar, Kunar, Logar, Paktika, Paktia und Khost stationiert, wobei ihre Anführer, Mufti Noor Wali Mehsud, und sein Stellvertreter, Qari Amjad Ali, nach Informationen der Vereinten Nationen vom Juni 2023 in den Provinzen Paktika bzw. Kunar aufhältig sind (UNSC 1.6.2023a). TTP ist zunehmend in Pakistan präsent; im Jahr 2021 eskalierte sie ihre Angriffe gegen pakistanische Sicherheitskräfte und chinesische Einrichtungen in Pakistan. Nach der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan erneuerte der TTP-Führer Noor Wali Mehsud öffentlich sein Treuegelöbnis gegenüber dem obersten Führer der afghanischen Taliban. Darüber hinaus signalisierte al-Qaida, dass sie weiterhin mit der TTP zusammenarbeitet (CRS 19.4.2022). Nach dem Treuegelöbnis der Gruppe konnte man nach Angaben eines unabhängigen afghanischen Analysten beobachten, dass sich die TTP-Mitglieder in den afghanischen Großstädten "frei bewegen" konnten, im Gegensatz zur Situation vor der Machtübernahme, als die TTP Zufluchtsorte in abgelegenen Gebieten hatte (EUAA 8.2022). Auch ein weiterer Experte stellte fest, dass die Rückkehr der afghanischen Taliban die Macht die Gruppierung gestärkt hat. Nachdem die afghanischen Taliban Hunderte von TTP-Mitgliedern aus den Gefängnissen in Kabul freigelassen hatten (CEIP 21.12.2021), startete die TTP zahlreiche Anschläge und Operationen in Pakistan (UNSC 26.5.2022). Mitte Februar 2022 griff das pakistanische Militär mit Artillerie TTP-Stellungen in den Distrikten Naray und Sarkano (Provinz Kunar) an, nachdem TTP-Mitglieder pakistanische Grenzposten angegriffen hatten. Nach den pakistanischen Angriffen schickte die Taliban-Regierung Berichten zufolge Verstärkung in das Gebiet (ISW 13.1.2023). Anfang Juni 2022 kündigte die TTP nach geheimen Gesprächen zwischen TTP- und pakistanischen Militärvertretern einen Waffenstillstand mit Pakistan für die Dauer von drei Monaten an. Diese Gespräche waren von den afghanischen Taliban vermittelt worden (USIP 21.6.2022). Neben der Lieferung von Waffen und Ausrüstung unterstützten Taliban-Kader, al-Qaida und AQIS-Kämpfer die TTP-Kräfte bei grenzüberschreitenden Angriffen. Obwohl die Taliban die TTP-Kämpfer angewiesen haben, sich nicht an Operationen außerhalb Afghanistans zu beteiligen, haben viele von ihnen dies ohne erkennbare Folgen getan. Einige Taliban-Mitglieder schlossen sich auch der TTP an, da sie sich aus religiösen Gründen verpflichtet sahen, diese zu unterstützen (UNSC 29.1.2024).

Eastern (oder East) Turkistan Islamic Movement (ETIM)

Das Eastern Turkistan Islamic Movement (ETIM), auch bekannt als "Turkistan Islamic Party" (TIP), strebt die Schaffung eines unabhängigen islamischen Staates für die turksprachigen Uiguren an, die im Westen Chinas leben (CRS 19.4.2022). Laut einem Bericht der Vereinten Nationen ist die ETIM weiterhin in Afghanistan aktiv und die Schätzungen zur Größe der Gruppe reichen von 300 bis zu 1.200 Mitgliedern (UNSC 1.6.2023a). Nach der Machtübernahme durch die Taliban wurden Berichten zufolge einige ETIM-Mitglieder aus der Provinz Badakhshan in Provinzen verlegt, die weiter von der chinesischen Grenze entfernt sind (UNSC 26.5.2022; vgl. RFE/RL 5.10.2021), unter anderem in die Provinz Nangarhar (RFE/RL 5.10.2021), als Teil der Versuche der Taliban, einerseits die Gruppe zu schützen und andererseits ihre Aktivitäten einzuschränken (UNSC 26.5.2022). Im Jahr 2023 wird berichtet, dass die ETIM weiterhin Waffen erwirbt und neue Stützpunkte in Afghanistan errichtet. Einige ETIM-Mitglieder sollen im Jahr 2022 afghanische Pässe und Tazkira erhalten haben, die ihnen die Infiltration in Nachbarländer ermöglichen. Die Gruppe hat ihren Aktionsradius aktiv ausgeweitet und in der Provinz Baghlan Operationsbasen und Waffenlager errichtet, während sie in den Provinzen Badakhshan, Takhar, Kunduz, Baghlan, Logar und Sar-e Pul weiterhin präsent bleibt. ETIM-Kämpfer unterstützen die Taliban im Kampf gegen Anti-Taliban-Elemente (UNSC 1.6.2023a).

Nach dem Umzug aus der Provinz Badakhshan hat die ETIM/TIP nun ihren Hauptsitz in der Provinz Baghlan und verfügt über operative Netzwerke, die sich auf mehrere Provinzen erstrecken. Die Gruppe konzentriert sich auf die Ausbildung von Jugendlichen in Reservekräften und verstärkt die Rekrutierung und Ausbildung von Frauen. Es wird über Zusammenarbeit der Gruppierung mit der TTP sowie al-Qaida berichtet und einige Mitglieder sollen zum ISKP übergelaufen sein (UNSC 29.1.2024).

Jamaat Ansarullah (JA)

Jamaat Ansarullah ist eine Gruppe, die eng mit al-Qaida verbunden ist und eine symbiotische Beziehung zu den Taliban unterhält. Sie kämpfte an der Seite von deren Spezialeinheiten in zahlreichen Offensiven gegen die Nationale Widerstandsfront, unter anderem im Oktober 2022 in der Provinz Badakhshan. Die Gruppe verfügt über etwa 100 bis 250 Kämpfer, die sich hauptsächlich in den Provinzen Badakhshan, Kunduz und Takhar aufhalten und unter dem Kommando ihres neuen Anführers Asliddin Khairiddinovich Davlatov (alias Mawlawi Ibrahim) stehen. Die Taliban setzten JA-Kämpfer in Badakhshan ein, die von Mohammad Sharifov (alias Mahdi Arsalon), einem tadschikischen Staatsangehörigen, angeführt werden. Es wurde berichtet, dass dieser im September 2022 in Kabul getötet wurde und dass die Taliban dem Anführer der JA und 30 ihrer Kämpfer afghanische Pässe ausgestellt hätten (UNSC 26.5.2022). Der UN-Sicherheitsrat berichtet im Jänner 2024, dass die Finanzierung der Jamaat Ansarullah von den Taliban und al-Qaida stammt. JA-Kämpfer sind die Haupttruppe von Lashkar-e Mansoori, dem Taliban-Spezialbataillon der Selbstmordattentäter. Kürzlich sollen sich mehrere JA-Befehlshaber in den Provinzen Nangarhar und Kunar den Reihen des ISKP angeschlossen haben (UNSC 29.1.2024).

Weitere Gruppierungen

Das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU) verfügt über 150 bis 550 Kämpfer, die von dem neuen Emir Mamasoli Samatov (alias Abu Ali), einem usbekischen Staatsangehörigen, angeführt werden. Khatiba Imam al-Bukhari hat etwa 80 bis 100 Kämpfer unter der Führung von Dilshod Dekhanov in den Provinzen Badghis, Badakhshan, Faryab und Jawzjan, während die Gruppe Islamischer Dschihad unter der Führung von Ilimbek Mamatov in Badakhshan, Baghlan, Kunduz und Takhar mit etwa 200 bis 250 Mitgliedern vertreten ist. Die Vereinten Nationen bewerteten sowohl Khatiba Imam al-Bukhari als auch die Islamische Dschihad-Gruppe als den Taliban untergeordnet. Die im Juni 2022 gegründeten Tehrik-e-Taliban-Tadschikistan, deren Ziel es ist, die Scharia in Tadschikistan einzuführen und gleichzeitig die säkulare Regierung Tadschikistans zu stürzen, verfügt über rund 140 Kämpfer, die sich aus tadschikischen Staatsangehörigen und afghanischen Tadschiken zusammensetzen und in den nördlichen Provinzen Afghanistans stationiert sind. Die Vereinten Nationen berichten, die Gruppe arbeite unter der JA (UNSC 1.6.2023a).

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung 2024-04-10 20:17

Unter der vorherigen Regierung beruhte die afghanische Rechtsprechung auf drei parallelen und sich überschneidenden Rechtssystemen oder Rechtsquellen: dem formellen Gesetzesrecht, dem Stammesgewohnheitsrecht und der Scharia (Hakimi A./Sadat M. 2020). Informelle Rechtssysteme zur Schlichtung von Streitigkeiten waren weit verbreitet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Dies ist nach wie vor der Fall, auch wenn die Taliban seit ihrer Machtübernahme versucht haben, einige lokale Streitbeilegungspraktiken zu kontrollieren (FH 24.2.2022a; vgl. STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Nach 23 Jahren Krieg (1978-2001) und dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 konnte Afghanistan 2004 eine neue Verfassung verkünden, die sowohl islamische als auch modern-progressive Werte enthält. Die juristischen und politikwissenschaftlichen Fakultäten sowie die Scharia waren zwei Institutionen, die zur Ausbildung des Justizpersonals beitrugen, indem sie Hunderte von jungen Männern und Frauen ausbildeten, die später als Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte tätig waren. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die internationale Gemeinschaft zahlreiche Entwicklungsprogramme durchgeführt, die auf den Wiederaufbau des afghanischen Rechtssystems und den Ausbau der Kapazitäten des Personals der Justizbehörden abzielen. Darüber hinaus hat die [Anm.: frühere] afghanische Regierung ein Justizverwaltungssystem eingeführt, das alle Justizeinrichtungen dazu verpflichtet, ihre Fälle und Verfahren aufzuzeichnen und zu dokumentieren (STDOK/Nassery 4.2024).

Nach ihrem Sturz im Jahr 2001 gelang es den Taliban, in den von ihnen kontrollierten, meisten ländlichen, Gebieten Gerichte einzurichten und den Menschen den Zugang zur Rechtsprechung auf lokaler Ebene zu erleichtern. Dies geschah zu einer Zeit, als die staatlichen Justizorgane aufgrund der weitverbreiteten Korruption ihre Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung weitgehend verloren hatten. Daher zogen die Menschen es vor, sich an die Gerichte der Taliban zu wenden, anstatt an die Gerichte der Regierung (STDOK/Nassery 4.2024; vgl. AA 22.10.2021). In den vergangenen zwanzig Jahren gelang es dem Justizsystem der Taliban, mit seinen praktischen Maßnahmen das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Die Taliban-Richter fungierten sowohl als Richter im juristischen Bereich als auch als Gelehrte (ulama) im religiösen Bereich. Die Taliban-Richter absolvierten ihre Ausbildung an Deobandi-Schulen in Pakistan und Afghanistan, die sich hauptsächlich auf die hanafitische Rechtsprechung stützten (STDOK/Nassery 4.2024).

Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 übernahmen sie die vollständige Kontrolle über das Justizsystem des Landes (Rawadari 4.6.2023; vgl. AA 26.6.2023) und setzten die Verfassung von 2004 außer Kraft (UNGA 28.1.2022). Bisher haben sich die Taliban noch nicht zu den Gesetzen geäußert, insbesondere nicht zu den Strafgesetzen, zur nationalen Sicherheit und zu den Gerichten (STDOK/Nassery 4.2024). Ein Experte für islamisches Recht schließt aus den Äußerungen der Taliban, dass sie diese Gesetze und Rechtsvorschriften in den meisten Bereichen, insbesondere Strafrecht, Familienrecht, Jugend- und Frauenrechte, ignorieren und erwartet, auch als Folge der Auflösung unabhängiger Institutionen wie der Association of Defense Lawyers und der Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC), weitere schwerwiegende Probleme für die Rechtsprechung in Afghanistan (STDOK/Nassery 4.2024).

Den Taliban zufolge bildet die hanafitische Rechtsprechung die Grundlage für das Rechtssystem (USDOS 15.5.2023; vgl. STDOK/Nassery 4.2024), und derzeit verfügt das Land nicht über einen klaren und kohärenten Rechtsrahmen, ein Justizsystem oder Durchsetzungsmechanismen. Den Taliban zufolge bleiben Gesetze, die unter der Regierung vor August 2021 erlassen wurden, in Kraft, sofern sie nicht gegen die Scharia verstoßen (USDOS 15.5.2023; vgl. AA 26.6.2023). Die Taliban-Führer zwingen den Bürgern ihre Politik weitgehend durch Leitlinien oder Empfehlungen auf, in denen sie akzeptable Verhaltensweisen festlegen (USDOS 15.5.2023; vgl. Rawadari 4.6.2023), die sie aufgrund ihrer Auslegung der Scharia und der vorherrschenden kulturellen Normen, die die Taliban für akzeptabel halten, rechtfertigen (USDOS 15.5.2023).

Einem Experten für islamisches Recht zufolge betrafen die Änderungen im afghanischen Justizsystem seit der Machtübernahme der Taliban vor allem formale und administrative Bereiche, aber keine konkreten Änderungen in der Rechtsprechung der Gerichte (STDOK/Nassery 4.2024). So wurden beispielsweise Richter und Verwaltungsangestellte der Gerichte durch Angehörige der Taliban ersetzt, von denen die meisten nicht über ausreichend juristische Kenntnisse und Erfahrungen mit der Arbeit an den Gerichten verfügten (STDOK/Nassery 4.2024; vgl. AA 26.6.2023). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Rawadari sind die meisten Richter und "Muftis" an Taliban-Gerichten Studenten oder Absolventen religiöser Koranschulen, vor allem in Pakistan. Einige der derzeitigen Richter waren während des Krieges als Richter in den von den Taliban kontrollierten Gebieten tätig. Nur wenige Richter, beispielsweise in den Provinzen Herat und Panjsher, verfügen über eine formale Hochschulausbildung und haben an juristischen oder Scharia-Fakultäten von Universitäten studiert (Rawadari 4.6.2023).

Des weiteren kam es zur Absetzung von Richterinnen und Anwältinnen und es werden keine Lizenzen mehr an Strafverteidigerinnen vergeben (STDOK/Nassery 4.2024).

Die Taliban haben zwar nicht ausdrücklich behauptet, bestimmte Gesetze außer Kraft zu setzen, aber sie haben immer wieder betont, dass sie im Einklang mit der Scharia regieren und jedes Gesetz ablehnen, das ihr zuwiderläuft (USDOS 15.5.2023; vgl. AA 26.6.2023). Taliban-Mitglieder haben erklärt, dass sie nur die Teile der Verfassungen von 2004 und 1964 befolgen, die nicht im Widerspruch zur Scharia stehen. Einige Beobachter weisen auch darauf hin, dass keine der beiden Verfassungen in vollem Umfang in Kraft ist, sodass sie nur begrenzte Bedeutung für den geltenden Rechtsrahmen haben. Diesen Beobachtern zufolge wäre jede Abweichung von der Verfassung von 2004 insofern von Bedeutung, als diese besagt, dass Anhänger anderer Religionen als des Islams "ihren Glauben frei ausüben und ihre religiösen Riten innerhalb der Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen vollziehen können", eine Bestimmung, die die Taliban ablehnen (USDOS 15.5.2023).

Die Taliban haben Anfang Juli 2023 ein Tonband veröffentlicht, das dem Emir Hibatullah Akhundzada zugeschrieben wird, der offenbar eine Predigt nach dem Eid al-Adha-Gebet am Mittwoch in Kandahar gehalten hat. Darin verkündet dieser, dass ein neues Rechtssystem auf der Grundlage der Scharia und Hanafi-Rechtsprechung von den entsprechenden Ministerien und der Talibanführung ausgearbeitet wird. Damit werden die unter der ehemaligen Verfassung geltenden Gesetze, u. a. auch gesonderte schiitische Rechtsprechung, ersetzt. Er erklärte, in Afghanistan gebe es jetzt ein vollständiges islamisches System, die Sicherheit sei gewährleistet, und in keinem Teil des Landes herrsche Unordnung oder Ungehorsam. Die meisten Angelegenheiten des Landes werden nun auf der Grundlage von Richtlinien und Dekreten geregelt, die dem Emir zugeschrieben werden. Er sagte, „unter der Herrschaft des Islamischen Emirats wurden konkrete Maßnahmen ergriffen, um Frauen von vielen traditionellen Unterdrückungen zu befreien“. In der Paschto- und Dari-Fassung der Botschaft begrüßt der oberste Taliban-Führer auch die Einführung von Scharia-Gerichten und -Praktiken, einschließlich Qisas (z. B. Auspeitschungen oder Hinrichtungen), die die Öffentlichkeit mit eigenen Augen sieht (BAMF 31.12.2023).

Im November 2022 ordnete Taliban-Staatsoberhaupt Emir Hibatullah Akhundzada die Umsetzung der Scharia inklusive Körperstrafen wieder an (AA 26.6.2023). Seitdem wurden zahlreiche öffentliche Auspeitschungen vorgenommen (AP 20.6.2023; vgl. AI 23.2.2024, AA 26.6.2023). Diese Strafe wurde u. a. für Drogen- und Alkoholkonsum (AA 26.6.2023) oder für "moralische" Verbrechen verhängt (AMU 12.7.2023; vgl. BAMF 31.12.2023). Am 7.12.2022 kam es zur ersten öffentlichen Hinrichtung durch die Taliban seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan (AI 7.12.2022) und im Juni 2023 (AP 20.6.2023; vgl. AJ 20.6.2023) sowie im Februar 2024 kam es zu weiteren Hinrichtungen (AI 23.2.2024; vgl. ABC News 26.2.2024).

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung 2024-04-04 11:36

Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.8.2022) und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Milizen-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte der Taliban-Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen (AA 26.6.2023; vgl. CPJ 1.3.2022). Dem Taliban-Stabschef der Streitkräfte zufolge bestünde die Armee mit Stand März 2023 aus 150.000 Taliban-Kämpfern und solle kommendes Jahr auf 170.000 vergrößert werden. Angestrebt sei eine 200.000 Mann starke Armee (AA 26.6.2023). Der Geheimdienst (General Directorate for [Anm.: auch "of"] Intelligence, GDI), ein Nachrichtendienst, der früher als "National Directorate of Security" (NDS) bekannt war (CPJ 1.3.2022; vgl. AA 26.6.2023), wurde dem Taliban-Staatsoberhaupt Emir Hibatullah Akhundzada direkt unterstellt. Das Innenministerium der Taliban-Regierung hat wiederholt angekündigt, Polizisten, u. a. im Bereich der Verkehrspolizei, zu übernehmen. Dies ist nach Angaben von UNAMA zumindest in Kabul teilweise erfolgt. Es zeichnet sich ab, dass die Taliban mit Ausnahme der Luftwaffe (hier sollen laut afghanischen Presseangaben fast die Hälfte der ehemaligen Soldaten zurückgekehrt sein) von den bisherigen Kräften nur vereinzelt Fachpersonal übernehmen. Eine breit angelegte Integration der bisherigen Angehörigen der Sicherheitskräfte hat bisher nicht stattgefunden (AA 26.6.2023) und auch ein internationaler Analyst führte an, dass die Zahl der rekrutierten ehemaligen Sicherheitskräfte begrenzt sei und es sich im Allgemeinen um Spezialisten handele (EUAA 12.2023). Experten zufolge sind die Taliban jedoch noch weit davon entfernt, eine funktionierende Luftwaffe zu verwirklichen, die den Luftraum im Falle ausländischer Übergriffe oder inländischer Aufstände sichern könnte. Der Bestand an Hubschraubern und Fluggeräten gilt als veraltet und es gibt zumindest fünf bestätigte Unfälle in der Militärluftfahrt seit der Machtübernahme, wobei Pilotenfehler als wahrscheinlichste Ursache gelten. Nach Ansicht eines Afghanistan-Experten, müssten die Taliban in erheblichem Umfang Piloten ausbilden und Strategien für die Kommunikation und Koordination mit den Bodentruppen entwickeln, um eine funktionsfähige Luftwaffe aufzubauen. Zwar versuchen die Taliban, Piloten auszubilden, veröffentlichen jedoch keine Zahlen über die Anzahl ihrer Piloten und Techniker und auf Grundlage von Fotos und Videos wird mit Stand Mai 2023 von etwa 50 einsatzfähigen Flugzeugen und Hubschraubern ausgegangen (RFE/RL 25.5.2023).

Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung 2024-04-05 15:38

Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen durch die Taliban (AA 26.6.2023, vgl. HRW 11.1.2024). Die Vereinten Nationen berichten über Folter und Misshandlungen von ehemaligen Sicherheitskräften bzw. ehemaligen Regierungsbeamten (UNAMA 22.8.2023; vgl. HRW 11.1.2024). Auch über Gewalt gegen Journalisten und Medienschaffende (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023) sowie gegen Frauenrechtsaktivisten (AA 26.6.2023 vgl. HRW 11.1.2024, AI 7.12.2023) auch in Gefängnissen wird berichtet (AA 26.6.2023; vgl. HRW 11.1.2024). Amnesty International berichtet beispielsweise über kollektive Strafen gegen Bewohner der Provinz Panjsher, darunter Folter und andere Misshandlungen (AI 8.6.2023).

Es gibt Berichte über öffentliche Auspeitschungen durch die Taliban in mehreren Provinzen, darunter Zabul (UNGA 1.12.2023), Maidan Wardak (8am 10.7.2023; vgl. BAMF 31.12.2023), Kabul (ANI 12.7.2023; vgl. AMU 12.7.2023), Kandahar (KaN 17.1.2023; vgl. KP 17.1.2023) und Helmand (KP 2.2.2023; vgl. KaN 2.2.2023). Der oberste Taliban-Führer, Emir Hibatullah Akhundzada, begrüßte die Einführung von Scharia-Gerichten und -Praktiken, einschließlich Qisas (z. B. Auspeitschungen oder Hinrichtungen), die die Öffentlichkeit mit eigenen Augen sieht (BAMF 31.12.2023).

Wehrdienst und Zwangsrekrutierung

Letzte Änderung 2024-04-05 15:38

Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.8.2022) und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Milizen-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte der Taliban-Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen (AA 26.6.2023; vgl. CPJ 1.3.2022). Dem Taliban-Stabschef der Streitkräfte zufolge bestünde die Armee mit Stand März 2023 aus 150.000 Taliban-Kämpfern und solle kommendes Jahr auf 170.000 vergrößert werden. Angestrebt sei eine 200.000 Mann starke Armee (AA 26.6.2023). Eine breit angelegte Integration der bisherigen Angehörigen der Sicherheitskräfte hat bisher nicht stattgefunden (AA 26.6.2023) und auch ein internationaler Analyst führte an, dass die Zahl der rekrutierten ehemaligen Sicherheitskräfte begrenzt sei und es sich im Allgemeinen um Spezialisten handele (EUAA 12.2023).

Ein Afghanistan-Analyst und ein internationaler Journalist gaben in Interviews mit EUAA zwischen Juni und Oktober 2023 an, dass ihnen keine Fälle von Zwangsrekrutierung bekannt wären. Sie beschrieben die Situation als das Gegenteil von Zwangsrekrutierung, da es in einer Wirtschaft ohne andere Beschäftigungsmöglichkeiten sehr beliebt ist, Teil der Taliban-Sicherheitsstruktur zu sein. In diesem Zusammenhang wurde auch auf den Mangel an anderen Beschäftigungsmöglichkeiten hingewiesen und erklärt, dass die Taliban über genügend Männer verfügen und dass viele bereit sind, auf freiwilliger Basis zu dienen, auch ohne Bezahlung (EUAA 12.2023).

Der einzige aktuelle Bericht, der über Zwangsrekrutierung, durch Taliban, ISKP oder andere bewaffnete Gruppen, gefunden wurde, war der Bericht von USDOS über die Menschenrechtslage in Afghanistan, in dem es heißt, dass die gesellschaftliche Diskriminierung von Hazara "in Form von Erpressung von Geld durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung und Zwangsarbeit, körperlicher Misshandlung und Inhaftierung" stattgefunden hat (EUAA 12.2023; vgl. USDOS 20.3.2023). Genau diese Aussage findet sich seit 2010 in jedem Jahresbericht von USDOS über die Menschenrechtslage in Afghanistan (EUAA 12.2023).

Vor ihrer Machtübernahme wurden Kinder durch die Taliban rekrutiert (HRW 20.9.2021), und einige Quellen berichten, dass es auch nach der Machtübernahme zu Zwangsrekrutierungen von Kindern kam (TBP 23.9.2022; vgl. USDOS 15.6.2023). Einem afghanischen Analysten zufolge haben die Taliban eine Kommission gebildet, um Kindersoldaten aus ihren Reihen zu entfernen, und heute vermeiden die Taliban in der Regel die Rekrutierung zu junger Personen, indem sie Kinder ohne Bart ablehnen (EUAA 12.2023). Berichten zufolge hat auch der ISKP Kinder rekrutiert (USDOS 15.6.2023).

Was die Rekrutierung durch den Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) betrifft, so wurden Berichten zufolge die Salafi-Gemeinschaft und Taliban-Fußsoldaten zur Unterstützung der Gruppe aufgerufen (USIP 7.6.2023). Der Afghanistan-Experte Antonio Giustozzi veröffentlichte einen Forschungsartikel, in dem er feststellte, dass zwei wichtige Quellen für die Rekrutierung in Afghanistan die Salafi-Gemeinschaft und Universitätsstudenten waren. In Interviews, die der Autor mit ISKP-Rekrutern in Afghanistan geführt hat, wird die Vorgehensweise des ISKP beschrieben. Hierbei werden "die religiösesten Studenten, die das größte Interesse an religiösen Fragen und insbesondere am Salafismus haben, ausgesucht und ins Visier genommen". Sobald ein Student als Ziel identifiziert ist, wird versucht, seine Handynummer zu bekommen. Dann übernimmt die Abteilung "Medien und Kultur" die Arbeit. Die Aufgabe des Medien- und Kulturteams, das seinen Sitz außerhalb der Universität und sogar in Europa hat, besteht darin, Videos mit Propagandamaterial an potenzielle Rekruten zu senden. Bei einer negativen Reaktion wird der "Eingeladene", den Interviews zufolge, sofort von der Nachrichtenübermittlung abgeschnitten. Ist die Reaktion positiv, werden WhatsApp und andere Social-Media-Apps genutzt. Das Medien- und Kulturteam fügt außerdem gezielte Studenten zu verschiedenen ISKP-Telegram-Konten hinzu, von denen einige für die Aktivitäten des ISKP werben, während andere negative Propaganda gegen die Taliban verbreiten (RUSI/Giustozzi 3.2023). Auch die Vereinten Nationen berichten, dass sich der ISKP auf die Rekrutierung von mehr gebildeten Personen konzentriert, aber Rekrutierungen auch außerhalb der Salafi-Gemeinschaft betreibt (UNSC 1.6.2023b).

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung 2024-04-04 12:42

Die in der Vergangenheit von Afghanistan unterzeichneten oder ratifizierten Menschenrechtsabkommen werden von der Taliban-Regierung, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt anerkannt; es wird ein Islamvorbehalt geltend gemacht, wonach islamisches Recht im Falle einer Normenkollision Vorrang hat (AA 26.6.2023).

Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban die Menschenrechte und Grundfreiheiten der afghanischen Bevölkerung zunehmend und in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt. Insbesondere Frauen und Mädchen wurden in ihren Rechten massiv eingeschränkt und aus den meisten Aspekten des täglichen und öffentlichen Lebens verdrängt (UNICEF 9.8.2022; vgl. AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023).

Die Taliban-Führung hat ihre Anhänger verschiedentlich dazu aufgerufen, die Bevölkerung respektvoll zu behandeln (AA 26.6.2023). Es gibt jedoch Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023, USDOS 20.3.2023, UNGA 1.12.2023), darunter Hausdurchsuchungen (AA 26.6.2023), Willkürakte und Hinrichtungen (AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023). Es kommt zu Gewalt und Diskriminierung gegenüber Journalisten (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.1.2023, AfW 15.8.2023) und Menschenrechtsaktivisten (FH 1.2023; vgl. FIDH 12.8.2022, AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023). Auch von gezielten Tötungen wird berichtet (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023). Menschenrechtsorganisationen berichten auch über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 26.6.2023; vgl. HRW 11.1.2024, AfW 15.8.2023). Weiterhin berichten Menschenrechtsorganisationen von Rache- und Willkürakten im familiären Kontext - also gegenüber Familienmitgliedern oder zwischen Stämmen/Ethnien, bei denen die Täter den Taliban nahestehen oder Taliban sind. Darauf angesprochen, weisen Taliban-Vertreter den Vorwurf systematischer Gewalt zurück und verweisen wiederholt auf Auseinandersetzungen im familiären Umfeld. Eine nachprüfbare Strafverfolgung findet in der Regel nicht statt (AA 26.6.2023). Die NGO Afghan Witness berichtet im Zeitraum vom 15.1.2022 bis Mitte 2023 von 3.329 Menschenrechtsverletzungen, die sich auf Verletzungen des Rechts auf Leben, des Rechts auf Freiheit von Folter, der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Rechte der Frauen und mehr beziehen. Für denselben Zeitraum gibt es auch immer wieder Berichte über die Tötung und Inhaftierung ehemaliger ANDSF-Mitglieder. Hier wurden durch Afghan Witness 112 Fälle von Tötungen und 130 Inhaftierungen registriert, wobei darauf hingewiesen wurde, das angesichts der hohen Zahl von Fällen, in denen Opfer und Täter nicht identifiziert wurden, die tatsächliche Zahl wahrscheinlich höher ist (AfW 15.8.2023).

Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen. Es kam zum Einsatz von scharfer Munition (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.10.2022, Guardian 2.10.2022) und es gibt auch Berichte über Todesopfer bei Protesten (FH 24.2.2022a, AI 15.8.2022).

Afghan Witness konnte zwischen dem ersten und zweiten Jahr der Taliban-Herrschaft einige Unterschiede erkennen. So gingen die Taliban im ersten Jahr nach der Machtübernahme im August 2021 hart gegen Andersdenkende vor und verhafteten Berichten zufolge Frauenrechtsaktivisten, Journalisten und Demonstranten. Im zweiten Jahr wurde hingegen beobachtet, dass sich die Medien und die Opposition im Land aufgrund der Restriktionen der Taliban und der Selbstzensur weitgehend zerstreut haben, obwohl weiterhin über Verhaftungen von Frauenrechtsaktivisten, Bildungsaktivisten und Journalisten berichtet wird. Frauen haben weiterhin gegen die Restriktionen und Erlasse der Taliban protestiert, aber die Proteste fanden größtenteils in geschlossenen Räumen statt - offenbar ein Versuch der Demonstranten, ihre Identität zu verbergen und das Risiko einer Verhaftung oder Gewalt zu verringern. Trotz dieser Drohungen sind Frauen weiterhin auf die Straße gegangen, um gegen wichtige Erlasse zu protestieren (AfW 15.8.2023).

Ethnische Gruppen

Letzte Änderung 2024-03-28 12:04

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 34,3 (NSIA 4.2022) und 38,3 Millionen Menschen (8am 30.3.2022; vgl. CIA 1.2.2024). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 1.2.2024), da die Behörden des Landes nie eine nationale Volkszählung durchgeführt haben. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass keine der ethnischen Gruppen des Landes eine Mehrheit bildet, und die genauen prozentualen Anteile der einzelnen Gruppen an der Gesamtbevölkerung Schätzungen sind und oft stark politisiert werden (MRG 5.1.2022).

Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42 %), Tadschiken (ca. 27 %), Hazara (ca. 9-20 %) und Usbeken (ca. 9 %), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2 %) (AA 26.6.2023).

Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 20.3.2023).

Die Taliban gehören mehrheitlich der Gruppe der Paschtunen an. Seit der Machtübernahme der Taliban werden nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert. So gibt es in der Taliban-Regierung z. B. nur wenige Vertreter der usbekischen und tadschikischen Minderheit sowie lediglich einen Vertreter der Hazara (AA 26.6.2023).

Die Taliban haben wiederholt erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Aber selbst auf lokaler Ebene werden Minderheiten, mit Ausnahmen in ethnisch von Nicht-Paschtunen dominierten Gebieten vor allem im Norden, kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt, da diese v. a. paschtunischen Taliban-Mitgliedern vorbehalten sind. Darüber hinaus lässt sich keine klare, systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die Taliban-Regierung feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren (AA 26.6.2023).

Paschtunen

Letzte Änderung 2024-04-10 20:16

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 42 % der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans (MRG 5.2.2021a; vgl. AA 26.6.2023). Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime und leben hauptsächlich im Süden und Osten des Landes (MRG 5.2.2021a; vgl. Print 21.9.2021). Sie teilen sich in zwei große Gruppen auf - Durrani und Gheljai (auch Ghilzai or Ghilzay) - und in weitere Untergruppen von mehr als hundert kleineren Stämmen. Die Durrani sind vor allem in den südlichen Provinzen des Landes wie Kandahar, Zabul, Helmand, Uruzgan, sowie verstreut in anderen Provinzen verbreitet, während die Gheljai eher in Provinzen wie Paktia, Logar, Khost, Paktika, Maidan Wardak und anderen anzutreffen sind (STDOK/VQ AFGH 4.2024). Traditionell waren die Paschtunen nomadisierende oder halbnomadische Viehzüchter, Ackerbauern und Händler. Seit langer Zeit sind sie in Städten ansässig geworden, wo sie verschiedensten Tätigkeiten nachgehen. Paschtunische Stämme waren stets die militärische Stütze des afghanischen Königshauses und wurden dafür mit einigen Privilegien (Steuervergünstigungen, weitgehende Autonomie in inneren Angelegenheiten u. a.) versehen (STDOK 1.7.2016).

Bei den Paschtunen haben Familienstand, Stammeseinfluss, Besitz und Einfluss einen hohen Stellenwert. Ein hoher Anteil von Männern in paschtunischen Familien gilt als ein Zeichen der Stärke. Aufgrund der bedeutenden Rolle der Familie kann individuelles Fehlverhalten auch der Familie schaden und unschuldige Familienmitglieder zu Opfern machen. Die meisten Paschtunen bevorzugen Ehen mit anderen Paschtunen und sind ggf. mit der Heirat von nahen Verwandten einverstanden. Ehen zwischen Paschtunen und Mitgliedern anderer Ethnien wie Hazara, Usbeken oder Tadschiken sind selten (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Paschtunwali

Letzte Änderung 2024-04-10 20:16

Die Sozialstruktur der Paschtunen basiert auf dem Paschtunwali-Kodex (oder Pukhtunwali-Kodex) (MRG 5.2.2021a; vgl. STDOK/VQ AFGH 4.2024, STDOK 7.2016), der als Verhaltens- und Moralsystem angesehen werden kann. Obwohl die paschtunischen Stämme unterschiedliche Sitten und Gebräuche haben, ist der gemeinsame Nenner all dieser Stämme der Paschtunwali-Kodex, und alle Paschtunen sind verpflichtet, ihn zu befolgen. Paschtunwali umfasst bestimmte Verhaltensgrundsätze, die sich im Laufe der Geschichte herausgebildet haben und die von Generation zu Generation durch Jirgas, Volksversammlungen (Marakas) und traditionelle Erziehung weitergegeben werden (STDOK/VQ AFGH 4.2024). Obwohl es nicht schriftlich niedergelegt oder genau definiert ist, stellt es den Kern der sozialen Verhaltensregeln der Paschtunen dar (STDOK 1.7.2016).

Die Einhaltung der Grundsätze des Paschtunwali sind den Paschtunen sehr wichtig, und jede Missachtung wird mit harten Strafen geahndet. Das Paschtunwali umfasst Verhaltensregeln, in denen Macht, Stolz und Ehre einen besonderen Platz einnehmen, und im Prinzip wird Macht eingesetzt, um Ehre und Stolz zu bewahren. Während die paschtunische Sprache eine hohe Bedeutung hat, sind Dinge wie Alkohol, Glückspiel oder Ehebruch laut Paschtunwali verboten (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Das Paschtunwali umfasst Verhaltensregeln, durch deren Umsetzung die Rechte des Einzelnen in gewisser Weise gesichert werden, z. B. die Achtung des Eigentums anderer, das Verbot der Vergewaltigung, die Bestrafung von Mördern, der Schutz der Dorfbewohner, die finanzielle Hilfe für arme Menschen sowie der Schutz gefährdeter Menschen. Doch gleichzeitig hat ein Teil der bestehenden Gesetze im Rahmen des Paschtunwali negative Auswirkungen und kann die soziale Stabilität bedrohen, wie z. B. Rache, Verbot der Ausbildung von Mädchen, Zwangsehe, Fortbestehen von Feindschaft über lange Zeit und damit einhergehende bewaffnete Auseinandersetzungen (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Obwohl die ehemalige afghanische Regierung in den zwanzig Jahren vor der Machtübernahme der Taliban 2021 zahlreiche Einrichtungen für den Zugang der Menschen zur Justiz und zu den Justizbehörden geschaffen hat, haben die Menschen aufgrund der unsicheren Lage in einigen Gebieten und der weitverbreiteten Korruption im Justizsystem kein Vertrauen in diese Behörden [Anmerkung: der ehemaligen Regierung] (STDOK/Nassery 4.2024). Vor allem in ländlichen Gebieten lösen Paschtunen Probleme und Streitigkeiten meist mit den Mechanismen des Paschtunwali (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Auch wenn die Umsetzung des Paschtunwali und seiner speziellen Gesetze in den Zentren der Großstädte nachgelassen haben, so bedeutet dies jedoch nicht das völlige Verschwinden des Paschtunwali in diesen Regionen. Zwar sind Paschtunen in ländlicheren Gebieten generell eher gegen die (höhere) Bildung von Mädchen, während die Bewohner von größeren Städten dem eher offen gegenüber stehen. Andere Bereiche des Paschtunwali haben aber nach wie vor große Bedeutung für alle Paschtunen, auch jene die in den städtischen Zentren des Landes leben (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Im Folgenden werden die wichtigsten Teile des Paschtunwali erörtert:

Jirga und Maraka

Jirgas und Marakas sind Versammlungen zwischen Ältesten der jeweiligen Gemeinschaften und den Konfliktparteien, um Streitigkeiten zu lösen, wobei Marakas eher bei kleineren Differenzen angewandt werden. Marakas werden auch abgehalten, um Freundschaften zu schließen und die Gemeinschaft zu fördern. Eine Jirga hat qualitativ und quantitativ einehöhere Wertigkeit als eine Maraka und wird angewandt, um größere Probleme und Konflikte (wie zum Beispiel Mord, Land- oder Ehestreitigkeiten) zu lösen. So ist die Loya Jirga beispielsweise die größte Jirga des Landes, die auch dafür genutzt wurde, die Verfassung der ehemaligen Regierung zu beschließen. Die Ältesten bzw. die Gelehrten der Gemeinschaft fungieren hierbei als Richter und entscheiden in den einzelnen Fällen, was Tage, aber auch Wochen oder Monate dauern kann (STDOK/VQ AFGH 4.2024: vgl. STDOK 1.7.2016).

Ein afghanischer Journalist gab an, dass die Taliban seit ihrer Machtübernahme versuchen, den Jirga-Mechanismus unter die Verwaltung ihrer Regierung zu bekommen, um ethnische Konflikte zu lösen. Die Taliban versuchen hierbei, einen Waffenstillstand zu verhandeln, notfalls mit Gewalt, um im Anschluss durch Gespräche und Vermittlung zwischen den Parteien im Rahmen einer Jirga Frieden zu schließen und den Konflikt beizulegen. So reisten Taliban-Regierungsbeamte beispielsweise mehrfach in die Provinzen Khost, Paktia und Paktika, um Streitigkeiten im Rahmen von Jirgas zu lösen (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Bad o Por (Blutpreis)

Der Preis, um gewisse Feindschaften und Streitigkeiten zu lösen, nennt sich Bad o Por. Wenn eine Person, oder ein Mitglied einer Familie, die Rechte anderer verletzt oder gegen die Grundsätze des Paschtunwali verstößt, muss sie den Preis bzw. Bad o Por zahlen. Je nach Art und Bedeutung der Streitigkeit kommt es hierbei zur Zahlung eines Geldbetrages, der Ausrichtung eines Festes oder einer Entschuldigung. Bei größeren Streitigkeiten werden jedoch auch umstrittene Handlungen wie das "Verschenken" von Frauen an die Gegenseite angewandt, um den Konflikt beizulegen (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Vor allem Streitigkeiten, die die Ehre (der Familie) betreffen, sind sehr heikel. Dazu gehören beispielsweise das unerlaubte Fortlaufen eines Mädchens von zu Hause oder vorehelicher Geschlechtsverkehr. So erklärt ein paschtunischer Stammesältester, dass, wenn ein Mann mit einer Frau unerlaubt flieht, er zwei Möglichkeiten hat: Entweder er kehrt nie wieder zurück oder er zahlt Bad o Por. Hier muss im Rahmen einer Jirga entschieden werden, dass die Frau zu ihm gehört, und er muss den Vater des Mädchens auszahlen. Dann kann er der Ehemann der Frau werden. Die Frau hingegen wird aus ihrer Familie ausgestoßen und ihr wird auch das Erbrecht entzogen (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Als die Taliban die Macht in Afghanistan übernahmen, wurde mittels speziellem Erlass die Zwangsverheiratung von Frauen (STDOK/VQ AFGH 4.2024; vgl. Independent 19.1.2024) und die Abgabe von Mädchen für Bad o Por verboten. Die Taliban fügten hinzu, dass Stämme, die sich nicht an diesen Erlass hielten, mit schweren Strafen belegt würden (STDOK/VQ AFGH 4.2024). Die Zwangsverheiratung von Mädchen zur Beilegung von Feindseligkeiten ist unter den Paschtunen in den Provinzen jedoch immer noch weit verbreitet (STDOK/VQ AFGH 4.2024; vgl. AA 26.6.2023, AI 7.8.2023).

Badal (Vergeltung, Blutfehden) und Nanawatai (Abbitte leisten)

Badal, bedeutet in Paschto "Vergeltung" und soll die Gerechtigkeit wiederherstellen oder an den Übeltätern Rache nehmen (STDOK 1.7.2016). Die Feindschaft zwischen Familien und Stämmen beginnt manchmal mit sehr kleinen Vorfällen und entwickelt sich schließlich zu einer großen Feindschaft. Zu diesen Fällen gehören beispielsweise verbale Auseinandersetzungen um Land, Spannungen um die Stammesführung oder körperliche Auseinandersetzungen zwischen den Jugendlichen zweier Stämme (STDOK/VQ AFGH 4.2024), die nach und nach größer und größer werden und Jahre oder auch Generationen andauern können (STDOK/VQ AFGH 4.2024; vgl. STDOK 1.7.2016). So führt ein paschtunischer Ältester aus, dass die Strafe für Mord der Tod ist, und dass sich daraus eine Feindschaft entwickeln kann, der Dutzende andere Menschen zum Opfer fallen können. Feindseligkeiten können durch Jirgas (oder im Falle "kleiner" Streitigkeiten durch Marakas) beendet werden und es kommt, wie bereits ausgeführt, weiterhin zur "Schenkung" von Frauen, um Feindseligkeiten zu beenden (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Eine längere Blutfehde kann jedoch auch durch Versöhnung, genannt Nanawatai (Abbitte leisten) vermieden werden. Hinter Nanawatai steht der Gedanke, dass sich jemand seinem Gegner vollständig unterwirft und ausliefert, ihn um Verzeihung bittet und um den Erlass des Badal, das von ihm eingefordert werden soll. Wer Abbitte leistet, muss dann um jeden Preis geschützt werden. Außerdem muss Flüchtigen vor der Justiz Zuflucht gewährt werden, bis die Lage nach dem Paschtunwali entschieden ist. Nanawatai wird jedoch in Fällen von Namoos (Bewahrung der Keuschheit der Frauen) abgelehnt oder wenn jemand anderer als der Ehemann einer Frau beischlief (STDOK 1.7.2016).

Gastfreundschaft (Mailmastia oder Melmastiya) und Schutz (Panah)

Die paschtunische Kultur betrachtet den Gast als eine ehrenwerte und wichtige Person und bezeichnet ihn sogar als einen Freund Gottes. Mailmastia bedeutet allen Besuchern Gastfreundschaft und tief empfundenen Respekt entgegenzubringen, unabhängig von Rasse, Religion, nationaler Zugehörigkeit und wirtschaftlichem Status und ohne Erwartung einer Belohnung oder von Vorteilen. Die Paschtunen haben großen Respekt vor ihren Gästen und bemühen sich sehr, sie glücklich und zufrieden zu machen. In der paschtunwalischen Kultur wird dem Gast ein gutes Essen zubereitet, eine Unterkunft geboten und er darf nicht belästigt werden. Gastfreundschaft spielt eine besondere Rolle, wenn es darum geht, Feindschaften zu überwinden, Freundschaften zu schließen und Stammesherausforderungen zu meistern. Mit einem Fest oder einer Bewirtung wollen die Familien ihre wirtschaftliche Stärke und ihr familiäres Können unter Beweis stellen. Wenn der Gast mit dem Essen, der Gastfreundschaft und der Unterstützung des Gastgebers zufrieden ist, ist der Gastgeber ebenso stolz und zufrieden (STDOK/VQ AFGH 4.2024; vgl. STDOK 1.7.2016).

Die Paschtunen legen besonderen Wert auf Schutz und Sicherheit. Bei den Paschtunen ist es verboten, jemandem zu schaden, der bei einer Familie oder einem Stamm Zuflucht gesucht hat. Nachdem sie jemandem Zuflucht gewährt haben, halten die Paschtunen kleine Marakas ab, um über das Schicksal der Person zu entscheiden. Es sollte jedoch klargestellt werden, dass die Aufnahme einer Person, die ein Verbrechen wie Mord begangen hat, von den paschtunischen Stämmen nicht akzeptiert wird und dazu führt, dass der Asylsuchende nach einer kurzen Jirga wieder aus dem Stamm verstoßen wird (STDOK/VQ AFGH 4.2024).

Religionsfreiheit

Letzte Änderung 2024-04-05 14:09

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 7 bis 15 % der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 1.2.2024; vgl. AA 26.6.2023). Andere Glaubensgemeinschaften machen weniger als 0,3 % der Bevölkerung aus (CIA 1.2.2024; vgl. USDOS 15.5.2023). Die Zahl der Ahmadiyya-Muslime im Land geht in die Hunderte. Zuverlässige Schätzungen über die Gemeinschaften der Baha'i und der Christen sind nicht verfügbar. Es gibt eine geringe Anzahl von Anhängern anderer Religionen. Es gibt keine bekannten Juden im Land (USDOS 15.5.2023).

Anhänger des Baha'i-Glaubens leben vor allem in Kabul und in einer kleinen Gemeinde in Kandahar. Im Mai 2007 befand der Oberste Gerichtshof, dass der Glaube der Baha'i eine Abweichung vom Islam und eine Form der Blasphemie sei. Auch wurden alle Muslime, die den Baha'i-Glauben annehmen, zu Abtrünnigen erklärt. Internationalen Quellen zufolge leben Baha'is weiterhin in ständiger Angst vor Entdeckung und zögerten, ihre religiöse Identität preiszugeben (USDOS 15.5.2023).

Sikhs sehen sich seit Langem Diskriminierungen im mehrheitlich muslimischen Afghanistan ausgesetzt (EUAA 23.3.2022; vgl. DW 8.9.2021). Als die Taliban im August 2021 nach dem Abzug der US-Truppen die Macht in der Hauptstadt wiedererlangt hatten, floh eine weitere Welle von Sikhs aus Afghanistan (EUAA 23.3.2022; vgl. TrI 12.11.2021). Nach der Machtübernahme gaben die Taliban öffentliche Erklärungen ab, wonach deren Rechte geschützt werden würden (EUAA 23.3.2022; vgl. USCIRF 3.2023, USDOS 15.5.2023). Trotz dieser Zusicherungen äußerten sich Sikh-Führer in Medienerklärungen im Namen ihrer Gemeinschaft jedoch besorgt über deren Sicherheit (EUAA 23.3.2022; vgl. USDOS 15.5.2023). Berichten zufolge lebten mit Ende 2022 nur noch neun Sikhs und Hindu in Afghanistan (USDOS 15.5.2023).

Die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslime waren und sind durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt (USCIRF 3.2023; vgl. AA 26.6.2023). Mit der rigorosen Durchsetzung ihrer strengen Auslegung der Scharia gegenüber allen Afghanen verletzen die Taliban die Religions- und Glaubensfreiheit von religiösen Minderheiten (USCIRF 3.2023). Nominal haben die Taliban religiösen Minderheiten die Zusicherung gegeben, ihre Religion auch weiterhin ausüben zu können (USCIRF 3.2023; vgl. AA 26.6.2023); insbesondere der größten Minderheit, den überwiegend der schiitischen Konfession angehörigen Hazara. In der Praxis ist der Druck auf Nicht-Sunniten jedoch hoch und die Diskriminierung von Schiiten im Alltag verwurzelt (AA 26.6.2023).

Trotz ständiger Versprechen, alle in Afghanistan lebenden ethnischen und religiösen Gemeinschaften zu schützen, ist die Taliban-Regierung nicht in der Lage oder nicht willens, religiöse und ethnische Minderheiten vor radikaler islamistischer Gewalt zu schützen, insbesondere in Form von Angriffen der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) und Fraktionen der Taliban selbst (USCIRF 3.2023).

In einigen Gebieten Afghanistans (unter anderem Kabul) haben die Taliban alle Männer zur Teilnahme an den Gebetsversammlungen in den Moscheen verpflichtet und/oder Geldstrafen gegen Einwohner verhängt, die nicht zu den Gebeten erschienen sind (RFE/RL 19.1.2022) bzw. gedroht, dass Männer, die nicht zum Gebet in die Moschee gehen, strafrechtlich verfolgt werden könnten (BAMF 10.1.2022; vgl. RFE/RL 19.1.2022).

Apostasie, Blasphemie, Konversion

Letzte Änderung 2024-04-05 14:10

Es liegen keine zuverlässigen Schätzungen zur Anzahl der Christen in Afghanistan vor (USDOS 15.5.2023), jedoch gibt es Schätzungen, wonach sich etwa 10.000 bis 12.000 Christen im Land befinden (USCIRF 8.2022; vgl. ICC 29.9.2021). Bereits vor der Machtübernahme der Taliban waren die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslime durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt (AA 26.6.2023). Nach Angaben der NGO International Christian Concern arbeiten die Taliban daran, das Christentum vollständig aus dem Land zu entfernen, und behaupten sogar, dass es in Afghanistan keine Christen gibt. Viele Christen sind in den Untergrund gegangen, aus Angst vor den Gerichten (ICC 12.7.2023) oder Hausdurchsuchungen der Taliban (USDOS 15.5.2023).

Der Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion ist nach der vor Gericht geltenden Hanafi-Rechtsschule Apostasie. Proselytenmacherei, also der Versuch, Muslime zu einer anderen Religion zu bekehren, ist nach der hanafitischen Rechtsschule, die vor Gericht gilt, ebenfalls illegal. Diejenigen, die der Proselytenmacherei beschuldigt werden, werden mit der gleichen Strafe belegt wie diejenigen, die vom Islam konvertieren. Auch Blasphemie, zu der unter anderem islamfeindliche Schriften oder Äußerungen gehören können, ist nach der hanafitischen Schule ein Kapitalverbrechen. Angeklagte Gotteslästerer, einschließlich Apostaten, haben drei Tage Zeit, um zu widerrufen, sonst droht ihnen der Tod, obwohl es nach der Scharia kein klares Verfahren für einen Widerruf gibt. Einige Hadithe (Aussprüche oder Überlieferungen des Propheten Muhammad, die als Quelle des islamischen Rechts dienen) empfehlen Gespräche und Verhandlungen mit einem Abtrünnigen, um ihn zum Widerruf zu bewegen (USDOS 15.5.2023).

Vor der Machtübernahme durch die Taliban berichteten christliche Vertreter, dass die öffentliche Meinung, wie sie in den sozialen Medien und anderswo zum Ausdruck kam, Konvertiten zum Christentum und der Idee christlicher Missionierung weiterhin feindselig gegenüberstand. Sie berichteten von Druck und Drohungen, vor allem vonseiten der Familie, dem Christentum abzuschwören und zum Islam zurückzukehren. Sie sagten, dass Christen aus Angst vor gesellschaftlicher Diskriminierung und Verfolgung weiterhin allein oder in kleinen Gemeinden, manchmal mit zehn oder weniger Personen, in Privathäusern beteten. Die Daten, Zeiten und Orte dieser Gottesdienste wurden häufig geändert, um nicht entdeckt zu werden. Öffentliche christliche Kirchen gibt es weiterhin nicht. Nach der Machtübernahme durch die Taliban berichten Christen über Razzien der Taliban in den Häusern christlicher Konvertiten, selbst nachdem diese aus dem Land geflohen oder ausgezogen waren. Christliche Quellen gaben an, dass die Machtübernahme durch die Taliban intolerante Verwandte ermutigt, ihnen Gewalt anzudrohen und die Konvertiten zu verraten, falls sie das Christentum weiter praktizierten (USDOS 2.6.2022).

Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung 2024-03-29 09:44

Afghanistan befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban; Widerstandsgruppen gelingt es bislang nicht oder nur vorübergehend, effektive territoriale Kontrolle über Gebiete innerhalb Afghanistans auszuüben. Dauerhafte Möglichkeiten, dem Zugriff der Taliban auszuweichen, bestehen daher gegenwärtig nicht. Berichte über Verfolgungen machen deutlich, dass die Taliban aktiv versuchen "Ausweichmöglichkeiten" im Land zu unterbinden (AA 26.6.2023).

Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war der Reiseverkehr zwischen den Städten im Allgemeinen ungehindert möglich (USDOS 20.3.2023). Die Taliban setzen jedoch Kontrollpunkte ein, um den Verkehr innerhalb des Landes zu regeln, und es wird berichtet, dass sie Reisende durchsuchen und nach bekannten oder vermeintlichen Regimegegnern fahnden. Außerdem werden Mobiltelefone und Social-Media-Aktivitäten der Reisenden überprüft (FH 9.3.2023). So wurde im Jahr 2022 berichtet, dass zwischen dem Flughafen von Kabul und der Stadt Kabul bewaffnete Taliban Kontrollpunkte besetzen und die Straßen patrouillierten (VOA 12.5.2022; vgl. NPR 9.6.2022). Einem ehemaligen afghanischen Militärkommandanten zufolge überprüfen Taliban-Kräfte die Namen und Gesichter von Personen an Kontrollpunkten anhand von "Listen mit Namen und Fotos ehemaliger Armee- und Polizeiangehöriger" (HRW 30.3.2022). Meistens handelt es sich um Routinekontrollen (IOM 22.2.2024), bei denen nur wenig kontrolliert wird (SIGA 25.7.2023). Wenn jedoch ein Kontrollpunkt aus einem bestimmten Grund eingerichtet wird, kann diese Durchsuchung darauf abzielen, bestimmte Gegenstände wie Drogen, Waffen oder Sprengstoff aufzuspüren. Kontrollpunkte, die von den Taliban besetzt sind, sind über ganz Afghanistan verteilt und befinden sich in der Regel entlang der Hauptversorgungsrouten und in der Nähe der Zugänge zu größeren Städten. Die Haltung und der Umfang der Durchsuchungen an diesen Kontrollpunkten variieren je nach Sicherheitslage. Darüber hinaus werden je nach Bedarf Kontrollpunkte und Straßensperren für Suchaktionen, Sicherheitsvorfälle oder VIP-Bewegungen eingerichtet (IOM 22.2.2024).

Seit Dezember 2021 ist es afghanischen Frauen untersagt, ohne einen Mahram Fernreisen zu unternehmen. Innerhalb besiedelter Gebiete konnten sich Frauen freier bewegen, obwohl es immer häufiger Berichte über Frauen ohne Mahram gab, die angehalten und befragt wurden (USDOS 20.3.2023). Das Taliban-Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern hat es Fahrern verboten, allein reisende Frauen mitzunehmen (RFE/RL 19.1.2022; vgl. DW 26.12.2021). Zu darüber hinausgehenden Bewegungseinschränkungen liegen IOM-Afghanistan keine offiziellen Berichte vor. Es gab jedoch Fälle, in denen Bürger misshandelt wurden, weil sie sich nicht an die von den Taliban auferlegten üblichen Regeln hielten. IOM berichtet auch über eine steigende Anzahl von Vorfällen, bei denen UNSMS-Personal (United Nations Security Management System) vorübergehend angehalten wurde, wobei hier die Vorgehensweise der Taliban je nach Ort unterschiedlich ist (IOM 22.2.2024).

Grundversorgung und Wirtschaft

Letzte Änderung 2024-03-28 14:23

Nach der Machtübernahme verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage massiv (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.1.2023, UNDP 18.4.2023), was vor allem auch mit der Einstellung vieler internationaler Hilfsgelder zusammenhängt (WEA 17.7.2022; vgl. UNDP 18.4.2023, NH 31.1.2024). Die humanitäre Lage bleibt angespannt (AA 26.6.2023; vgl. UNGA 1.12.2023). Während Afghanistan gute Fortschritte bei der Aufrechterhaltung von Stabilität und Sicherheit gemacht zu haben scheint, hat sich die afghanische Wirtschaft von dem erheblichen Produktionsrückgang seit 2020 nicht erholt. Dies ist größtenteils auf eingeschränkte Bankdienstleistungen und Operationen des Finanzsektors, Unterbrechungen in Handel und Gewerbe, geschwächte und isolierte wirtschaftliche Institutionen und fast keine ausländischen Direktinvestitionen oder Geberunterstützung für die produktiven Sektoren zurückzuführen (UNDP 12.2023).

Fast zwei Drittel der afghanischen Haushalte haben auch zwei Jahre nach dem Regimewechsel mit einem extrem hohen Maß an Entbehrungen zu kämpfen. Im Jahr 2023 sind laut einem Bericht von UNDP (United Nations Development Programme) 69 % der afghanischen Bevölkerung existenzgefährdet, da sie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, lebensnotwendigen Gütern, angemessenen Lebensbedingungen und Beschäftigungsmöglichkeiten haben, die für ein Leben auf dem Existenzminimum notwendig sind. Dies ist eine Verbesserung um 19 % im Vergleich zu den 85 % im Jahr 2022 (UNDP 12.2023). Laut einem Bericht des World Food Programmes hatten im Dezember 2023 38 % der Haushalte im Rahmen der Nahrungsmittelaufnahme hohe Bewältigungsstrategien aufzuwenden, was einen Rückgang um 5 % gegenüber September 2023 bedeutet. Zu diesen verbrauchsorientierten Bewältigungsstrategien zählen beispielsweise der Kauf billigerer Nahrungsmittel, das Borgen von Lebensmitteln von Verwandten oder Freunden, die Einschränkung der Portionsgröße bei Erwachsenen oder das Reduzieren der Anzahl der Mahlzeiten pro Tag (WFP 11.2.2024).

Nach Angaben der Taliban-Behörden wurden die Gehälter aller Staatsbediensteten, einschließlich der Frauen, die zu Hause bleiben mussten, weiter gezahlt. Das Taliban-Ministerium für Märtyrer- und Behindertenangelegenheiten gab Anfang September bekannt, dass es die Zahlungen für die Familien von Märtyrern und Behinderten aus den Zeiten der Republik und der de facto-Taliban-Behörde abgewickelt habe, obwohl die Pensionen der pensionierten Staatsbediensteten aus der Zeit der Republik nicht ausgezahlt wurden (UNGA 1.12.2023). Laut einem Rechtsanwalt in Kabul ist das Rentensystem in Afghanistan derzeit ausgesetzt. Mit Stand Februar 2024 gibt es keine wirksamen Vorschriften und Gesetze der Taliban, die zeigen, wie ein Rentensystem funktionieren soll (RA KBL 19.2.2024).

Seit April 2023 ist ein anhaltender deflationärer Trend zu beobachten, der durch schwindende Ersparnisse der Haushalte, geringere öffentliche Ausgaben, höhere Arbeitslosigkeit und negative Auswirkungen auf die Einkommen der Landwirte aufgrund des Verbots des Opiumanbaus gekennzeichnet ist (WFP 11.2.2024). Insgesamt haben sich die Lebensbedingungen der Haushalte im Jahr 2023 leicht verbessert, was größtenteils auf internationale Hilfe zurückzuführen ist. Trotz eines Anstiegs des durchschnittlichen monatlichen Realeinkommens der Haushalte um 76 % im Vergleich zu 2022 ist der Subsistenzbedarf von mehr als der Hälfte der Haushalte immer noch höher als ihr Einkommen (UNDP 12.2023).

Frauen und Mädchen sind unverhältnismäßig stark von der sozioökonomischen Krise betroffen (UNDP 12.2023) und sehen sich größeren Hindernissen bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und finanziellen Mitteln gegenüber (HRW 11.1.2024). 2023 ist der Beschäftigungsanteil der erwerbstätigen weiblichen Haushaltsmitglieder über alle Beschäftigungsarten hinweg um fast die Hälfte zurückgegangen, während der Beschäftigungsanteil der erwerbstätigen männlichen Haushaltsmitglieder im gleichen Zeitraum um 11 % gestiegen ist (UNDP 12.2023). Die Politik der Taliban, Frauen von den meisten bezahlten Tätigkeiten auszuschließen, hat die Situation noch verschlimmert (HRW 11.1.2024; vgl. UNDP 18.4.2023), vor allem für Haushalte, in denen Frauen die einzigen oder wichtigsten Lohnempfängerinnen waren. In den Fällen, in denen die Taliban Frauen die Arbeit erlaubten, wurde dies durch repressive Auflagen fast unmöglich gemacht, wie z. B., dass Frauen von einem männlichen Familienmitglied zur Arbeit begleitet werden und dort während des gesamten Arbeitstages beaufsichtigt werden müssen (HRW 11.1.2024).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im Dezember 2022 in Kabul durchgeführten Studie gaben 90 % der Befragten an, Schwierigkeiten bei der Deckung der Grundbedürfnisse zu haben (ATR/STDOK 3.2.2023).

Eine weitere Studie, die im Januar 2023 vom Assessment Capacities Project (ACAPS) in der Provinz Kabul durchgeführt wurde, ergab, dass die Haushalte sowohl in den ländlichen als auch in den städtischen Gebieten Kabuls Schwierigkeiten hatten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Als dringendste Probleme nannten die Haushalte unsichere Lebensmittelversorgung und unzureichende Kleidung für die Wintersaison (ACAPS 16.6.2023).

Naturkatastrophen

Afghanischen Haushalte sind nach wie vor stark von Naturkatastrophen betroffen und anfällig für Klimaschocks. Afghanistan hat unter den Ländern mit niedrigem Einkommen in den letzten 40 Jahren die meisten Todesopfer durch Naturkatastrophen zu beklagen und steht weltweit auf Platz 5 der klimatisch am stärksten gefährdeten Länder (UNDP 18.4.2023).

Afghanistan erlebte im Jahr 2022 Naturkatastrophen (UNOCHA 1.2023) von denen allein zwischen Jänner 2022 und Jänner 2023 mehr als 241.052 Menschen in 33 von 34 Provinzen betroffen waren. Afghanistan ist anfällig für Erdbeben, Überschwemmungen, Dürre, Erdrutsche und Lawinen. Mehr als drei Jahrzehnte Konflikt, gepaart mit Umweltzerstörung und unzureichenden Investitionen in Strategien zur Verringerung des Katastrophenrisikos, haben dazu beigetragen, dass die afghanische Bevölkerung immer schwerer mit Naturkatastrophen fertig wird. Im Durchschnitt sind jedes Jahr 200.000 Menschen von solchen Katastrophen betroffen (UNOCHA 2.2.2023).

Nach einem Bericht von UNOCHA erlebt Afghanistan 2024 das dritte Dürrejahr in Folge, während 30 von 34 Provinzen mit einer schlechten oder sehr schlechten Wasserqualität zu kämpfen haben (UNOCHA 7.1.2024).

Im März 2023 kam es zu einem schweren Erdbeben im Norden Afghanistans (REU 22.3.2023; vgl. FR24 22.3.2023). Berichten zufolge kamen bei Überschwemmungen im Juli 2023 mindestens 47 Menschen in elf Provinzen ums Leben (PAN 27.7.2023). Die durch heftige saisonale Regenfälle verursachten Sturzfluten haben Häuser sowie Hunderte von Quadratkilometern landwirtschaftlicher Nutzfläche teilweise oder vollständig zerstört (UNHCR 1.8.2023; vgl. AJ 24.7.2023). Betroffene Provinzen waren vor allem Kabul, Maidan Wardak und Ghazni (AJ 24.7.2023), aber auch die Provinzen Kunar, Paktia, Khost, Nuristan, Nangarhar, Paktika und Helmand hatten Opfer zu verzeichnen (PAN 27.7.2023).

Am 7.10.2023 kam es zu einem schweren Erdbeben in Herat, gefolgt von zusätzlichen Nachbeben (UN News 16.10.2023; vgl. UNOCHA 16.10.2023). Das Epizentrum des Bebens war der Distrikt Zendahjan (AP 12.10.2023), den UNOCHA zusammen mit den Distrikten Herat und Enjil als die am stärksten betroffenen Regionen identifizierte (UNOCHA 20.10.2023). Berichten zufolge wurden ganze Dörfer zerstört (CNN 15.10.2023), und Tausende Menschen getötet (AP 11.10.2023; vgl. AAN 11.11.2023). Nach Angaben von UNOCHA waren mehr als 275.000 Menschen in neun Distrikten direkt von den Erdbeben betroffen (UNOCHA 16.11.2023a), die mindestens 1.480 Todesopfer und 1.950 Verletzte forderten (UNOCHA 16.11.2023b). Mehr als 8.429 Häuser wurden zerstört und weitere 17.088 stark beschädigt (UNOCHA 20.10.2023).

Medizinische Versorgung

Letzte Änderung 2024-03-29 09:47

Die drastische Kürzung der finanziellen und technischen Entwicklungshilfe für das öffentliche Gesundheitssystem Afghanistans seit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 hat das Gesundheitssystem des Landes schwer geschädigt (HRW 12.2.2024; vgl. MaA 29.6.2023). Der daraus resultierende Mangel an ausreichenden Gesundheitsdiensten betrifft Millionen von Afghanen und macht die Bevölkerung anfällig für Krankheiten und andere Folgen unzureichender medizinischer Versorgung (HRW 12.2.2024; vgl. MSF 18.12.2023).

Hilfsorganisationen haben versucht, den Wegfall internationaler Mittel für das öffentliche Gesundheitswesen auszugleichen, und haben mit dem Rückgang der Mittel für humanitäre Hilfe nach 2022 ihren Schwerpunkt auf unmittelbare Hilfsmaßnahmen verlagert. Durch die vorübergehende Unterstützung der öffentlichen Krankenhäuser unmittelbar nach August 2021 konnte ein völliger Zusammenbruch verhindert werden. Dennoch mussten aufgrund fehlender Mittel Kliniken schließen und lokale Hilfsgruppen berichten von Engpässen bei Medikamenten und Ausrüstung (HRW 12.2.2024). Auch eine Menschenrechtsaktivistin aus Afghanistan berichtet davon, dass der Zugang zu Medikamenten sehr begrenzt ist. Während Antibiotika, Schmerzmittel und allgemeine Gesundheitsmedikamente noch eingeführt werden, sind spezifische Medikamente, z. B. jene zur Behandlung von Krebs, in Afghanistan nicht erhältlich. Menschen können auch nicht mehr so einfach wie früher in die Nachbarländer reisen, um sich behandeln zu lassen und Medikamente zu kaufen (MaA 29.6.2023).

In den öffentlichen Krankenhäusern, die unter direkter Aufsicht der afghanischen Regierung stehen, sind seit dem Regimewechsel sowohl die Qualität der Versorgung als auch die Zahl der Mitarbeiter erheblich zurückgegangen (IOM 12.1.2023). Die Kapazität des Gesundheitspersonals im öffentlichen Sektor ist gering (HC 31.12.2022; vgl. UNOCHA 1.2023), auch aufgrund der Einschränkungen von Frauen im Hinblick auf Beschäftigung und Bewegungsfreiheit (HRW 12.2.2024; vgl. MaA 29.6.2023). Ebenso konzentrieren sich die am besten qualifizierten Gesundheitsfachkräfte in den Städten und den gut ausgestatteten Provinzen. Gleichzeitig können Bevölkerungsverschiebungen und die Abwanderung in städtische Zentren die bestehenden Gesundheitsdienste in städtischen Gebieten überlasten. Obwohl es in den städtischen Zentren zahlreiche Gesundheitseinrichtungen gibt, gab die städtische Bevölkerung häufig an, dass Medikamente oder Behandlungen für sie zu teuer seien (UNOCHA 1.2023). Eine Menschenrechtsaktivistin aus Afghanistan weißt in diesem Zusammenhang auf den generellen Mangel an (vor allem weiblichen) Ärzten hin. Viele seien auch unterqualifiziert bzw. praktizieren, ohne ihre Ausbildung abgeschlossen zu haben (MaA 29.6.2023).

Durch die schlechte wirtschaftliche Lage vieler Afghanen sind diese nicht mehr in der Lage, ihre medizinischen Ausgaben zu bestreiten (HRW 12.2.2024) oder sich und ihre Familien ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Viele Afghanen leiden daher an Unterernährung (HRW 12.2.2024; vgl. WFP 7.2.2024), von welcher nach Einschätzung von Human Rights Watch auch Millionen von Kindern betroffen sind (HRW 12.2.2024). UNICEF schätzte die Zahl der von akuter Unterernährung betroffenen Kinder für das Jahr 2023 auf rund 2,3 Millionen (UNICEF 7.8.2023).

In Afghanistan gibt es Ausbrüche von Infektionskrankheiten wie beispielsweise Masern, akute Atemwegsinfektionen (ARI) oder akute wässrige Diarrhöe (AWD) (WHO 18.3.2024). Infektionskrankheiten wie AWD und Cholera sind die Folge von und ein Katalysator für schlechte humanitäre Bedingungen, einschließlich schlechter sanitärer Einrichtungen, Wasserqualität und -menge, Unterernährung, geringeren Schulbesuchs, schlechten Gesundheitszustands und geringeren Einkommens. Besonders betroffen sind Kinder in ländlichen Haushalten, was teilweise auf Unterschiede in der sanitären Infrastruktur zurückgeführt werden kann (UNOCHA 1.2023). So wurden im Jahr 2023 beispielsweise 25.856 Fälle von Masern und 6,8 Millionen Fälle von AWD berichtet (UNICEF 2024).

COVID-19

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf, folgende Website der WHO: https://covid19.who.int/region/emro/country/af mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Bis 31.8.2023 gab es laut WHO 232.843 bestätigte Fälle von COVID-19 in Afghanistan. Nach Angaben der WHO haben mehr als 18 Millionen Afghanen zumindest eine Impfdosis erhalten und mehr als 16 Millionen sind vollständig geimpft (WHO 18.3.2024). Seit Beginn der Pandemie hat sich COVID-19 über das ganze Land ausgebreitet. Die erste Welle erstreckte sich Berichten zufolge von Ende April bis Juni 2020; die zweite Welle begann im Oktober 2020 und dauerte bis Ende Dezember 2020; die dritte Welle begann Berichten zufolge im April 2021 und dauerte bis Mitte August 2021. Die vierte Welle endete im März 2022 (Asady/Sediqi/Habibi 28.6.2022). Im Sommer 2022 sah sich Afghanistan einem weiteren Anstieg der COVID-19-Fälle ausgesetzt und innerhalb von zwei Monaten wurden mehr als 11.700 Fälle registriert. Es wurde berichtet, dass die Menschen trotz der Zunahme an Erkrankungen keine Angst mehr haben würden und keine Präventivmaßnahmen ergreifen (PAN 8.9.2022).

Bis zur Machtübernahme der Taliban waren landesweit insgesamt 38 COVID-19-Krankenhäuser in Betrieb, die alle von internationalen Gebern finanziert wurden. Daneben wurden im Rahmen der COVID-19-Notfallmaßnahmen auch Krisenreaktionsteams (Rapid Response Teams, RRTs) und Distriktzentren (District Centers, DCs) eingerichtet, um Risikokommunikationsveranstaltungen durchzuführen, Proben von Verdachtsfällen zu sammeln, Kontaktpersonen ausfindig zu machen und Ratschläge für leichte und mittelschwere Fälle zu geben, die zu Hause behandelt werden sollten. Diese Maßnahmen trugen entscheidend dazu bei, die Belastung der für COVID-19 zuständigen Krankenhäuser zu verringern, sodass sie sich auf die Behandlung schwerer und kritischer Fälle konzentrieren konnten. Nach dem Zusammenbruch der vorherigen Regierung wurden alle Finanzmittel und Unterstützungen für die COVID-19-Notfallmaßnahmen gekürzt, und die meisten Krankenhäuser mussten ihren Betrieb einstellen, weil es an Mitteln, Ärzten, Medikamenten und sogar Heizmaterial mangelte. Der Mangel an Gesundheitspersonal für die Entnahme von Proben verdächtiger Personen und der Mangel an Kits für labordiagnostische Tests waren in den meisten Distrikten Afghanistans auch 2022 nach wie vor die größten Herausforderungen. Das hohe Maß an finanzieller Unsicherheit in mehreren Teilen des Landes hat große und direkte negative Auswirkungen auf die Bereitstellung und Abdeckung von Gesundheitsdiensten für die breite Öffentlichkeit. Viele Menschen, die ihre erste Impfung mit dem COVID-19-Impfstoff erhalten haben, konnten die nächste Dosis nicht erhalten, weil der Impfstoff knapp oder nicht verfügbar war (Asady/Sediqi/Habibi 28.6.2022).

Rückkehr

Letzte Änderung 2024-04-05 06:35

Nach Angaben von UNHCR sind zwischen Jänner und August 2023 8.029 afghanische Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgekehrt (95 % aus Pakistan, 4% aus Iran und 1 % aus anderen Ländern). Die Zahl der Rückkehrer in den ersten sieben Monaten des Jahres 2023 war fünfmal so hoch wie die Zahl der Rückkehrer im gleichen Zeitraum des Jahres 2022 (UNHCR 1.8.2023). Als Hauptgründe für die Rückkehr aus Iran und Pakistan nannten die Rückkehrer die Lebenshaltungskosten und den Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten in den Aufnahmeländern, die verbesserte Sicherheitslage in Afghanistan und die Wiedervereinigung mit der Familie. Im Jahr 2023 kehrten 57 % der Flüchtlinge in fünf Provinzen zurück: Kabul (21 %), Kunduz (13 %), Kandahar (10 %), Nangarhar (7 %) und Jawzjan (6 %). Außerdem hielten sich 72 % der Rückkehrer seit mehr als zehn Jahren im Asylland auf und 25 % wurden im Asylland geboren (UNHCR 24.7.2023). Am 3.10.2023 billigte der nationale Apex-Ausschuss Pakistans einen Plan zur Rückführung von über einer Million Ausländern ohne gültige Papiere, überwiegend Afghanen, die das Land bis zum 1.11.2024 verlassen sollten. Seit dem 15.9.2023 sind mit Stand März 2024 über eine halbe Million Afghanen aus Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt. Der größte Teil dieser Bewegungen fand im November 2023 statt, danach ging die Zahl deutlich zurück, wobei der Januar und die erste Februarhälfte 2024 die niedrigsten Zahlen verzeichneten. In den letzten beiden Wochen des Februars ist wieder ein Anstieg der Rückkehrer zu verzeichnen (UNHCR 8.3.2024).

Auch wenn es nur wenig Informationen zu Rückkehrern aus Europa nach Afghanistan gibt, berichtet das österreichische BMI (Bundesministerium für Inneres) (BMI 27.3.2024) und andere Quellen (MEE 1.6.2022; vgl. AAN 20.1.2024, DRC 28.11.2022), dass es auch nach der Machtübernahme der Taliban zur freiwilligen Rückkehr afghanischer Staatsbürger kommt (MEE 1.6.2022; vgl. AAN 20.1.2024). Dem Afghanistan Analysts Network (AAN) zufolge kehren auch einige Mitarbeiter der ehemaligen Regierung und internationaler NGOs nach Afghanistan zurück, darunter ein Mitarbeiter einer NGO, der mit seiner Familie nach zwei Jahren Aufenthalt in Dänemark nach Afghanistan zurückkehrte (AAN 20.1.2024). Auch die Nachrichtenagentur Middle East Eye berichtet von der freiwilligen Rückkehr von Afghanen, darunter Mitarbeiter von internationalen NGOs (MEE 1.6.2022) und nach Angaben von EUAA gibt es auch freiwillige Rückkehrer aus den USA (EUAA 12.2023). Die Taliban haben am 16.3.2022 eine Kommission unter Leitung des Taliban-Ministers für Bergbau und Petroleum ins Leben gerufen, die Mitglieder der ehemaligen wirtschaftlichen und politischen Elite überzeugen soll, nach Afghanistan zurückzukehren. Im Rahmen dieser Bemühungen sollen inzwischen 200 mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten nach Afghanistan zurückgekehrt sein, darunter auch ehemalige Minister und Parlamentarier. Die Taliban-Regierung trifft widersprüchliche Aussagen darüber, ob es den Rückkehrern gestattet sein wird, sich politisch zu engagieren (AA 26.6.2023).

IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.8.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden. IOM Afghanistan hält jedoch die Kommunikation mit ehemaligen Rückkehrern aufrecht, um humanitäre Hilfe anzubieten, die Stabilisierung der Gemeinschaft zu unterstützen und die interne Migration in Zusammenarbeit mit den Taliban-Behörden, humanitären Partnern und lokalen Gemeinschaften zu steuern. IOM Afghanistan wendet verschiedene Methoden an, um mit ehemaligen unterstützten Rückkehrern in Afghanistan in Kontakt zu bleiben. Dazu gehören das Engagement in den Gemeinden, eine zentralisierte Datenbank (Displacement Tracking Matrix [DTM]) und die direkte Kommunikation als Folgemaßnahme, insbesondere mit den Begünstigten, die von IOM direkt mit ihren Diensten durch Überwachungs- und Folgebesuche unterstützt wurden (IOM 22.2.2024).

Nach dem deutschen Auswärtigen Amt dürften Rückkehrende nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke verfügen, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern (AA 26.6.2023). Auch Dr. Liza Schuster, Dozentin für Soziologie an der University of London, spricht über die schwierige wirtschaftliche Lage der Rückkehrende aus Europa und hebt, mit Verweis auf den Afghanistanexperten Thomas Ruttig, die hohe Bedeutung der sozialen Netzwerke im Falle einer Rückkehr hervor (DRC 28.11.2022). Weiterhin sehen sich viele Rückkehrer, dem Stigma versagt zu haben, ausgesetzt (DRC 28.11.2022; vgl. AAN 20.1.2024).

Nach Einschätzung von UNAMA besteht die Möglichkeit, dass im Ausland straffällig gewordene Rückkehrende, wenn die Tat einen Bezug zu Afghanistan aufweist, in Afghanistan zum Opfer von Racheakten z. B. von Familienmitgliedern der Betroffenen werden können; auch eine erneute Verurteilung durch das von den Taliban kontrollierte Justizsystem ist nicht ausgeschlossen, wenn der Fall den Behörden bekannt würde (AA 26.6.2023).

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Letzte Änderung 2024-04-05 14:41

Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan wies bereits vor der Machtübernahme der Taliban gravierende Mängel auf und stellte aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden konnte nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Personenstandsurkunden wurden oft erst viele Jahre später, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen, nachträglich ausgestellt. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kamen sehr häufig vor (AA 16.7.2020; vgl. SEM 12.4.2023). Ein weiteres Problem ist der Umstand, dass die Personenregister lückenhaft und nicht ausreichend miteinander vernetzt sind. Zudem sind viele Mitarbeiter der zuständigen Behörden nicht ausreichend geschult im Umgang mit den Registern und der Ausstellung von Dokumenten. Aus diesen Gründen ist es den Behörden oft nicht möglich, die Angaben der Personen, die Dokumente beantragen, zuverlässig zu verifizieren. Stattdessen müssen sie sich auf die mündlichen Angaben der Antragsteller und der Zeugen verlassen. Außerdem besteht je nach Dokument eine unterschiedliche Praxis, Geburtsdatum, Geburtsort und Nachnamen einzutragen. Deshalb kommt es vor, dass die Personalien derselben Person in verschiedenen Dokumenten unterschiedlich eingetragen sind (SEM 12.4.2023).

Besonders fälschungsanfällig sind Papier-Tazkira [Anm.: Tazkira ist ein nationales Personaldokument] (SEM 12.4.2023; vgl. MBZ 3.2022). In Pakistan sind zahlreiche gefälschte Tazkira im Umlauf. Bei der schwarz-weißen Papier-Tazkira sind weder Layout noch Drucktechnik standardisiert. Die verwendeten Stempel sind aufgrund der großen Anzahl zuständiger Behörden nicht überprüfbar. Die Dokumente sind deshalb leicht fälschbar. In der Regel ist es unmöglich, die Authentizität solcher Dokumente zu prüfen. Reisepass und e-Tazkira haben ein einheitliches Layout mit zahlreichen Sicherheitsmerkmalen. Deshalb lässt sich die Authentizität dieser Dokumente am besten überprüfen. Es besteht aber auch hier die Möglichkeit, dass Inhalte manipuliert sind oder dass sie an nicht berechtigte Personen ausgestellt sind (SEM 12.4.2023).

Mit Stand Februar 2024 können Reisepässe, Tazkira und e-Tazkira laut einem Rechtsanwalt in Kabul in allen Provinzen Afghanistans beantragt werden. Die Ausstellung von Reisepässen kann jedoch bis zu einem Jahr dauern. Reisepässe sehen noch genauso aus wie früher. Die e-Tazkira werden jedoch mit einigen Änderungen in Bezug auf das Layout ausgestellt. Auf der Vorderseite der e-Tazkira steht nicht mehr "Innenministerium", sondern "Nationale Behörde für Statistik und Information" in persischer Sprache. Außerdem wird auf der Vorder- und Rückseite der e-Tazkira das Datum des Ablaufs der Gültigkeit hinzugefügt, was vorher nicht der Fall war (RA KBL 19.2.2024). Zusätzlich sind neben der Religion auch die Nationalität, der Stamm und die ethnische Zugehörigkeit vermerkt (USDOS 15.5.2023). IOM weißt jedoch darauf hin, dass Reisepässe nicht in allen Provinzen erhältlich sind. Das Innenministerium der Taliban hat in 15 der 34 Provinzen (Farah, Nimroz, Badghis, Paktika, Samangan, Laghman, Uruzgan, Kunar, Takhar, Zabul, Jawzjan, Bamyan, Panjsher, und Baghlan) Passämter wiedereröffnet und verlangt von den Antragstellern, dass sie sich in ihrer Herkunftsprovinz einen Pass besorgen. Die Funktionsfähigkeit dieser Abteilungen ist jedoch nach wie vor unklar. Verlängerungen von Reisepässen sind laut IOM möglich, unterliegen jedoch denselben geografischen Einschränkungen wie bei der Beantragung eines neuen Passes. Laut IOM gibt es in Afghanistan insgesamt 74 Verteilungszentren für elektronische Personalausweise und alle 34 Provinzen verfügen über solche Einrichtungen (IOM 22.2.2024).

Andere Dokumente wie Heiratsurkunden können nach Angaben von IOM nur in sieben Provinzen ausgestellt werden: in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Balkh, Herat, Paktia, Kandahar und Khost. Einwohner aus anderen Provinzen müssen in eine dieser Provinzen reisen, um diese Dokumente zu erhalten (IOM 22.2.2024).

Tazkira

Um eine Tazkira oder e-Tazkira zu erhalten, muss der Antragsteller ein (online-) Antragsformular ausfüllen, das die folgenden Informationen/Unterlagen/Überprüfungen erfordert:

Persönliche Informationen des Antragstellers

Tazkira des Vaters des Antragstellers (falls der Antragsteller unter 18 Jahre alt ist)

Lichtbild des Antragstellers

Bestätigung des Gebietsvertreters

Um eine e-Tazkira zu erhalten, ist zusätzlich die Papier-Tazkira des Antragstellers notwendig (RA KBL 11.3.2024). Falls der Antragsteller keine Tazkira in Papierform besitzt, ist für Antragsteller unter 18 Jahren eine Geburtsurkunde erforderlich. Für Personen, die älter als 18 Jahre sind, ist die Tazkira (entweder elektronisch oder auf Papier) eines der Hauptverwandten des Antragstellers vorzulegen (Vater, Bruder, Onkel ... usw.) und zwei andere Personen müssen die Identität des Antragstellers bescheinigen (RA KBL 11.3.2024). In weiterer Folge muss der Antragsteller bei der e-Tazkira-Ausgabestelle erscheinen, um seine biometrischen Daten erfassen zu lassen und die entsprechende Gebühr (diese wurde vor Kurzem von 800 AFN auf 1.000 AFN angehoben) zu zahlen (RA KBL 19.2.2024). Nach Angaben von IOM liegen die Kosten für den Erhalt einer Tazkira bei 700 AFN (IOM 22.2.2024).

Reisepass

Seit der Machtübernahme der Taliban gibt es immer wieder Probleme, wenn es um die Ausstellung von Reisepässen geht. Beispielsweise wurde die Ausstellung von Reisepässen für einige Monate ausgesetzt, da es nach Angaben der Passdirektion technische Schwierigkeiten gab (RA KBL 26.1.2023; vgl. KP 8.10.2022, SEM 12.4.2023). Es kam immer wieder zu Beschwerden über die langen Bearbeitungsdauern von Reisepässen (TN 11.12.2022; vgl. PAN 9.1.2023, TN 1.8.2023. AAN 4.2.2024). Es wird auch berichtet, dass Wartezeiten durch Zusatzzahlungen verringert werden können, wenn man über eine Kontaktperson in einem Passbüro verfügt (AAN 4.2.2024). Ein in Afghanistan tätiger Rechtsanwalt bestätigt, dass dies (im geringen Ausmaß) vorkommt, jedoch beide Seiten eine Strafe erhalten, sollte es bekannt werden (RA KBL 11.3.2024).

Laut einer Erklärung des Sprechers der Generaldirektion für Pässe werden keine Pässe an Personen mit Ausreiseverboten wegen beispielsweise unbezahlter Schulden oder laufenden Straf-, Zivil- oder Handelsverfahren oder an Kinder, die keinen gesetzlichen Vormund haben, ausgestellt (TN 1.8.2023). Laut Angaben eines lokalen Rechtsanwalts in Kabul ist es für Frauen möglich, in Afghanistan auch ohne Begleitung eines Mahram [Anm.: männl. Begleitperson] einen Reisepass zu erhalten (RA KBL 11.3.2024), auch wenn sich die Behandlung der Antragsstellerinnen von Ort zu Ort unterscheiden kann. In Kabul ist es derzeit nicht vorgeschrieben. Der Erhalt eines Reisepasses für Frauen ist auch möglich, wenn sich der Ehemann der Frau zum Antragszeitpunkt im Ausland befindet (RA KBL 29.8.2023).

Für den Erhalt eines Reisepasses gelten dieselben Voraussetzungen wie für eine e-Tazkira. Es muss ein Formular online ausgefüllt werden und nach Vorlage eines Identitätsdokumentes (e-Tazkira, Tazkira in Papierform oder Geburtsurkunde), sowie eines Lichtbildes und der Unterschrift (RA KBL 26.1.2023; vgl. RA KBL 19.2.2024, IOM 22.2.2024), werden die Fingerabdrücke des Antragsstellers biometrisch erfasst. Falls der Antragssteller bereits einen Reisepass besessen hat, so ist dieser ebenso vorzulegen bzw. sind Informationen zu diesem notwendig. Nach dem Ausfüllen des Online-Antragsformulars muss der Antragsteller die Gebühr entrichten und zu einem bestimmten Termin zur biometrischen Untersuchung in der Passabteilung erscheinen. Die Gebühr für einen Reisepass liegt zwischen 10.000 AFN (RA KBL 26.1.2023; vgl. RA KBL 19.2.2024) und 11.000 AFN für einen Reisepass, der für zehn Jahre gültig ist, bzw. bei 5.900 AFN für einen Reisepass mit fünfjähriger Gültigkeit (IOM 22.2.2024; vgl. RA KBL 11.3.2024). Bis vor Kurzem gab es nur einen Reisepass mit zehnjähriger Gültigkeit (RA KBL 11.3.2024).

Reisepässe außerhalb Afghanistans

Berichte über die Ausstellung bzw. Verlängerung von afghanischen Reisepässen im Ausland sind unterschiedlich. Laut Angaben eines Rechtsanwalts in Kabul ist die Erlangung eines Reisepasses außerhalb von Afghanistan mit Stand Februar 2024 in einigen wenigen Ländern, nämlich China, Pakistan, Iran und Usbekistan, mit Einschränkungen möglich (RA KBL 19.2.2024). IOM weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass neue afghanische Reisepässe außerhalb Afghanistans in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Pakistan (Islamabad und Peshawar) ausgestellt werden. Zusätzlich können afghanische Reisepässe in Saudi Arabien (Riyadh) verlängert, jedoch nicht neu ausgestellt werden (IOM 22.2.2024).

Nach Informationen des österreichischen BMI (Bundesministerium für Inneres) verlängert die afghanische Botschaft in Österreich abgelaufene maschinenlesbare Reisepässe, stellt jedoch keine neuen aus. Auch werden von der Botschaft Heimreisezertifikate ausgestellt (BMI 27.3.2024).

2. Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Inhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA, sowie des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.

2.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der im Spruch angeführte Name und das angeführte Geburtsdatum dienen, mangels der Vorlage eines unbedenklichen Personaldokumentes, bloß der Individualisierung als Verfahrenspartei, jedoch nicht als Feststellung der Identität des BF.

Die Feststellungen zur Staats-, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit des BF sowie seine Herkunft gründen sich auf seine diesbezüglich glaubhaften Angaben; das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen des BF zu zweifeln.

Die Feststellungen zu seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat und in Österreich ergeben sich aus seinen glaubhaften im gesamten Verfahren übereinstimmenden Angaben, insbesondere im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 23.07.2024.

Die Feststellungen zum aktuellen Gesundheitszustand des BF und zu seiner Arbeitsfähigkeit basieren auf dessen eigenen Angaben im Rahmen des verwaltungsbehördlichen Verfahrens sowie vor dem Bundesverwaltungsgericht und besteht kein Grund, daran zu zweifeln.

Die Feststellungen zu seinen in Afghanistan aufhältigen Familienangehörigen basieren auf seine dahingehenden konsistenten Angaben im Laufe des Verfahrens.

Es ist jedoch anzumerken, dass nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgehalten werden kann, dass der BF in Afghanistan auf ein tragfähiges soziales Netzwerk zurückgreifen kann. Es ist davon auszugehen, dass die gepachtete Landwirtschaft der Familie des BF nicht mehr bewirtschaftet werden kann, weil der Besitzer einen Pachtvertrag mit anderen Personen abgeschlossen hat. Der Bruder des BF muss durch Einkünfte aus Gelegenheitsarbeiten die gesamte Familie des BF ernähren und auch die sonstigen weitschichtigen Verwandten in Afghanistan hätten aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage, keine Möglichkeit den BF oder dessen Familie zu unterstützen. Es liegt kein gesichertes soziales Netz des BF im Afghanistan vor. Abgesehen davon ist die Sicherheitslage in allen Teilen Afghanistans nach wie vor sehr volatil ist und daher würde eine Abschiebung nach Afghanistan – in einer individuellen Betrachtung des Einzelfalls – gegen Art 3 EMRK verstoßen.

2.2. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Dem BF ist es nicht gelungen, eine Verfolgung seiner Person aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit, seiner Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Gesinnung (oder aus anderen Gründen) glaubhaft zu machen. Dies aus den folgenden Gründen:

Vorab ist festzuhalten, dass es Aufgabe des Asylwerbers ist, durch ein in sich stimmiges und widerspruchsfreies Vorbringen, allenfalls durch entsprechende Bescheinigungsmittel, einen asylrelevanten Sachverhalt glaubhaft zu machen (vgl. VwGH 25.03.1999, 98/20/0559). Kann ein BF sein Vorbringen nicht durch Bescheinigungsmittel untermauern, ist es umso wichtiger, sein Vorbringen gleichbleibend, konkret und nachvollziehbar zu gestalten. Allgemein gehaltene Behauptungen reichen jedenfalls für eine Glaubhaftmachung nicht aus (vgl. VwGH 17.10.2007, 2006/07/0007). Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem in mehreren Erkenntnissen betont, dass die Aussage des Asylwerbers die zentrale Erkenntnisquelle darstellt und daher der persönliche Eindruck des Asylwerbers für die Bewertung der Glaubwürdigkeit seiner Angaben von Wichtigkeit ist (VwGH 24.06.1999, 98/20/0453; VwGH 25.11.1999, 98/20/0357).

Für das erkennende Gericht hat der BF nicht glaubhaft dargelegt, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer drohenden Verfolgungsgefahr von Taliban oder anderen nichtstaatlichen Akteuren ausgesetzt wäre. Eine konkrete Bedrohung im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan durch die Taliban konnte der BF nicht glaubwürdig und nachvollziehbar darlegen. Weiters konnte er von keinem weiteren fluchtauslösenden Ereignis berichten, woraus man ableiten könnte, dass er persönlich im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer konkreten Verfolgungsgefahr ausgesetzt wäre.

Bereits das BFA hat in seinem Bescheid das Vorbringen des BF im Wesentlichen dahingehend begründet, dass eine asylrechtlich relevante Verfolgung nicht glaubhaft vorgebracht worden sei. Der BF habe sich ausschließlich darauf berufen, dass der BF Afghanistan aufgrund der schlechten Versorgungslage verlassen habe. Ebenso habe der BF das Land nicht fluchtartig verlassen und die Familie habe auch keine Repressalien zu gegenwärtigen. Sämtliche Familienmitglieder und Verwandte würden nach wie vor völlig unbehelligt in Afghanistan leben und Einkünfte aus diversen arbeitenden Tätigkeiten lukrieren.

Daher habe das Vorbringen des BF in einer Gesamtschau auch keine individuelle, persönliche betreffende und glaubhaft gemachte Verfolgungshandlung beinhaltet. Daher habe nicht erkannt werden können, dass der BF aus asylrechtlich relevanten Gründen sein Heimatland verlassen habe.

Des Weiteren habe der BF auch keine weiteren Verfolgungsgründe vorgebracht und selbige auf Nachfrage verneint. Es könne daher in einer Gesamtbetrachtung auch nicht davon ausgegangen werden, dass dem BF in Afghanistan eine asylrechtlich relevante Verfolgung drohen würde. Es werde nicht verkannt, dass sich die Situation in Afghanistan durch die Machtübernahme der Taliban verschlechtert habe, jedoch führe dies nicht zu einer Gewährung von Asyl für alle afghanische Staatsbürger. Sonstige, in der GFK angeführte Verfolgungsgründe habe der BF ebenfalls nicht angegeben.

Wenn diesbezüglich die Rechtsvertretung des BF in der Beschwerde moniert, dass Verfahrensfehler unterlaufen wären, weil viel genauer nachzufragen gewesen sei, ist festzuhalten, dass eine in der Beschwerdeschrift geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens sowie eine dahingehende Kritik, dass sich das Bundesamt nicht ausreichend mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers und den herkunftsstaatsspezifischen Informationen auseinandergesetzt habe, geht schon deshalb ins Leere, weil nunmehr seitens des BVwG eine mündliche Verhandlung durchgeführt wurde und dem Beschwerdeführer im Rahmen der mündlichen Verhandlung Gelegenheit geboten wurde, sämtliche Fluchtgründe abermals umfassend darzulegen und auch zu den getroffenen Länderfeststellungen umfassend Stellung zu nehmen.

Im Übrigen ist festzuhalten, dass das Protokoll der Einvernahme vom 13.12.2023 bezüglich des BF den Eindruck vermittelt, dass der zuständige Organwalter den BF ausführlich und objektiv zu seinem Herkunftsstaat und seinem Vorbringen befragt und ihn mit entscheidungswesentlichen Fragen konfrontiert hat. Bei Betrachtung der gegenständlichen Niederschrift kann ein allfälliger Vorwurf bezüglich eines mangelhaft durchgeführten Ermittlungsverfahrens daher ohnehin nicht nachvollzogen werden. Die Asylbehörde hat die materielle Wahrheit von Amts wegen zu erforschen. Hierbei kann oftmals nur auf eine genaue Befragung des Asylwerbers zurückgegriffen werden. Hinsichtlich der Fragestellung lassen sich aber keine Besonderheiten feststellen und bei genauer Betrachtung hinterlässt die Niederschrift den Eindruck, dass sie den konkreten Verlauf wiedergibt. Der Niederschrift ist weiters nicht zu entnehmen, dass der BF während der Einvernahme eine derartige Beanstandung kundtat, was aber seiner/ihrer Mitwirkungsverpflichtung entsprochen hätte. Zur Vollständigkeit sei erwähnt, dass der BF nach erfolgter Rückübersetzung am Ende der Einvernahme vor dem BFA keine Korrekturen an der Niederschrift vornehmen ließ. Des Weiteren bestätigte der BF, dass er den Dolmetscher sehr gut verstanden habe.

Der Beschwerdeführer wurde im Rahmen des Asylverfahrens umfassend niederschriftlich vom BFA einvernommen, wobei er in diese Einvernahme die Gelegenheit hatte, sich zu seinen Verfolgungsgründen und Rückkehrbefürchtungen zu äußern. Das BFA beließ es dabei nicht bei offenen Fragen, sondern versuchte auch durch konkrete Fragestellung den Grund seiner Furcht und zu erwartende Rückkehrprobleme zu erhellen, was nach Ansicht des erkennenden Richters auch hinreichend geschehen ist. Die Verpflichtung der Behörde zur amtswegigen Ermittlungspflicht geht nicht so weit, dass sie in jeder denkbaren Richtung Ermittlungen durchzuführen hätte, sondern sie besteht nur insoweit, als konkrete Anhaltspunkte aus den Akten (etwa das Vorbringen der Partei (VwSlg 13.227 A/1990) dazu Veranlassung geben (VwGH 4.4.2002, 2002/08/0221).

Das Vorbringen des BF wurde bereits im erstinstanzlichen Verfahren dahingehend beurteilt, dass eine Verfolgungshandlung nicht glaubhaft gemacht werden konnte. Auch im Zuge der mündlichen Verhandlung ergab es sich, dass der BF keine asylrechtlich relevante Verfolgungsgefahr hat glaubhaft machen können. So gab der BF in der mündlichen Verhandlung abermals an, dass er sein Heimatland er verlassen hätten, weil junge Menschen in Afghanistan nicht mehr leben hätten können (vgl. Verhandlungsprotokoll, Seite 6). Während er im behördlichen Verfahren noch bloß meinte, aufgrund von Armut und mangelnder Zukunftsperspektiven das Land verlassen zu haben, vermeinte er in der mündlichen Verhandlung, dass die Taliban den konkreten Anlass für seine Ausreise geliefert hätten. Auf Nachfrage, ob es einen fluchtauslösenden Vorfall gegeben habe, vermeinte der BF, dass er die Taliban gehasst hätte und es ihm unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich gewesen sei, in Afghanistan zu leben.

Wie auch schon im Verfahren vor der belangten Behörde konnte auch in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG der BF kein konkretes fluchtauslösendes Ereignis vorbringen. Er gab bloß allgemeingültige Sätze zu Protokoll und vermeinte, dass er die Taliban hasse. Hierbei handelt es sich allerdings bloß um eine subjektive Ansicht, die nicht einmal eine subjektive Furcht beinhaltet, sodass von keiner asylrechtlich relevanten Verfolgungsgefahr ausgegangen werden kann. Eine konkrete Verfolgungshandlung, die den Hass des BF auf die Taliban objektivierbar hätte machen können, konnte der BF nicht anführen. Er begründete den Hass auf die Taliban bloß dahingehend, dass er durchgehend von diesen terrorisiert worden wäre, weil er keinen Vollbart gehabt hätte oder er seine Haare nicht talibankonform geschnitten habe. Das Gericht verkennt hierbei nicht, dass diese Beschimpfungen und Diskriminierung für eine Person unangenehm sein können, diese aber keine Handlungen beinhalten, die eine asylrechtlich relevante Verfolgung maßgeblich erscheinen lassen würden. Diesen Handlungen war keine persönliche Bedrohung abzuleiten, der ersichtlich war, dass dem BF durch die Taliban eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde, zumal der BF diese verbalen Maßregelungen durch die Taliban nicht näher konkretisiert hat und keine Details hierzu vorbringen hat können. Alleine aus den vagen und obeflächlichen Angaben des BF waren jedenfalls keine Handlungen zu entnehmen, die eine asylrechtlich relevante Verfolgung wahrschlich erscheinen lassen hätten. Auch waren in Vorbringen des BF sonst keine Anknüpfungspunkte für eine oppositionelle Gesinnung des BF und seiner Familie zu entnehmen.

Das erkennende Gericht verkennt nicht, dass vorgebracht wurde, dass ein Cousin des Vaters des BF unter der gestürzten afghanischen Regierung als Polizist tätig gewesen ist. Eine mögliche daraus resultierende Reflexverfolgung des BF habe jedoch nicht erkannt werden können. Einerseits würden die Verwandten des BF, mit denen er regelmäßig in Kontakt steht, völlig unbehelligt in Afghanistan leben können, andererseits sind trotz des Einsatzortes des Cousins im Heimatdorf des BF keine Repressalien gegen den BF oder dessen Angehörige bekannt. Auch wenn es glaubhaft ist, dass der Cousin des BF Polizist gewesen ist, er Afghanistan vor der Machtergreifung der Taliban verlassen hat und die Taliban gegen Personen, die für die Regierung gearbeitet haben vorgehen, war gegenständlich keine individuelle Gefährdung des BF ersichtlich, zumal auch kein Kontakt zu diesem Cousin besteht, sodass eine aktuelle und maßgeblich wahrscheinliche Verfolgung des BF durch die Taliban auch diesbezüglich nicht gegeben ist.

Darüber hinaus brachte der BF keine weiteren individuellen Fluchtgründe vor, weshalb er seinen Herkunftsstaat verlassen habe, sondern führte im Wesentlichen – neben wirtschaftlichen Gründen und dieser Fluchtgeschichte aufgrund einer möglichen Reflexverfolgung durch die Taliban – in der Beschwerde noch ins Treffen, dass er durch den langen Aufenthalt im westlichen Ausland im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan als verwestlicht angehsehen werde. Eine asylrechtlich relevante Verfolgung hat er jedenfalls nicht zu gegenwertigen, weil er diesbezüglich auch keine Angaben machen konnte, warum er in Afghanistan als verwestlicht bzw. als vom Islam abgefallen angesehen werden würde. Der BF blieb in seinen Aussagen sehr oberflächlich und ohne inhaltliche Begründung. Menschlich ist diese Aussage zwar durchaus verständlich, jedoch ist dieser kein Verhalten zu entnehmen, dass es dem in Afghanistan aufgewachsenen und in der afghanischen Gesellschaft sozialisierten BF im Falle einer Rückkehr nicht mehr möglich sein könnte, sich in der afghanischen Gesellschaft zurechtzufinden. Dies konnte der BF mit seinen Aussagen in keiner Weise darlegen. In der Beschwerde konnte die Rechtsvertretung auch nicht darlegen, wie der BF die westliche Lebensweise derart verinnerlicht habe, dass es dem BF unmöglich sei, dies in Afghanistan abzulegen. Die bloße Gewohnheit an die hier gelebten Bräuche und Sitten ist an sich noch keine Verinnerlichung der westlichen Lebensweise.

Hierzu in der mündlichen Verhandlung befragt, könnte der BF lediglich angeben, dass er in Österreich ein normales Leben führen und er sehr gerne eine Ausbildung machen wolle. Durch diese Angaben konnte der BF keine Angaben über eine mögliche Verwestlichung angeben, zumal es dem BF in Afghanistan bereits möglich war eine Ausbildung zu erhalten und arbeiten zu gehen. Vielmehr macht der BF durch diese Aussagen abermals deutlich, dass für ihn wirtschaftliche Erwägungen an oberster Stelle sind und er wohl aus asylfremden Gründen in ein Land mit einem hohen Lebensstandard gegangen ist, um hier ein wohlhabenderes Leben führen zu können.

Auch eine individuell, konkret gegen ihn gerichteten Verfolgung aufgrund seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit in seinem Herkunftsstaat, als sunnitischer Paschtunen ist nicht gegeben. Daran ändert auch die Machtübernahme der Taliban im August 2021 nichts, zumal der BF keine individuellen Verfolgungshandlungen durch die Taliban hat glaubhaft machen könne.

Aufgrund der obigen Ausführungen war dem Fluchtvorbringen des BF insgesamt die Glaubwürdigkeit abzusprechen. Dass der BF in seinem Herkunftsstaat jemals einer Verfolgung aus anderen Gründen, insbesondere seiner Rasse, Religion oder Nationalität, ausgesetzt gewesen wäre oder ihm im Falle seiner Rückkehr eine solche droht, wurde weder behauptet noch haben sich hierfür im Verfahren Anzeichen ergeben. Auch unter Zugrundelegung der aktuellen Länderinformationen ist eine Verfolgung der Person des BF aus Gründen seiner Rasse, Religion oder Nationalität nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten.

2.3. Zu den Feststellungen zu den Folgen einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zu den Folgen einer Rückkehr des BF nach Afghanistan ergeben sich aus den oben angeführten Länderberichten in Zusammenschau mit den persönlichen Umständen des BF sowie der zahlreichen, aktuellen nationalen und internationalen Berichterstattungen:

Es wäre dem BF aufgrund der nunmehr in Afghanistan herrschenden Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit derzeit nicht möglich, Afghanistan zu erreichen und sich dort eine Existenz aufzubauen, ohne eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seine körperliche Unversehrtheit zu riskieren.

Auch wenn sich den Länderberichten zufolge die Sicherheitslage in Afghanistan seit der Machtübernahme durch die Taliban etwas gebessert haben könnte, so ist diese dennoch weiterhin als volatil und instabil zu bezeichnen. So wurde immer noch ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen dokumentiert, und Afghanistan stellt auch nach wie vor einen Ort globaler Bedeutung für den Terrorismus dar. Die Taliban übernahmen auch die vollständige Kontrolle über das Justizsystem des Landes und setzten die Verfassung von 2004 außer Kraft. Bisher haben sich die Taliban noch nicht zu den Gesetzen geäußert, insbesondere nicht zu den Strafgesetzen, zur nationalen Sicherheit und zu den Gerichten. Aus den bisherigen Äußerungen der Taliban wurde geschlossen, dass sie diese Gesetze und Rechtsvorschriften in den meisten Bereichen ignorieren, und werden weitere schwerwiegende Probleme für die Rechtsprechung in Afghanistan erwartet. Die in der Vergangenheit von Afghanistan unterzeichneten oder ratifizierten Menschenrechtsabkommen werden von der Taliban-Regierung, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt anerkannt; es wird ein Islamvorbehalt geltend gemacht, wonach islamisches Recht im Falle einer Normenkollision Vorrang hat.

Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban die Menschenrechte und Grundfreiheiten der afghanischen Bevölkerung zunehmend und in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt. Die Taliban-Führung hat zwar ihre Anhänger verschiedentlich dazu aufgerufen, die Bevölkerung respektvoll zu behandeln, es gibt jedoch Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme, darunter Hausdurchsuchungen, Willkürakte und Hinrichtungen.

Zudem verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage massiv, was unter anderem durch die Einstellung von internationalen Hilfsgeldern bedingt ist. Die humanitäre Lage bleibt weiterhin angespannt, fast zwei Drittel der afghanischen Haushalte haben nach wie vor mit einem extrem hohen Maß an Entbehrungen zu kämpfen. Nach einem Bericht sind 69 % der afghanischen Bevölkerung existenzgefährdet, da sie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, lebensnotwendigen Gütern, angemessenen Lebensbedingungen und Beschäftigungsmöglichkeiten haben, die für ein Leben auf dem Existenzminimum notwendig sind. Die Situation am Arbeitsmarkt ist ebenfalls als sehr angespannt anzusehen. Rückkehrende dürften nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke verfügen, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern.

Des Weiteren ist die Ernährungsunsicherheit in Afghanistan weiterhin hoch. Im Oktober 2023, während der Nacherntezeit, waren etwa 13,1 Millionen Menschen, d. h. 29 % der Gesamtbevölkerung, mit einem hohen Maß an akuter Ernährungsunsicherheit konfrontiert (IPC-Phase 3 oder höher). Zu den Hauptursachen dieser akuten Ernährungsunsicherheit gehören unter anderem die schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen, die hohe Arbeitslosigkeit sowie die anhaltend hohen Preise für Lebensmittel und landwirtschaftliche Betriebsmittel. Die negativen Auswirkungen der extremen und wechselhaften klimatischen Bedingungen, insbesondere der mehrjährigen Dürre zwischen 2021 und 2023, waren auch 2023 noch zu spüren. Die afghanischen Haushalte sind auch weiterhin von Naturkatastrophen, wie Erdbeben, Überschwemmungen, Dürre, Erdrutsche und Lawinen, betroffen sowie anfällig für Klimaschocks. Afghanistan erlebt 2024 das dritte Dürrejahr in Folge, während 30 von 34 Provinzen mit einer schlechten oder sehr schlechten Wasserqualität zu kämpfen haben. Zudem wurde das Gesundheitssystem des Landes durch die drastische Kürzung der finanziellen und technischen Entwicklungshilfe für das öffentliche Gesundheitssystem Afghanistans schwer geschädigt. Der daraus resultierende Mangel an ausreichenden Gesundheitsdiensten betrifft Millionen von Afghanen und macht die Bevölkerung anfällig für Krankheiten und andere Folgen unzureichender medizinischer Versorgung.

Auch gibt es innerhalb Afghanistans keine für den BF zumutbare Fluchtalternative, da sich die derzeitige instabile Situation auf das gesamte Land bezieht.

UNHCR empfiehlt auch weiterhin, „aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan, die noch für einige Zeit unsicher bleiben kann, sowie der weitreichenden humanitären Notlage im Land“ zwangsweise Rückführungen afghanischer Staatsangehöriger auszusetzen.

Mit Erkenntnis vom 13.06.2024, E 746/2024, wies der VfGH die Beschwerde eines afghanischen BF ab, dessen Antrag auf internationalen Schutz vollinhaltlich abgewiesen und gegen den eine RKE (samt Folgeaussprüchen) erlassen worden war. Das BVwG (12.02.2024, W192 2281666-1) hatte die Nicht-Zuerkennung von subsidiärem Schutz im Wesentlichen mit der veränderten Sicherheits- und Versorgungslage seit der Machtübernahme durch die Taliban und der Unterstützungsmöglichkeit des BF durch seine Familie begründet, die ein Haus sowie einen Hof mit mehreren bewirtschafteten Grundstücken besitze.

Der VfGH hielt einerseits fest, dass das BVwG ausgehend vom (von ihm herangezogenen) LIB zu Afghanistan vom 28.09.2023 und der verwiesenen „Country Guidance: Afghanistan“ der EUAA vom Jänner 2023 nachvollziehbar von einer verbesserten Sicherheitslage ausgegangen ist und eine auf das gesamte Staatsgebiet bezogene ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Beschwerdeführer als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts nicht (mehr) vorliege (Rz 17).

Weiters trat der VfGH auch der BVwG-Beurteilung der den BF zu erwartenden Versorgungslage in Afghanistan nicht entgegen, weil das BVwG auf die aktuellen Länderinformationen und die individuelle Situation des BF eingegangen war und eine vertretbare Einzelfallprüfung vorgenommen hatte: Das BVwG hatte sich insbesondere auf den Bericht „Afghanistan – Country Focus“ der EUAA aus Dezember 2023 bezogen, aus dem sich ergibt, dass 23 (der insgesamt 34) afghanischen Provinzen, darunter auch die Herkunftsprovinzen des BF (Maidan Wardak und Kabul), in die IPC-Stufe 3 („crisis“) der fünfgradigen Skala eingestuft worden seien. Daneben hatte das BVwG berücksichtigt, dass der BF arbeitsfähig ist, den überwiegenden Teil seines Lebens in Afghanistan verbrachte, dort zwölf Jahre zur Schule ging, Berufserfahrung (durch den Betrieb eines eigenen Geschäfts für Baumaterialien und Arbeit als Schreibkraft in einer Firma) gesammelt hat und über ein weites familiäres Netz verfügt, wobei seine Familie ein Haus in Kabul und einen Hof und mehrere bewirtschaftete Grundstücke in Maidan Wardak besitzt (Rz 18).

Das Erkenntnis wird auch in einem aktuellen Beitrag am Blog Asyl besprochen (VfGH: Nicht-Zuerkennung subsidiären Schutzes und Rückkehrentscheidung betreffend einen afghanischen Staatsangehörigen im konkreten Einzelfall verfassungsrechtlich vertretbar - Blog Asyl). Das zusammenfassende Fazit der rezensierenden Autorin Dr.in Martina Lais, Koordinatorin für Asylrechtsangelegenheiten am VfGH, darf einfachheitshalber wie folgt zitiert werden (Hervorhebungen nicht im Original):

„Im Ergebnis bedeutet dieses Erkenntnis somit eine gewisse Abkehr von der, unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Taliban ergangenen Rechtsprechung des VfGH zu Afghanistan (zB VfGH 24.9.2021, E 3047/2021, sowie die Besprechung dieser Judikatur auf dem Blogasyl). Die Beurteilung der realen Gefahr einer Verletzung insbesondere der Art. 2 und Art. 3 EMRK bei einer Rückkehr nach Afghanistan (und damit der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005) ist nunmehr (wieder) auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung zulässig (vgl. zB VfGH 21.2.2014, U 152/2013; VfSlg. 20.228/2017 („young able man“-Judikatur); VfSlg. 20.358/2019) und kann – sofern dies angesichts der aktuellen Länderinformationen und der individuellen Umstände der betreffenden Partei nachvollziehbar und vertretbar begründet werden kann – auch zu dem Ergebnis führen, dass eine entsprechende Gefahr im Fall einer Rückkehr nicht bzw. nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit besteht.“

Diesbezüglich ist einer Betrachtung des Einzelfalls zwar davon auszugehen, dass beim BF zwar einige Parameter, wie die Arbeitsfähigkeit, die Herkunftsprovinz und der lange Aufenthalt in Afghanistan vorliegen, dass eine Rückkehr nach Afghanistan möglich wäre, jedoch haben seine Angehörigen in Afghanistan ihre gepachteten Grundstücke verloren und der Bruder des BF muss als Gelegenheitsarbeiter die gesamte Familie versorgen. Auch ist nicht hervorgekommen, dass sonstige Verwandte des BF diesen im Falle einer Rückkehr unterstützen könnten, sodass der BF im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland kein tragfähiges soziales Netz vorfinden würde. Das Vorliegen eines tragfähigen sozialen Netzes in Afghanistan ist jedoch unabdingbar, um eine Rückkehr dorthin aussprechen zu können.

Vor dem Hintergrund dieser Umstände führt eine Gesamtschau der Umstände der individuellen Rückkehrsituation des BF zu der Feststellung, dass dem BF im Fall einer Verbringung in seinen Herkunftsstaat ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 und 3 EMRK drohen würde.

2.4. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Die Feststellungen zum Leben des BF in Österreich basieren auf den im verwaltungsbehördlichen Verfahren vorgelegten Unterlagen, den diesbezüglichen Angaben des BF vor dem BFA sowie im Rahmen der Beschwerde und der hiergerichtlich eingeholten Abfrage aus der Speicherdatenbank des Grundversorgungssystems-GVS.

2.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan stützen sich auf objektives, in das Verfahren eingebrachtes Berichtsmaterial. Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Diese Berichte sind aktuell und setzen sich aus Informationen aus regierungsoffiziellen und nichtregierungsoffiziellen Quellen zusammen.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zuständigkeit und anzuwendendes Recht:

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des BFA-Verfahrensgesetzes (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF, entscheidet über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) das Bundesverwaltungsgericht.

Gemäß § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013 idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 idgF, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft. Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte. Gemäß §§ 16 Abs. 6 und 18 Abs. 7 BFA-VG sind die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anwendbar.

Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben ist, den angefochtenen Bescheid auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

3.2. Zu Spruchpunkt A)

3.2.1. Zu Spruchpunkt I.:

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates oder wegen Schutzes in einem EWR-Staat oder in der Schweiz zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist).

Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG 2005 ist der Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005) offen steht oder, wenn er einen Ausschlussgrund (§ 6 AsylG 2005) gesetzt hat.

Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (idF des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) – deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben – ist ein Flüchtling, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist somit die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.).

Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr“, wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).

Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. zB. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; VwGH 25.1.2001, Zl. 2001/20/0011).

Für eine „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, Zl. 95/01/0454, VwGH 09.04.1997, Zl. 95/01/055), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse, sondern erfordert eine Prognose (vgl. VwGH 16.02.2000, Zl. 99/01/0397). Verfolgungshandlungen die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl. VwGH 15.03.2001, Zl. 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (vgl. VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183).

Auch wenn in einem Staat allgemein schlechte Verhältnisse bzw. sogar bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen sollten, so liegt in diesem Umstand für sich alleine noch keine Verfolgungsgefahr im Sinne der GFK. Um asylrelevante Verfolgung erfolgreich geltend zu machen, bedarf es daher einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Heimatstaates treffenden Unbilligkeiten hinausgeht (vgl. VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht gemäß § 3 AsylG 2005 setzt positiv getroffene Feststellungen von Seiten der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 11.06.1997, Zl. 95/01/0627). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt im Asylverfahren das Vorbringen des Asylwerbers die zentrale Entscheidungsgrundlage dar. Dabei genügen aber nicht bloße Behauptungen, sondern bedarf es, um eine Anerkennung als Flüchtling zu erwirken, hierfür einer entsprechenden Glaubhaftmachung durch den Asylwerber (vgl. VwGH 04.11.1992, Zl. 92/01/0560).

Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.

So entspricht es der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass Gründe, die zum Verlassen des Heimatlandes bzw. Herkunftsstaates geführt haben, im Allgemeinen als nicht glaubwürdig angesehen werden, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen oder mit tatsächlichen Verhältnissen bzw. Ereignissen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen (VwGH 06.03.1996, 95/20/0650; vgl. auch Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2004/83/EG - StatusRL, ABl. L Nr. 304, 12, sowie Putzer, Leitfaden Asylrecht2, [2011], Rz 31).

Grundsätzlich obliegt es dem Asylwerber, alles Zweckdienliche, insbesondere seine wahre Bedrohungssituation in dem seiner Auffassung nach auf ihn zutreffenden Herkunftsstaat, für die Erlangung der von ihm angestrebten Rechtsstellung vorzubringen (Vgl. VwGH 31.05.2001, Zl. 2001/20/0041; VwGH 23.07.1999, Zl. 98/20/0464). Nur im Fall hinreichend deutlicher Hinweise im Vorbringen eines Asylwerbers auf einen Sachverhalt, der für die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention in Frage kommt, hat die Behörde gemäß § 28 AsylG 1997 in geeigneter Weise auf eine Konkretisierung der Angaben des Asylwerbers zu dringen. Aus dieser Gesetzesstelle kann aber keine Verpflichtung der Behörde abgeleitet werden, Asylgründe, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat, zu ermitteln (Vgl. VwGH 14.12.2000, Zl. 2000/20/0494; VwGH 06.10.1999, Zl. 98/01/0311; VwGH 14.10.1998, Zl. 98/01/0222). Die Ermittlungspflicht der Behörde geht auch nicht soweit, den Asylwerber zu erfolgversprechenden Argumenten und Vorbringen anzuleiten (vgl. VwGH vom 21.09.2000, Zl. 98/20/0361; VwGH 04.05.2000, Zl. 99/20/0599).

Gemäß § 3 Abs. 3 Z 1 und § 11 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann ("innerstaatliche Fluchtalternative"). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK vorliegen kann (vgl. zur Rechtslage vor dem AsylG 2005 z.B. VwGH 15.03.2001, 99/20/0036; 15.03.2001, 99/20/0134, wonach Asylsuchende nicht des Schutzes durch Asyl bedürfen, wenn sie in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen). Damit ist - wie der Verwaltungsgerichtshof zur GFK judiziert - nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates – im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "internen Flucht- oder Schutzalternative" (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal wirtschaftliche Benachteiligungen auch dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 08.11.2007, 2006/19/0341, m.w.N.).

Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des BF, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist.

Wie bereits beweiswürdigend ausgeführt, kommt dem BF hinsichtlich seines Vorbringens zur Verfolgungsgefahr keine Glaubwürdigkeit zu. Zudem konnte entgegen dem Vorbringen des BF nicht festgestellt werden, dass dieser nach einer allfälligen Rückkehr nach Afghanistan Verfolgungshandlungen bzw. Bedrohungssituationen ausgesetzt wäre.

Eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen wurde vom BF nicht ausreichend dargelegt. Es ist dem BF mit seinem Vorbringen nicht gelungen, eine wohlbegründete, aktuelle und damit asylrelevante Verfolgungsgefahr innerhalb des Herkunftsstaates des BF den Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm Art. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK entsprechend glaubhaft zu machen.

3.2.2. Wie im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt, vermochte der Beschwerdeführer weder glaubhaft zu machen, dass er in Afghanistan weder erpresst noch bedroht wurde noch dieser sonstigen Verfolgungshandlungen durch die Taliban oder sonstige Kriminelle ausgesetzt ist noch, dass ihm dort eine Verfolgung aufgrund einer ihm unterstellten oppositionellen politischen Gesinnung droht.

Weiters droht dem Beschwerdeführer in Afghanistan, wie dargelegt, derzeit auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund der Tatsache, dass er in Europa gelebt hat, oder aufgrund einer (ihm allenfalls unterstellten) „Verwestlichung“, Apostasie, Tätigkeit als Spion westlicher Staaten oder selbst Ausländer zu sein, konkrete und individuelle Gewalt bzw. droht nicht jedem afghanischen Rückkehrer aus Europa physische oder psychische Gewalt in Afghanistan.

Vor dem Hintergrund der Feststellungen zur Lage in Afghanistan und der individuellen Situation des Beschwerdeführers ist insgesamt nicht zu erkennen, dass dem Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat aktuell eine asylrelevante Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention droht.

Wie bereits in den Sachverhaltsfeststellungen samt Beweiswürdigung ausgeführt, haben sich im gesamten Verfahren keine Anhaltspunkte gefunden, die zu einem anderen Ergebnis als im angefochtenen Bescheid führten würden.

Den Länderberichten ist zudem zu entnehmen, dass die allgemeine Lage in Afghanistan nicht dergestalt ist, dass bereits jedem, der sich dort aufhält, der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werden müsste.

Auch dafür, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines erst kurzen Aufenthalts in Europa und einer möglichen "Verwestlichung" seines Lebensstils erheblichen Eingriffen ausgesetzt wäre, bestehen keine Anhaltspunkte. Der Beschwerdeführer hat diesbezüglich auch kein konkretes Vorbringen erstattet. Dass jeder afghanische Staatsangehörige, der sich einige Zeit in Europa aufgehalten hat, im Falle einer Rückkehr alleine aus diesem Grund einer Verfolgung ausgesetzt wäre, ergibt sich auch aus der Berichtslage nicht.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 25.09.2020, Ra 2019/19/0407; VwGH 29.04.2015, Ra 2014/20/0151), kann die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung, jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe.

Wie bereits in der Beweiswürdigung ausführlich dargelegt, konnte der BF keine drohende asylrelevante Verfolgung in seinem Herkunftsstaat glaubhaft machen, weswegen die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten nicht in Betracht kommt. Im Hinblick auf den ca. zweijährigen Aufenthalt des BF in Europa ist festzuhalten, dass aus den zugrunde gelegten Länderberichten sowie dem notorischen Amtswissen nicht ableitbar ist, dass alleine selbst ein mehrjähriger Aufenthalt in Europa und eine sich daraus abgeleitete bzw. unterstellte westliche Geisteshaltung bei Männern bereits mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung asylrelevanter Intensität auslösen würde; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt dafür nicht. Es haben sich auch keine Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass dem BF, aufgrund seines Merkmals als Rückkehrer, individuell eine Verfolgung drohen würde.

Hinsichtlich einer Gruppenverfolgung von Rückkehrern ist auszuführen, dass im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur aktuellen Lage von Rückkehrern in Afghanistan sich keine ausreichenden Anhaltspunkte dahingehend ergeben haben, dass alle Rückkehrer gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals als Rückkehrer und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, im gesamten Staatsgebiet Afghanistans einer systematischen asylrelevanten (Gruppen-) Verfolgung ausgesetzt zu sein. Allfällige Diskriminierungen und Ausgrenzungen erreichen nicht jenes Ausmaß, das erforderlich wäre, um eine spezifische Verfolgung aller afghanischen Staatsangehörigen, die mehrere Jahre in Europa verbracht, für gegeben zu erachten.

Im Übrigen stellt eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes keinen hinreichenden Grund für eine Asylgewährung dar (vgl. etwa VwGH 14.03.1995, 94/20/0789; VwGH 17.06.1993, 92/01/1081). Wirtschaftliche Benachteiligungen können nur dann asylrelevant sein, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen (vgl. etwa VwGH 09.05.1996, 95/20/0161; VwGH 30.04.1997, 95/01/0529 u.a.). Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist eine Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der GFK genannten Anknüpfungspunkt – nämlich der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gewinnung – zusammenhängt (siehe auch BVwG 15.12.2014, W225 1434681-1/31E). Derartiges hat der BF jedoch nicht glaubhaft behauptet.

Da der BF eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft machen konnte, liegt die Voraussetzung für die Gewährung von Asyl, nämlich die Gefahr einer aktuellen Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe, nicht vor. Dafür, dass der BF aus einem asylrelevanten Grund von der allgemeinen Lage besonders betroffen wäre, lässt sich kein Anhaltspunkt erkennen.

Damit ist die gegenständliche Beschwerde gegen die Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides) abzuweisen.

3.3. Zu § 8 AsylG (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides):

3.3.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung oder Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß § 8 Abs. 3 und 6 AsylG ist der Asylantrag bezüglich dieses Status abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht oder wenn der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden kann. Daraus und aus mehreren anderen Vorschriften (§ 2 Abs. 1 Z 13, § 10 Abs. 1 Z 2, § 27 Abs. 2 und 4 und § 57 Abs. 11 Z 3 AsylG) ergibt sich, dass dann, wenn dem Asylwerber kein subsidiärer Schutz gewährt wird, sein Asylantrag auch in dieser Beziehung förmlich abzuweisen ist.

Nach der Rechtsprechung des VwGH setzt die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK eine Einzelfallprüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Für das Vorliegen einer realen Gefahr („real risk“) reicht es nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist; es bedarf vielmehr einer darüber hinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (vgl. VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137, mwN).

Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (vgl. VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137, mwN insbesondere zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – EGMR – und des Europäischen Gerichtshofes – EuGH).

Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen (vgl. VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095).

Der VwGH hat mit Verweis auf die ständige Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ausgesprochen, dass es grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person obliegt, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos darzulegen, dass ihr im Fall der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (vgl. VwGH 23.02.2016, Ra 2015/01/0134, mit Verweis auf EGMR 05.09.2013, I gegen Schweden, Nr. 61 204/09). Die spezifische Situation in Afghanistan sei nicht derart gelagert, dass eine Ausweisung dorthin automatisch gegen Art. 3 EMRK verstoßen würde (VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095).

Selbst wenn einem Antragsteller in seiner Herkunftsregion eine Art. 3 EMRK-widrige Situation drohen sollte, ist seine Rückführung dennoch möglich, wenn ihm in einem anderen Landesteil seines Herkunftsstaates eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) zur Verfügung steht (§ 8 Abs. 3 AsylG). Dies ist gemäß § 11 Abs. 1 AsylG dann der Fall, wenn Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann (Prüfung der konkreten Lebensumstände am Zielort). Für die Frage der Zumutbarkeit (im engeren Sinn) muss daher ein geringerer Maßstab als für die Zuerkennung subsidiären Schutzes als maßgeblich angesehen werden (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, 2016, § 11 AsylG, K15).

Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, muss es dem Asylwerber möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (VwGH 05.04.2018, Ra 2018/19/0154 mit Verweis auf VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001, mwN).

3.3.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG gegeben sind:

Eine Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat würde für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung seiner in Art. 2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechte mit sich bringen.

UNHCR fordert in seinen aktuellen „Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen“ aus Februar 2023 dazu auf, aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan, die noch für einige Zeit unsicher bleiben kann, sowie der sich abzeichnenden humanitären Notlage zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen in Afghanistan auszusetzen, bis sich die Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtslage in Afghanistan signifikant verbessert hätten. Den Richtlinien des UNHCR ist besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung“) (vgl. etwa VwGH 07.06.2019, Ra 2019/14/0114, Rn. 9, mwN). Die Verpflichtung zur Beachtung der sowohl vom UNHCR als auch von der EASO (nunmehr: EUAA) herausgegebenen Richtlinien ergibt sich aus dem einschlägigen Unionsrecht (vgl. VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533, Rn. 21ff).

Aufgrund der allgemein prekären Sicherheitslage in ganz Afghanistan, der derzeit schlechten und ungewissen weiteren Versorgungslage und der unvorhersehbaren weiteren Entwicklung des gesamten Landes ist dem BF eine Rückkehr dorthin nicht möglich, weder in seine Herkunftsregion noch in andere Landesteile. Der BF kann daher auch nicht auf die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan verwiesen werden.

Mit Erkenntnis vom 13.06.2024, E 746/2024, wies der VfGH die Beschwerde eines afghanischen BF ab, dessen Antrag auf internationalen Schutz vollinhaltlich abgewiesen und gegen den eine RKE (samt Folgeaussprüchen) erlassen worden war. Das BVwG (12.02.2024, W192 2281666-1) hatte die Nicht-Zuerkennung von subsidiärem Schutz im Wesentlichen mit der veränderten Sicherheits- und Versorgungslage seit der Machtübernahme durch die Taliban und der Unterstützungsmöglichkeit des BF durch seine Familie begründet, die ein Haus sowie einen Hof mit mehreren bewirtschafteten Grundstücken besitze.

Beim BF handelt es sich um einen afghanischen Staatsangehörigen, bei dem nicht auszugehen ist, dass er bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat einer asylrechtlich relevanten Verfolgung ausgesetzt ist. Doch liegen Umstände vor, die befürchten lassen, dass er in eine existenzbedrohende Lage geriete, und sind diese Umstände bei der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen für subsidiären Schutz zu berücksichtigen. In einer Betrachtung des Einzelfalls ist zwar davon auszugehen, dass beim BF zwar einige Parameter, wie die Arbeitsfähigkeit, die Herkunftsprovinz und der lange Aufenthalt in Afghanistan vorliegen, dass eine Rückkehr nach Afghanistan möglich wäre, jedoch haben seine Angehörigen in Afghanistan ihre gepachteten Grundstücke verloren und der Bruder des BF muss als Gelegenheitsarbeiter die gesamte Familie versorgen. Auch ist nicht hervorgekommen, dass sonstige Verwandte des BF diesen im Falle einer Rückkehr unterstützen könnten, sodass der BF im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland kein tragfähiges soziales Netz vorfinden würde. Das Vorliegen eines tragfähigen sozialen Netzes in Afghanistan ist jedoch unabdingbar, um eine möglich Rückkehr dorthin aussprechen zu können.

Der BF kann daher nicht in seine Heimatprovinz Logar verwiesen werden, weil er selbst dort eine Gefährdung im Sinne des Art. 3 EMRK zu gewärtigen hätte. Aus dem Auszug der Länderinformation der Staatendokumentation ist zu entnehmen, dass eine andere innerstaatliche Fluchtalternative ist dem BF ebenso nicht zumutbar ist.

Angesichts der derzeitigen politischen Lage in Afghanistan ist zudem ausreichende staatliche Unterstützung sehr unwahrscheinlich. Im Hinblick auf die Angaben des BF im Rahmen seiner Einvernahmen ist auch nicht davon auszugehen, dass er durch sonstige in Afghanistan lebenden Verwandten finanziell hinreichend unterstützt werden könnte.

Daher war der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des Bescheides vom 11.01.2024 stattzugeben und dem BF gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuzuerkennen.

Dem BF würde daher vor dem Hintergrund der dargelegten Erkenntnisquellen unter Berücksichtigung der ihn betreffenden individuellen Umstände bei einer Rückkehr nach Afghanistan die reale Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK drohen, wobei eine innerstaatliche Fluchtalternative aus den dargelegten Erwägungen nicht in Betracht kommt.

Ausschlussgründe nach § 8 Abs. 3a in Verbindung mit § 9 Abs. 2 AsylG liegen nicht vor.

Daher war der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattzugeben und dem BF gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuzuerkennen.

3.4. Zu Spruchpunkt III. dieses Erkenntnisses (Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung):

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG ist einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, von der zuerkennenden Behörde gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom BFA für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.

Im gegenständlichen Fall ist dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuzuerkennen (siehe Spruchpunkt II.).

Daher ist dem BF gemäß § 8 Abs. 4 AsylG gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres zu erteilen.

Die Formulierung im Spruch (Erteilung der befristeten Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr) folgt den Ausführungen des VwGH im Erkenntnis vom 17.12.2019, Ra 2019/18/0281.

3.5. Zu den Spruchpunkten IV.-VI. des angefochtenen Bescheides:

Da im gegenständlichen Fall dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen war, liegen die Voraussetzungen für die Anordnung der Rückkehrentscheidung einschließlich der Fristsetzung für die freiwillige Ausreise aus dem österreichischen Bundesgebiet in den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 und § 10 Abs. 2 AsylG jeweils nicht mehr vor.

Die Spruchpunkte IV.-VI. des angefochtenen Bescheides sind daher mangels rechtlicher Grundlage aufgrund des vorliegenden Erkenntnisses gegenstandslos geworden.

3.6. Zu Spruchpunkt B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Artikel 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung (siehe die oben zitierte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, aber auch des Verfassungsgerichtshofes, des EuGH und des EGMR); weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind somit weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen, zumal im vorliegenden Fall vornehmlich die Klärung von Sachverhaltsfragen maßgeblich für die zu treffende Entscheidung war.

Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.

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