W172 2258467-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Martin MORITZ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Syrien, vertreten durch die BBU - Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2022, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX , geb. am XXXX , gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX , geb. am XXXX , damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer stellte am XXXX 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragung fand am XXXX 2021 statt.
2. Am 03.02.2022 erfolgte die Einvernahme des Beschwerdeführers durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: belangte Behörde).
3. Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).
4. Am 29.04.2024 führte das Bundesverwaltungsgericht (in der Folge: BVwG) eine mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer und seine Rechtsvertretung teilnahmen. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme an der Verhandlung. Am Schluss dieser Verhandlung wurde die gegenständliche Entscheidung mündlich verkündet.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist syrischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Araber sowie der sunnitischen Glaubensrichtung an. Seine Muttersprache ist Arabisch. Der Beschwerdeführer wurde in XXXX in der Provinz Al-Raqqah geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise. Der Beschwerdeführer ist traditionell verheiratet und hat ein Kind. Der Beschwerdeführer hat elf Jahre die Grundschule besucht und verfügt über Berufserfahrung als Hilfsarbeiter.
Seit dem XXXX 2021 hält sich der Beschwerdeführer in Österreich auf. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Der Beschwerdeführer ist gesund.
1.2. Zu den Flucht- und Verfolgungsgründen des Beschwerdeführers:
1.2.1. In Syrien besteht ein verpflichtender Wehrdienst für männliche Staatsbürger ab dem Alter von 18 Jahren. Syrische männliche Staatsangehörige können bis zum Alter von 42 Jahren zum Wehrdienst eingezogen werden.
Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden.
Eine höhere Altersgrenze für den Reservedienst gilt, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (u.a. Ärzte, Luftwaffenpersonal, Panzerfahrer, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung).
Reservisten können bis zum Alter von 42 Jahren mehrfach zum Militärdienst eingezogen werden.
Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen.
Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind.
1.2.2. In Syrien besteht keine Möglichkeit einer legalen oder gefahrlosen Möglichkeit der Wehrdienstverweigerung.
1.2.3. Der Beschwerdeführer verfügt nicht über die notwendigen Mittel, um sich vom Wehrdienst „freizukaufen“. Der Beschwerdeführer würde sich vom Wehrdienst aufgrund seiner oppositionellen Einstellung nicht „freikaufen“.
1.2.4. Der Beschwerdeführer hat seinen Wehrdienst nicht abgeleistet.
1.2.5. Der Beschwerdeführer kann nur über die Grenzübergänge, die in der Hand des syrischen Regimes sind, wie jene zum Libanon oder über den Flughafen von Damaskus, sicher und legal oder zumindest in dem Sinne, dass die den Grenzübergang beherrschenden Autoritäten eine Einreise zulassen, nach Syrien zurückkehren.
1.2.6. Im Falle einer Rückkehr besteht für den Beschwerdeführer die Gefahr, am Grenzkontrollposten verhaftet und zum Militärdienst bei der syrischen Armee eingezogen zu werden, was er aufgrund seiner negativen Einstellung gegenüber der syrischen Regierung ablehnt. Im Falle einer Rekrutierung läuft der Beschwerdeführer als Mitglied der syrischen Armee Gefahr, an der Begehung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen beteiligt zu werden.
Im Falle einer Weigerung würde ihm aufgrund seiner negativen Einstellung gegenüber der syrischen Regierung von dieser eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden und der Beschwerdeführer zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre. In den Haftanstalten mangelt es an Nahrung, Trinkwasser und Hygiene. Zudem fehlt es am Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung.
Die syrische Regierung betrachtet Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen. Auch die Ausreise des Beschwerdeführers und die dadurch bewirkte Entziehung von der Ableistung des Wehrdienstes wird vom syrischen Regime als Ausdruck einer oppositionellen Gesinnung gesehen.
1.3. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:
Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation zu Syrien, Version 11 vom 27.03.2024, (in der Folge: LIB): „Politische Lage
Letzte Änderung 2024-03-08 10:59
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba'ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016).
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.5.2022). Das Assad-Regime kontrolliert rund 70 Prozent des syrischen Territoriums. Seit dem Höhepunkt des Konflikts, als das Regime - unterstützt von Russland und Iran - unterschiedslose, groß angelegte Offensiven startete, um Gebiete zurückzuerobern, hat die Gewalt deutlich abgenommen. Auch wenn die Gewalt zurückgegangen ist, kommt es entlang der Konfliktlinien im Nordwesten und Nordosten Syriens weiterhin zu kleineren Scharmützeln. Im Großen und Ganzen hat sich der syrische Bürgerkrieg zu einem internationalisierten Konflikt entwickelt, in dem fünf ausländische Streitkräfte - Russland, Iran, die Türkei, Israel und die Vereinigten Staaten - im syrischen Kampfgebiet tätig sind und Überreste des Islamischen Staates (IS) regelmäßig Angriffe durchführen (USIP 14.3.2023). Solange das militärische Engagement von Iran, Russland, Türkei und USA auf bisherigem Niveau weiterläuft, sind keine größeren Veränderungen bei der Gebietskontrolle zu erwarten (AA 2.2.2024).
Der Machtanspruch des syrischen Regimes wird in einigen Gebieten unter seiner Kontrolle angefochten. Dem Regime gelingt es dort nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen. Im Gouvernement Suweida kommt es beispielsweise seit dem 20.8.2023 zu täglichen regimekritischen Protesten, darunter Straßenblockaden und die zeitweise Besetzung von Liegenschaften der Regime-Institutionen (AA 2.2.2024). In den vom Regime kontrollierten Gebieten unterdrücken die Sicherheits- und Geheimdienstkräfte des Regimes, die Milizen und die Verbündeten aus der Wirtschaft aktiv die Autonomie der Wähler und Politiker. Ausländische Akteure wie das russische und das iranische Regime sowie die libanesische Schiitenmiliz Hizbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aus (FH 9.3.2023). In den übrigen Landesteilen üben unverändert de facto Behörden Gebietsherrschaft aus. Im Nordwesten kontrolliert die von der islamistischen Terrororganisation Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) gestellte Syrische Errettungsregierung (SSG) weiterhin Gebiete in den Gouvernements Idlib, Lattakia, Hama und Aleppo. In Teilen des Gouvernements Aleppo sowie in den von der Türkei besetzten Gebieten im Norden beansprucht weiterhin die von der syrischen Oppositionskoalition (SOC/Etilaf) bestellte Syrische Interimsregierung (SIG) den Regelungsanspruch. Die von kurdisch kontrollierten Kräften abgesicherten sogenannten Selbstverwaltungsbehörden im Nordosten (AANES) üben unverändert Kontrolle über Gebiete östlich des Euphrats in den Gouvernements ar-Raqqah, Deir ez-Zor und al-Hassakah sowie in einzelnen Ortschaften im Gouvernement Aleppo aus (AA 2.2.2024). Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen bleibt Syrien, bis hin zur subregionalen Ebene, territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Im syrischen Bürgerkrieg hat sich die Grenze zwischen Staat und Nicht-Staat zunehmend verwischt. Im Laufe der Zeit haben sowohl staatliche Akteure als auch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen parallele, miteinander vernetzte und voneinander abhängige politische Ökonomien geschaffen, in denen die Grenzen zwischen formell und informell, legal und illegal, Regulierung und Zwang weitgehend verschwunden sind. Die Grenzgebiete in Syrien bilden heute ein einziges wirtschaftliches Ökosystem, das durch dichte Netzwerke von Händlern, Schmugglern, Regimevertretern, Maklern und bewaffneten Gruppen miteinander verbunden ist (Brookings 27.1.2023).
Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum März 2023 - Oktober 2023] nicht wesentlich verändert (AA 2.2.2024). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vgl. AA 29.3.2023). Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo in den Regimegebieten, etwa zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht. Auch der politische Prozess für eine von den Konfliktparteien verhandelte, inklusive Lösung des Konflikts gemäß Sicherheitsratsresolution 2254 der Vereinten Nationen (VN) (vorgesehen danach u. a. Ausarbeitung einer neuen Verfassung, freie und faire Wahlen unter Aufsicht der VN und unter Beteiligung der syrischen Diaspora) unter Ägide der VN stagniert. Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert. Alternative politische Formate unter Führung verschiedener Mächte haben bislang keine Fortschritte gebracht (AA 2.2.2024). Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (Alaraby 31.5.2023; vgl. IPS 20.5.2022). Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell (HRW 11.1.2024).
Im Äußeren gelang es dem syrischen Regime, sich dem Eindruck internationaler Isolation entgegenzusetzen (AA 2.2.2024). Das propagierte "Normalisierungsnarrativ" verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten (AA 29.3.2023). Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war (Wilson 6.6.2023; vgl. SOHR 7.5.2023). Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels in die Nachbarländer - insbesondere von Captagon (CMEC 16.5.2023; vgl. Wilson 6.6.2023, SOHR 7.5.2023), Ängste vor einer Machtübernahme islamistischer Extremisten im Fall eines Sturzes des Assad-Regimes sowie die Eindämmung des Einflusses bewaffneter, von Iran unterstützter Gruppierungen, insbesondere im Süden Syriens. Das syrische Regime zeigt laut Einschätzung eines Experten für den Nahen Osten dagegen bislang kein Interesse, eine große Anzahl an Rückkehrern wiederaufzunehmen und Versuche, den Drogenhandel zu unterbinden, erscheinen in Anbetracht der Summen, welche dieser ins Land bringt, bislang im besten Fall zweifelhaft (CMEC 16.5.2023). Am 3.7.2023 reiste erneut der jordanische Außenminister Ayman Safadi nach Damaskus, um Bemühungen zur Schaffung von Bedingungen für die Rückkehr von syrischen Geflüchteten aus Jordanien zu intensivieren (AA 2.2.2024). Die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit und die USA stellen sich den Normalisierungsbestrebungen politisch unverändert entgegen(AA 2.2.2024).
Regional positionierte sich das Regime seit Ausbruch der kriegerischen Kampfhandlungen zwischen Israel und der Hamas in und um Gaza seit dem 7.10.2023 öffentlich an der Seite der Palästinenser und kritisierte Israel, mit dem sich Syrien formell weiterhin im Kriegszustand befindet, scharf (AA 2.2.2024).
Quellen: […]
Syrische Arabische Republik
Letzte Änderung 2024-03-08 11:06
Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.1.2019). Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position (BBC 2.5.2023). Die beiden Assad-Regime hielten die Macht durch ein komplexes Gefüge aus ba'athistischer Ideologie, Repression, Anreize für wirtschaftliche Eliten und der Kultivierung eines Gefühls des Schutzes für religiöse Minderheiten (USCIRF 4.2021). Das überwiegend von Alawiten geführte Regime präsentiert sich als Beschützer der Alawiten und anderer religiöser Minderheiten (FH 9.3.2023) und die alawitische Minderheit hat weiterhin einen im Verhältnis zu ihrer Zahl überproportional großen politischen Status, insbesondere in den Führungspositionen des Militärs, der Sicherheitskräfte und der Nachrichtendienste, obwohl das hochrangige Offizierskorps des Militärs weiterhin auch Angehörige anderer religiöser Minderheitengruppen in seine Reihen aufnimmt (USDOS 15.5.2023). In der Praxis hängt der politische Zugang jedoch nicht von der Religionszugehörigkeit ab, sondern von der Nähe und Loyalität zu Assad und seinen Verbündeten. Alawiten, Christen, Drusen und Angehörige anderer kleinerer Religionsgemeinschaften, die nicht zu Assads innerem Kreis gehören, sind politisch entrechtet. Zur politischen Elite gehören auch Angehörige der sunnitischen Religionsgemeinschaft, doch die sunnitische Mehrheit des Landes stellt den größten Teil der Rebellenbewegung und hat daher die Hauptlast der staatlichen Repressionen zu tragen (FH 9.3.2023).
Die Verfassung schreibt die Vormachtstellung der Vertreter der Ba'ath-Partei in den staatlichen Institutionen und in der Gesellschaft vor, und Assad und die Anführer der Ba'ath-Partei beherrschen als autoritäres Regime alle drei Regierungszweige (USDOS 20.3.2023). Mit dem Dekret von 2011 und den Verfassungsreformen von 2012 wurden die Regeln für die Beteiligung anderer Parteien formell gelockert. In der Praxis unterhält die Regierung einen mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat, um Oppositionsbewegungen zu überwachen und zu bestrafen, die Assads Herrschaft ernsthaft infrage stellen könnten (FH 9.3.2023). Der Präsident stützt seine Herrschaft insbesondere auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der militärischen und zivilen Nachrichtendienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen. So hat sich in Syrien ein politisches System etabliert, in dem viele Institutionen und Personen miteinander um Macht konkurrieren und dabei kaum durch die Verfassung und den bestehenden Rechtsrahmen kontrolliert werden, sondern v. a. durch den Präsidenten und seinen engsten Kreis. Trotz gelegentlicher interner Machtkämpfe stehen Assad dabei keine ernst zu nehmenden Kontrahenten gegenüber. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle seither verteidigt oder sogar weiter ausgebaut und profitieren durch Schmuggel und Korruption wirtschaftlich erheblich (AA 29.3.2023).
Dem ehemaligen Berater des US-Außenministeriums Hazem al-Ghabra zufolge unterstützt Syrien beinahe vollständig die Herstellung und Logistik von Drogen, weil es eine Einnahmemöglichkeit für den Staat und für Vertreter des Regimes und dessen Profiteure darstellt (Enab 23.1.2023). Baschar al-Assad mag der unumschränkte Herrscher sein, aber die Loyalität mächtiger Warlords, Geschäftsleute oder auch seiner Verwandten hat ihren Preis. Beispielhaft wird von einer vormals kleinkriminellen Bande berichtet, die Präsident Assad in der Stadt Sednaya gewähren ließ, um die dort ansässigen Christen zu kooptieren, und die inzwischen auf eigene Rechnung in den Drogenhandel involviert ist. Der Machtapparat hat nur bedingt die Kontrolle über die eigenen Drogennetzwerke. Assads Cousins, die Hisbollah und Anführer der lokalen Organisierten Kriminalität haben kleine Imperien errichtet und geraten gelegentlich aneinander, wobei Maher al-Assad, der jüngere Bruder des Präsidenten und Befehlshaber der Vierten Division, eine zentrale Rolle bei der Logistik innehat. Die Vierte Division mutierte in den vergangenen Jahren 'zu einer Art Mafia-Konglomerat mit militärischem Flügel'. Sie bewacht die Transporte und Fabriken, kontrolliert die Häfen und nimmt Geld ein. Maher al-Assads Vertreter, General Ghassan Bilal, gilt als der operative Kopf und Verbindungsmann zur Hisbollah (Spiegel 17.6.2022).
Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar (AA 2.2.2024).
Institutionen und Wahlen
Syrien ist nach der geltenden Verfassung von 2012 eine semipräsidentielle Volksrepublik. Das politische System Syriens wird de facto jedoch vom autoritär regierenden Präsidenten dominiert. Der Präsident verfügt als oberstes Exekutivorgan, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Generalsekretär der Ba'ath-Partei über umfassende Vollmachten. Darüber hinaus darf der Präsident nach Art. 113 der Verfassung auch legislativ tätig werden, wenn das Parlament nicht tagt, aufgelöst ist oder wenn "absolute Notwendigkeit" dies erfordert. De facto ist die Legislativbefugnis des Parlaments derzeit außer Kraft gesetzt. Gesetze werden weitgehend als Präsidialdekrete verabschiedet (AA 29.3.2023).
Der Präsident wird nach der Verfassung direkt vom Volk gewählt. Seine Amtszeit beträgt sieben Jahre. Seit der letzten Verfassungsänderung 2012 ist maximal eine einmalige Wiederwahl möglich. Da diese Verfassungsbestimmung jedoch erstmals bei den Präsidentschaftswahlen 2014 zur Anwendung kam, war es dem aktuellen Präsidenten Baschar al-Assad erlaubt, bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2021 erneut zu kandidieren. Kandidatinnen und Kandidaten für das Präsidentenamt werden nach Art. 85 vom Obersten Verfassungsgericht überprüft und müssen Voraussetzungen erfüllen, die Angehörige der Opposition faktisch weitgehend ausschließen. So muss ein Kandidat u. a. im Besitz seiner bürgerlichen und politischen Rechte sein (diese werden bei Verurteilungen für politische Delikte in der Regel entzogen), darf nicht für ein "ehrenrühriges" Vergehen vorbestraft sein und muss bis zum Zeitpunkt der Kandidatur ununterbrochen zehn Jahre in Syrien gelebt haben. Damit sind im Exil lebende Politikerinnen und Politiker von einer Kandidatur de facto ausgeschlossen (AA 29.3.2023). Bei den Präsidentschaftswahlen, die im Mai 2021 in den von der Regierung kontrollierten Gebieten sowie einigen syrischen Botschaften abgehalten wurden, erhielt Bashar al-Assad 95,1 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von rund 77 Prozent und wurde damit für eine weitere Amtsperiode von sieben Jahren wiedergewählt. Zwei kaum bekannte Personen waren als Gegenkandidaten angetreten und erhielten 1,5 Prozent und 3,3 Prozent der Stimmen (Standard 28.5.2021; vgl. Reuters 28.5.2021). Politiker der Exilopposition waren von der Wahl ausgeschlossen. Die Europäische Union erkennt die Wahl nicht an, westliche Regierungen bezeichnen sie als 'weder frei noch fair' und als 'betrügerisch', und die Opposition nannte sie eine 'Farce' (Standard 28.5.2021).
Das Parlament hat nicht viel Macht. Dekrete werden meist von Ministern und Ministerinnen vorgelegt, um ohne Änderungen vom Parlament genehmigt zu werden. Sitze im Parlament oder im Kabinett dienen nicht dazu, einzelne Machtgruppen in die Entscheidungsfindung einzubinden, sondern dazu, sie durch die Vorteile, die ihnen ihre Positionen verschaffen, zu kooptieren (BS 23.2.2022). Im Juli 2020 fanden die Wahlen für das "Volksrat" genannte syrische Parlament mit 250 Sitzen statt, allerdings nur in Gebieten, in denen das Regime präsent ist. Auch diese Wahlen wurden durch die weitverbreitete Vertreibung der Bevölkerung beeinträchtigt. Bei den Wahlen gab es keinen nennenswerten Wettbewerb, da die im Exil lebenden Oppositionsgruppen nicht teilnahmen und die Behörden keine unabhängigen politischen Aktivitäten in dem von ihnen kontrollierten Gebiet dulden. Die regierende Ba'ath-Partei und ihre Koalition der Nationalen Progressiven Front erhielten 183 Sitze. Die restlichen 67 Sitze gingen an unabhängige Kandidaten, die jedoch alle als regierungstreu galten (FH 9.3.2023). Die Wahlbeteiligung lag bei 33,7 Prozent (BS 23.2.2022). Es gab Vorwürfe des Betrugs, der Wahlfälschung und der politischen Einflussnahme. Kandidaten wurden in letzter Minute von den Wahllisten gestrichen und durch vom Regime bevorzugte Kandidaten ersetzt, darunter Kriegsprofiteure, Warlords und Schmuggler, welche das Regime im Zuge des Konflikts unterstützten (WP 22.7.2020).
Der Wahlprozess soll so strukturiert sein, dass eine Manipulation des Regimes möglich ist. Syrische Bürger können überall innerhalb der vom Regime kontrollierten Gebiete wählen, und es gibt keine Liste der registrierten Wähler in den Wahllokalen und somit keinen Mechanismus zur Überprüfung, ob Personen an verschiedenen Wahllokalen mehrfach gewählt haben. Aufgrund der Vorschriften bei Reihungen auf Wahllisten sind alternative Kandidaten standardmäßig nur ein Zusatz zu den Kandidaten der Ba'ath-Partei (MEI 24.7.2020). Die vom Regime und den Nachrichtendiensten vorgenommene Reihung auf der Liste ist damit wichtiger als die Unterstützung durch die Bevölkerung oder Stimmen. Wahlen in Syrien dienen nicht dem Finden von Entscheidungsträgern, sondern der Aufrechterhaltung der Fassade von demokratischen Prozessen durch den Staat nach Außen. Sie fungieren als Möglichkeit, relevante Personen in Syrien quasi zu managen und Loyalisten dazu zu zwingen, ihre Hingabe zum Regime zu demonstrieren (BS 23.2.2022). Zudem gilt der Verkauf öffentlicher Ämter an reiche Personen, im Verbund mit entsprechend gefälschten Wahlergebnissen, als zunehmend wichtige Devisenquelle für das syrische Regime (AA 29.3.2023). Entscheidungen werden von den Sicherheitsdiensten oder dem Präsidenten auf Basis ihrer Notwendigkeiten getroffen - nicht durch gewählte Personen (BS 23.2.2022).
Im September 2022 fanden in allen [unter Kontrolle des syrischen Regimes stehenden] Provinzen Wahlen für die Lokalräte statt. Nichtregierungsorganisationen bezeichneten sie ebenfalls als weder frei noch fair (USDOS 20.3.2023).
Quellen: […]
Syrische Interimsregierung und syrische Heilsregierung
Letzte Änderung 2023-07-11 09:24
Im März 2013 gab die Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte als höchste offizielle Oppositionsbehörde die Bildung der syrischen Interimsregierung (Syrian Interim Government, SIG) bekannt, welche die Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes im ganzen Land verwalten soll. Im Laufe der Zeit schrumpften die der Opposition angehörenden Gebiete jedoch, insbesondere nach den Vereinbarungen von 2018, die dazu führten, dass Damaskus die Kontrolle über den Süden Syriens und die Oppositionsgebiete im Süden von Damaskus und im Umland übernahm. Der Einfluss der SIG ist nun auf die von der Türkei unterstützten Gebiete im Norden Aleppos beschränkt (SD 18.3.2023). Formell erstreckt sich ihr Zuständigkeitsbereich auch auf die von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrollierte Zone. Dort wurde sie von der HTS jedoch an den Rand gedrängt (Brookings 27.1.2023). Die von der HTS kontrollierten Gebiete in Idlib und Teile der Provinzen Aleppo und Latakia werden inzwischen von der syrischen Heilsregierung (Syrian Salvation Government, SSG), dem zivilen Flügel der HTS, regiert (SD 18.3.2023).
Nicht-staatliche Akteure in Nordsyrien haben systematisch daran gearbeitet, sich selbst mit Attributen der Staatlichkeit auszustatten. Sie haben sich von aufständischen bewaffneten Gruppen in Regierungsbehörden verwandelt. In Gebieten, die von der HTS, einer sunnitischen islamistischen politischen und militärischen Organisation, kontrolliert werden, und in Gebieten, die nominell unter der Kontrolle der SIG stehen, haben bewaffnete Gruppen und die ihnen angeschlossenen politischen Flügel den institutionellen Rahmen eines vollwertigen Staates mit ausgefeilten Regierungsstrukturen wie Präsidenten, Kabinetten, Ministerien, Regulierungsbehörden, Exekutivorganen usw. übernommen (Brookings 27.1.2023).
Die nordwestliche Ecke der Provinz Idlib, an der Grenze zur Türkei, ist die letzte Enklave der traditionellen Opposition gegen Assads Herrschaft. Sie beherbergt Dutzende von hauptsächlich islamischen bewaffneten Gruppen, von denen die HTS die dominanteste ist (MEI 26.4.2022). Mit der im November 2017 gegründeten (NPA 4.5.2023) syrischen Heilsregierung hat die HTS ihre Möglichkeiten zur Regulierung, Besteuerung und Bereitstellung begrenzter Dienstleistungen für die Zivilbevölkerung erweitert. Doch wie jüngste Studien gezeigt haben, sind diese Institutionen Mechanismen, die hochrangige Persönlichkeiten innerhalb der herrschenden Koalitionen ermächtigen und bereichern (Brookings 27.1.2023). In dem Gebiet werden keine organisierten Wahlen abgehalten und die dortigen Lokalräte werden von bewaffneten Gruppen beherrscht oder von diesen umgangen. Die HTS versucht in Idlib, eine autoritäre Ordnung mit einer islamistischen Agenda durchzusetzen. Obwohl die Mehrheit der Menschen in Idlib sunnitische Muslime sind, ist HTS nicht beliebt. Die von der HTS propagierten religiösen Dogmen sind nur ein Aspekt, der den Bürgerinnen und Bürgern missfällt. Zu den anderen Aspekten gehören der Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, willkürliche Verhaftungen, Gewalt und Missbrauch (BS 23.2.2022).
In den von der Türkei besetzten und kontrollierten Gebieten in Nordwest- und Nordzentral-Syrien ist die SIG die nominelle Regierungsbehörde. Innerhalb der von der Türkei kontrollierten Zone ist eine von der Türkei unterstützte Koalition bewaffneter Gruppen, die Syrische Nationale Armee (SNA) - nicht zu verwechseln mit Assads Syrischen Streitkräften -, mächtiger als die SIG, die sie routinemäßig ignoriert oder außer Kraft setzt (Brookings 27.1.2023). Beide wiederum operieren de facto unter der Autorität der Türkei (Brookings 27.1.2023; vgl. SD 18.3.2023). Die von der Türkei unterstützten Oppositionskräfte bildeten nach ihrer Machtübernahme 2016 bzw 2018 in diesem Gebiet Lokalräte, die administrativ mit den angrenzenden Provinzen der Türkei verbunden sind. Laut einem Forscher des Omran Center for Strategic Studies können die Lokalräte keine strategischen Entscheidungen treffen, ohne nicht die entsprechenden türkischen Gouverneure einzubinden. Gemäß anderen Quellen variiert der Abhängigkeitsgrad der Lokalräte von den türkischen Behörden von einem Rat zum nächsten (SD 18.3.2023). Die Anwesenheit der Türkei bringt ein gewisses Maß an Stabilität, aber ihre Abhängigkeit von undisziplinierten lokalen Vertretern, ihre Unfähigkeit, die Fraktionsbildung unter den Dutzenden bewaffneter Gruppen, die mit der SNA verbunden sind, zu überwinden, und ihre Toleranz gegenüber deren Missbrauch und Ausbeutung der Zivilbevölkerung haben dazu geführt, dass ihre Kontrollzone die am wenigsten sichere und am brutalsten regierte im Norden Syriens ist (Brookings 27.1.2023).
[Für mehr Informationen siehe insbesondere das Unterkapitel Nordwest-Syrien im Kapitel Sicherheitslage.]
Quellen: […]
Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien
Letzte Änderung 2024-03-08 11:12
2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) gekommen sein, deren Mitglieder die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) gründeten. Die PYD, ausgestattet mit einem bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt die kurdische Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der Revolution zu beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen, Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrisch-kurdischer Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine 'zweite Front' in den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Ba'ath-Regime Stück für Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen Gebieten zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden Afrîn, 'Ain al-'Arab (Kobanê) und die Jazira/Cizîrê von der PYD und der YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten militärischen Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre (Savelsberg 8.2017).
Im November 2013 - etwa zeitgleich mit der Bildung der syrischen Interimsregierung (SIG) durch die syrische Opposition - rief die PYD die sogenannte Demokratische Selbstverwaltung (DSA) in den Kantonen Afrîn, Kobanê und Cizîrê aus und fasste das so entstandene, territorial nicht zusammenhängende Gebiet unter dem kurdischen Wort für "Westen" (Rojava) zusammen. Im Dezember 2015 gründete die PYD mit ihren Verbündeten den Demokratischen Rat Syriens (SDC) als politischen Arm der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) (SWP 7.2018). Die von den USA unterstützten SDF (TWI 18.7.2022) sind eine Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheitengruppen (USDOS 20.3.2023), in dem der militärische Arm der PYD, die YPG, die dominierende Kraft ist (KAS 4.12.2018). Im März 2016 riefen Vertreter der drei Kantone (Kobanê war inzwischen um Tall Abyad erweitert worden) den Konstituierenden Rat des "Demokratischen Föderalen Systems Rojava/Nord-Syrien" (Democratic Federation of Northern Syria, DFNS) ins Leben (SWP 7.2018). Im März 2018 (KAS 4.12.2018) übernahm die Türkei völkerrechtswidrig die Kontrolle über den kurdischen Selbstverwaltungskanton Afrîn mithilfe der Syrischen Nationalen Armee (SNA), einer von ihr gestützten Rebellengruppe (taz 15.10.2022). Im September 2018 beschloss der SDC die Gründung des Selbstverwaltungsgebiets Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) auf dem Gebiet der drei Kantone (abzüglich des von der Türkei besetzten Afrîn). Darüber hinaus wurden auch Gebiete in Deir-ez Zor und Raqqa (K24 6.9.2018) sowie Manbij, Takba und Hassakah, welche die SDF vom Islamischen Staat (IS) befreit hatten, Teil der AANES (SO 27.6.2022).
Der Krieg gegen den IS forderte zahlreiche Opfer und löste eine Fluchtwelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus. Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen stabilen strategischen Partner verlassen. Die erhoffte Kriegsdividende, für den Kampf gegen den IS mit einem autonomen Gebiet 'belohnt' zu werden, ist bisher ausgeblieben (KAS 4.12.2018). Die syrische Regierung erkennt weder die kurdische Enklave noch die Wahlen in diesem Gebiet an (USDOS 20.3.2023). Türkische Vorstöße auf syrisches Gebiet im Jahr 2019 führten dazu, dass die SDF zur Abschreckung der Türkei syrische Regierungstruppen einlud, in den AANES Stellung zu beziehen (ICG 18.11.2021). Die Gespräche zwischen der kurdischen Selbstverwaltung und der Regierung in Damaskus im Hinblick auf die Einräumung einer Autonomie und die Sicherung einer unabhängigen Stellung der SDF innerhalb der syrischen Streitkräfte sind festgefahren (ÖB Damaskus 1.10.2021). Mit Stand Mai 2023 besteht kein entsprechender Vertrag zwischen den AANES und der syrischen Regierung (Alaraby 31.5.2023). Unter anderem wird über die Verteilung von Öl und Weizen verhandelt, wobei ein großer Teil der syrischen Öl- und Weizenvorkommen auf dem Gebiet der AANES liegen (K24 22.1.2023). Normalisierungsversuche der diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und der syrischen Regierung wurden in den AANES im Juni 2023 mit Sorge betrachtet (AAA 24.6.2023). Anders als die EU und USA betrachtet die Türkei sowohl die Streitkräfte der YPG als auch die Partei PYD als identisch mit der von der EU als Terrororganisation gelisteten PKK und daher als Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (AA 2.2.2024).
Die Führungsstrukturen der AANES unterscheiden sich von denen anderer Akteure und Gebiete in Syrien. Die "autonome Verwaltung" basiert auf der egalitären, von unten nach oben gerichteten Philosophie Abdullah Öcalans, der in der Türkei im Gefängnis sitzt [Anm.: Gründungsmitglied und Vorsitzender der PKK]. Frauen spielen eine viel stärkere Rolle als anderswo im Nahen Osten, auch in den kurdischen Sicherheitskräften. Lokale Nachbarschaftsräte bilden die Grundlage der Regierungsführung, die durch Kooptation zu größeren geografischen Einheiten zusammengeführt werden (MEI 26.4.2022). Es gibt eine provisorische Verfassung, die Lokalwahlen vorsieht (FH 9.3.2023). Dies ermöglicht mehr freie Meinungsäußerung als anderswo in Syrien und theoretisch auch mehr Opposition. In der Praxis ist die PYD nach wie vor vorherrschend, insbesondere in kurdisch besiedelten Gebieten (MEI 26.4.2022), und der AANES werden autoritäre Tendenzen bei der Regierungsführung und Wirtschaftsverwaltung des Gebiets vorgeworfen (Brookings 27.1.2023; vgl. SD 22.7.2021). Die mit der PYD verbundenen Kräfte nehmen regelmäßig politische Opponenten fest. Während die politische Vertretung von Arabern formal gewährleistet ist, werden der PYD Übergriffe gegen nicht-kurdische Einwohner vorgeworfen (FH 9.3.2023). Teile der SDF haben Berichten zufolge Übergriffe verübt, darunter Angriffe auf Wohngebiete, körperliche Misshandlungen, rechtswidrige Festnahmen, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten, Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie willkürliche Zerstörung und Abriss von Häusern. Die SDF haben die meisten Vorwürfe gegen ihre Streitkräfte untersucht. Einige Mitglieder der SDF wurden wegen Missbrauchs strafrechtlich verfolgt, jedoch lagen dazu keine genauen Zahlen vor (USDOS 20.3.2023).
Zwischen den rivalisierenden Gruppierungen unter den Kurden gibt es einerseits Annäherungsbemühungen, andererseits kommt es im Nordosten aus politischen Gründen und wegen der schlechten Versorgungslage zunehmend auch zu innerkurdischen Spannungen zwischen dem sogenannten Kurdish National Council, der Masoud Barzanis KDP [Anm.: Kurdistan Democratic Party - Irak] nahesteht und dem ein Naheverhältnis zur Türkei nachgesagt wird, und der PYD, welche die treibende Kraft hinter der kurdischen Selbstverwaltung ist, und die aus Sicht des Kurdish National Council der PKK zu nahe steht (ÖB 1.10.2021).
Seitdem der Islamische Staat (IS) 2019 die Kontrolle über sein letztes Bevölkerungszentrum verloren hat, greift er mit Guerilla- und Terrortaktiken Sicherheitskräfte und lokale zivile Führungskräfte an (FH 9.3.2023). Hauptziele sind Einrichtungen und Kader der SDF sowie der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021).
Anmerkung: s. die entsprechenden Unterkapitel des Kapitels Sicherheitslage zum Frontverlauf in Nordsyrien sowie zur Vorgehensweise der Türkei.
Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen
[…]
Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst
Letzte Änderung 2024-03-11 06:50
Rechtliche Bestimmungen
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines
Wehrdienstes verpflichtend (ÖB Damaskus 12.2022). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Die Dauer des Wehrdienstes beträgt 18 Monate bzw 21 Monate für jene, die die fünfte Klasse der Grundschule nicht abgeschlossen haben (PAR 1.6.2011). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 2.2.2024). In der Vergangenheit wurde es auch akzeptiert, sich, statt den Militärdienst in der syrischen Armee zu leisten, einer der bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppierung anzuschließen. Diese werden inzwischen teilweise in die Armee eingegliedert, jedoch ohne weitere organisatorische
Integrationsmaßnahmen zu setzen oder die Kämpfer auszubilden (ÖB Damaskus 12.2022).
Wehrpflichtige und Reservisten können im Zuge ihres Wehrdienstes bei der Syrischen Arabischen Armee (SAA) auch den Spezialeinheiten (Special Forces), der Republikanischen Garde oder der Vierten Division zugeteilt werden, wobei die Rekruten den Dienst in diesen Einheiten bei Zuteilung nicht verweigern können (DIS 4.2023). Um dem verpflichtenden Wehrdienst zu entgehen, melden sich manche Wehrpflichtige allerdings aufgrund der höheren Bezahlung auch freiwillig zur Vierten Division, die durch die von ihr kontrollierten Checkpoints Einnahmen generiert (EB 17.1.2023). Die 25. (Special Tasks) Division (bis 2019: Tiger Forces) rekrutiert sich dagegen ausschließlich aus Freiwilligen (DIS 4.2023).
Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger inAnspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB Damaskus 12.2022). Einer vertraulichen Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge sollen Männer auch unabhängig ihres Gesundheitszustandes eingezogen und in der Verwaltung eingesetzt worden sein (NMFA 8.2023).
Die im März 2020, Mai 2021 und Jänner 2022 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetz, darunter Fahnenflucht. Die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB Damaskus 12.2022).
Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen (AA 2.2.2024). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 2.2.2024; vgl. ICWA
24.5.2022).
Männliche Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge, die zwischen 1948 und 1956 nach Syrien kamen und als solche bei der General Administration for Palestinian Arab Refugees (GAPAR) registriert sind (NMFA 5.2022), bzw palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht (AA 13.11.2018; vgl. Action PAL 3.1.2023, ACCORD
21.9.2022). Ihren Wehrdienst leisten sie für gewöhnlich in einer Unterabteilung der syrischen Armee, die den Namen Palästinensische Befreiungsarmee trägt: Palestinian Liberation Army
(PLA) (BAMF 2.2023, (AA 13.11.2018; vgl. ACCORD 21.9.2022). Es konnten keine Quellen gefunden werden, die angeben, dass Palästinenser vom Reservedienst ausgeschlossen seien (ACCORD 21.9.2022; vgl. BAMF 2.2023).
Frauen können als Berufssoldatinnen dem syrischen Militär beitreten. Dies kommt in der Praxis tatsächlich vor, doch stoßen die Familien oft auf kulturelle Hindernisse, wenn sie ihren weiblichen Verwandten erlauben, in einem so männlichen Umfeld zu arbeiten. Dem Vernehmen nach ist es in der Praxis häufiger, dass Frauen in niedrigeren Büropositionen arbeiten als in bewaffneten oder leitenden Funktionen. Eine Quelle erklärt dies damit, dass Syrien eine männlich geprägte Gesellschaft ist, in der Männer nicht gerne Befehle von Frauen befolgen (NMFA 5.2022).
Mit Stand Mai 2023 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 9.5.2023). Frauen sind auch regierungsfreundlichen Milizen beigetreten. In den Reihen der National Defence Forces (NDF) dienen ca. 1.000 bis 1.500 Frauen, eine vergleichsweise geringe Anzahl. Die Frauen sind an bestimmten Kontrollpunkten der Regierung präsent, insbesondere in konservativen Gebieten, um Durchsuchungen von Frauen durchzuführen (FIS 14.12.2018).
Die Umsetzung
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer
Kampfausbildung bzw -einsätzen verbunden sind, ableisten (STDOK 8.2017; vgl. DIS 7.2023).
Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt,
während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK
8.2017).
Obwohl die offizielle Wehrdienstzeit etwa zwei Jahre beträgt, werden Wehrpflichtige in der Praxis auf unbestimmte Zeit eingezogen (NMFA 5.2022; vgl. AA 29.3.2022), wobei zuletzt von einer „Verkürzung“ des Wehrdienstes auf 7,5 Jahre berichtet wurde. Die tatsächliche Dauer richtet sich laut UNHCR Syrien jedoch nach Rang und Funktion der Betreffenden (ÖB Damaskus 12.2022). Personen, die aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse von großem Wert für die Armee und nur schwer zu ersetzen sind, können daher über Jahre hinweg im Militärdienst gehalten werden. Personen, deren Beruf oder Fachwissen in der Gesellschaft sehr gefragt ist, wie z.B. Ärzte, dürfen eher nach Ablauf der offiziellen Militärdienstzeit ausscheiden (NMFA 5.2022).
Seit März 2020 hat es in Syrien keine größeren militärischen Offensiven an den offiziellen Frontlinien mehr gegeben. Scharmützel, Granatenbeschuss und Luftangriffe gingen weiter, aber die Frontlinien waren im Grunde genommen eingefroren. Nach dem Ausbruch von COVID-19 und der Einstellung größerer Militäroperationen in Syrien Anfang 2020 verlangsamten sich Berichten zufolge die militärischen Rekrutierungsmaßnahmen der SAA. Die SAA berief jedoch regelmäßig neue Wehrpflichtige und Reservisten ein. Im Oktober 2021 wurde ein Rundschreiben herausgegeben, in dem die Einberufung von männlichen Syrern im wehrpflichtigen Alter angekündigt
wurde. Auch in den wiedereroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Militärdienst ableisten (EUAA 9.2022). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (AA 2.2.2024).
Rekrutierungspraxis
Es gibt, dem Auswärtigen Amt zufolge, zahlreiche glaubhafte Berichte, laut denen wehrpflichtige Männer, die auf den Einberufungsbescheid nicht reagieren, von Mitarbeitern der Geheimdienste abgeholt und zwangsrekrutiert werden (AA 2.2.2024). Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert (AA 2.2.2024; vgl. NMFA 5.2022), wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt (NMFA 5.2022; vgl. NLM 29.11.2022). Im September 2022 wurde beispielsweise von der Errichtung eines mobilen Checkpoints im Gouvernement Dara’a berichtet, an dem mehrere Wehrpflichtige festgenommen wurden (SO 12.9.2022). In Homs führte die Militärpolizei gemäß einem Bericht aus dem Jahr 2020 stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 6.3.2020). Im Jänner 2023 wurde berichtet, dass Kontrollpunkte in Homs eine wichtige Einnahmequelle der Vierten Division seien (EB 17.1.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gibt es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 2.2.2024).
Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Lokale Medien berichteten, dass die Sicherheitskräfte der Regierung während der Fußballweltmeisterschaft der Herren 2022 mehrere Cafés, Restaurants und öffentliche Plätze in Damaskus stürmten, wo sich Menschen versammelt hatten, um die Spiele zu sehen, und Dutzende junger Männer zur Zwangsrekrutierung festnahmen (USDOS 20.3.2023).
Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z. B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vgl. ICG 9.5.2022, EB 6.3.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Hausdurchsuchungen finden dabei v.a. eher in urbanen Gebieten statt, wo die SAA stärkere Kontrolle hat, als in ruralen Gebieten (DIS 1.2024). Mehrere Quellen berichteten im Jahr 2023 wieder vermehrt, dass Wehr- und Reservedienstpflichtige aus ehemaligen Oppositionsgebieten von der syrischen Regierung zur Wehrpflicht herangezogen wurden, um mehr Kontrolle über diese Gebiete zu erlangen bzw um potenzielle Oppositionskämpfer aus diesen Gebieten abzuziehen (NMFA 8.2023; vgl. DIS 7.2023). Eine Quelle des Danish Immigration Service geht davon aus, dass Hausdurchsuchungen oft weniger die Rekrutierung als vielmehr eine Erpressung zum Ziel haben (DIS 1.2024).
Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht (STDOK 8.2017). Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017; vgl. FIS 14.12.2018). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).
Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020). Anfang April 2023 wurde beispielsweise von verstärkten Patrouillen der Regierungsstreitkräfte im Osten Dara’as berichtet, um Personen aufzugreifen, die zum Militär- und Reservedienst verpflichtet sind (ETANA 4.4.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 4.12.2020).
Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf
Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB Damaskus 12.2022; vgl. EASO 4.2021). Da die Zusammensetzung der syrisch-arabischen Armee ein Spiegelbild der syrischen Bevölkerung ist, sind ihre Wehrpflichtigen mehrheitlich sunnitische Araber, die vom Regime laut einer Quelle als „Kanonenfutter“ im Krieg eingesetzt wurden. Die sunnitischarabischen Soldaten waren (ebenso wie die alawitischen Soldaten und andere) gezwungen, den größeren Teil der revoltierenden sunnitisch-arabischen Bevölkerung zu unterdrücken. Der Krieg forderte unter den alawitischen Soldaten bezüglich der Anzahl der Todesopfer einen hohen
Tribut, wobei die Eliteeinheiten der SAA, die Nachrichtendienste und die Shabiha-Milizen stark alawitisch dominiert waren (Al-Majalla 15.3.2023).
Im Rahmen sog. lokaler „Versöhnungsabkommen“ in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus Libanon hat das Regime Männern im
wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben (AA 2.2.2024).
Staatenlose Palästinenser werden meistens in die Palestinian Liberation Army (PLA) rekrutiert, seltener auch in die reguläre SAA. Sie sind ebenfalls reservepflichtig. Allerdings dauert ihre Pflicht zum Reservedienst weniger lange, nämlich nur viereinhalb Jahre. Den meisten Quellen des Danish Immigration Service waren keine Fälle bekannt, wonach staatenlose Palästinenser in Syrien zum Reservedienst in der PLA einberufen wurden. Die PLA wurde auch an die Front geschickt (DIS 1.2024).
Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle
Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sieAngst hatten, in die SAAeingezogen zu werden (Rechtsexperte
14.9.2022). Die Absolvierung des „Wehrdiensts“ gemäß der „Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien“ [Autonomous Administration of North and East Syria (AANES)] befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien. Die syrische Regierung verfügt über mehrere kleine Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese die Bezeichnung „Sicherheitsquadrate“ (al-Morabat al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befinden. Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw „Sicherheitsquadraten“ auseinander - auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten (DIS 6.2022). Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im „Sicherheitsquadrat“ im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor (Rechtsexperte 14.9.2022). Dies wird auch von SNHR bestätigt, die ebenfalls angeben, dass die Rekrutierung durch die syrischen Streitkräfte an deren Zugriffsmöglichkeiten gebunden ist (ACCORD 7.9.2023). Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische
Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat] hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren (BMLV 12.10.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z.B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o. Ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).
Das Gouvernement Idlib befindet sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann (Rechtsexperte 14.9.2022), mit Ausnahme einiger süd-
westlicher Sub-Distrikte (Nahias) des Gouvernements, die unter Regierungskontrolle stehen
(ACLED 1.12.2022; vgl. Liveuamap 17.5.2023). Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen, um sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der „Gesuchten“ zu setzen. Das erleichtert ihre Verhaftung zur Rekrutierung, wenn sie das Gouvernement Idlib in Richtung der Gebiete unter Kontrolle der syrischen Regierung verlassen (Rechtsexperte 14.9.2022).
Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich auf das Gouvernement Aleppo konzentriert. Sie wird von der Türkei unterstützt und besteht aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA). Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann keine Personen aus diesen Gebieten für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Auch mit Stand Februar 2023 hat die syrische Armee laut einem von ACCORD befragten Syrienexperten keine Zugriffsmöglichkeit auf wehrdienstpflichtige Personen in Jarabulus (ACCORD 20.3.2023).
Reservedienst
Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden. Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z. B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung) (STDOK 8.2017). Reservisten können laut Gesetz bis zum Alter von 42 Jahren mehrfach zum Militärdienst eingezogen werden. Die syrischen Behörden ziehen weiterhin Reservisten ein (NMFA 5.2022; vgl. NMFA 8.2023; vgl. DIS 1.2024). Die Behörden berufen vornehmlich Männer bis 27 ein, während ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise nach oben angehoben, sodass auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen wurden bzw Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen können (ÖB Damaskus 12.2022). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab als von allgemeinen Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen Über-42-Jähriger nach 2016 bzw 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020). V.a. weil die SAA derzeit nicht mehr so viele Männer braucht, werden über 42-Jährige derzeit eher selten einberufen. Das syrische Regime verlässt sich vor allem auf Milizen, in deren Dienste sich 42-Jährige einschreiben lassen können (DIS 1.2024).
Das niederländische Außenministerium berichtet unter Berufung auf vertrauliche Quellen, dass
Männer über 42 Jahre, die ihren Wehrdienst abgeleistet hatten, Gefahr laufen, verhaftet zu werden, um sie zum Reservedienst zu bewegen. Männer, auch solche über 42 Jahren, werden vor allem in Gebieten, die zuvor eine Zeit lang nicht unter der Kontrolle der Behörden standen, als Reservisten eingezogen. Dies soll eine Form der Vergeltung oder Bestrafung sein. Personen, die als Reservisten gesucht werden, versuchen, sich dem Militärdienst durch Bestechung zu entziehen oder falsche Bescheinigungen zu erhalten, gemäß derer sie bei inoffiziellen Streitkräften, wie etwa regierungsfreundlichen Milizen, dienen (NMFA 5.2022). Manchen Quellen des Danish Immigration Service zufolge werden Reservisten unabhängig ihrer Qualifikationen einberufen, andere Quellen wiederum geben an, dass das syrische Regime Reservisten je nach ihrer militärischen Spezialisierung einzieht. Eine Quelle glaubt, dass Reservisten oft qualifikationsunabhängig eingezogen werden, aber immer öfter auf die Spezialisierung geachtet wird. Eine besondere Stellung bei der Einberufung zum Reservedienst nehmen Angestellte des öffentlichen Sektors ein. Manche Quellen sprechen davon, dass diese seltener einberufen werden, andere Quellen geben an, dass diese eher entsprechend ihrer Tätigkeiten (z.B. im medizinischen Bereich) im Rahmen ihres Reservedienstes an Orte geschickt werden, wo ihre Funktion gerade dringender gebraucht wird (DIS 1.2024).
Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung
Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Mit der COVID-19-Pandemie und der Beendigung umfangreicher Militäroperationen im Nordwesten Syriens im Jahr 2020 haben sich die groß angelegten militärischen Rekrutierungskampagnen der syrischen Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten jedoch verlangsamt (COAR 28.1.2021), und im Jahr 2021 hat die syrische Regierung damit begonnen, Soldaten mit entsprechender Dienstzeit abrüsten zu lassen. Nichtsdestotrotz wird die syrische Armee auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, nicht nur zur Aufrechterhaltung des laufenden Dienstbetriebs, sondern auch, um eingeschränkt militärisch operativ sein zu können. Ein neuerliches „Hochfahren“ dieses Systems scheint derzeit [Anm.: Stand 16.9.2022] nicht wahrscheinlich, kann aber vom Regime bei Notwendigkeit jederzeit wieder umgesetzt werden (BMLV 12.10.2022).
Als die Regierung große Teile des Gebiets von bewaffneten Oppositionellen zurückerobert hatte, wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren (DIS 5.2020). MitteOktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International CrisisGroup schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Der syrische Präsident erließ einen ab Oktober 2022 geltenden Verwaltungserlass mit Blick auf die unteren Ebenen der Militärhierarchie, der die Beibehaltung und Einberufung von bestimmten Offizieren und Reserveoffiziersanwärtern, die für den obligatorischen Militärdienst gemeldet sind, beendete. Bestimmte Offiziere und Offiziersanwärter, die in der Wehrpflicht stehen, sind zu demobilisieren, und bestimmte Unteroffiziere und Reservisten dürfen nicht mehr weiterbeschäftigt oder erneut einberufen werden (TIMEP 17.10.2022; vgl. SANA 27.8.2022). Ziel dieser Beschlüsse ist es, Hochschulabsolventen wie Ärzte und Ingenieure dazu zu bewegen, im Land zu bleiben (TIMEP 17.10.2022). Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020, vgl. NMFA 5.2022). Ein weiterer Beschluss wurde im Dezember 2023 erlassen, wonach Reserveoffiziere, die mit 31.01.2024 ein
Jahr oder mehr aktiv ihren Wehrdienst abgeleistet haben, ab 1.2.2024 nicht mehr einberufen werden. Dieser Beschluss beendet ebenfalls die Einberufung von Unteroffizieren und Reservisten, die mit 31.1.2024 sechs Jahre oder mehr aktiven Wehrdienst geleistet haben (SANA 4.12.2023).
Die Rekruten werden während des Wehrdienstes im Allgemeinen nicht gut behandelt. Der Umgang mit ihnen ist harsch. Nur wer gute Verbindungen zu höheren Offizieren oder Militärbehörden hat oder wer seine Vorgesetzten besticht, kann mit einer besseren Behandlung rechnen. Außerdem ist die Bezahlung sehr niedrig und oft ist es den Rekruten während des Wehrdienstes nicht gestattet, ihre Familien zu sehen (DIS 1.2024).
Einsatz von Rekruten im Kampf
Grundsätzlich vermeidet es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, jedoch können diese aufgrund der asymmetrischen Art der Kriegsführung mit seinen Hinterhalten und Anschlägen trotzdem in Kampfhandlungen verwickelt werden (BMLV
12.10.2022), wie in der Badia-Wüste, wo es noch zu Konfrontationen mit dem IS kommt (DIS 7.2023). Alle Eingezogenen können laut EUAA (European Union Agency for Asylum) unter Berufung auf einen Herkunftsländerbericht vom April 2021 potenziell an die Front abkommandiert werden. (EUAA 2.2023; vgl. DIS 7.2023). Ihr Einsatz hängt laut EUAA vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der Eingezogenen und ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab (EUAA 2.2023). Andere Quellen hingegen geben an, dass die militärische Qualifikation oder die Kampferfahrung keine Rolle spielt, beim Einsatz von Wehrpflichtigen an der Front (DIS 7.2023). Eingezogene Männer aus „versöhnten“ Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EUAA 2.2023; vgl. NMFA 8.2023). [Anm.: In welcher Relation die Zahl der Reservisten zu den Wehrpflichtigen steht, geht aus den Berichten nicht hervor.]
Quellen: […]
Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs
ohne Ableistung des Wehrdiensts
Letzte Änderung 2024-03-11 07:21
Siehe auch Kapitel „Länderspezifische Anmerkungen“.
Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vgl. FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit vorübergehenden Erkrankungen können den Wehrdienst aufschieben, wobei die Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020). Auch für Wehrpflichtige, die ins Ausland reisen möchten, ist ein Aufschub von bis zu 6 Monaten möglich und wird von Oppositionsangehörigen genützt, nachdem sie im Rahmen von Versöhnungsabkommen ihren „Status geregelt“ haben (DIS 1.2024). Das Risiko der Willkür ist immer gegeben (STDOK 8.2017; vgl. DRC/DIS 8.2017).
Als einziger Sohn der Familie kann man sich vom Wehrdienst befreien lassen. Mehrere Quellen des Danish Immigration Service haben angegeben, dass es keine Fälle gibt, in denen die einzigen Söhne einer Familie trotzdem zur Wehrpflicht herangezogen worden sind (DIS 1.2024).
Einem von der European Union Asylum Agency (EUAA) befragten syrischen Akademiker zufolge werden Wehrpflichtbefreiungen erlassen für Personen mit Erkrankungen, die es ihnen verunmöglichen, militärische Pflichten zu erfüllen, wie beispielsweise Herzerkrankungen oder Sehschwächen. Teilweise werden aber anstatt einer Befreiung, diese Personen auf Positionen ohne Gefechtsbereitschaft bzw auf denen sie keiner physischen Belastung ausgesetzt sind, wie in der Administration, verpflichtet (EUAA 10.2023; vgl. DIS 01.2024). Zur Entscheidung, ob und welcher Art eine Person wehrpflichtig ist, errechnen die Behörden einen Prozentgrad der Behinderung bzw der gesundheitlichen Beeinträchtigung zum Zeitpunkt der medizinischen Untersuchung (DIS 1.2024). Wobei eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums angibt, dass sechs Monate Grundausbildung unabhängig des Gesundheitszustandes komplett zu durchlaufen sind (NMFA 8.2023). Welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen zur Untauglichkeit bzw zum eingeschränkten Wehrdienst führen ist unklar, wobei es bestimmte, offensichtliche Behinderungen gibt, die eine Untauglichkeit bedingen, wie Blindheit oder Lähmungen. Oft werden auch Männer, die an Fettleibigkeit, Sehbehinderungen, Krebs, psychischen Krankheiten leiden oder denen eine Gliedmaße fehlt, vom Wehrdienst befreit. Gewisse gesundheitliche Beeinträchtigungen, wie Diabetes, Sehschwächen bis zu einem bestimmten Grad, Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Hörbeeinträchtigungen, Deformierungen an Händen oder Füßen, Asthma oder andere chronische Erkrankungen gelten meist als Gründe, um den Wehrdienst nicht im Feld ausüben zu müssen (DIS 1.2024). Einer vom niederländischen Außenministerium befragten Quelle zufolge werden medizinische Befreiungen häufig ignoriert und die Betroffenen müssen dennoch ihren Wehrdienst ableisten (NMFA 5.2022). Die tatsächliche Handhabung der Tauglichkeitskriterien ist schwer eruierbar, da sie von den Entscheidungen der medizinischen Ausschüsse abhängen (DIS 5.2020; vgl. DIS 1.2024). Der Prozess nimmt manchmal auch viel Zeit in Anspruch, sogar bei offensichtlichen Beeinträchtigungen, wie dem Downsyndrom (DIS 1.2024). Wer aus medizinischen Gründen befreit werden will oder in einer administrativen Position seinen Wehrdienst versehen möchte, hat mit Hürden zu rechnen und Erpressungen sowie das Bezahlen von Bestechungsgeldern ist weit verbreitet (EUAA 10.2023; vgl. NMFA 8.2023). So zahlen laut einem Experten, der vom Danish Immigration Service befragt wurde, manche Wehrpflichtige 3.000-4.000 USD, um ihren Wehrdienst in einem Büro statt am Gefechtsfeld zu leisten oder höhere Summen, um als gänzlich untauglich klassifiziert zu werden (DIS 7.2023). Manchmal müssen auch Personen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung Bestechungsgelder bezahlen, um als untauglich eingestuft zu werden (DIS 1.2024). Wer für den
Gefechtsdienst untauglich erklärt wurde, kann sich durch eine Zahlung von 3.000 USD gänzlich von der Wehrpflicht befreien. Weswegen viele Männer Bestechungsgelder bezahlen, um sich für den Gefechtsdienst untauglich schreiben zu lassen, um anschließend Gebrauch von dieser Ausnahmeregelung machen zu können (DIS 1.2024). Wenn die Behörden erkennen, dass medizinische Ausnahmen ungerechtfertigt, beispielsweise durch Bestechung, gewährt wurden, müssen sich die betroffenen Wehrpflichtigen einer erneuten medizinischen Untersuchung unterziehen (EUAA 10.2023). Demgegenüber berichten mehrere Quellen des Danish Immigration Service, dass die Zahlung eines Betrags von 3.000 USD für die Befreiung vom Wehrdienst für den Gefechtsdienst untaugliche Personen, von der Syrischen Regierung meist akzeptiert wird. Allerdings können sich nur wenige Personen diese hohen Geldbeträge überhaupt leisten (DIS
1.2024).
Seit einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im Juli 2019 ist die Aufschiebung des Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich und kann durch Befehl des Oberbefehlshabers beendet werden (ÖB Damaskus 12.2022).
Am 1.12.2023 trat das neue Gesetzesdekret Nr.37 in Kraft, wonach sich Rekruten, die das
40. Lebensjahr vollendet haben und noch nicht in den Reservedienst eingetreten sind, sich von ebendiesem freikaufen können durch eine Zahlung von 4.800 USD. Für jeden Monat, in dem derjenige den Reservedienst bereits geleistet hat, werden 200 USD abgezogen (SANA
1.12.2023).
Polizeidienst als Befreiung vom Wehrdienst
Gemäß Abschnitt 12 des Wehrpflichtgesetzes war eine Person vom Wehrdienst befreit, wenn sie mindestens zehn Jahre in den Diensten der inneren Sicherheit stand, einschließlich der Polizei. Diese Frist wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 1 von 2012 auf fünf Jahre verkürzt. Hat eine Person nicht die vollen fünf Jahre gedient, muss sie dennoch ihren Militärdienst ableisten. Wer bei der Polizei akzeptiert wird, unterschreibt jedoch einen Zehnjahresvertrag. Es ist auch möglich, dass ein Rekrut der Polizei beitritt und dort seinen Militärdienst ableistet, da die internen Sicherheitsdienste gemäß Artikel 10 des Wehrpflichtgesetzes zu den syrischen Streitkräften gezählt
werden. Wenn eine Person der Polizei beitritt, wird das Rekrutierungsbüro, dem sie untersteht, angewiesen, sie nicht zum Militärdienst einzuberufen (NMFA 5.2022). Eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums gibt zudem an, dass Polizisten keinen Reservedienst leisten müssen, wenn sie ihre Wehrpflicht erfüllt haben, unabhängig davon, ob sie Polizeidienst geleistet haben oder nicht (NMFA 8.2023).
Rechtlich gesehen ist es möglich, aus dem Polizeidienst auszutreten. Die Kündigung muss samt einer Erklärung über die Gründe eingereicht werden. Alle Rücktrittsgesuche werden auf der Grundlage einer Sicherheitsanalyse geprüft. In der Praxis werden die meisten Anträge aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Polizeibeamte können während der ersten zehn Jahre ihres
Vertrags de facto nicht kündigen. Eine Laufbahn innerhalb des erweiterten Sicherheitsapparats ist grundsätzlich auf Lebenszeit angelegt und es ist nicht üblich, eine solche Position vorzeitig zu verlassen. Bei einer Laufbahn in einer Sicherheitsbehörde ist es laut einer Quelle praktisch unmöglich, die Erlaubnis zur Kündigung zu erhalten. Das unerlaubte Verlassen eines Polizeidienstpostens wird als eine Form der Desertion angesehen, die mit Strafe bedroht werden kann. Es gibt unterschiedliche Angaben darüber, welches Gesetz in diesem Fall gilt (NMFA
5.2022). Zollbeamte gelten im Rahmen ihrer Zuständigkeit als allgemeine Sicherheitskräfte und Kriminalbeamte (ACCORD 17.1.2022).
Anm.: Zur Rolle des Sicherheitsapparats im Laufe des Kriegs und bei Menschenrechtsverletzungen siehe die Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage, Folter und unmenschliche Behandlung, Hinrichtungen und außergerichtliche Tötungen sowie das Kapitel Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen.
Befreiungsgebühr für Syrer mit Wohnsitz im Ausland
Das syrische Militärdienstgesetz erlaubt es syrischen Männern und registrierten Palästinensern aus Syrien im Militärdienstalter (18-42 Jahre) und mit Wohnsitz im Ausland, eine Gebühr („badal an-naqdi“) zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit und nicht wieder einberufen zu werden. Bis 2020 konnten Männer, die sich mindestens vier aufeinanderfolgende Jahre außerhalb Syriens aufgehalten haben, einen Betrag von 8.000 USD zahlen, um vom Militärdienst befreit zu
werden (DIS 5.2020), wobei noch weitere Konsulargebühren anfallen (EB 2.9.2019; vgl. SB Berlin o.D.). Im November 2020 wurde mit dem Gesetzesdekret Nr.31 (Rechtsexperte 14.09.2022) die Dauer des erforderlichen Auslandsaufenthalts auf ein Jahr reduziert und die Gebühr erhöht (NMFA 6.2021). Das Wehrersatzgeld ist nach der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 gestaffelt nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts und beträgt 10.000 USD (ein Jahr), 9.000 USD (zwei Jahre), 8.000 USD (drei Jahre) bzw 7.000 USD (vier Jahre) ISPI 5.6.2023; vgl. AA 2.2.2024). Laut der Einschätzung verschiedener Organisationen dient die Möglichkeit der Zahlung des Wehrersatzgeldes für Auslandssyrer maßgeblich der Generierung ausländischer Devisen (AA 2.2.2024; vgl. ISPI 5.6.2023). Die Zahlung des Wehrersatzgeldes ist an die Vorlage von Dokumenten geknüpft, die eine Vielzahl der ins Ausland Geflüchteten aufgrund der Umstände ihrer Flucht nicht beibringen können oder die nicht ohne ein Führungszeugnis der Sicherheitsdienste des syrischen Regimes nachträglich erworben werden können, wie etwa einen Nachweis über Aus- und Einreisen (Ausreisestempel) oder die Vorlage eines Personalausweises (AA 2.2.2024). Die Syrische Regierung respektiert die Zahlung dieser Befreiungsgebühr mehreren Experten, die vom Danish Immigration Service befragt wurden, zufolge und zieht Männer, die diese Gebühr bezahlt haben, im Allgemeinen nicht ein. Eine Quelle gibt auch an, dass Personen, die die Gebühr bezahlt haben problemlos ins Land einreisen können. Probleme bekommen vor allem jene Männer, die ihre Dokumente zum Beweis, dass sie befreit sind, nicht vorweisen können. Des Weiteren berichten Quellen des Danish Immigration Service von Fällen, bei denen Personen, die ihren Status mit der Regierung geklärt hatten, dennoch verhaftet worden sind, weil sie aus Gründen der Sicherheit von den Sicherheitskräften gesucht worden sind. Die Behörden geben normalerweise keine Auskunft darüber, ob man von den Sicherheitsbehörden gesucht wird. Mehrere Quellen gehen aber von Erpressungen gegenüber Wehrpflichtigen an Checkpoints durch Streit- und Sicherheitskräfte an Checkpoints aus, insbesondere gegenüber Personen aus Europa bzw Geschäftsleuten. Eine Quelle sprach auch von Racheaktionen gegenüber Wehrpflichtigen, die aus ehemaligen Oppositionsgebieten kommen, bei denen die syrischen Behörden diese an Checkpoints festhalten und erpressen (DIS 1.2024). Auch das Auswärtige Amt schreibt, dass staatlich ausgestellte Nachweise über die Ableistung des Wehrdienstes bzw Zahlung des Wehrersatzgeldes an Kontrollstellen der Sicherheitsdienste des Regimes durchgängig anerkannt werden (AA 2.2.2024).
Ein Freikauf vom Reservedienst ist gemäß Quellen des niederländischen Außenministeriums nicht möglich, wobei mit Stand August 2023 aufgrund der aktuellen geringen Intensität der
Kampfhandlungen es nur selten zur Einberufung von Reservisten gekommen ist (NMFA 8.2023).
Das Italian Institute for International Political Studies (ISPI) hingegen schreibt, dass seit der
Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 auch Reservisten sich durch eine Gebühr von 5.000 USD nach einem Auslandsaufenthalt von mindesten einem Jahr freikaufen können (ISPI 5.6.2023). Auch die staatliche Nachrichtenagentur SANA schrieb im Dezember 2023 vom Legislaturdekret Nr. 37, wonach Reservisten, die das 40. Lebensjahr erreicht haben und noch nicht im Dienst waren, sich durch eine Befreiungsgebühr von 4.800 USD vom Reservedienst freikaufen können (SANA 1.12.2023; vgl. EB 3.12.2023). Das Auswärtige Amt schreibt, dass es zahlreiche Berichte, darüber gäbe, dass auch Reservisten zum Militärdienst eingezogen werden (AA 2.2.2024).
Für außerhalb Syriens geborene Syrer im wehrpflichtigen Alter, welche bis zum Erreichen des wehrpflichtigen Alters dauerhaft und ununterbrochen im Ausland lebten, gilt eine Befreiungsgebühr von 3.000 USD. Wehrpflichtige, die im Ausland geboren wurden und dort mindestens zehn Jahre vor dem Einberufungsalter gelebt haben, müssen einen Betrag von 6.500 USD entrichten (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein Besuch von bis zu drei Monaten in Syrien wird dabei nicht als Unterbrechung des Aufenthalts einer Person in dem fremden Land gewertet. Für jedes Jahr, in welchem ein Wehrpflichtiger weder eine Befreiungsgebühr bezahlt, noch den Wehrdienst aufschiebt oder sich zu diesem meldet, fallen zusätzliche Gebühren an (DIS 5.2020; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022). Auch Männer, die Syrien illegal verlassen haben, können Quellen zufolge durch die Zahlung der Gebühr vom Militärdienst befreit werden (NMFA 5.2022; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022; NMFA 8.2023). Diese müssen ihren rechtlichen Status allerdings zuvor durch einen individuellen „Versöhnungsprozess“ bereinigen (NMFA 5.2022).
Informationen über den Prozess der Kompensationszahlung können auf den Webseiten der syrischen Botschaften in Ländern wie Deutschland, Ägypten, Libanon und der Russischen Föderation aufgerufen werden. Bevor die Zahlung durchgeführt wird, kontaktiert die Botschaft das syrische Verteidigungsministerium, um eine Genehmigung zu erhalten. Dabei wird ermittelt, ob die antragstellende Person sich vom Wehrdienst freikaufen kann (NMFA5.2020). Die syrische Botschaft in Berlin gibt beispielsweise an, dass u. a. ein Reisepass oder Personalausweis sowie eine Bestätigung der Ein- und Ausreise vorgelegt werden muss (SB Berlin o.D.), welche von der syrischen Einwanderungs- und Passbehörde ausgestellt wird („bayan harakat“). So vorhanden, sollten die Antragsteller auch das Wehrbuch oder eine Kopie davon vorlegen (Rechtsexperte 14.9.2022).
Offiziell ist dieser Prozess relativ einfach, jedoch dauert er in Wirklichkeit sehr lange, und es müssen viele zusätzliche Kosten aufgewendet werden, unter anderem Bestechungsgelder für die Bürokratie. Beispielsweise müssen junge Männer, die mit der Opposition in Verbindung standen, aber aus wohlhabenden Familien kommen, wahrscheinlich mehr bezahlen, um vorab ihre Akte zu bereinigen (Balanche13.12.2021).
Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdienstes
Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in Syrischen Pfund leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2.000 USD oder das Äquivalent in Syrischen Pfund nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird wie ein ganzes Jahr gerechnet (SANA 8.11.2017; vgl. PAR
15.11.2017).Diese mit dem Gesetz Nr. 35 vom 15.11.2017 beschlossene Änderung ermöglicht es der Direktion für militärische Rekrutierung, Vermögen wie Immobilien und bewegliche Güter von syrischen Männern zu beschlagnahmen, die ihren Verpflichtungen zur Ableistung des Militärdienstes nicht nachgekommen sind. Gesetz Nr. 39 vom 24.12.2019 zur Änderung von Artikel 97 des Wehrdienstgesetzes Nr. 30 aus dem Jahr 2007 veränderte die Art der vorgesehenen Beschlagnahmung. Es ermöglicht die Beschlagnahme von Eigentum von Männern, die das 42. Lebensjahr vollendet haben und weder den Militärdienst abgeleistet noch die Kompensationszahlung von 8.000 USD ordnungsgemäß beglichen haben, oder von deren Ehefrauen oder Kindern, ohne dass die betroffenen Personen davon in Kenntnis gesetzt werden. Derzeit kann das Vermögen dieser Person vorsorglich beschlagnahmt werden, was bedeutet, dass es weder verkauft noch an eine andere Partei übertragen werden kann. Das Vermögen kann ohne weitere Ankündigung vom Staat versteigert werden, anstatt es bis zu einer Lösung der Frage einzufrieren. Der Staat kann den geschuldeten Betrag aus der Versteigerung einbehalten und den Restbetrag (falls vorhanden) an die Person zurückzahlen, deren Eigentum versteigert wurde. Erreicht das Vermögen des Mannes nicht den Wert der Kompensationszahlung, kann das gleiche Versteigerungsverfahren auf das Vermögen seiner Frau oder seiner Kinder angewandt werden, bis der Wert der Gebühr erreicht ist (Rechtsexperte 14.9.2022; vgl. DIS 1.2024). Laut einer vertraulichen Quelle des niederländischen Außenministeriums kann auch die Erbschaft solange zurückgehalten werden, bis der erbberechtigte Sohn den Wehrdienst geleistet oder eine Wehrpflichtbefreiung erhalten hat (NMFA 8.2023). Mehrere von EUAA befragte Quellen geben an, dass ihnen bisher keine Fälle bekannt wären, in denen dieses Gesetz gegriffen hätte und tatsächlich Eigentum beschlagnahmt worden wäre, aber zumindest ein Experte geht davon aus, dass das Gesetz in Zukunft entsprechend in die Praxis umgesetzt werden wird (EUAA 10.2023).
Unter anderem wurde auch berichtet, dass Palästinensern, die keinen Wehrdienst abgeleistet haben, der Zugang zum Camp Yarmouk verweigert wurde, um sich dort ihren Besitz zurückzuholen (Action PAL 3.1.2023).
Geistliche und Angehörige von religiösen Minderheiten
Christliche und muslimische religiöse Führer sind weiterhin aus Gewissensgründen vom Militärdienst befreit, wobei muslimische Geistliche dafür eine Abgabe bezahlen müssen (USDOS 15.5.2023). Es gibt Berichte, dass in einigen ländlichen Gebieten Mitgliedern von religiösen Minderheiten die Möglichkeit geboten wurde, sich lokalen regierungsnahen Milizen anzuschließen, anstatt ihren Wehrdienst abzuleisten. In den Städten gab es diese Möglichkeit im Allgemeinen jedoch nicht, und Mitglieder von Minderheiten wurden unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund zum Militärdienst eingezogen (FIS 14.12.2018).
Anders als in vielen Gebieten unter Regierungskontrolle konnten sich Männer im Gouvernement Suweida der gesetzlich festgelegten allgemeinen Wehrpflicht in den syrischen nationalen Streitkräften weitgehend entziehen (Syria Untold 9.1.2020; vgl. COAR 30.9.2020), viele Gemeindevorsteher und hochrangige drusische Religionsführer haben sich geweigert, die Einberufung in die Armee zu genehmigen (AW 5.12.2022). Stattdessen hat die drusische Gemeinschaft gut organisierte Nachbarschaftsschutzgruppen und Einheiten der Nationalen Verteidigungskräfte (NDF) unterhalten. Die syrische Regierung hält jedoch offiziell weiterhin an der verfassungsmäßig verankerten „heiligen Pflicht“ des allgemeinen Wehrdienstes - auch für die in Suweida heimische drusische Gemeinschaft - fest (COAR 30.9.2020). Das Regime behandelt diese Menschen als Wehrdienstverweigerer und zwingt sie von Zeit zu Zeit, an so genannten „Sicherheitsregelungen“ teilzunehmen. Eine dieser Maßnahmen fand am 5.10.2022 statt. Sie beinhaltete einerseits einen administrativen Aufschub für einen Zeitraum von sechs Monaten vor dem Eintritt in die im Süden Syriens stationierten Armeeeinheiten und andererseits die Einstellung der Verfolgung von Personen, die von den Sicherheitsapparaten gesucht werden. Allerdings nehmen viele Drusen diese Sicherheitsregelungen nicht ernst, da sie sich nicht als Rechtsbrecher betrachten. Im Oktober 2022 nahmen nur 2.500 junge Männer von 30.000 Wehrdienstverweigerern und Überläufern in Suweida an der Sicherheitsregelung teil. Für diejenigen, die einen Vergleich abschließen, besteht das Hauptmotiv darin, eine „Schlichtungskarte“ zu erwerben, die ihnen Freizügigkeit gewährt und es ihnen ermöglicht, Transaktionen bei staatlichen Einrichtungen, wie z. B. die Beantragung von Reisedokumenten, ohne Angst vor Verhaftung und Inhaftierung durchzuführen (MED Blog 12.12.2022). Die Grauzone bezüglich der Umsetzung der Wehrpflicht hat zur Folge, dass die derzeit rund 30.000 zum Wehrdienst gesuchten Personen Suweida nicht verlassen bzw nicht in von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiete reisen können (Alaraby 11.2.2022).
Quellen: […]
Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst
Letzte Änderung 2024-03-11 07:55
Rechtssicherheit
In Syrien vorherrschend und von langer Tradition ist eine Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Recht und der Implementierung der Gesetze in der Praxis. Die in den letzten Jahren noch zugenommene und weit verbreitete Korruption hat diese Diskrepanz noch zusätzlich verstärkt. Rechtsstaatlichkeit ist schwach ausgeprägt, wenn nicht mittlerweile gänzlich durch eine Situation der Straffreiheit untergraben, in der Angehörige von Sicherheitsdiensten ohne strafrechtliche Konsequenzen und ohne jegliche zivile Kontrolle operieren können (ÖB Damaskus 12.2022).
Regelmäßig vom Regime verkündete Amnestien verringern ausgesprochene Todesurteile zum Teil auf lebenslange harte Strafarbeit oder stellen eine Freilassung in Aussicht. In der Rechtspraxis kommen die Amnestien aufgrund großzügig ausgelegter Ausnahmetatbestände und prozeduralen Hindernissen jedoch nur in Einzelfällen zur Anwendung (AA 2.2.2024), dabei oftmals infolge der Zahlung hoher Bestechungsgelder an Amtsträger im Justiz- und Sicherheitswesen (AA 2.2.2024; vgl. EB 9.6.2022).
Amnestien allgemein
Seit März 2011 [Anm.: bis Oktober 2022] hat der syrische Präsident 21Amnestiedekrete erlassen [Ende Dezember 2022 und im November 2023 folgten weitere Amnestiedekrete, s. weiter unten], wobei in den meisten dieser Dekrete die Strafen der Begnadigten für die verschiedenen Verbrechen und Vergehen ganz oder teilweise aufgehoben wurden (SNHR 16.11.2022, vgl. SNHR 12.9.2023). Der syrische Präsident hat dabei für Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen, Wehrdienstverweigerer und Deserteure eine Reihe von Amnestien erlassen, die Straffreiheit vorsahen, wenn sie sich innerhalb einer bestimmten Frist zum Militärdienst melden (STDOK 8.2017; vgl. SNHR 16.11.2022, MED 10.2021). Über die Umsetzung und den Umfang der Amnestien für Wehrdienstverweigerer und Deserteure ist nur sehr wenig bekannt (DIS 5.2020; vgl. SNHR 16.11.2022; vgl. DIS 7.2023). Aber zumindest im Zusammenhang mit der Amnestie des Legislativdekrets 24/2022 wurde von der Menschenrechtsorganisation Syrian Network for Human Rights (SNHR) die Freilassung von 14 Personen aus Haftanstalten der Regierung dokumentiert, die anschließend zum Wehrdienst verpflichtet wurden, sowie 24 Personen, die sich beim Rekrutierungsbüro meldeten und ebenfalls zum Pflichtwehrdienst eingeschrieben wurden, registriert (EUAA 10.2023). Menschenrechtsorganisationen und Beobachter haben die
Amnestien wiederholt als intransparent sowie unzureichend kritisiert (STDOK 8.2017; vgl. EB
3.4.2020, MED 10.2021) und als ein Propagandainstrument der Regierung bezeichnet (DIS 5.2020; vgl. MED 10.2021). Das Auswärtige Amt schreibt, dass die vergangenen Dekrete in der Umsetzung nahezu wirkungslos waren (AA 2.2.2024). Eine Quelle von EUAA gab an, dass die
Amnestien nicht für Personen, die den Reservedienst verweigert haben, gelten (EUAA 10.2023).
Zwei Quellen des Danish Immigration Service wiederum berichten, dass die Amnestien auch Männer umfassen, die aus dem Reservedienst desertierten (DIS 1.2024).
Die Amnestiedekrete resultierten im Allgemeinen nur in der Entlassung einer begrenzten Anzahl von gewöhnlichen Kriminellen, und nicht von jenen, deren Verhaftung politisch motiviert ist (USDOS 20.3.2023). DerAusschluss von politischen Gefangenen von denAmnestien ist der Haftund Gerichtspraxis in Syrien teilweise inhärent. Willkürlich Verhaftete werden in der Regel ohne Anklage für längere Zeit festgehalten, und die Inhaftierten werden oft nicht über die gegen sie erhobenen Vorwürfe informiert (MED 10.2021; vgl. USDOS 20.3.2023). DieAmnestien schlossen Gefangene aus, die nicht eines Verbrechens angeklagt wurden (USDOS 20.3.2023).
Erhebungen von SNHR ergaben, dass im Zeitraum März 2011 bis Oktober 2022 rund 7.350 Personen im Rahmen von 21 Amnestiedekreten aus diversen Zivil- und Militärgefängnissen der syrischen Regierung sowie aus Haftanstalten unterschiedlicher Zweigstellen des Sicherheitsapparats entlassen wurden. Darunter befanden sich rund 6.100 Zivilisten und 1.250 Militärangehörige. Dem stellt SNHR eine Anzahl von rund 123.300 Personen gegenüber, die in zeitlicher Nähe zu den Amnestien verhaftet wurden oder gewaltsam verschwanden (SNHR 16.11.2022).
Eine begrenzte Anzahl von Gefangenen kam im Zuge lokaler Beilegungsabkommen mit dem Regime frei. Während des Jahres 2022 verstießen Regimekräfte gegen frühere Amnestieabkommen, indem sie Razzien und Verhaftungskampagnen gegen Zivilisten und frühere Mitglieder der bewaffneten Oppositionsgruppen in Gebieten durchführten, in denen zuvor Beilegungsabkommen mit dem Regime unterzeichnet worden waren (USDOS 20.3.2023).
Einer Quelle zufolge respektiert die syrische Regierung Amnestien und belangt durch Amnestien begnadigte Wehrdienstverweigerer und Deserteure nicht, es sei denn, sie waren in Kampfhandlungen gegen die Regierung involviert (DIS 1.2024). Durch verschiedene Amnestien für Deserteure und Wehrdienstverweigerer werden Strafen zwar zumindest stellenweise erlassen, der zwangsweise Einzug in den Militärdienst wurde durch die Amnestien jedoch nicht beendet und
wird unverändert fortgesetzt (AA 2.2.2024; vgl. USDOS 20.3.2023, NMFA 5.2022, MED 10.2021, EUAA 10.2023, DIS 1.2024) bzw wird als Strafe der Wehrdienst einer Quelle zufolge um sechs
Monate verlängert (DIS 1.2024). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen (AA 2.2.2024). Das Narrativ der Amnestie oder der milden Behandlung ist höchst zweifelhaft: Es spielt nicht nur eine Rolle, ob zum Beispiel Familienmitglieder für die FSA (Freie Syrische Armee) oder unter den Rebellen gekämpft haben, sondern das Regime hegt auch ein tiefes Misstrauen bezüglich des Herkunftsgebiets. Es spielt eine große Rolle,
woher man kommt, ob man aus Gebieten mit vielen Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten geflohen ist, zum Beispiel Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs (Üngör 15.12.2021). Unklar ist auch, wie mit Personen verfahren wird, die sich politisch gegen die Syrische Regierung betätigt haben (DIS 1.2024). Ein Syrien-Experte merkte in diesem Zusammenhang auch an, dass die Durchsetzungsfähigkeit des Präsidenten bei den Amnestiedekreten vor Ort angezweifelt werden kann, und Vergeltung ein weitverbreitetes Phänomen ist (Balanche 13.12.2021). Omran Center for Strategic Studies wiederum berichtet von Fällen, in denen Deserteure sich auf die Amenstien verlassen hatten und dennoch inhaftiert wurden, einige sollen in staatlichen Haftanstalten nach ihrer auf den Amnestien basierenden Rückkehr ums Leben gekommen sein (DIS 1.2024).
Kürzlich erlassene Amnestien
Am 16.11.2023 wurde ein Amnestiedekret für Verbrechen, die vor dem 16.11.2023 begangen wurden, erlassen. Betroffen sind vor allem Inhaftierte im Alter von über 70 Jahren oder unheilbar Kranke. Lebenslange Haftstrafen wurden in 20 Jahre Haft umgewandelt. Ausgenommen von der Amnestie sind Verbrechen, die zum Tode führten und in Zusammenhang mit Waffenschmuggel
(AP 16.11.2023; vgl. Reuters 16.11.2023). Anfang September 2023 verfügte Präsident Assad mittels Dekret (32/2023) die Auflösung von ad hoc Gefechtsfeldtribunalen, die laut Menschenrechtsorganisationen mit hunderten Todesurteilen gegen vermeintliche Deserteure und andere Personen in Verbindung gebracht werden. Dieses stellt allerdings keine wesentliche Verbesserung der Rechtslage dar. Die Beschuldigten müssen weiterhin die Verfolgung vor ordentlichen Militärgerichtshöfen fürchten, in denen grundsätzliche Prinzipien des Rechtsstaats systematisch missachtet werden. Ferner enthält das Dekret keine Durchführungsbestimmungen, um den Zugang zu Dokumentation der vor Feldtribunalen gesprochenen Urteile und dem Schicksal der Verurteilten verbessern würden (AA 2.2.2024).
Präsident Assad erließ am 21.12.2022 mit dem Legislativdekret Nr. 24 eine Generalamnestie, die unter anderem für die Tatbestände „interne und externe Desertion“ gilt, so diese vor dem Inkrafttreten des Erlasses begangen wurden (SANA 21.12.2022). Die Amnestie ist an die Bedingung geknüpft, dass sich Deserteure, die in Syriens leben, innerhalb von drei Monaten, und Deserteure, die außerhalb Syriens leben, innerhalb von vier Monaten den Behörden stellen (MEMO 22.12.2022).
Im Mai 2022 hat Präsident Assad mit dem Gesetzesdekret Nr. 7/2022 eine Generalamnestie für
„terroristische Verbrechen“ erlassen, welche von Syrern vor dem 30.4.2022 begangen wurden, mit Ausnahme derjenigen Straftaten, die zum Tod eines Menschen geführt haben und die im Antiterrorismusgesetz Nr. 19 von 2012 und im Strafgesetzbuch, das durch das Gesetzesdekret Nr. 148 von 1949 und dessen Änderungen erlassen wurde, festgelegt sind (SO 3.5.2022). „Terrorismus“ ist ein Begriff, mit dem die Regierung die Aktivitäten von Rebellen und oppositionellen Aktivisten beschreibt (MEE 2.5.2021). Nach dem Militärstrafgesetzbuch geahndete Vergehen fallen nicht unter diese Amnestie. Laut SNHR wurden mindestens 586 Personen im Zusammenhang mit dem Amnestiedekret aus der Haft entlassen (SNHR 16.11.2022). Das Amnestiedekret wurde laut Human Rights Watch (HRW) allerdings willkürlich und ohne Transparenz umgesetzt und führte nur zur dokumentierten Freilassung einer kleinen Zahl von Inhaftierten, gemessen an den Tausenden von Personen, die nach wie vor verschwunden sind, viele davon seit 2011, ohne dass es Informationen über ihren Verbleib gibt (HRW 12.1.2023). Laut Auswärtigem Amt bietet diese Amnestie Spielraum, die Freilassung unliebsamer Personen effektiv zu verhindern. So wurden Inhaftierte etwa nachträglich für den Tod von Personen verantwortlich gemacht. Als Nachweis reicht bereits die behauptete örtliche Nähe zu einem Ereignis mit Todesfolge, etwa über Mobilfunkortung, aus (AA 2.2.2024).
Am 25.1.2022 erließ Präsident Assad mit Gesetzesdekret Nr. 3/2022 eine Generalamnestie für
„interne“ und „externe Desertion“, die vor diesem Datum begangen wurde (SANA 25.1.2022). Die Amnestie umfasst Straftaten nach Artikel 100 („interne Desertion“) und 101 („externe Desertion“) des Militärstrafgesetzbuchs (Gesetzesdekret Nr. 61 von 1950) (SO 27.1.2022; vgl. SNHR
16.11.2022), schließt jedoch die Artikel 102 („Flucht zum Feind, Flucht vor dem Feind“) und 103 („Flucht durch Verschwörung und Flucht in Kriegszeiten“) aus (SO 27.1.2022). Die Amnestie ist an die Bedingung geknüpft, dass sich Deserteure, die in Syrien leben, innerhalb von drei Monaten, und Deserteure, die außerhalb Syriens leben, innerhalb von vier Monaten den Behörden stellen (SNHR 16.11.2022).
Es ist nicht bekannt, inwieweit sich die syrischen Behörden an die jüngste Amnestieregelung gehalten haben. Eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es bei früheren Amnestien Fälle gegeben habe, in denen sich die syrischen Behörden nicht an die Bedingungen der Amnestien gehalten hätten. Männer, die sich gemeldet hatten, waren dennoch im Gefängnis gelandet, weil auch das Gesetz sehr
weit ausgelegt werden könnte (NMFA 8.2023).
Amnestien in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung
Am 10.10.2020 erließ die sog. „Selbstverwaltung“ in Nordost-Syrien eine „Generalamnestie“ für Strafgefangene (AA 4.12.2020; vgl. NPA 10.10.2020). Bereits am 15.10.2020 sollen 631 Häftlinge auf Grundlage des Dekrets entlassen worden sein, darunter auch mutmaßliche ISSympathisanten. Strafen für bestimmte Vergehen sollen zudem halbiert werden (AA 4.12.2020).
Das Amnestiedekret Nr. 7 des syrischen Präsidenten vom 30.4.2022 fand beispielsweise keine
Anwendung in Raqqa, das unter der Kontrolle der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES) steht (EB 9.6.2022).
Am 2.4.2022 erließ die Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) nahestehende „Syrische Heilsregierung“ im Gouvernement Idlib ein Dekret, mit dem sie Berichten zufolge eine „Amnestie“ für Urteile gewährte, die sie aus Gründen des öffentlichen Rechts verhängt hatte, und die Hälfte der Strafe von Gefangenen „umwandelte“, die ein Urteil oder eine ähnliche Strafe erhalten hatten. Nach Angaben von SNHR bezog sich die Amnestie nicht auf Gefangene, die wegen Kritik an der HTS inhaftiert worden waren (USDOS 20.3.2023).
Die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) erließen Anfang September 2023 eine Amnestie für arabische Stammeskämpfer in Deir ez-Zour, die sich gewaltvoll gegen die SDF erhoben hatten. Mehrere Stammeskämpfer wurden freigelassen (Reuters 7.9.2023; vgl. MEE 7.9.2023). Kämpfern in den von den SDF kontrollierten Gebieten wurde eine Frist von 15 Tagen eingeräumt, ihre Waffen abzugeben und einen Versöhnungsprozess zu beginnen, um aus den von der Regierung kontrollierten Gebieten zurück in die von den SDF kontrollierten Gebiete kommen zu können (K24 28.9.2023).
Siehe auch Kapitel „Länderspezifische Anmerkungen“.
Quellen: […]
Wehrdienstverweigerung / Desertion
Letzte Änderung 2024-03-12 13:44
Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten Zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und vergleichsweise wenige wurden nach diesem Zeitpunkt deswegen verhaftet (Landinfo 3.1.2018).
In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim
Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 2.2.2024).
Der verpflichtende Militärdienst führt weiterhin zu einer Abwanderung junger syrischer Männer, die vielleicht nie mehr in ihr Land zurückkehren werden (ICWA 24.5.2022).
Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern
In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Rechtsexperten der Free Syrian Lawyers Association (FSLA) mit Sitz in der Türkei beurteilen, dass das syrische Regime die Verweigerung des Militärdienstes als schweres Verbrechen betrachtet und die Verweigerer als Gegner des Staates und der Nation behandelt. Dies spiegelt die Sichtweise des Regimes auf die Opposition wie auch jede Person wider, die versucht, sich seiner Politik zu widersetzen oder ihr zu entkommen (STDOK 25.10.2023). Der Syrien-Experte Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt „ihr Land zu verteidigen“. Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit „gerettet“ haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw verloren haben (Balanche 13.12.2021). Ein für eine internationale Forschungsorganisation mit Schwerpunkt auf den Nahen Osten tätiger Syrienexperte, der allerdings angibt, dazu nicht eigens Forschungen durchgeführt zu haben, geht davon aus, dass das syrische Regime möglicherweise am Anfang des Konflikts, zwischen 2012 und 2014, Wehrdienstverweigerer durchwegs als oppositionell einstufte, inzwischen allerdings nicht mehr jeden Wehrdienstverweigerer als oppositionell ansieht (STDOK 25.10.2023). Gemäß Auswärtigem Amt legen einige Berichte nahe, dass Familienangehörige von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern ebenfalls Verhören und Repressionen der Geheimdienste ausgesetzt sein könnten (AA 2.2.2024).
Gesetzliche Lage
Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Art. 98-99 ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 2.2.2024; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022).
Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während
Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung. Das Militärstrafgesetzbuch unterscheidet zwischen „interner Desertion“ (farar dakhelee) und „externer Desertion“ (farar kharejee). Interne Desertion in Friedenszeiten wird begangen,
wenn sich der Soldat sechs Tage lang unerlaubt von seiner militärischen Einheit entfernt. Ein Soldat, der noch keine drei Monate im Dienst ist, gilt jedoch erst nach einem vollen Monat unerlaubter Abwesenheit als Deserteur. Interne Desertion liegt außerdem vor, wenn der reisende Soldat trotz Ablauf seines Urlaubs nicht innerhalb von 15 Tagen nach dem für seine Ankunft oder Rückkehr festgelegten Datum zu seiner militärischen Einheit zurückgekehrt ist (Artikel 100/1/b des Militärstrafgesetzbuchs). Interne Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und wenn es sich bei dem Deserteur um einen Offizier oder einen Berufsunteroffizier handelt, kann er zusätzlich zu der vorgenannten Strafe mit Entlassung bestraft werden (Artikel 100/2). In Kriegszeiten können die oben genannten Fristen auf ein Drittel verkürzt und die Strafe verdoppelt werden (Artikel 100/4). Eine externe Desertion in Friedenszeiten liegt vor,
wenn der Soldat ohne Erlaubnis die syrischen Grenzen überschreitet und seine Militäreinheit verlässt, um sich ins Ausland zu begeben. Der betreffende Soldat wird in Friedenszeiten nach Ablauf von drei Tagen seit seiner illegalen Abwesenheit und in Kriegszeiten nach einem Tag als
Deserteur betrachtet (Artikel 101/1) (Rechtsexperte 14.9.2022). Externe Desertion wird mit einer
Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft (Artikel 101/2) (Rechtsexperte 14.9.2022; vgl.
AA 2.2.2024). Die Haftstrafen können sich bei Vorliegen bestimmter Umstände noch erhöhen
(z. B. Desertion während des Dienstes, Mitnahme von Ausrüstung) (Rechtsexperte 14.9.2022).
Die Todesstrafe ist gemäß Art. 102 bei Überlaufen zum Feind und gemäß Art. 105 bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (AA 2.2.2024).
Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vgl. DIS 5.2020).
Freikauf vom Wehrdienst
Nach dem Wehrpflichtgesetz ist es syrischen Männern im wehrpflichtigen Alter möglich, sich durch Zahlung eines sogenannten Wehrersatzgeldes von der Wehrpflicht freizukaufen, sofern sie mindestens ein Jahr ohne Wiedereinreise nach Syrien ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hatten (AA 2.2.2024). Drei vertrauliche Quellen, die vom niederländischen Außenministerium im März 2023 und November 2022 befragt wurden, gehen davon aus, dass jemand, der sich vom Militärdienst freigekauft hat, auch nicht mehr zum Militärdienst einberufen wird. Der zu zahlende Betrag hängt dabei davon ab, wie lange die Männer im Ausland waren und variiert zwischen 7.000 und 10.000 Dollar. Auch Wehrdienstpflichtige, die das Land illegal verlassen haben, können sich durch eine solche Zahlung von der Wehrpflicht freikaufen. Möglich ist dies in einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat unter Vorlage eines Nachweises, dass man im Ausland lebt. Es besteht die Möglichkeit, dass die Botschaft die Namen derer veröffentlicht, die sich auf diese Art von der Wehrpflicht befreit haben. Andererseits kann die Person sich auch durch einen Verwandten in Syrien an ein lokales Rekrutierungsbüro wenden, um sich von der Liste der Wehrdienstverweigerer streichen zu lassen (NMFA 8.2023). Die Zahlung des Wehrersatzgeldes ist an die Vorlage von Dokumenten geknüpft, die eine Vielzahl der ins Ausland Geflüchteten aufgrund der Umstände ihrer Flucht nicht beibringen können oder die nicht ohne ein Führungszeugnis der Sicherheitsdienste des syrischen Regimes nachträglich erworben werden können, wie etwa einen Nachweis über Aus- und Einreisen (Ausreisestempel) oder die Vorlage eines Personalausweises (AA 2.2.2024). Die Person bekommt einen Beleg für den Freikauf, den sie bei der Einreise am Flughafen vorweisen kann. Um auch möglichst problemlos Checkpoints passieren zu können, muss die Person zusätzlich zum Beleg einen Eintrag in sein Militärbuch machen lassen (DIS 7.2023). Die syrische Regierung respektiert die Zahlung dieser Befreiungsgebühr mehreren Experten, die vom Danish Immigration Service befragt wurden, zufolge und zieht Männer, die diese Gebühr bezahlt haben, im Allgemeinen nicht ein. Eine Quelle gibt auch an, dass Personen, die die Gebühr bezahlt haben problemlos ins Land einreisen können. Probleme bekommen vor allem jene Männer, die ihre Dokumente zum Beweis, dass sie befreit sind, nicht vorweisen können. Des Weiteren berichten Quellen des Danish Immigration Service von Fällen, bei denen Personen, die ihren Status mit der Regierung geklärt hatten, dennoch verhaftet worden sind, weil sie aus Gründen der Sicherheit von den Sicherheitskräften gesucht worden sind. Eine Quelle sprach auch von Racheaktionen gegenüber Wehrpflichtigen, die aus ehemaligen Oppositionsgebieten kommen, bei denen die syrischen Behörden diese an Checkpoints festhalten und erpressen (DIS 1.2024). Auch das Auswärtige Amt schreibt, dass staatlich ausgestellte Nachweise über die Ableistung des Wehrdienstes bzw Zahlung des Wehrersatzgeldes an Kontrollstellen der Sicherheitsdienste des Regimes durchgängig anerkannt werden (AA 2.2.2024).
Das syrische Wehrpflichtgesetz (Art. 97) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 2.2.2024 vgl. Rechtsexperte 14.9.2022; vgl. NMFA
8.2023).
Ein Freikauf vom Reservedienst ist gemäß Quellen des niederländischen Außenministeriums nicht möglich, wobei mit Stand August 2023 aufgrund der aktuellen geringen Intensität der Kampfhandlungen es nur selten zur Einberufung von Reservisten gekommen ist (NMFA 8.2023).
Das Italian Institute for International Political Studies (ISPI) hingegen schreibt, dass seit der
Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 auch Reservisten sich durch eine Gebühr von 5.000 USD nach einem Auslandsaufenthalt von mindesten einem Jahr freikaufen können (ISPI 5.6.2023). Auch die staatliche Nachrichtenagentur SANA schrieb im Dezember 2023 vom Legislaturdekret Nr. 37, wonach Reservisten, die das 40. Lebensjahr erreicht haben und noch nicht im Dienst waren, sich durch eine Befreiungsgebühr von 4.800 USD vom Reservedienst freikaufen können (SANA 1.12.2023; vgl. EB 3.12.2023). Das Auswärtige Amt schreibt, dass es zahlreiche Berichte darüber gäbe, dass auch Reservisten zum Militärdienst eingezogen werden (AA 2.2.2024).
Männern, die sich in Syrien aufhalten, ist ein Freikauf von der Wehrpflicht grundsätzlich nicht möglich. Eine Ausnahme hierfür ist nur durch die Möglichkeit, sich vom Reservedienst freizukaufen, für Männer im Alter von mindestens 40 Jahren geboten (DIS 1.2024).
Für nähere Informationen siehe auch das Unterkapitel „Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts“.
Bzgl. Konfiszierungsmöglichkeiten im Rahmen des Anti-Terror-Gesetzes siehe Kapitel „Grundversorgung und Wirtschaft“.
Handhabung
Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt (Landinfo 3.1.2018), und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen (Rechtsexperte 14.9.2022). Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vgl. Landinfo 3.1.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder „verschwindengelassen“ werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018).
Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für Wehrdienstentzug ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren
Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die
Front geschickt wurden (als „Kanonenfutter“), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter) (Üngör 15.12.2021). Dem hingegegn gibt ein von EUAA interviewter Experte an, dass Wehrdienstverweigerer, die von der syrischen Regierung gefasst werden, der Militärpolizei übergeben werden und schließlich in Trainingslager zur Ausbildung und Stationierung gesendet werden (EUAA 10.2023). Bis zum Beginn einer Wehrdienstausbildung, die normalerweise im April und September geplant sind, bleibt der Wehrdienstverweigerer bei der Militärpolizei (NMFA 8.2023). Selbst für privilegierte Personen mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021). Auch einige Quellen des Danish Immigration Service geben an, dass Wehrdienstverweigerer mit einer Haftstrafe von bis zu neun Monaten rechnen müssen. Andere Quellen des Danish Immigration Service wiederum berichteten, dass Wehrdienstverweigerer direkt zum Wehrdienst eingezogen, ohne vorher inhaftiert zu werden. Wer an einem Checkpoint als Wehrdienstverweigerer erwischt wird, wird dem Geheimdienst übergeben. Ein Wehrdienstverweigerer, der nicht aus anderen Gründen gesucht wird, wird dem Militär zur
Ableistung des Wehrdienstes übergeben. Wehrdienstverweigerer werden meist direkt an die Front geschickt (DIS 1.2024). Wehrdienstverweigerer aus den Gebieten, die von der Opposition kontrolliert wurden, werden dabei mit größerem Misstrauen betrachtet und mit größerer Wahrscheinlichkeit inhaftiert oder verhaftet (NMFA 8.2023).
Bei militärischer Desertion gibt es Fälle, die dem Militärgericht übergeben werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Mehrere Quellen berichten, dass Deserteure verfolgt und mit einer Haftstrafe bestraft werden und dann ihren Wehrdienst ableisten müssen (DIS 1.2024). Eine Quelle berichtet im Jahr 2020, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt (DIS 5.2020). Dem gegenüber berichtet ein vom Danish Immigraton Service 2023 interviewter Experte, dass Deserteure aus ehemaligen Oppositionsgebieten, sowie Überläufer, die sich an Handlungen gegen das Regime beteiligt haben, zum Tode verurteilt werden könnten. SNHR berichtet, dass Deserteure ein bestimmtes Zeitlimit, wie beispielsweise ein Jahr haben, um sich freiwillig den Behörden stellen und straffrei davonkommen zu können.
Wer sich innerhalb der Frist nicht meldet, wird in Abwesenheit verurteilt (DIS 1.2024). Überläufer, die sich freiwillig stellen, würden vor ein Militärgericht gestellt und müssen entweder nach Ableistung einer Haftstrafe oder, wenn eine Amnestie erlassen wurde, sofort den verbleibenden
Wehrdienst in der Einheit, aus der sie desertierten, absolvieren (EUAA 10.2023). Das Omran Center for Strategic Studies wiederum gibt an, dass kein Unterschied zwischen Deserteuren und Überläufern gemacht wird. Die Haftstrafe für Wehrpflichtige und Reservisten, die desertiert sind, beträgt bis zu neun Monate. Wer ein zweites Mal desertiert wird bis zu zwei Jahre inhaftiert, wer ein drittes Mal desertiert für fünf Jahre (DIS 1.2024). Ein Syrienexperte, der von EUAA interviewt wurde, gibt an, dass die Behandlung von Deserteuren und Überläufern abhängig ist von einerseits der Art ihrer Flucht und andererseits den Strafen, die vorgesehen sind in den Artikeln 100 und 104 im Strafgesetzbuch (EUAA 10.2023). Anfang September verfügte Präsident Assad mittels Dekret (32/2023) die Auflösung von ad hoc Gefechtsfeldtribunalen, die laut Menschenrechtsorganisationen mit hunderten Todesurteilen gegen vermeintliche Deserteure und andere Personen in Verbindung gebracht werden (AA 2.2.2024).
Manche Quellen berichten, dass Wehrdienstverweigerung und Desertion für sich genommen momentan nicht zu Repressalien für die Familienmitglieder der Betroffenen führen. Hingegen berichten mehrere andere Quellen von Repressalien gegenüber Familienmitgliedern von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern, wie Belästigung, Erpressung, Drohungen, Einvernahmen und Haft. Eine Quelle berichtete sogar von Folter. Betroffen sind vor allem Angehörige ersten Grades (DIS 1.2024). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von „high profile“-Deserteuren der Fall sein, also z. B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018; vgl. DIS 1.2024). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020; vgl. DIS 1.2024). Insbesondere die politische oder militärische Haltung gegenüber der Syrischen Regierung wirkt sich auf die Art der Behandlung der Familie des Deserteurs bzw Wehrdienstverweigerer aus. Familien von Deserteuren sind dabei einem höheren Risiko ausgesetzt als jene von Wehrdienstverweigerern (DIS 1.2024).
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen berichtete im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen durch die Regierungskräfte, darunter auch von Personen, die sich zuvor mit der Regierung „ausgesöhnt“ hatten. Andere wurden vor der am 21.12.2022 angekündigten Amnestie für Verbrechen der „internen und externen Desertion vom Militärdienst“ aufgrund von Tatbeständen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht inhaftiert (UNHRC 7.2.2023).
„Versöhnungsabkommen“ und Rückkehr von Wehrpflichtigen
Versöhnungsabkommen dienen der Regierung auch zur Rekrutierung von Wehrpflichtigen, die entweder direkt in die SAA integriert werden oder in eine der mit der Regierung zusammenarbeitenden Milizen (EUAA 10.2023). Im Rahmen sog. lokaler „Versöhnungsabkommen“ in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus dem Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert (AA 2.2.2024). Deserteure bekommen eine einmonatige Frist, um zu ihrer Einheit zurückzukehren (SD 9.6.2023). Zumindest Erstere wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten (AA 2.2.2024). Als Anreiz können Wehrpflichtige im Rahmen dieser Abkommen in Dara‘a eine Reiseerlaubnis sowie einen Reisepass bekommen, um außer Landes zu reisen (SD 9.6.2023; vgl. EB 14.6.2023). Einer Quelle von EUAA zufolge ist ein „Versöhnungsprozess“ auch die Voraussetzung, um sich für die immer wieder ausgesprochenen Amnestien zu qualifizieren (EUAA 10.2023). Dem Bericht der Commission of Inquiry (CoI), der Vereinten Nationen vom Augsut 2023 zufolge, waren Personen im Gouvernement Dara’a von Repressionen betroffen, obwohl sie den offiziellen „Versöhnungsprozess“ durchlaufen hatten (AA 2.2.2024).
Ein Monitoring durch die Vereinten Nationen oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als Flüchtlinge identifiziert werden. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 2.2.2024). Einzelne Personen in Aleppo berichteten, dass sie durch die Teilnahme am „Versöhnungsprozess“ einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden. Selbst für diejenigen, die nicht im Verdacht stehen, sich an oppositionellen Aktivitäten zu beteiligen, ist das Risiko der Einberufung eine große Abschreckung, um zurückzukehren (ICG 9.5.2022). Auch SNHR berichtet von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren, die den Versöhnungsprozess durchlaufen haben und im Zuge dessen von den syrischen Behörden aufgrund anderer Sicherheitsbedenken einvernommen und sogar zum Tode gefoltert wurden, weil sie Verbindungen zur Opposition hatten (DIS 1.2024). Zudem sind in den „versöhnten Gebieten“ Männer im entsprechenden Alter auch mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert (FIS 14.12.2018).
In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten viele Deserteure und Überläufer, denen durch die „Versöhnungsabkommen“ Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020).
Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen ist unklar, wie systematisch und weit verbreitet staatliche Übergriffe auf Rückkehrer sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt dazu bei, dass es hierbei kein klares Muster gibt (DIS 5.2022). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Glaubwürdige Berichte über Einzelschicksale legen nahe, dass auch eine zuvor ausgesprochene Garantie des Regimes, auf Vollzug der Wehrpflicht bzw Strafverfolgung aufgrund von Wehrentzug, etwa im Rahmen sogenannter „Versöhnungsabkommen“ zu verzichten, keinen effektiven Schutz vor Zwangsrekrutierung bietet (AA 2.2.2024).
Einem Experten sind hingegen keine Berichte von Wehrdienstverweigerern bekannt, die aus dem Ausland in Gebiete unter Regierungskontrolle zurückgekehrt sind. Ihm zufolge kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, was in so einem Fall passieren würde. Laut dem Experten wäre es aber„wahnsinnig“, als Wehrdienstverweigerer aus Europa ohne Sicherheitsbestätigung und politische Kontakte zurückzukommen. Wenn keine „Befreiungsgebühr“ bezahlt wurde, müssen zurückgekehrte Wehrdienstverweigerer ihren Wehrdienst ableisten. Wer die Befreiungsgebühr entrichtet hat und offiziell vom Wehrdienst befreit ist, wird nicht eingezogen (Balanche 13.12.2021).
Zu den „Versöhnungsabkommen“ siehe auch Abschnitt „Versöhnungsabkommen“ im Kapitel „Sicherheitslage“, zu Rückkehrern s. auch Kapitel „Rückkehr“.
Quellen: […]
Nicht-staatliche bewaffnete Gruppierungen (regierungsfreundlich und regierungsfeind-
lich)
Letzte Änderung 2024-03-13 15:02
Manche Quellen berichten, dass die Rekrutierung durch regierungsfreundliche Milizen im Allgemeinen auf freiwilliger Basis geschieht. Personen schließen sich häufig auch aus finanziellen Gründen den National Defense Forces (NDF) oder anderen regierungstreuen Gruppierungen an (FIS 14.12.2018). Andere Quellen berichten von der Zwangsrekrutierung von Kindern im Alter von sechs Jahren durch Milizen, die für die Regierung kämpfen, wie die Hizbollah und die NDF (auch als „shabiha“ bekannt) (USDOS 29.7.2022). In vielen Fällen sind bewaffnete regierungstreue Gruppen lokal organisiert, wobei Werte der Gemeinschaft wie Ehre und Verteidigung der Gemeinschaft eine zentrale Bedeutung haben. Dieser soziale Druck basiert häufig auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft (FIS 14.12.2018). Oft werden die Kämpfer mit dem Versprechen, dass sie in der Nähe ihrer lokalen Gemeinde ihren Einsatz verrichten können und nicht in Gebieten mit direkten Kampfhandlungen und damit die
Wehrpflicht umgehen könnten, angeworben. In der Realität werden diese Milizen aber trotzdem an die Front geschickt, wenn die SAA Verstärkung braucht bzw müssen die Männer oft nach erfolgtem Einsatz in einer Miliz trotzdem noch ihrer offiziellen Wehrpflicht nachkommen (EUAA 10.2023). In manchen Fällen aber führte der Einsatz bei einer Miliz tatsächlich dazu, der offiziellen Wehrpflicht zu entgehen, bzw profitierten einige Kämpfer in regierungsnahen Milizen von den letzten Amnestien, sodass sie nach ihrem Einsatz in der Miliz nur mehr die sechsmonatige Grundausbildung absolvieren mussten um ihrer offiziellen Wehrpflicht nachzugehen, berichtet eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums (NMFA 8.2023).
Anders als die Regierung und die Syrian Democratic Forces (SDF), erlegen bewaffnete oppositionelle Gruppen wie die SNA(Syrian NationalArmy) und HTS (Hay’at Tahrir ash-Sham) Zivilisten in von ihnen kontrollierten Gebieten keine Wehrdienstpflicht auf (NMFA 5.2022; vgl. DIS 12.2022). Quellen des niederländischen Außenministeriums berichten, dass es keine Zwangsrekrutierungen durch die SNA und die HTS gibt (NMFA 8.2023). In den von den beiden Gruppierungen kontrollierten Gebieten in Nordsyrien herrscht kein Mangel an Männern, die bereit sind, sich ihnen anzuschließen. Wirtschaftliche Anreize sind der Hauptgrund, den Einheiten der SNA oder HTS beizutreten. Die islamische Ideologie der HTS ist ein weiterer Anreiz für junge Männer, sich dieser Gruppe anzuschließen. Im Jahr 2022 erwähnt der Danish Immigration Service (DIS) Berichte über Zwangsrekrutierungen der beiden Gruppierungen unter bestimmten Umständen im Verlauf des Konfliktes. Während weder die SNA noch HTS institutionalisierte Rekrutierungsverfahren anwenden, weist die Rekrutierungspraxis der HTS einen höheren Organisationsgrad auf als die SNA (DIS 12.2022). Im Mai 2021 kündigte HTS an, künftig in ldlib Freiwilligenmeldungen anzuerkennen, um scheinbar Vorarbeit für den Aufbau einer „regulären Armee“ zu leisten. Der Grund dieses Schrittes dürfte aber eher darin gelegen sein, dass man in weiterer Zukunft mit einer regelrechten „HTS-Wehrpflicht“ in ldlib liebäugelte, damit dem „Staatsvolk“ von ldlib eine „staatliche“ Legitimation der Gruppierung präsentiert werden könnte (BMLV 12.10.2022). Die
HTS rekrutiert auch gezielt Kinder, bildet sie religiös und militärisch aus und sendet sie an die Front (SNHR 20.11.2023).
Quellen: […]
Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien
Letzte Änderung 2024-03-27 11:04
Anm.: Rekrutierungspraktiken durch die PKK oder die Revolutionäre Jugend, einem mutmaßlichen Teil der PKK, die nicht unter die "Selbstverteidigungspflicht" fallen, werden hier nicht thematisiert. Informationen zu diesem Thema können u. a. dem Bericht "Syria - Military recruitment in Hasakah Governorate" des Danish Immigration Service (DIS) vom Juni 2022 entnommen werden.
Wehrpflichtgesetz der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien"
Auch aus den nicht vom Regime kontrollierten Gebieten Syriens gibt es Berichte über Zwangsrekrutierungen. Im Nordosten des Landes hat die von der kurdischen Partei PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat, Partei der Demokratischen Union] dominierte "Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien" [Autonomous Administration of North and East Syria, AANES] 2014 ein Wehrpflichtgesetz verabschiedet, welches vorsah, dass jede Familie einen "Freiwilligen" im Alter zwischen 18 und 40 Jahren stellen muss, der für den Zeitraum von sechs Monaten bis zu einem Jahr in den YPG [Yekîneyên Parastina Gel, Volksverteidigungseinheiten] dient (AA 2.2.2024). Im Juni 2019 ratifizierte die AANES ein Gesetz zur "Selbstverteidigungspflicht", das den verpflichtenden Militärdienst regelt, den Männer über 18 Jahren im Gebiet der AANES ableisten müssen (EB 15.8.2022; vgl. DIS 6.2022). Am 4.9.2021 wurde das Dekret Nr. 3 erlassen, welches die Selbstverteidigungspflicht auf Männer beschränkt, die 1998 oder später geboren wurden und ihr 18. Lebensjahr erreicht haben. Gleichzeitig wurden die Jahrgänge 1990 bis 1997 von der Selbstverteidigungspflicht befreit (ANHA, 4.9.2021). Der Altersrahmen für den Einzug zum Wehrdienst ist nun in allen betreffenden Gebieten derselbe, während er zuvor je nach Gebiet variierte. So kam es in der Vergangenheit zu Verwirrung, wer wehrpflichtig war (DIS 6.2022). Mit Stand September 2023 war das Dekret noch immer in Kraft (ACCORD 7.9.2023).
Die Wehrpflicht gilt in allen Gebieten unter der Kontrolle der AANES, auch wenn es Gebiete gibt, in denen die Wehrpflicht nach Protesten zeitweise ausgesetzt wurde [Anm.: Siehe weiter unten]. Es ist unklar, ob die Wehrpflicht auch für Personen aus Afrin gilt, das sich nicht mehr unter der Kontrolle der "Selbstverwaltung" befindet. Vom Danish Immigration Service (DIS) befragte Quellen machten hierzu unterschiedliche Angaben. Die Wehrpflicht gilt nicht für Personen, die in anderen Gebieten als den AANES wohnen oder aus diesen stammen. Sollten diese Personen jedoch seit mehr als fünf Jahren in den AANES wohnen, würde das Gesetz auch für sie gelten. Wenn jemand in seinem Ausweis als aus Hasakah stammend eingetragen ist, aber sein ganzes Leben lang z.B. in Damaskus gelebt hat, würde er von der "Selbsverwaltung" als aus den AANES stammend betrachtet werden und er müsste die "Selbstverteidigungspflicht" erfüllen. Alle ethnischen Gruppen und auch staatenlose Kurden (Ajanib und Maktoumin) sind zum Wehrdienst verpflichtet. Araber wurden ursprünglich nicht zur "Selbstverteidigungspflicht" eingezogen, dies hat sich allerdings seit 2020 nach und nach geändert (DIS 6.2022; vgl. NMFA 8.2023).
Ursprünglich betrug die Länge des Wehrdiensts sechs Monate, sie wurde aber im Jänner 2016 auf neun Monate verlängert (DIS 6.2022). Artikel zwei des Gesetzes über die "Selbstverteidigungspflicht" vom Juni 2019 sieht eine Dauer von zwölf Monaten vor (RIC 10.6.2020). Aktuell beträgt die Dauer ein Jahr und im Allgemeinen werden die Männer nach einem Jahr aus dem Dienst entlassen. In Situationen höherer Gewalt kann die Dauer des Wehrdiensts verlängert werden, was je nach Gebiet entschieden wird. Beispielsweise wurde der Wehrdienst 2018 aufgrund der Lage in Baghouz um einen Monat verlängert. In Afrin wurde der Wehrdienst zu drei Gelegenheiten in den Jahren 2016 und 2017 um je zwei Monate ausgeweitet. Die Vertretung der "Selbstverwaltung" gab ebenfalls an, dass der Wehrdienst in manchen Fällen um einige Monate verlängert wurde. Wehrdienstverweigerer können zudem mit der Ableistung eines zusätzlichen Wehrdienstmonats bestraft werden (DIS 6.2022).
Nach dem abgeleisteten Wehrdienst gehören die Absolventen zur Reserve und können im Fall "höherer Gewalt" einberufen werden. Diese Entscheidung trifft der Militärrat des jeweiligen Gebiets. Derartige Einberufungen waren den vom DIS befragten Quellen nicht bekannt (DIS 6.2022).
Einsatzgebiet von Wehrpflichtigen
Die Selbstverteidigungseinheiten [Hêzên Xweparastinê, HXP] sind eine von den SDF separate Streitkraft, die vom Demokratischen Rat Syriens (Syrian Democratic Council, SDC) verwaltet wird und über eigene Militärkommandanten verfügt. Die SDF weisen den HXP allerdings Aufgaben zu und bestimmen, wo diese eingesetzt werden sollen. Die HXP gelten als Hilfseinheit der SDF. In den HXP dienen Wehrpflichtige wie auch Freiwillige, wobei die Wehrpflichtigen ein symbolisches Gehalt erhalten. Die Rekrutierung von Männern und Frauen in die SDF erfolgt dagegen freiwillig (DIS 6.2022).
Die Einsätze der Rekruten im Rahmen der "Selbsverteidigungspflicht" erfolgen normalerweise in Bereichen wie Nachschub oder Objektschutz (z.B. Bewachung von Gefängnissen wie auch jenes in al-Hasakah, wo es im Jänner 2022 zu dem Befreiungsversuch des sogenannten Islamischen Staats (IS) mit Kampfhandlungen kam). Eine Versetzung an die Front erfolgt fallweise auf eigenen Wunsch, ansonsten werden die Rekruten bei Konfliktbedarf an die Front verlegt, wie z. B. bei den Kämpfen gegen den IS 2016 und 2017 in Raqqa (DIS 6.2022).
Rekrutierungspraxis
Die Aufrufe für die "Selbstverteidigungspflicht" erfolgen jährlich durch die Medien, wo verkündet wird, welche Altersgruppe von Männern eingezogen wird. Es gibt keine individuellen Verständigungen an die Wehrpflichtigen an ihrem Wohnsitz. Die Wehrpflichtigen erhalten dann beim "Büro für Selbstverteidigungspflicht" ein Buch, in welchem ihr Status bezüglich Ableistung des Wehrdiensts dokumentiert wird - z. B. die erfolgte Ableistung oder Ausnahme von der Ableistung. Es ist das einzige Dokument, das im Zusammenhang mit der Selbstverteidigungspflicht ausgestellt wird (DIS 6.2022). Das Wehrpflichtgesetz von 2014 wird laut verschiedenen Menschenrechtsorganisationen mit Gewalt durchgesetzt. Berichten zufolge kommt es auch zu Zwangsrekrutierungen von Jungen und Mädchen (AA 2.2.2024).
Wehrdienstverweigerung und Desertion
Es kommt zu Überprüfungen von möglichen Wehrpflichtigen an Checkpoints und auch zu Ausforschungen (ÖB Damaskus 12.2022). Die Selbstverwaltung informiert einen sich dem Wehrdienst Entziehenden zweimal bezüglich der Einberufungspflicht durch ein Schreiben an seinen Wohnsitz, und wenn er sich nicht zur Ableistung einfindet, sucht ihn die "Militärpolizei" unter seiner Adresse. Die meisten sich der "Wehrpflicht" entziehenden Männer werden jedoch an Checkpoints ausfindig gemacht (DIS 6.2022).
Die Sanktionen für die Wehrdienstverweigerung ähneln denen im von der Regierung kontrollierten Teil (ÖB Damaskus 12.2022). Laut verschiedener Menschenrechtsorganisationen wird das "Selbstverteidigungspflichtgesetz" auch mit Gewalt durchgesetzt (AA 2.2.2024), während der DIS nur davon berichtet, dass Wehrpflichtige, welche versuchen, dem Militärdienst zu entgehen, laut Gesetz durch die Verlängerung der "Wehrpflicht" um einen Monat bestraft würden - zwei Quellen zufolge auch in Verbindung mit vorhergehender Haft "für eine Zeitspanne". Dabei soll es sich oft um ein bis zwei Wochen handeln, um einen Einsatzort für die Betreffenden zu finden (DIS 6.2022). Ähnliches berichteten ein von ACCORD befragter Experte, demzufolge alle Wehrdienstverweigerer nach dem Gesetz der Selbstverteidigungspflicht gleich behandelt würden. Die kurdischen Sicherheitsbehörden namens Assayish würden den Wohnort der für die Wehrpflicht gesuchten Personen durchsuchen, an Checkpoints Rekrutierungslisten überprüfen und die Gesuchten verhaften. Nach dem Gesetz werde jede Person, die dem Dienst fernbleibe, verhaftet und mit einer Verlängerung des Dienstes um einen Monat bestraft (ACCORD 6.9.2023). Die ÖB Damaskus erwähnt auch Haftstrafen zusätzlich zur [Anm.: nicht näher spezifizierten] Verlängerung des Wehrdiensts. Hingegen dürften die Autonomiebehörden eine Verweigerung nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung sehen (ÖB Damaskus 12.2022). Einem von ACCORD befragten Syrienexperten zufolge hängen die Konsequenzen für die Wehrdienstverweigerung vom Profil des Wehrpflichtigen ab sowie von der Region, aus der er stammt. In al-Hasakah beispielsweise könnten Personen im wehrpflichtigen Alter zwangsrekrutiert und zum Dienst gezwungen werden. Insbesondere bei der Handhabung des Gesetzes zur Selbstverteidigungspflicht gegenüber Arabern in der AANES gehen die Meinungen der Experten auseinander. Grundsätzlich gilt die Pflicht für Araber gleichermaßen, aber einem Experten zufolge könne die Behandlung je nach Region und Zugriffsmöglichkeit der SDF variieren und wäre aufgrund der starken Stammespositionen oft weniger harsch als gegenüber Kurden. Ein anderer Experte wiederum berichtet von Beleidigungen und Gewalt gegenüber arabischen Wehrdienstverweigerern (ACCORD 6.9.2023).
Bei Deserteuren hängen die Konsequenzen abseits von einer Zurücksendung zur Einheit und einer eventuellen Haft von ein bis zwei Monaten von den näheren Umständen und eventuellem Schaden ab. Dann könnte es zu einem Prozess vor einem Kriegsgericht kommen (DIS 6.2022).
Eine Möglichkeit zur Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen besteht nicht (DIS 6.2022; vgl. EB 12.7.2019).
Aufschub des Wehrdienstes
Das Gesetz enthält Bestimmungen, die es Personen, die zur Ableistung der "Selbstverteidigungspflicht" verpflichtet sind, ermöglichen, ihren Dienst aufzuschieben oder von der Pflicht zu befreien, je nach den individuellen Umständen. Manche Ausnahmen vom "Wehrdienst" sind temporär und kostenpflichtig. Frühere Befreiungen für Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs und von NGOs sowie von Lehrern gelten nicht mehr (DIS 6.2022). Es wurden auch mehrere Fälle von willkürlichen Verhaftungen zum Zwecke der Rekrutierung dokumentiert, obwohl die Wehrpflicht aufgrund der Ausbildung aufgeschoben wurde oder einige Jugendliche aus medizinischen oder anderen Gründen vom Wehrdienst befreit wurden (EB 12.7.2019). Im Ausland (Ausnahme: Türkei und Irak) lebende, unter die "Selbstverteidigungspflicht" fallende Männer können gegen eine Befreiungsgebühr für kurzfristige Besuche zurückkehren, ohne den "Wehrdienst" antreten zu müssen, wobei zusätzliche Bedingungen eine Rolle spielen, ob dies möglich ist (DIS 6.2022).
Proteste gegen die "Selbstverteidigungspflicht"
Im Jahr 2021 hat die Wehrpflicht besonders in den östlichen ländlichen Gouvernements Deir ez-Zour und Raqqa Proteste ausgelöst. Lehrer haben sich besonders gegen die Einberufungskampagnen der SDF gewehrt. Proteste im Mai 2021 richteten sich außerdem gegen die unzureichende Bereitstellung von Dienstleistungen und die Korruption oder Unfähigkeit der autonomen Verwaltungseinheiten. Sechs bis acht Menschen wurden am 1.6.2021 in Manbij (Menbij) bei einem Protest getötet, dessen Auslöser eine Reihe von Razzien der SDF auf der Suche nach wehrpflichtigen Männern war. Am 2.6.2021 einigten sich die SDF, der Militärrat von Manbij und der Zivilrat von Manbij mit Stammesvertretern und lokalen Persönlichkeiten auf eine deeskalierende Vereinbarung, die vorsieht, die Rekrutierungskampagne einzustellen, während der Proteste festgenommene Personen freizulassen und eine Untersuchungskommission zu bilden, um diejenigen, die auf Demonstranten geschossen hatten, zur Rechenschaft zu ziehen (COAR 7.6.2021). Diese Einigung resultierte nach einer Rekrutierungspause in der Herabsetzung des Alterskriteriums auf 18 bis 24 Jahre, was später auf die anderen Gebiete ausgeweitet wurde (DIS 6.2022). Im Sommer 2023 kam es in Manbij zu Protesten gegen die SDF insbesondere aufgrund von Kampagnen zur Zwangsrekrutierung junger Männer in der Stadt und Umgebung (SO 20.7.2023).
Militärdienst von Frauen
Frauen können freiwilligen Militärdienst in den kurdischen Einheiten [YPJ - Frauenverteidigungseinheiten] (AA 2.2.2024; vgl. DIS 6.2022) oder in den Selbstverteidigungseinheiten (HXP) leisten (DIS 6.2022). Es gibt Berichte von Zwangsrekrutierungen von Frauen (AA 2.2.2024; vgl. SNHR 26.1.2021) und minderjährigen Mädchen (Savelsberg 3.11.2017; vgl. HRW 11.10.2019; vgl. SNHR, 25.11.2023).
Anm.: Siehe Kapitel "Rekrutierung von Minderjährigen durch verschiedene Organisationen" für Informationen zur Rekrutierung von Minderjährigen durch Einheiten im Gebiet der AANES.
Rekrutierung für den nationalen syrischen Wehrdienst
Die Absolvierung des "Wehrdiensts" gemäß der Selbstverwaltung befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien (DIS 6.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z. B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o.ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).
Laut mehreren von ACCORD für eine Anfragebeantwortung interviewten Experten gibt es de facto keine Möglichkeit des syrischen Regimes, in den von den SDF kontrollierten Gebieten zu rekrutieren, obwohl es teilweise Patrouillen des syrischen Regimes in der AANES gibt. Lediglich in jenen Gebieten, die von den Regierungstruppen kontrolliert werden, können die Personen auch rekrutiert werden (ACCORD 24.8.2023). Ebenso gibt der Syrienexperte van Wilgenburg an, dass die Kontrollpunkte der syrischen Armee nicht die Befugnis haben, Menschen in den Städten zu kontrollieren, sondern der Abschreckung der Türkei dienen (van Wilgenburg 2.9.2023). Dem widerspricht SNHR, das ebenfalls von ACCORD befragt wurde mit der Angabe, dass das syrische Regime an Checkpoints und Kontrollpunkten sehr wohl auf vom Regime gesuchte Wehrpflichtige zugreifen könnte und würde und diese in die von der Regierung kontrollierten Gebiete eskortieren würde (ACCORD 24.8.2023).
Anm.: Siehe Abschnitt "Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle" im Kapitel "Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst" für Informationen zur Rekrutierungspraxis der Syrian Arab Army (SAA) in Nordostsyrien.
Quellen: […]
Bewegungsfreiheit
Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens
Letzte Änderung 2024-03-13 16:23
Die Verfassung sieht Bewegungsfreiheit vor, ’außer eine gerichtliche Entscheidung oder die Umsetzung von Gesetzen’ schränken diese ein. Das Regime, HTS (Hay’at Tahrir ash-Sham) und andere bewaffnete Gruppen sehen Restriktionen bei der Bewegungsfreiheit in ihren jeweiligen Gebieten vor und setzen dazu zur Überwachung Checkpoints ein (USDOS 20.3.2023).
Regierungsangriffe auf die Provinz Idlib und Teile Südsyriens schränkten die Bewegungsfreiheit ein und führten zu Todesfällen, Hunger und schwerer Mangelernährung, während die Angst vor der Vergeltung der Regierung zur Massenflucht von ZivilistInnen und dem Zusammenbruch u. a. der humanitären Hilfe führte. Im Februar 2022 ergab eine UN-Umfrage, dass 51 Prozent der geprüften Gemeinschaften von Bewegungseinschränkungen betroffen waren (USDOS 20.3.2023).
Checkpoints werden sowohl von Regimesicherheitskräften sowie lokalen und ausländischen
Milizen unterhalten (USDOS 20.3.2023). In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig ungeregelte Kontrollen durchführen. Dabei kann es auch zu Forderungen nach Geldzahlungen oder willkürlichen Festnahmen kommen. Insbesondere Frauen sind in diesen Kontrollen einem erhöhten Risiko von Übergriffen ausgesetzt (AA 8.12.2023). Auch können Passierende gewaltsam für den Militärdienst eingezogen werden (NFMA 5.2022).
Überlandstraßen und Autobahnen sind zeitweise gesperrt. Reisen im Land ist durch Kampfhandlungen vielerorts weiterhin sehr gefährlich. Es gibt in Syrien eine Reihe von Militärsperrgebieten, die allerdings nicht immer eindeutig gekennzeichnet sind. Darunter fallen auch die zahlreichen Checkpoints der syrischen Armee und Sicherheitsdienste im Land. Für solche Bezirke gilt ein absolutes Verbot, sie zu betreten. Der Begriff der militärischen Einrichtung wird von den syrischen Sicherheitsdiensten umfassend ausgelegt und kann neben klar erkennbaren Kasernen, Polizeistationen und Militärcheckpoints auch schwerer zu identifizierende Infrastruktur wie z. B. Wohnhäuser hochrangiger Personen, Brücken, Rundfunkeinrichtungen oder andere staatliche Gebäude umfassen (AA 8.12.2023). Zudem wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um diejenigen, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete leben, am Zugang zu ihren Grundstücken oder Eigentumsdokumenten zu hindern. Es gibt auch Berichte über die Beschlagnahmung von Eigentumsdokumenten und anderen Ausweispapieren an Kontrollpunkten, einschließlich Heiratsurkunden. Dies birgt für Frauen ein besonders hohes Risiko, den Zugang zu ihrem Eigentum zu verlieren, falls das Eigentum auf den Namen des Ehemannes eingetragen ist (AA 2.2.2024). Die Regimesicherheitskräfte erpressen Leute an den Checkpoints (USDOS 20.3.2023) für eine sichere Passage durch ihre Kontrollpunkte. So werden z. B. an den Checkpoints an der Straße von der jordanisch-syrischen Grenze nach Dara’a üblicherweise Bestechungsgelder eingehoben (HRW 20.10.2021).
Die Kontrollpunkte grenzen die Stadtteile voneinander ab. Sie befinden sich auch an den Zugängen zu Städten und größeren Autobahnen wie etwa Richtung Libanon, Flughafen Damaskus, und an der M5-Autobahn, welche von der jordanischen Grenze durch Dara’a, Damaskus, Homs, Hama und Aleppo bis zur Grenze mit der Türkei reicht. Zurückeroberte Gebiete weisen eine besonders hohe Dichte an Checkpoints auf (HRW 20.10.2021). Die Vierte Division, angeführt von Maher al-Assad, dem Bruder von Bashar al-Assad, übernahm die Kontrolle über alle Transportrouten Richtung Libanon und Jordanien sowie alle Hauptverkehrswege in West- und Süd-Syrien. Eine große Rekrutierungskampagne für die Besatzungen der Kontrollpunkte ist im Gang. Die Checkpoints sichern die Drogentransitrouten [Anm.: Siehe Informationen zu Ceptagon in den jeweiligen Kapiteln] und sind dabei ein Monopol auf Bestechungsgelder für Reisen durch das Land zu schaffen (FP 1.2.2023).
Passierende müssen an den vielen Checkpoints des Regimes ihren Personalausweis und bei Herkunft aus einem wiedereroberten Gebiet auch ihre sogenannte ’Versöhnungskarte’ vorweisen. Die Telefone müssen zur Überprüfung der Telefonate übergeben werden. Es mag zwar eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen geben, aber die Nachrichtendienste führen auch ihre eigenen Suchlisten. Seit 2011 gibt es Computer an den Checkpoints und bei Aufscheinen (in der Liste) wird die betreffende Person verhaftet (HRW 20.10.2021). Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, u. a. wenn sie z. B. aus früher oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder auch wenn sie Verbindungen zu Personen in Oppositionsgebieten wie Nordsyrien oder zu bekannten oppositionellen Familien haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Kontrollpunkten führen (DIS/DRC 2.2019). Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem, wer ihn kontrolliert. Auch die Laune und die Präferenzen des Kommandanten können eine Rolle spielen (DIS 9.2019).
Die Regimesicherheitskräfte halten in einigen Fällen ZivilistenInnen von der Flucht aus belagerten Städten ab (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Dara’a al-Balad im Jahr 2021 verletzte laut UN Commission of Inquiry for Syria die Belagerungstaktik der Pro-Regimekräfte die Bewegungsfreiheit und könnte auf eine Kollektivbestrafung hinauslaufen (USDOS 20.3.2023).
Ausländischen DiplomatInnen - einschließlich von der UNO und dem OPCW Investigation and
Identification Team (IIT) (OPCW - Organization for the Prohibition of Chemical Weapons) - wurde von der syrischen Regierung der Besuch vieler Landesteile untersagt, und sie erhielten selten die Erlaubnis, außerhalb von Damaskus zu reisen (USDOS 20.3.2023).
Anm.: Zum dahinschwindenden öffentlichen Verkehrssystem und seinen gestiegenen Fahrpreisen siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.
Betreten und Verlassen des Regimegebiets
Zum Betreten und Verlassen des Regimegebiets ist eine Sicherheitsfreigabe durch das Regime nötig, was ein Hindernis für Flüchtlinge und Binnenvertriebene darstellt, welche in ihre Heimatorte zurückkehren möchten. Personen, die vom Regime als kritisch wahrgenommen werden, erhalten diese Genehmigung oft nicht - ebenso ihre Verwandten, frühere Oppositionelle sowie ehemalige BewohnerInnen von als Hochburgen der Opposition wahrgenommen Gebieten (USDOS 20.3.2023).
Laut niederländischem Außenministerium ist es unmöglich, einen Überblick zu vermitteln, welche Übergänge zwischen den Oppositionsgebieten und dem Regimegebiet im Berichtszeitraum offen waren - und zu welchem Zeitpunkt und für welche Personen und Reisezwecke. Es wird aber auf die potenzielle Gefahr von Reisen für ZivilistInnen innerhalb Syriens allgemein und besonders bei Einreisen aus den Oppositionsgebieten in das Regimegebiet wegen der Notwendigkeit des Passierens von Checkpoints der syrischen Geheimdienste, des Militärs und anderer Pro-Regime-Milizen hingewiesen (NMFA 6.2021).
Es ist laut niederländischem Außenministerium nicht möglich, frei vom Regimegebiet in die Gebiete der sog. Errettungsregierung (Anm.: mit HTS als dominante Kraft) oder in das Gebiet der Syrischen Interimsregierung (Anm.: mit den pro-türkischen Einheiten der Syrian National Army) zu reisen und in umgekehrter Richtung. Das gilt für alle BürgerInnen ungeachtet ihres Geschlechts, Alters, ethnischer Zugehörigkeit und Religion, und hat nichts mit der Corona-Pandemie zu tun. Es ist auch nicht möglich, vom kurdischen Selbstverwaltungsgebiet ins Gebiet der Syrischen Interimsregierung zu gelangen. Reisen zwischen dem Gebiet der sog. Errettungsregierung und der Syrischen Interimsregierung sind möglich. Manche Reisen zwischen dem Regimegebiet und dem Selbstverwaltungsgebiet (der SDF) sind möglich, aber die genauen Konditionen sind unbekannt. BewohnerInnen von al-Hassakah und Qamishli sowie Personen, die dort geboren sind, gehören zu den Personengruppen, welche vom Regimegebiet aus in diese beiden Städte reisen können, weil die Behörden dort eine gewisse Präsenz haben. Auch Leute, die im Regimegebiet wohnen, aber aus Teilen von Raqqa und Deir az-Zour stammen, die nun unter Kontrolle der Selbstverwaltung stehen, können Berichten zufolge hin und her reisen, um ihre Besitztümer zu überprüfen oder Land zu kultivieren (NMFA 5.2022).
Die Situation bezüglich des Warenverkehrs stellt sich anders dar als bei Personen - landwirtschaftliche Produkte können vom Regimegebiet aus in andere Landesteile gebracht werden (NMFA 5.2022).
Anm.: Bezüglich der Frage, welche Personen unter welchen Bedingungen dauerhaft in ihre Heimatorte im Selbstverwaltungsgebiet zurückkehren können, wird auf die folgende AFB verwiesen: ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (6.5.2022): Anfragebeantwortung zu Syrien: Voraussetzungen für Einreise syrischer Staatsangehöriger in Gebiete unter Kontrolle der SDF/YPG in Nordostsyrien; Legale Einreise aus dem Irak bzw der Türkei; Informationen zum Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur; Kontrolle der Grenzübergänge zwischen Nordostsyrien und der Türkei/dem Irak [a-11859-1], https://www.ecoi.net/de/dokument/2073007.html, Zugriff 15.5.2023
Die Bewegungsfreiheit von Frauen sowie ihre Einschätzung von Gefahren im öffentlichen Raum
Die vorherrschende Gewalt und starke kulturelle Zwänge schränken die Bewegungsfreiheit von Frauen in vielen Gebieten stark ein. In Gebieten, die von bewaffneten Oppositionsgruppen und terroristischen Gruppen wie der islamistischen Miliz Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrolliert
werden, schränken diese ebenfalls die Bewegungsfreiheit ein. HTS schreibt Frauen unter anderem vor, dass sie nicht alleine leben dürfen, und dass sie sich nur in Begleitung eines männlichen Familienmitglieds (mahram) in die Öffentlichkeit begeben dürfen (USDOS 20.3.2023). In der Umfrage von UNFPA (UN Population Fund) veröffentlichten Umfrage sehen 55 Prozent der befragten Haushalte demnach Kontrollpunkte in ihrer Umgebung als Orte, an denen sich Frauen und Mädchen Gefahren ausgesetzt fühlen. 59 Prozent schätzt öffentliche Verkehrsmittel als für Frauen und Mädchen unsicher ein sowie 56 Prozent in Bezug auf Märkte (UNFPA 28.3.2023):
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Anm.: Informationen zu Zugangsbeschränkungen zu Herkunftsgebieten siehe Kapitel „Rückkehr“.
Quellen: […]
Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen
Letzte Änderung 2024-03-13 16:24
Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten geografischen Gebiet verweigern (USDOS 20.3.2023). Das syrische Regime hat zudem Erfordernisse für Ausreisegenehmigungen eingeführt. Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition oder Personen, die als solche wahrgenommen werden oder mit diesen oder mit Oppositionsgebieten in Verbindung stehen. Deshalb zögern diese sowie ihre Familien, eine Ausreise zu versuchen, aus Angst vor Angriffen/Übergriffen und Festnahmen an den Flughäfen und Grenzübergängen. Auch JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen sowie Personen, die sich in der Zivilgesellschaft engagieren, sowie deren Familien und Personen mit Verbindungen zu ihnen werden oft mit einem Ausreiseverbot belegt. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer. Erhalten AktivistInnen oder JournalistInnen eine Ausreiseerlaubnis, so werden sie bei ihrer Rückkehr verhört (USDOS 20.3.2023). Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten, und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros,
welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 2.2.2024).
In Syrien betragen die Kosten für einen Reisepass aktuell 7 USD im regulären Verfahren und
56 USD im sogenannten „Expressverfahren“, welches dennoch mehrere Wochen dauern kann. Im Ausland liegen die Kosten bei 300 USD für das Regel- und 800 USD für das Expressverfahren. Die Gültigkeit beträgt in der Regel nur zwei Jahre. Damit ist der syrische Pass einer der teuersten der Welt. Seit Ende 2022 lässt sich beobachten, dass Ämter in Aleppo und Hama wieder Reisepässe für vertriebene syrische Staatsangehörige aus Oppositionsgebieten ausstellen, bei denen alsAusstellungsort „Idlib Center“ angegeben wird. Eine (nicht-repräsentative) Preisermittlung durch Forschungspartner des Auswärtigen Amts hat ergeben, dass etwa die Gebühren für Reisepässe für syrische Staatsangehörige in den Oppositionsgebieten nahe an den im Ausland erhobenen Preisen liegen (Idlib: 700 USD, Azaz 600 USD) und selbst einfacheAuszüge um ein Vielfaches teurer sind als in den Regimegebieten (Idlib 60 USD, Azaz 50 USD). Eine Ausnahme bildet al-Qamishli im Nordosten, wo das Regime in Abstimmung mit den sogenannten Selbstverwaltungsbehörden ein Sicherheits- und Verwaltungszentrum unterhält, in dem entsprechende Dienstleistungen günstiger ausfallen (Reisepass: 300 USD, Registerauszug 6 USD). Die Selbstbeschaffung durch Passieren informeller Checkpoints an der Front ist sowohl lebensgefährlich als auch teuer (1.000 USD/Strecke) (AA 2.2.2024).
Flüchtlingsbewegungen finden in die angrenzenden Nachbarländer statt. Die Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen, bzw können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden, und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 16.5.2023). Das Regime schließt regelmäßig den Flughafen von Damaskus sowie Grenzübergänge und begründet dies mit Gewalt, bzw drohender Gewalt (USDOS 20.3.2023) (Anm.: Bzgl. der Schließung von zivilen Flughäfen wegen israelischer Luftangriffe siehe auch Kapitel Sicherheitslage). Im Anschluss an israelische Luftschläge auf die Flughäfen Aleppo und Damaskus musste der Flugverkehr teilweise eingestellt werden (AA 2.2.2024).
Die auf Grund von COVID-19 verhängten Sperren der Grenzübergänge vom regierungskontrollierten Teil in den Libanon, nach Jordanien (Nasib) und in den Irak (Al-Boukamal) für den Personenverkehr wurden zwischenzeitig aufgehoben. Neue Einschränkungen seitens des Libanon sind mehr der Vermeidung illegaler Migration aus Syrien in den Libanon als COVID-Maßnahmen geschuldet. Der libanesische Druck zur freiwilligen Rückkehr einer wachsenden Zahl syrischer Flüchtlinge steigt. Die Grenzen zwischen der Türkei und den syrischen kurdisch besetzten Gebieten sind geschlossen; zum Irak hin sind diese durchlässiger (ÖB Damaskus 12.2022) (Anm.: bzgl. Personenverkehr zwischen Türkei und Syrien seit 6.2.2023 siehe auch Kapitel Rückkehr).
Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden (STDOK 8.2017). Außerdem gibt es ein Gesetz, das Ehemännern erlaubt, ihren Ehefrauen perAntrag an das Innenministerium die Ausreise aus Syrien zu verbieten, auch wenn Frauen, die älter als 18 Jahre sind, eigentlich das
Recht haben, ohne die Zustimmung männlicher Angehöriger zu verreisen (USDOS 20.3.2023).
Einige in Syrien aufhältige PalästinenserInnen brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen. Dies hängt jedoch von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab (STDOK 8.2017).
Anm.: Für weitere Informationen zu Einreisemöglichkeiten in Nachbarländer siehe Abschnitt
„Bewegungsfreiheit“ und die jeweiligen Länderinformationsblätter zum Libanon und Jordanien, den einzigen Nachstaaten, welche ebenfalls Mandatsgebiet von UNRWA sind. Dort finden sich auch Informationen, aus denen hervorgeht, dass eine legale Umsiedlung von staatenlosen palästinensischen Flüchtlingen aus Syrien nicht vorgesehen ist, und auch eine etwaige UNRWA-Registrierung nicht zu einer Legalisierung des Aufenthalts oder etwa zu einem gesicherten, dauerhaften Aufenthaltsrecht führt, wie das seit Oktober 2012 geltende Einreiseverbot Jordaniens für Palästinenser illustriert.
Rückkehr
Die Regierung erlaubt SyrerInnen, die im Ausland leben, ihre abgelaufenen Reisepässe an den Konsulaten zu erneuern. Viele SyrerInnen, die aus Syrien geflohen sind, zögern jedoch, die
Konsulate zu betreten, aus Angst, dass dies zu Repressalien gegen Familienangehörige in Syrien führen könnte (USDOS 20.3.2023).
Anm.: Zur Sammlung nachrichtendienstlicher Informationen im Zuge von Dokumentenanträgen an syrischen Botschaften inklusive Bedingung der Offenlegung des Aufenthaltstitels siehe AFBs zu den jeweiligen Dokumenten. Für grundsätzliche Informationen siehe: BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Syrien: SYRI_SM_Sammlung von Personendaten für nachrichtendienstliche Zwecke 2019_11_04_KE
Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen ’black lists’ betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Je nach Sachlage kann es aber (z.B. aufgrund von Desertion oder Wehrdienstverweigerung oder früherer politischer Tätigkeit) durchaus zu Schwierigkeiten mit den syrischen Behörden kommen. Seit 1.8.2020 wurde – bedingt durch den Devisenmangel – bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt. Damit einher geht ein Kursverlust gegenüber Umtausch zum Marktkurs von mittlerweile bereits mehr als 50 Prozent (ÖB Damaskus 12.2022).
Auch länger zurückliegende Gesetzesverletzungen im Heimatland (z. B. illegale Ausreise) können von den syrischen Behörden bei einer Rückkehr verfolgt werden. In diesem Zusammenhang kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Z.B. müssen deutsche männliche Staatsangehörige, die nach syrischer Rechtsauffassung auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie syrische Staatsangehörige mit Aufenthaltstitel in Deutschland auch bei nur besuchsweiser Einreise damit rechnen, zum Militärdienst eingezogen oder zur Zahlung eines Geldbetrages zur Freistellung vom Militärdienst gezwungen zu werden. Eine vorab eingeholte Reisegenehmigung der syrischen Botschaft stellt keinen verlässlichen Schutz vor Zwangsmaßnahmen seitens des syrischen Regimes dar. Auch aus Landesteilen, die aktuell nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen, sind Fälle zwangsweiser Rekrutierung bekannt (AA 16.5.2023). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung kommen kann. Häufiger werden die Festgenommenen an Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, oft in den Raum Damaskus (AA 2.2.2024).
Es ist nicht Standard, dass SyrerInnen bei der legalen Ein- und Ausreise nach ihren LoginDaten für ihre Konten für soziale Medien gefragt werden, aber für Einzelfälle kann das nicht ausgeschlossen werden, z. B. wenn jemand - aus welchem Grund auch immer - auf dem Flughafen das Interesse der Behörden bei der Ausreise - erweckt (NMFA 5.2022) (Anm.: bzgl.
Abfrage derartiger Daten bei Verhören siehe Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage).
Durch das Fehlen klarer Informationen über das Prozedere für eine Rückkehr, durch das Zurückhalten der Gründe für die Ablehnung einer Rückkehr, bzw durch das Fehlen einer Einspruchsmöglichkeit enthält die syrische Regierung ihren BürgerInnen im Ausland das Recht auf Einreise in ihr eigenes Land vor (UNCOI 7.2.2023).
Anm.: für weitere Informationen siehe Kapitel „Rückkehr“.
Quellen: […]
Rückkehr
Letzte Änderung 2024-03-13 20:36
Seit 2011 waren 12,3 Millionen Menschen in Syrien gezwungen, zu flüchten - 6,7 Millionen sind aktuell laut OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) Binnenvertriebene (HRW 11.1.2024).
Die offizielle politische Position des Regimes hinsichtlich der Rückkehr von Geflüchteten wurde im Berichtszeitraum angepasst. In einem anlässlich des UNHCR-Exekutivkomitees am 12.10.2023 veröffentlichten Statement versicherte das syrische Regime, dass es sichere Rückkehrbedingungen schaffe. Die Versprechungen, z. B. zum Wehrdienst, bleiben jedoch vage. Nach Einschätzung vieler Beobachter könne kaum mit großangelegter Flüchtlingsrückkehr gerechnet werden (AA 2.2.2024).
Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht durch verschiedene Akteure, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen könnten, und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen gegeben
(UNCOI 7.2.2023). Eine UNHCR-Umfrage im Jahr 2022 unter syrischen Flüchtlingen in Ägypten, Libanon, Jordanien und Irak ergab, dass nur 1,7 Prozent der Befragten eine Rückkehr in den nächsten 12 Monaten vorhatten (CNN 10.5.2023). Obwohl sich am Bestehen der Fluchtursachen, insbesondere im Hinblick auf verbreitete Kampfhandlungen sowie die in weiten Teilen des Landes katastrophale humanitäre, wirtschaftliche und Menschenrechtslage nichts geändert hat, erhöhen manche Aufnahmestaaten in der Region gezielt den politischen, rechtlichen und sozioökonomischen Druck auf syrische Geflüchtete, um eine „freiwillige Rückkehr“ zu erwirken (AA 2.2.2024).
RückkehrerInnen nach Syrien müssen laut Human Rights Watch mit einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen rechnen, von willkürlicher Verhaftung, Folter, Verschwindenlassen
(HRW 12.1.2023; vgl. Al Jazeera 17.5.2023) bis hin zu Beschränkungen beim Zugang zu ihren Herkunftsgebieten (HRW 11.1.2024). Vergleichbare Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch lokale Akteure wurden im Berichtszeitraum, in absoluten Zahlen betrachtet in geringerem Umfang, auch in Nicht-Regimegebieten dokumentiert. Unverändert besteht somit in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung,
willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden. Nach entsprechenden Berichten von Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) von September bzw Oktober 2021 präsentierten der Zusammenschluss von Zivilgesellschaftsorganisationen Voices for Displaced Syrians Forum und der Think Tank Operations and Policy Center im Frühjahr 2022 eine gemeinsame Studie (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon,
Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens. Diese dokumentiert innerhalb eines
Jahres schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien. UNHCR, IKRK und IOM vertreten unverändert die Auffassung, dass die Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien in Sicherheit und Würde angesichts der unverändert bestehenden, signifikanten Sicherheitsrisiken in ganz Syrien nicht erfüllt sind. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann derzeit insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden (AA 2.2.2024).
Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien laut Auswärtigem Amt weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).
Laut UNHCR sind von 2016 bis Ende 2020 170.000 Flüchtlinge (40.000 2020 gegenüber 95.000 im Jahr 2019) zurückgekehrt, der Gutteil davon aus dem Libanon und Jordanien (2019: 30.000), wobei die libanesischen Behörden weit höhere Zahlen nennen (bis 2019: 187.000 rückkehrende Flüchtlinge). COVID-bedingt kam die Rückkehr 2020 zum Erliegen. Die Rückkehr von Flüchtlingen wird durch den Libanon und die Türkei mit erheblichem politischem Druck verfolgt. Als ein Argument für ihre Militäroperationen führt die Türkei auch die Rückführung von Flüchtlingen in die von der Türkei kontrollierten Gebiete an. Die Rückkehrbewegungen aus Europa sind sehr niedrig. Eine von Russland Mitte November 2020 initiierte Konferenz zur Flüchtlingsrückkehr in Damaskus (Follow-up 2021 sowie 2022), an der weder westliche noch viele Länder der Region teilnahmen, vermochte an diesen Trends nichts zu ändern (ÖB Damaskus 12.2022).
Laut Vereinten Nationen (u. a. UNHCR) sind die Bedingungen für eine nachhaltige Flüchtlingsrückkehr in großem Umfang derzeit nicht gegeben (ÖB Damaskus 12.2022).
Hindernisse für die Rückkehr
Rückkehrende sind auch Human Rights Watch zufolge mit wirtschaftlicher Not konfrontiert wie der fehlenden Möglichkeit, sich Grundnahrungsmittel leisten zu können. Die meisten finden ihre Heime ganz oder teilweise zerstört vor, und können sich die Renovierung nicht leisten. Die syrische Regierung leistet keine Hilfe bei der Wiederinstandsetzung von Unterkünften (HRW 12.1.2023). In der von der Türkei kontrollierten Region um Afrin nordöstlich von Aleppo Stadt wurde überdies berichtet, dass Rückkehrer ihre Häuser geplündert oder von oppositionellen Kämpfern besetzt vorgefunden haben. Auch im Zuge der türkischen Militäroperation ’Friedensquelle’ im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB Damaskus 12.2022). Neben den fehlenden sozioökonomischen Perspektiven und Basisdienstleistungen ist es oft auch die mangelnde individuelle Rechtssicherheit, die einer
Rückkehr entgegensteht. Nach wie vor gibt es Berichte über willkürliche Verhaftungen und das Verschwinden von Personen. Am stärksten betroffen sind davon Aktivisten, oppositionelle Milizionäre, Deserteure, Rückkehrer und andere, die unter dem Verdacht stehen, die Opposition zu unterstützen. Um Informationen zu gewinnen, wurden auch Familienangehörige oder Freunde von Oppositionellen bzw von Personen verhaftet. Deutlich wird die mangelnde Rechtssicherheit auch laut ÖB Damaskus an Eigentumsfragen. Das Eigentum von Personen, die wegen gewisser Delikte verurteilt wurden, kann vom Staat im Rahmen des zur Terrorismusbekämpfung erlassenen Gesetzes Nr. 19 konfisziert werden. Darunter fällt auch das Eigentum der Familien der Verurteilten in einigen Fällen sogar ihrer Freunde. Das im April 2018 erlassene Gesetz Nr. 10 ermöglicht es Gemeinde- und Provinzbehörden, Zonen für die Entwicklung von Liegenschaften auszuweisen und dafür auch Enteignungen vorzunehmen. Der erforderliche Nachweis der Eigentumsrechte für Entschädigungszahlungen trifft besonders Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Konkrete Pläne für die Einrichtung von Entwicklungszonen deuten auf Gebiete hin, die ehemals von der Opposition gehalten wurden. Von den großflächigen Eigentumstransfers dürften regierungsnahe Kreise profitieren. Auf Druck von Russland, der Nachbarländer sowie der Vereinten Nationen wurden einige Abänderungen vorgenommen, wie die Verlängerung des Fristenlaufs von 30 Tagen auf ein Jahr (ÖB Damaskus 12.2022). Flüchtlinge und Binnenvertriebene sind besonders von Enteignungen betroffen (BS 23.2.2022). Zudem kommt es zum Diebstahl durch Betrug von Immobilien, deren Besitzer - z. B. Flüchtlinge - abwesend sind (The Guardian
24.4.2023). Viele von ihren Besitzern verlassene Häuser wurden mittlerweile von jemandem besetzt. Sofern es sich dabei nicht um Familienmitglieder handelt, ist die Bereitschaft der Besetzer, das Haus oder Grundstück zurückzugeben, oft nicht vorhanden. Diese können dann die Rückkehrenden beschuldigen, Teil der Opposition zu sein, den Geheimdienst auf sie hetzen, und so in Schwierigkeiten bringen (Balanche 13.12.2021). Der Mangel an Wohnraum und die Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren (AA 29.11.2021).
Laut einer Erhebung der Syrian Association for Citizen’s Dignity (SACD) ist für 58 Prozent aller befragten Flüchtlinge die Abschaffung der Zwangsrekrutierung die wichtigste Bedingung für die Rückkehr in ihre Heimat (AA 4.12.2020). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach der Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar zum Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021).
Die laut Experteneinschätzung katastrophale wirtschaftliche Lage ist ein großes Hindernis für die Rückkehr: Es gibt wenige Jobs, und die Bezahlung ist schlecht (Balanche 13.12.2021). Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB 1.10.2021).
Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft. Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren (Weltbank 2020). Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom IS gehalten wurden (z. B. Raqqa, Deir Ez-Zor). Laut aktueller Mitteilung von UNMAS vom November 2022 sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen also rund 50 Prozent der Bevölkerung dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Dabei sind Männer aufgrund unterschiedlicher sozialer Rollen dem Risiko stärker ausgesetzt als Frauen. Im Schnitt gab es seit Kriegsbeginn alle zehn Minuten ein Opfer des Kriegs oder mittelbarer Kriegsfolgen. Ein Drittel der Opfer von Explosionen sind gestorben, 85 Prozent der Opfer sind männlich, fast 50 Prozent mussten amputiert werden und mehr als 20 Prozent haben Gehör oder Sehvermögen verloren. Zwei Drittel der Opfer sind lebenslang eingeschränkt. 39 Prozent der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 Prozent auf landwirtschaftlichen Flächen, zehn Prozent auf Straßen oder am Straßenrand. Seit 2019 waren 26 Prozent der Opfer IDPs (ÖB Damaskus 12.2022) [Anm.:
Infolge der Erdbeben im Februar 2023 erhöht sich die Gefahr, dass Explosivmaterialien wie Minen durch Erdbebenbewegungen, Wasser etc. verschoben werden].
Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer ’sehr begrenzten’ und ’abnehmenden’ Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück. Hierbei handelte es sich allerdings zu 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022). Insgesamt ging im Jahr 2022 laut UN-Einschätzung die Bereitschaft zu einer Rückkehr zurück, und zwar aufgrund von Sicherheitsbedenken der Flüchtlinge. Stattdessen steigt demnach die Zahl der SyrerInnen, welche versuchen, Europa zu erreichen, wie beispielsweise das Bootsunglück vom 22.9.2022 mit 99 Toten zeigte. In diesem Zusammenhang wird Vorwürfen über die willkürliche Verhaftung mehrer männlicher Überlebender durch die syrische Polizei und den Militärnachrichtendienst nachgegangen (UNCOI 7.2.2023).
Während die syrischen Behörden auf internationaler Ebene öffentlich eine Rückkehr befürworten, fehlen syrischen Flüchtlingen, im Ausland arbeitenden SyrerInnen und Binnenflüchtlingen, die ins Regierungsgebiet zurückkehren wollen, klare Informationen für die Bedingungen und Zuständigkeiten für eine Rückkehr sowie bezüglich einer Einspruchsmöglichkeit gegen eine Rückkehrverweigerung (UNCOI 7.2.2023) [Anm.: mehr dazu siehe in dem Unterkapitel Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort sowie im Unterkapitel Perspektiven des Staatsapparats bezüglich Emigration und Rückkehr].
Weitere Informationen zu Enteignungen und der Wohnraumsituation finden sich im Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.
Quellen: […]
Perspektiven des Staatsapparats bezüglich Emigration und Rückkehr
Letzte Änderung 2024-03-14 11:46
Die Bedeutung von Überweisungen von SyrerInnen im Ausland und die Rolle der syrischen Lohnpolitik für Angestellte des öffentlichen Diensts dabei
Neben dem wachsenden Auswanderungsdruck auf gebildete SyrerInnen durch die Bevorzugung der Militärs bezüglich Gehälter zielt die syrische Lohnpolitik im öffentlichen Sektor laut einer Studie von Omran for Strategic Studies darauf ab, junge Leute dazu zu bewegen, ins Ausland zu gehen, damit sie später Geld an ihre Familien schicken. So profitiert Syrien von den Devisenüberweisungen in die Gebiete unter Regimekontrolle sowie von den großen Summen, welche für die Befreiung vom Wehr- und Reservedienst zu zahlen sind (Omran 23.1.2023). Rücküberweisungen aus dem Ausland (remittances) sind angesichts der Wirtschaftskrise eine wichtige Einnahmequelle für viele Syrerinnen und Syrer. Seit Konfliktbeginn sind sie merklich angestiegen: 2010 betrugen sie laut der syrischen Zentralbank (CBS) 906 Mio. USD. 2019 waren es 3.01 Mrd. USD (elf Prozent des BIP). Seither hat die CBS keine Zahlen mehr veröffentlicht. Laut Medienberichten lagen die Rücküberweisungen 2022 bei über drei Mrd. US-Dollar (20 Prozent des gesamten BIP 2022; laut Weltbank etwa 15,5 Mrd. US-Dollar). Sie sind weiterhin eine signifikante Einnahmequelle für die Bevölkerung. Gleichzeitig verbreiteten Syrien und Russland bei einer Konferenz Mitte Oktober 2022 den Vorwurf, ’der Westen’ würde eine Rückkehr von Geflüchteten verhindern (AA 29.3.2023). Das Regime wünscht sich laut Experten-Einschätzung RückkehrerInnen mit Geld - nicht einfache Leute (Khaddour 24.12.2021)oder ehemalige Flüchtlinge, zumal die Regierung, nicht die Kapazitäten und finanziellen Möglichkeiten hätte, für die ehemaligen Flüchtlinge zu sorgen (The Guardian 23.3.2023).
Laut Einschätzung des Think Tanks Omran for Strategic Studies werden rückkehrende Syrer mehrheitlich als Folge der obigen Lohnpolitik sich gezwungenermaßen einer militärischen Einrichtung oder einer Miliz anschließen müssen, denn diese Organisationen bieten als einzige eine berufliche Perspektive in den Regime-kontrollierten Gebieten (Omran 23.1.2023) [Anm.: zu weiteren Kriterien wie z. B. bereits vorhandenen Verbindungen zu Personen mit Einfluss im Staatsapparat sowie Loyalität der Assad-Herrschaft gegenüber siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft sowie Kapitel Korruption und speziell zu illegalen Zweitjobs von Militärs zur Aufbesserung der Gehälter siehe Unterkapitel Streitkräfte im Kapitel Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen].
Wahrnehmung von RückkehrerInnnen ja nach Profil
Nach zuvor vorwiegend rückkehrkritischen öffentlichen Äußerungen hat die syrische Regierung seine Politik seit Ankündigung eines sogenannten „Rückkehrplans“ für Flüchtlinge durch Russland 2018 sukzessive angepasst und im Gegenzug für eine Flüchtlingsrückkehr Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und die Aufhebung westlicher Sanktionen gefordert (AA 20.3.2023). Die Rückkehr von ehemaligen Flüchtlingen ist trotzdem nicht erwünscht, auch wenn offiziell mittlerweile das Gegenteil gesagt wird (The Guardian 23.3.2023; vgl. Balanche 13.12.2021). Rückkehrende werden vom Regime häufig als „VerräterInnen“ deklariert (AA 2.2.2024), bzw insgeheim als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition und/oder bewaffneter Gruppen angesehen (AI 9.2021). Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (regime-)kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiärer Verbindung zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 2.2.2024).
Jeder, der geflohen ist und einen Flüchtlingsstatus hat, ist in den Augen des Regimes bereits verdächtig (Üngör 15.12.2021). Aus Sicht des syrischen Staates ist es daher besser, wenn diese SyrerInnen im Ausland bleiben, damit ihr Land und ihre Häuser umverteilt werden können, um Assads soziale Basis neu aufzubauen. Minderheiten wie Alawiten und Christen, reiche Geschäftsleute und Angehörige der Bourgeoisie sind hingegen für Präsident al-Assad willkommene Rückkehrer. Für arme Menschen, z. B. aus den Vorstädten von Damaskus oder Aleppo, hat der syrische Staat jedoch keine Verwendung (Balanche 13.12.2021), zumal keine Kapazitäten zur Unterstützung von (mittellosen) Rückkehrenden vorhanden sind (The Guardian 23.2.2023).
Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen [Anm.: für weitere Informationen zu Sicherheitsüberprüfungen siehe Unterkapitel Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort], Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021).
Anhand der von der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, NGOs und anderen dokumentierten Einzelschicksalen der Vergangenheit ist die Bedrohung der persönlichen Sicherheit im Einzelfall das zentrale Hindernis für Rückkehrende. Dabei gilt nach Ansicht des deutschen Auswärtigen Amts, dass sich die Frage einer möglichen Gefährdung des Individuums weder auf etwaige Sicherheitsrisiken durch Kampfhandlungen und Terrorismus beschränken lässt, noch ganz grundsätzlich eine Eingrenzung auf einzelne Landesteile möglich ist. Entscheidend für die Sicherheit von Rückkehrenden bleibt vielmehr die Frage, wie der oder die Rückkehrende von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen wird. Rückkehr auf individueller Basis findet, z. B. aus der Türkei, insbesondere in Gebiete statt, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen. Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien
weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).
Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr (ÖB Damaskus 1.10.2021), und die Aussagen zur Haltung der Regimekräfte gegenüber Rückkehrern heben unterschiedliche Aspekte zu deren Wahrnehmung und Behandlung hervor:
Der Syrien-Experte Uğur Üngör geht davon aus, dass jeder, der das Land verlassen hat, und nach Europa geflohen ist, vom Regime als verdächtig angesehen wird, weil es im Verständnis des Regimes keinen Grund gab, zu fliehen. Die Flucht nach Europa und das Beantragen von Asyl können negativ gesehen werden - im Sinne einer Zusammenarbeit mit den europäischen Regierungen oder sogar, dass man von diesen bezahlt wurde. Dies gilt jedoch nicht für Personen, die eine offiziell bestätigte regierungsfreundliche Einstellung haben. Weiters werden Personen, die in die Türkei geflohen sind, als Vertreter von Präsident Erdoğans Regierung gesehen. Wer im Ausland negative Äußerungen [Anm.: siehe hierzu das Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen und das Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage bzgl. der Gesetze zur Schädigung des Ansehens im Ausland sowie bzgl. positiver Äußerungen über Staaten, mit denen Syrien verfeindet ist] über das Regime gemacht hat (im Sinne von öffentlichem politischen Aktivismus, aber auch privat in sozialen Medien), kann bei der Rückkehr speziell vom politischen Geheimdienst überprüft werden. Wenn man Glück hat, sind die Anschuldigungen laut Üngör nicht sehr ernst, oder man kann ein Bestechungsgeld zahlen, um freizukommen, andernfalls kann man direkt vor Ort verhaftet werden. Hierbei spielen nicht nur eigene Aktivitäten eine Rolle, sondern auch Aktivitäten von Verwandten und die geografische Herkunft der rückkehrenden Person. Es gibt auch Berichte, dass Familienmitglieder von Journalisten, die in Europa für oppositionelle Medien schreiben, inhaftiert und tagelang festgehalten und wahrscheinlich gefoltert wurden (Üngör 15.12.2021) [Anm.: siehe hierzu auch Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage].
Laut dem Syrien-Experten Kheder Khaddour kommt es darauf an, wo im Ausland man sich aufgehalten hat: War man in den Golfstaaten, wird vielleicht davon ausgegangen, dass man geschäftlichen Tätigkeiten nachgegangen ist und nichts mit Politik zu tun hat. Wer in die Türkei gegangen ist, wird als Kollaborateur der Islamisten und Präsident Erdoğans gesehen. Wer in Europa war, wird beschuldigt, von Europa bezahlt worden zu sein, um gegen das Regime zu sein. Der Libanon ist vielleicht noch am neutralsten, quasi wie ein
’erweitertes Syrien’, und durch die geografische Nähe stehen Flüchtlingen im LibanonKorruptionsnetzwerke (zur Absicherung der Rückkehr) zur Verfügung, auf die man in Europa keinen Zugriff hat (Khaddour 24.12.2021).
Bashar al-Assad hat erklärt, dass er jene, die gegen sein Regime sind, als ’Krankheitser-reger’ sieht. Die Rückkehr ist aber nicht nur für Regimegegner, sondern auch für alle, über deren politischer Position sich das Regime nicht sicher ist, problematisch. Die Behandlung eines Rückkehrers durch die Behörden hängt laut dem syrischen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Mohamad Rasheed allein davon ab, ob die Person für oder gegen das Regime ist. Wer regierungstreu ist, kann auf legalem und gewöhnlichem Weg ein- und ausreisen. Die Unvorhersehbarkeit und Willkür sind große Hindernisse für die Rückkehr nach Syrien. Man kann jederzeit verhaftet und verhört werden und niemand weiß, ob man leben, getötet oder verschwinden gelassen wird. Der Staatsapparat ist durchzogen von Mafias, und im ganzen Land gibt es Milizen, die die Bevölkerung tyrannisieren (Rasheed 28.12.2021).
Laut dem Nahost-Experten Fabrice Balanche kann man, wenn man Teil der Opposition war oder sogar gekämpft hat, nicht nach Syrien zurückkehren, selbst wenn es laut offiziellem Narrativ des Präsidenten eine Amnestie gibt. Dasselbe gilt auch für (andere) politische Flüchtlinge. Zudem besteht immer die Gefahr, vom Geheimdienst verhaftet zu werden, zum Teil, um Geld zu erpressen. Man wird für ein paar Wochen inhaftiert, weil man vom Ausland zurückkommt und davon ausgegangen wird, dass man Geld hat. Die Familie muss dann ein Lösegeld von ein paar Tausend Dollar bezahlen, oder die Person bleibt
weitere zwei Wochen im Gefängnis (Balanche 13.12.2021).
Das deutsche Auswärtige Amt zieht den Schluss, dass eine sichere Rückkehr Geflüchteter insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden kann (AA 2.2.2024). UNHCR ruft weiterhin die Staaten dazu auf, keine zwangsweise Rückkehr von syrischen Staatsbürgern sowie ehemals gewöhnlich dort wohnenden Personen - einschließlich früher in Syrien ansässiger Palästinenser - in irgendeinen Teil Syrien zu veranlassen, egal wer das betreffende Gebiet in Syrien beherrscht (UNHCR
6.2022).
Auch die lokale Bevölkerung hegt oft Argwohn gegen Personen, die das Land verlassen haben. Es besteht eine große Kluft zwischen Syrern, die geflohen sind, und jenen, die dort verblieben sind. Erstere werden mit Missbilligung als Leute gesehen, die ’davongelaufen’ sind, während Letztere oft Familienmitglieder im Krieg verloren und unter den Sanktionen gelitten haben (Khaddour 24.12.2021; vgl. Üngör 15.12.2021). Es kann daher zu Denunziationen oder Erpressungen von Rückkehrern kommen, selbst wenn diese eigentlich ’sauber’ [Anm.: aus Regimeperspektive] sind, mit dem Ziel, daraus materiellen Gewinn zu schlagen (Üngör 15.12.2021) [Anm.: siehe hierzu auch die Thematik des Immobiliendiebstahls durch Betrug, der sich oft gegen seit langem Abwesende richtet, z. B. im Überkapitel Rückkehr].
Ein weiteres soziales Problem sind persönliche Racheakte: Wenn bei Kämpfen zwischen zwei Gruppen jemand getötet wurde, kann es vorkommen, dass jemand, der mit dem Mörder verwandt ist, von der Familie des Ermordeten im Sinne der Vergeltung getötet wird. Dies hindert viele an der Rückkehr in ihren Heimatort (Balanche 13.12.2021).
Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den
Herkunftsort
Letzte Änderung 2024-03-14 11:51
Administrative Verfahren der syrischen Behörden für RückkehrerInnen
Die syrische Regierung bietet administrative Verfahren an, die Rückkehrwillige aus dem Ausland oder aus von der Opposition kontrollierten Gebieten vor der Rückkehr in durch die Regierung kontrollierte Gebiete durchlaufen müssen, um Probleme mit der Regierung zu vermeiden. Im Rahmen dieser Verfahren führen die syrischen Behörden auf die eine oder andere Weise eine Überprüfung der RückkehrerInnen durch. Während des als ’Sicherheitsüberprüfung’ (arabisch muwafaka amniya) bezeichneten Verfahrens werden die Namen der AntragstellerInnen mit Fahndungslisten verglichen. Beim sogenannten ’Statusregelungsverfahren’ (arabisch: taswiyat wade) beantragen die AntragstellerInnen, wie es in einigen Quellen heißt, die ’Versöhnung’, sodass ihre Namen von den Fahndungslisten der syrischen Behörden gestrichen wird (DIS 5.2022). Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen (AA 2.2.2024).
Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen, zur Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und zu gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) berichtet von Menschenrechtsverletzungen in ihrem Berichtszeitraum, darunter den Tod eines Rückkehrers in Haft, dem man lebensrettende medizinische Versorgung verweigert hatte. Er war Anfang 2022 bei seiner Rückkehr nach Syrien trotz eines erfolgten Beilegungs-, bzw ’Versöhnungsprozesses’, verhaftet
worden (UNCOI 7.2.2023).
So gilt es zum Beispiel für die Rückkehr nach Homs, in die von der Regierung gehaltenen Teile von Idlib sowie ins Umland von Damaskus (Rif Dimashq) mehrere und sich überlappende Genehmigungsprozesse bei einer Reihe von Behörden zu durchlaufen. Oft beinhalten diese Prozedere eine geheimdienstliche Sicherheitsgenehmigung oder ein Beilegungsabkommen (Anm.: auch ’Versöhnungsabkommen’) oder beides, je nachdem woher die Rückkehrenden kommen, wo sie hingehen, und was ihre Profile sind. Einige mussten etwa schon vor ihrer Rückkehr ihren Status bei Zentren zur ’Statusklärung’ in Regierungsgebieten ’klären’, indem Verwandte oder Freunde vor Ort dies für sie durchführten. Andere gingen direkt zu diesen Zentren, nachdem sie durch Schmuggelrouten in das Gebiet zurückkehrten oder nachdem sie an einem Grenzübergang um eine ’Statusklärung’ angesucht hatten. Andere wiederum mussten eine Sicherheitsgenehmigung für einen Wohnsitz, bzw Aufenthalt (’residence’) bereits vor ihrer Rückkehr einholen. Andere versuchten an kollektiven Rückkehraktionen aus dem Libanon teilzunehmen (UNCOI
7.2.2023) [Anm.: siehe dazu Unterkapitel Hinweise über Rückkehrende aus den Nachbarstaaten und Europa].
Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu unvorhergesehenen Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass selbst eine von der jeweiligen Sicherheitsbehörde vorgenommene positive Sicherheitsüberprüfung jederzeit von dieser revidiert werden kann und damit keine Garantie für eine sichere Rückkehr leistet (AA 2.2.2024).
Sicherheitsüberprüfungen (besonders al-Muwafaqa al-Amniyeh, die Sicherheitsgenehmigung) vor der Rückkehr sowie inoffizielle Schutzzusagen
Es gibt widersprüchliche Informationen darüber, ob sich Personen, die nach Syrien zurückkehren wollen, einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen müssen oder nicht (AA 19.5.2020). Gemäß einem Rechtsexperten der ÖB Damaskus hat prinzipiell jeder syrische Staatsbürger das Recht, sich auf dem syrischen Staatsgebiet zu bewegen sowie es zu verlassen. Er darf gemäßArtikel 38 der syrischen Verfassung von 2012 nicht an der Rückkehr gehindert werden. Daraus folgt, dass von syrischen StaatsbürgerInnen vor ihrer Rückkehr keine Sicherheitsgenehmigung verlangt wird, oder sie um eine solche ansuchen müssen. Der Konflikt hat die Sicherheitsgenehmigung jedoch ins Zentrum gerückt. Viele syrische StaatsbürgerInnen haben die Rückkehr nach Syrien erwägt, fürchten allerdings, von den syrischen Behörden verhaftet zu werden. Da die syrische Regierung bestrebt war, zu zeigen, dass Syrien sicher ist, und für die Rückkehr von Flüchtlingen offen steht, damit diese am Wiederaufbau des Landes teilnehmen, hat die syrische Regierung zur Erleichterung der Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien zugestimmt, in manchen Fällen bekannt zu geben, ob jemand gemäß ihrer Aufzeichnungen in Syrien gesucht wird. Dies ist bei der freiwilligen Rückkehr von Gruppen von Syrern aus dem Libanon der Fall, erleichtert durch die Kooperation des General Security Office (GSO) [Anm.: libanesischer Nachrichtendienst] im Libanon mit den syrischen Behörden. Das heißt, bei der Teilnahme an einer GSO-unterstützten Rückkehr führt das GSO akkordiert mit den syrischen Behörden eine Sicherheitsüberprüfung durch und leitet die persönlichen Daten der RückkehrerInnen an die syrischen Behörden weiter. Letztere informieren das GSO dann darüber, welche Personen eine Sicherheitsfreigabe erhalten haben. Eine ähnliche Vorgehensweise wurde auch bei individuellen Rückkehrern aus
Jordanien vermerkt: Rückkehrer müssen hierzu bei der syrischen Botschaft in Amman um eine Sicherheitsfreigabe ansuchen (VB der ÖB Damaskus 27.9.2022).
Laut einer in Syrien tätigen Menschenrechtsorganisation überprüfen die syrischen Behörden bei der Sicherheitsüberprüfung Informationen über den/die AntragstellerIn, Familienmitglieder und eventuell auch seine/ihre erweiterte Familie. Das syrische Außenministerium ermöglichte im Rahmen des Amnestiegesetzes (Gesetzesdekret Nr. 7/2022 vom 30.4.2022), welches alle von syrischen StaatsbürgerInnen vor dem 30.4.2022 verübten ’terroristischen Verbrechen’ ohne Todesopfer beinhaltet, dass syrische StaatsbürgerInnen im Ausland durch die diplomatischen Vertretungen überprüft werden, ob sie unter das Amnestiegesetz fallen. Die betroffenen Personen müssen bei der syrischen Botschaft ihres Wohnorts erscheinen, und einen gesonderten Antrag ausfüllen. Die syrische Botschaft leitet den Antrag dann an das Außenministerium weiter, das eine Liste mit den persönlichen Daten der AntragstellerInnen vorbereitet, und sie an das syrische Innenministerium weiterleitet. Letzteres gleicht die Namen auf der Liste mit einer zentralen Datenbank ab, um zu überprüfen, ob eine Person Verbindungen zu ’terroristischen’ Gruppierungen hat (Rechtsexperte 27.9.2022). Das Auswärtige Amt weist jedoch darauf hin, dass jeder Geheimdienst auch eigene Fahndungslisten führt. Es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt (AA 29.3.2023) (Anm.: Zu der Amnestie siehe Unterkapitel Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst im Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen].
Nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amtes müssen sich syrische Flüchtlinge, unabhängig von ihrer politischen Orientierung, vor ihrer Rückkehr weiterhin einer Sicherheitsüberprüfung durch die syrischen Sicherheitsbehörden unterziehen (AA 19.5.2020). Laut Mohamad Rasheed braucht jeder, der nach Syrien zurückkehren will, eine Sicherheitsüberprüfung, selbst Eltern von Personen, die für das syrische Regime arbeiten (Rasheed 28.12.2021). Die Kriterien und Anforderungen für ein positives Ergebnis sind nicht bekannt (AA 19.5.2020). Auch nach Angaben der International Crisis Group stellt die Sicherheitsüberprüfung durch den zentralen Geheimdienst in Damaskus (oder die Verweigerung einer solchen) die endgültige Entscheidung darüber dar, ob ein Flüchtling sicher nach Hause zurückkehren kann, unabhängig davon, welchen administrativen Weg ein Flüchtling, der zurückkehren möchte, einschlägt (ICG 13.2.2020). Im Gegensatz dazu berichtete die dänische Einwanderungsbehörde auf der Grundlage von Befragungen, dass SyrerInnen, die sich außerhalb Syriens aufhalten und nicht von der syrischen Regierung gesucht werden, keine Sicherheitsgenehmigung für die Rückkehr nach Syrien benötigen. Syria Direct berichtete dem DIS hingegen, dass nur SyrerInnen im Libanon, die über eine ’organisierte Gruppenrückkehr’ nach Syrien zurückkehren wollen, eine Sicherheitsüberprüfung für die Einreise nach Syrien benötigen (DIS 12.2020).
Laut Fabrice Balanche brauchen Personen, die kein politisches Asyl und keine Probleme mit dem Regime haben, auch keine Sicherheitsüberprüfung, sondern nur jene, die auf einer Liste gesuchter Personen stehen. Um diese Überprüfung durchzuführen, bezahlt man die zuständige Behörde (z. B. syrische Botschaft, Grenzbeamte an der Grenze zwischen Syrien und Libanon, syrische Behörden im Heimatort in Syrien), um zu überprüfen, ob der eigene Name auf einer Liste steht (Balanche 13.12.2021). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt demnach immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zu Verhaftungen kommen kann (AA 2.2.2024), zum Teil, um von den Rückkehrenden Geld zu erpressen (UNCOI 7.2.2023; vgl. Balanche
13.12.2021).
Die Herkunftsregion spielt eine große Rolle für die Behörden bei der Behandlung von Rückkehrern, genauso wie die Frage, was die Person in den letzten Jahren gemacht hat. SyrerInnen aus Homs, Deir iz-Zor oder Ost-Syrien werden dabei eher verdächtigt als Personen aus traditionell regierungstreuen Gebieten (Khaddour 24.12.2021). Besonders Gebiete, die ehemals unter Kontrolle oppositioneller Kräfte standen (West-Ghouta, Homs, etc.), stehen seit der Rückeroberung durch das Regime unter massiver Überwachung und der syrische Staat kontrolliert genau, wer dorthin zurückkehren darf. Es kann also besonders schwierig sein, für eine Rückkehr in diese Gebiete eine Sicherheitsgenehmigung zu bekommen, und falls man diese erhält und zurückkehrt, wird man den Sicherheitsbehörden berichterstatten müssen (Üngör 15.12.2021) [Anm.: zum Informantenwesen siehe auch Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen].
Mehrere Experten gehen davon aus, dass es vor allem auf die informelle Sicherheitsgarantie ankommt. Der sicherste Schutz vor Inhaftierung ist es, ein gutes Netzwerk bzw Kontakte zum Regime zu haben, die einem im Notfall helfen können. Man muss jemanden in der Politik oder vom Geheimdienst haben, den man um Schutz bittet (Balanche 13.12.2021; vgl. Khaddour 24.12.2021, Rechtsexperte 27.9.2022). Laut Kheder Khaddour wird der offizielle Weg zur Rückkehr kaum genutzt, nicht nur weil er sehr langwierig ist, sondern auch weil niemand Vertrauen in die Institutionen hat. Nur bekannte Oppositionspersonen müssen den offiziellen Weg gehen, dieser Prozess bringt aber keine Garantie mit sich. Daher muss zusätzlich auch immer eine informelle Sicherheitsgarantie über persönliche Kontakte erlangt werden, wenn jemand zurückkehren will. Wenn jemand auf einer schwarzen Liste aufscheint, muss er seinen Namen bereinigen lassen. Dies geschieht meist durch Bestechung (Khaddour 24.12.2021). Personen, die erfahren, dass sie von den Behörden gesucht werden, bezahlen große Summen an Vermittler und Mitglieder der Sicherheitskräfte, um bei der Rückkehr eine Verhaftung zu vermeiden (UNCOI 7.2.2023).
’Versöhnungsanträge’, Statusregelungsverfahren
Das Regime hat einen Mechanismus zur Erleichterung der ’Versöhnung’ und Rückkehr geschaffen, der als ’Regelung des Sicherheitsstatus’ (taswiyat al-wadaa al-amni) bezeichnet wird. Das Verfahren beinhaltet eine formale Klärung mit jedem der vier großen Geheimdienste und eine Überprüfung, ob die betreffende Person alle vorgeschriebenen Militärdienstanforderungen erfüllt hat. Einzelne Personen in Aleppo berichteten jedoch, dass sie durch die Teilnahme am ’Versöhnungsprozess’ einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden (ICG 9.5.2022). Personen, die von der syrischen Regierung gesucht werden und deshalb keine Erlaubnis zur Rückkehr erhalten,
werden aufgefordert, ihren Status zu ’regularisieren’, bevor sie zurückkehren können (Reuters 25.9.2018; vgl. SD 16.1.2019).
Nach Angaben eines syrischen Generals müssen Personen, die aus dem Ausland zurückkehren wollen, bei der zuständigen syrischen Vertretung einen Antrag auf ’Versöhnung’ stellen und unter anderem angeben, wie und warum sie das Land verlassen haben, und Informationen über ihre Aktivitäten während ihres Auslandsaufenthalts vorlegen. Diese Informationen werden an das syrische Außenministerium weitergeleitet, wo eine Sicherheitsprüfung durchgeführt wird. SyrerInnen, die über die Landgrenzen einreisen, müssen nach Angaben des Generals einen ’Versöhnungsantrag’ ausfüllen (DIS 6.2019). Um eine Verhaftung bei der Rückkehr zu vermeiden, versuchen SyrerInnen, Informationen über ihre Sicherheitsakte zu erhalten und diese, wenn möglich, zu löschen. Persönliche Kontakte und Bestechungsgelder sind die gebräuchlichsten Kanäle und Mittel zu diesem Zweck (ICG 13.2.2020; vgl. EASO 6.2021), doch aufgrund ihrer Informalität und des undurchsichtigen Charakters des syrischen Sicherheitssektors sind solche
Informationen und Freigaben nicht immer zuverlässig, und nicht jeder kann sie erhalten (ICG
13.2.2020). Zwei Quellen berichteten EASO (Anm.: nun EUAA), dass, wenn ein/e RückkehrerIn durch informelle Netzwerke oder Beziehungen (arab. ’wasta’) herausfindet, dass er oder sie nicht von den syrischen Behörden gesucht wird, es dennoch keine Garantie dafür gibt, dass er oder sie bei der Rückkehr nicht verhaftet wird (EASO 6.2021).
Rückkehrverweigerungen
Die Regierung verweigert gewissen BürgerInnen die Rückkehr nach Syrien, während andere SyrerInnen, die in die Nachbarländer flohen, die Vergeltung des Regimes im Fall ihrer Rückkehr fürchten (USDOS 12.4.2022). Der Prozentsatz der AntragstellerInnen, die nicht zur Rückkehr zugelassen werden, ist nach wie vor schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020): Ihr Anteil wird von verschiedenen Quellen aus den Jahren 2018 bis 2022 auf 5 Prozent (SD 16.1.2019), 10 Prozent (Reuters 25.9.2018), 20 Prozent (Qantara 2.2.2022) oder bis zu 30 Prozent (ABC 6.10.2018) geschätzt. Das Regime fördert nicht die sichere, freiwillige Rückkehr in Würde, eine Umsiedlung oder die lokale Integration von IDPs. In einigen Fällen ist es Binnenvertriebenen nicht gestattet, in ihre Heimatgebiete zurückzukehren (USDOS 12.4.2022). Einige BeobachterInnen und humanitäre HelferInnen geben an, dass die Bewilligungsquote für AntragstellerInnen aus Gebieten, die als regierungsfeindliche Hochburgen identifiziert wurden, fast bei null liegt (ICG 13.2.2020). Gründe für die Ablehnung können (vermeintliche) politische Aktivitäten gegen die Regierung, Verbindungen zur Opposition oder die Nichterfüllung der Wehrpflicht sein (Reuters 25.9.2018; vgl. ABC 6.10.2018, SD 16.1.2019).
Weitere im Fall einer Rückkehr benötigte behördliche Genehmigungen
Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr. Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB Damaskus 12.2022).
Es muss z. B. bei Abschluss eines Immobilienkaufvertrags, bevor die Immobilie übertragen werden kann, bei den Sicherheitsbehörden um eine Freigabe (Anm.: al-Muwafaqa al-Amniyeh - die Sicherheitsgenehmigung) angesucht werden. Bei Mietverträgen wurde diese Regelung jüngst vereinfacht, sodass die Daten erst nach Abschluss des Vertrags an die Gemeinde übermittelt werden mussten. Diese Information wird dann an die Sicherheitsbehörden weitergegeben, die im Nachhinein einen Einspruch erheben können. Diese Regelung wurde aber nach aktuellen Informationen nur in Damaskus umgesetzt, außerhalb muss die Genehmigung nach wie vor vorab eingeholt werden. Auch hinsichtlich Damaskus wurde berichtet, dass SyrerInnen aus anderen Gebieten nicht erlaubt wurde, sich in Damaskus niederzulassen. Die Niederlassung ist dementsprechend – für alle Gebiete unter Regierungskontrolle – von einer Zustimmung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 12.2022). Erschwerend kommt hinzu, dass eine von einer regierungsnahen Stelle innerhalb Syriens ausgestellte Sicherheitsgenehmigung in Gebieten, die von anderen regierungsnahen Stellen kontrolliert werden, als ungültig angesehen werden kann. Dies ist auf die Fragmentierung des Sicherheitsapparats der Regierung zurückzuführen, welche die Mobilität auf Gebiete beschränkt, die von bestimmten regierungsnahen Sicherheitsbehörden kontrolliert werden (EASO 6.2021).
Anm.: für grundsätzliche Informationen zur Sicherheitsgenehmigung siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.
Gefährdungslage
Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt gemäß deutschem Auswärtigem Amt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).
Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (system-) kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiären Verbindungen zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 2.2.2024). Einer Umfrage des Middle East Institute im Februar 2022 zufolge berichteten 27 Prozent der RückkehrerInnen, dass sie oder jemand Nahestehender aufgrund ihres Herkunftsorts, für das illegale Verlassen Syriens oder für das Stellen eines Asylantrags Repression ausgesetzt sind. Ein Rückkehrhindernis ist zudem laut Menschenrechtsberichten das Wehrdienstgesetz, das die Beschlagnahmung von Besitz von Männern ermöglicht, die den Wehrdienst vermieden haben, und nicht die Befreiungsgebühr bezahlt haben (USDOS 20.3.2023).
Syrische Flüchtlinge müssen bereit sein, der Regierung gegenüber vollständig Rechenschaft über ihre Beziehungen zur Opposition abzulegen, um nach Hause zurückkehren zu dürfen. Die RückkehrerInnen sind Schikanen oder Erpressungen durch die Sicherheitsbehörden sowie
Inhaftierung und Folter ausgesetzt, um Informationen über die Aktivitäten der Flüchtlinge im Ausland zu erhalten (TWP 2.6.2019) [Anm.: siehe hierzu auch Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen im Ausland und deren Folgen].
Gemäß der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab
Republic könnte das Unterlassen einer klaren Information über die Rückkehrverfahren und das Vorenthalten der Gründe für Rückkehrverweigerungen, bzw einer Einspruchsmöglichkeit in solchen Fällen eine ’willkürliches Vorenthalten des Rechts auf Einreise von SyrerInnen im Ausland in ihr eigenes Land’ durch die syrische Regierung darstellen. Dieses Vorgehen könnte auch als Verletzung des internationalen humanitären Gewohnheitsrechts gelten (UNCOI 7.2.2023).
Rückkehr an den Herkunftsort
Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele Faktoren die Möglichkeit dazu beeinflussen. Ethnisch-konfessionelle, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber den der Opposition nahestehenden Gemeinschaften. Wenn es darum geht, wer in seine Heimatstadt zurückkehren darf, können laut einem Experten ethnische und religiöse, aber auch praktische Motive eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018). Einem Syrien-Experten zufolge dient eine von einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat erteilte Sicherheitsgenehmigung lediglich dazu, dem Inhaber die Einreise nach Syrien zu ermöglichen. Sie garantiert dem Rückkehrer nicht, dass er seinen Herkunftsort in den von der Regierung kontrollierten Gebieten auch tatsächlich erreichen kann (EASO 6.2021). Auch über Damaskus wurde berichtet, dass SyrerInnen aus anderen Gebieten sich dort nicht niederlassen durften. Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020). SyrerInnen, die nach Syrien zurückkehren, können sich nicht einfach an einem beliebigen Ort unter staatlicher Kontrolle niederlassen (ÖB Damaskus 21.8.2019). Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020). Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie von der Region bestimmt, in die sie zurückkehren, sondern davon, wie die RückkehrerInnen von den Akteuren, die die jeweiligen Regionen kontrollieren, wahrgenommen werden (AA 2.2.2024). Die Rückkehr an den Herkunftsort innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete erfordert einen anderen Weg, der von lokalen Machthabern wie den Gemeindebehörden oder den die Regierung unterstützenden Milizen gesteuert wird. Die Verfahren, um eine Genehmigung für die Einreise in den Herkunftsort zu erhalten, variieren von Ort zu Ort und von Akteur zu Akteur. Da sich die lokale Machtdynamik im Laufe der Zeit verschiebt, sind auch die unterschiedlichen Verfahren Veränderungen unterworfen (EASO 6.2021).
Übereinstimmenden Berichten der Vereinten Nationen (VN) und Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) und Betroffenen zufolge
werden Verstöße gegen Wohn-, Land- und Eigentumsrechte seitens des Regimes fortgesetzt. Dies dokumentieren nicht zuletzt offizielle staatliche Gazetten. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Laut der oben angeführten Berichte hätten Sicherheitsbehörden bzw regimetreue Milizen zudem der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 2.2.2024). Das Gesetz Nr. 10 von 2018 wird weiterhin zur Belohnung von regimeloyalen Personen verwendet und schafft Hürden für die Rückkehr von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, die in ihre Heime zurückkehren möchten. Laut Berichten ersetzt die Regierung so ehemalige BewohnerInnen von vormaligen Oppositionsgebieten durch ihr gegenüber loyalere Personen. Dies betrifft disproportional sunnitische Flüchtlinge und IDPs. Laut Einschätzung von SNHR (Syria Network for Human Rights) steckt die Regierungsstrategie dahinter, durch einen demografischen und gesellschaftlichen Wandel des Staats, automatisch eine Hürde für die Rückkehr von IDPs und Flüchtlingen zu schaffen (USDOS 2.6.2022).
Andere RückkehrerInnen müssen Berichten zufolge Bestechungsgelder an die Lokalverwaltung zahlen, um Zugang zu ihren Heimen zu erhalten. Anderen wird der Zugang zu ihren Heimen verwehrt. Auch gibt es Fälle, wo Immobilien von Nachbarn übernommen wurden, und die Rückkehrwilligen bedrohen, wenn sie versuchen, ihren Besitz wieder zu beanspruchen. Eine regierungstreue Miliz erlangte z. B. durch öffentliche Versteigerungen an enteignetes Land, was einer bereits dokumentierten Praxis entspricht. Gegenmaßnahme für derartige Situationen fehlen oder sind ineffektiv (UNCOI 7.2.2023).
Einige ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind für alle, die in ihre ursprünglichen Häuser zurückkehren wollen, praktisch abgeriegelt. In anderen versucht das Regime, die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung einzuschränken, um eine Wiederherstellung des sozialen Umfelds, das den Aufstand unterstützt hat, zu vermeiden. Einige nominell vom Regime kontrollierte Gebiete wie Dara’a, die Stadt Deir ez-Zour und Teile von Aleppo und Homs konfrontieren für Rückkehrer mit schweren Zerstörungen, der Herrschaft regimetreuer Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des Islamischen Staats oder einer Kombination aus allen drei Faktoren (ICG 13.2.2020). So durften z. B. nach Angaben von Aktivisten bisher nur wenige Familien mit
Verbindungen zu regierungsnahen Milizen und ältere Bewohner zurückkehren (MEI 6.5.2020).
Vor zwei Jahren haben die syrischen Behörden begonnen, ehemaligen Bewohnern die Rückkehr nach Yarmouk zu erlauben, wenn diese den Besitz eines Hauses nachweisen können, und eine Sicherheitsfreigabe vorliegt. Bislang sollen allerdings nur wenige zurückgekommen sein. UNRWA dokumentierte bis Juni 2022 die Rückkehr von rund 4.000 Personen, weitere 8.000 haben im Laufe des Sommers eine Rückkehrerlaubnis bekommen (zur Einordnung: Vor 2011 lebten dort 160.000 PalästinenserInnen zusätzlich zu SyrerInnen) (TOI 17.11.2022). Viele kehren aus Angst vor Verhaftungen und Zwangsrekrutierungen oder aufgrund der nicht mehr vorhandenen Wohnung nicht zurück. Die Rückkehrer kämpfen laut UNRWA mit einem ’Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, begrenzten Transportmöglichkeiten und einer weitgehend zerstörten öffentlichen Infrastruktur’ (TOI 17.11.2022).
Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren. Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft (Weltbank 2020). Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer ’sehr begrenzten’ und ’abnehmenden’ Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück und davon handelte es sich bei 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022), wenngleich von der UNO auch Fälle dokumentiert sind, dass Binnenvertriebene von aktuell oppositionell gehaltenen Gebieten aus nicht in ihre Heimatdörfer im Regierungsgebiet zurückkehren durften - trotz vorheriger Genehmigung (UNCOI 7.2.2023).
Laut Einschätzung der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the
Syrian Arab Republic könnte das Vorgehen der Regierung möglicherweise eine Verletzung von Unterkunfts-, Land- und Besitzrechten dar. Die Duldung der Inbesitznahme von Immobilien durch Dritte könnte eine Verletzung des Schutzes genannter Rechte darstellen. Sie haben auch mögliche Verletzungen des internationalen humanitären Gewohnheitsrechts zur Folge bezüglich der Besitzrechte von Vertriebenen (UNCOI 7.2.2023).
Weitere Informationen zu Enteignungen und der Wohnraumsituation finden sich im Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft im Abschnitt Wohnsituation und Enteignungen.
Quellen: […]
Ergänzende Informationen zur Behandlung bei und nach der Rückkehr
Letzte Änderung 2024-03-14 11:52
Am 10.5.2023 erklärten die Außenminister von Russland, Türkei, Iran und Syrien, dass erst die nötige Infrastruktur für eine sichere Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien geschaffen werden müsse (SNHR 6.2023). Es besteht nach wie vor kein freier und ungehinderter Zugang von UNHCR und anderer Menschenrechtsorganisationen zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen bei der Rückkehr ist es unklar, wie systematisch und weit verbreitet Übergriffe gegen Rückkehrer sind. Es gibt kein klares Gesamtmuster bei der Behandlung von Rückkehrern, auch wenn einige Tendenzen zu beobachten sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt zur Abwesenheit eines klaren Musters bei (DIS 5.2022). Die Behandlung von Menschen, die nach Syrien einreisen, hängt stark vom Einzelfall ab, und es gibt keine zuverlässigen Informationen über den Kenntnisstand der syrischen Behörden über einzelne Rückkehrer (ÖB Damaskus 29.9.2020).
Es ist schwierig, Informationen über die Situation von Rückkehrern in Syrien zu erhalten. Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude (Anm.: über die Rückkehr) der RückkehrerInnen (TN 10.12.2018), pro-oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von RückkehrerInnen (TN 10.12.2018; vgl. TWP 2.6.2019, FP 6.2.2019). Zudem wollen viele Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen durch die Regierung nach ihrer Rückkehr nach Syrien nicht mehr mit Journalisten (TN 10.12.2018) oder auch nur mit Angehörigen sprechen
(SD 16.1.2019; vgl. TN 10.12.2018). Die syrische Regierung und ihr Sicherheitsapparat sind immer wieder gegen Personen vorgegangen, die sich abweichend oder oppositionell geäußert haben, unter anderem durch willkürliche Inhaftierung, Folter und Schikanen gegen Kritiker und ihre Angehörigen. Trotz Amnestien und gegenteiliger Erklärungen hat die syrische Regierung bisher keine Änderung ihres Verhaltens erkennen lassen. Selbst dort, wo Einzelpersonen von der Regierung Sicherheitsgarantien erhalten haben, kam es zu Übergriffen. Jeder, der aus dem Land geflohen ist oder sich gegen die Regierung geäußert hat, läuft Gefahr, als illoyal angesehen zu werden, was dazu führen kann, dass er verdächtigt, bestraft oder willkürlich inhaftiert wird (COAR/HRW/HBS/JUSOOR 19.4.2021). BürgerInnen in von der Regierung rückeroberten Gebieten wie auch Rückehrende gehören zu den verwundbarsten Bevölkerungsgruppen. RückkehrerInnen und Binnenvertriebene sind am ehesten von gesellschaftlichem Ausschluss und einem Mangel an Zugang zu öffentlichen Leistungen in der näheren Zukunft ausgesetzt (BS 23.3.2022). Enteignungen dienen der Schaffung von Hürden für rückkehrende Flüchtlinge und Binnenvertriebene und der Belohnung von regimeloyalen Personen mit einer daraus resultierenden demografischen Änderung in ehemaligen Hochburgen der Opposition (USDOS 15.5.2023).
Rückkehrende werden vom Regime häufig als „VerräterInnen“ deklariert und sehen sich daher oft mit weitreichender systematischer Willkür bis hin zu vollständiger Rechtlosigkeit konfrontiert. Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen. Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu unvorhergesehenen Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass selbst eine von der jeweiligen Sicherheitsbehörde vorgenommene positive Sicherheitsüberprüfung jederzeit von dieser revidiert werden kann und damit keine Garantie für eine sichere Rückkehr leistet (AA 2.2.2024). Alles in allem kann eine Person, die von der Regierung gesucht wird, aus einer Vielzahl von Gründen oder völlig willkürlich gesucht werden. So kann die Behandlung einer Person an einem Checkpoint von verschiedenen Faktoren abhängen, darunter der Willkür des Kontrollpersonals oder praktischen Problemen wie eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, müssen mit verschiedenen Konsequenzen seitens der Regierung rechnen, z. B. mit Verhaftung und im Zuge dessen auch mit Folter. Einigen Quellen zufolge gehört medizinisches Personal zu den Personen, die als oppositionell oder regierungsfeindlich gelten, insbesondere wenn es in einem von der Regierung belagerten Oppositionsgebiet gearbeitet hat. Dies gilt auch für Aktivisten und Journalisten, die die Regierung offen kritisiert oder Informationen oder Fotos von Ereignissen wie Angriffen der Regierung verbreitet haben, sowie generell für Personen, die die Regierung offen kritisieren. Einer Quelle zufolge kann es vorkommen, dass die Regierung eine Person wegen eines als geringfügig eingestuften Vergehens nicht sofort verhaftet, sondern erst nach einer gewissen Zeit. Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Kontrollpunkt beeinflussen kann, ist das Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. Wenn eine Person an einem Ort lebt oder aus einem Ort kommt, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, kann dies das Misstrauen des Kontrollpersonals wecken (FIS 14.12.2018). Die Definition des Regimes, wer ein Oppositioneller ist, ist nicht immer klar oder kann sich im Laufe der Zeit ändern. Es gibt keine Gewissheit darüber, wer vor Verhaftungen sicher ist. In Gesprächen mit der NGO International Crisis Group (ICG) berichteten viele Flüchtlinge, dass der Verzicht auf regimefeindliche Aktivitäten keine sichere Rückkehr garantiert (ICG 13.2.2020). So folgten z. B. Abschiebungen aus dem Libanon im April 2023 von mindestens 130 Menschen - darunter auch unbegleitete Minderjährige - Berichte, wonach es zu Verhaftungen [Anm.: die Zahlen variieren je nach Quelle - z.
B. mindestens vier dokumentierte Verhaftungen] und zwangsweisem Einzug zum Wehrdienst [Anm.: keine Zahlenangaben, nur Beispiele] kam (Reuters 1.5.2023).
Generell ist es schwer, in Erfahrung zu bringen, was der Status einer Person bezüglich der syrischen Regierung ist. Für Menschen mit Geld und guten Beziehungen zu den Behörden oder einflussreichen Personen besteht die Möglichkeit, nachzuforschen, ob ihre Namen auf Suchlisten stehen. Allerdings kann die Suche nach diesen Informationen diese auch exponieren
- bzw die Personen, welche für sie nach Informationen suchen. Es gibt keine Garantie, dass sie dabei nicht mit Schwierigkeiten konfrontiert sein werden, darunter das Risiko einer Verhaftung (DIS 9.2019). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse. Laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen, der Vereinten Nationen und von Betroffenen haben die Sicherheitsbehörden bzw regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert (AA 2.2.2024). Zudem ist nach wie vor eine großflächige Enteignung in Form von Zerstörung und Abriss von Häusern und Wohnungen in ehemaligen Oppositionsgebieten unter Anwendung der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Nr. 19/2012 und Dekret 63/2012) zu verzeichnen. Sie erlaubt es, gezielt gegen Inhaftierte, Menschenrechtsaktivistinnen und –aktivisten sowie Personen, die sich an Protesten gegen das Regime beteiligen oder beteiligt haben, vorzugehen und deren Eigentum und Vermögen zu beschlagnahmen (AA 22.2.2024).
Anhand der von der CoI (Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab
Republic der Vereinten Nationen), Nichtregierungsorganisationen (NRO) und anderen dokumentierten Einzelschicksalen der Vergangenheit ist die Bedrohung der persönlichen Sicherheit im Einzelfall das zentrale Hindernis für Rückkehrende (AA 2.2.2024). Unverändert besteht nach Bewertung des deutschen Auswärtigen Amts in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden (AA 2.2.2024).
Das Syrian Network for Human Rights dokumentierte beinahe 2.000 Verhaftungen von RückkehrerInnen nach Syrien von 2014 bis 2019. Ein Drittel von ihnen wurde ’verschwunden gelassen’ (BS 23.3.2022). Hunderte syrische Flüchtlinge wurden Berichten von 2019 zufolge nach ihrer Rückkehr verhaftet und verhört, darunter Flüchtlinge, die aus dem Ausland nach Syrien zurückgekehrt sind, Binnenvertriebene aus von der Opposition kontrollierten Gebieten und Personen, die in von der Regierung zurückeroberten Gebieten ein ’Versöhnungsabkommen’ mit der Regierung unterzeichnet hatten. Sie wurden gezwungen, Aussagen über Familienmitglieder zu machen, und in einigen Fällen wurden sie gefoltert (TWP 2.6.2019; vgl. EIP 7.2019). Amnesty International legte in seinem Bericht aus dem Jahr 2021 Informationen über 66 Personen vor, die bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland Opfer von Verstößen wurden. Unter ihnen wurden 59 Fälle von unrechtmäßiger oder willkürlicher Inhaftierung von Männern, Frauen und Kindern dokumentiert. Unter den Inhaftierten befanden sich zwei schwangere Frauen und zehn Kinder im Alter zwischen drei Wochen und 16 Jahren, von denen sieben vier Jahre alt oder jünger waren. Außerdem wurden 27 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen dokumentiert, darunter vier Kinder, die mindestens eine Woche und bis zu vier Jahre lang festgehalten wurden, wobei 17 Fälle noch andauerten. Die Sicherheitsbeamten verhafteten die Rückkehrer zumeist unter dem pauschalen Vorwurf des ’Terrorismus’, weil sie häufig davon ausgingen, dass einer ihrer Verwandten der politischen oder bewaffneten Opposition angehörte, oder weil die Rückkehrer aus einem Gebiet kamen, das zuvor von der Opposition kontrolliert wurde. Darüber hinaus wurden 14 Fälle gemeldet, in denen Sicherheitsbeamte sexuelle Gewalt gegen Kinder, Frauen und männliche Rückkehrer ausübten, darunter Vergewaltigungen an fünf Frauen, einem 13-jährigen Buben und einem fünfjährigen Mädchen. Die sexuelle Gewalt fand an Grenzübergängen oder in Haftanstalten während der Befragung am Tag der Rückkehr oder kurz danach statt. Berichten zufolge setzten Geheimdienstmitarbeiter 33 RückkehrerInnen, darunter Männer, Frauen und fünf Kinder, während ihrer Inhaftierung und Verhöre in Geheimdiensteinrichtungen Praktiken aus, die Folter oder anderen Misshandlungen gleichkommen. Trotz der Behauptung, Damaskus und seine Vororte seien sicher, um dorthin zurückzukehren, fand ein Drittel der im Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2021 dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Damaskus selbst oder in der Umgebung von Damaskus statt, was laut Amnesty International darauf hindeutet, dass selbst dann, wenn die willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau liegt und/oder die Regierung ein bestimmtes Gebiet unter Kontrolle hat, die Risiken bestehen bleiben (AI 9.2021).
Eine gemeinsame Studie von Zivilgesellschaftsorganisationen im Frühjahr 2022 (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens dokumentiert schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden. Auch UNHCR und Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 2.2.2024).
Quellen: […]
Hinweise über Rückkehrende aus den Nachbarstaaten und Europa
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Letzte Änderung 2024-03-14 11:54
Syrische Rückkehrende aus Europa
Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann laut deutschem Auswärtigen Amt für keine Region
Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden.
Auch UNHCR und andere Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 2.2.2024).
Die verfügbaren Informationen über SyrerInnen, die aus Europa nach Syrien zurückkehren, sind begrenzt (Rechtsexperte 14.9.2022, DIS 5.2022). Zur Situation von rückkehrenden Flüchtlingen aus Europa gibt es auch aufgrund deren geringer Zahl keine Angaben (ÖB Damaskus 12.2022): Im Jahr 2020 kehrten 137 syrische Flüchtlinge freiwillig und mit Unterstützung der dänischen Behörden aus Dänemark nach Syrien zurück. Im selben Jahr suchten zehn SyrerInnen bei den niederländischen Behörden um Hilfe für eine Rückkehr nach Syrien an. In Dänemark leben rund 35.000 Syrer und Syrerinnen, in den Niederlanden ca. 77.000 (EASO 6.2021). Nach Angaben des deutschen Innenministeriums kehrten von 2017 bis Juni 2020 über 1.000 SyrerInnen mit finanzieller Unterstützung Deutschlands aus Deutschland nach Syrien zurück (Daily Sabah
15.6.2020). Die meisten syrischen Flüchtlinge in der EU erwägen nicht, in (naher) Zukunft nach
Syrien zurückzukehren, wie Umfragen aus verschiedenen europäischen Staaten illustrieren. Diejenigen, die nicht nach Syrien zurückkehren wollten, wiesen auf verschiedene Hindernisse für eine Rückkehr hin, darunter das Fehlen grundlegender Dienstleistungen (wie Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit) und die derzeitige syrische Regierung, die an der Macht geblieben ist (Rechtsexperte 14.9.2022).
Die meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die Europäische Union selbst sowie der UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), bleiben bei ihrer Einschätzung, dass Syrien nicht sicher für eine Rückkehr von Flüchtlingen ist. Im Juli 2022 entschied das Netherlands Council of State, dass syrische Asylsuchende nicht automatisch nach Dänemark transferiert werden dürften angesichts der dortigen Entscheidung, Teile Syriens für ’sicher’ zu erklären (HRW 12.1.2023). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) kommt zum Schluss, dass die Bedingungen für eine sichere Rückkehr in Würde nicht gegeben sind, auch angesichts von Fällen von Rückkehrverweigerungen, willkürlichen Verhaftungen und der Verhinderung der Rückkehr zu ihren Heimen in Regierungsgebieten (UNCOI 7.2.2023). Das deutsche Auswärtige Amt weist darauf hin, dass UNHCR, das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und die International Organization for Migration (IOM) unverändert die Auffassung vertreten, dass die Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien in Sicherheit und Würde angesichts der unverändert bestehenden, signifikanten Sicherheitsrisiken in ganz Syrien nicht erfüllt sind. UNHCR bekräftigte, dass sich seine Position und Politik nicht geändert hätten. Im Einklang mit dieser Einschätzung führt laut deutschem Auswärtigem Amt weiterhin kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union Rückführungen nach Syrien durch (AA 2.2.2024). Auch der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, sieht nicht die menschenrechtlichen Voraussetzungen für Abschiebungen nach Syrien gegeben (Die Presse 5.6.2023).
Quellen: […]
Überwachungsmaßnahmen im Ausland und deren Folgen
Letzte Änderung 2023-07-12 08:31
Informationssammlung des Sicherheitsapparats und ’Berichte’ von InformantInnen
Der Sicherheitssektor nutzt den Rückkehr- und Versöhnungsprozess, um seinen historischen Einsatz lokaler InformantInnen zur Sammlung von Informationen und zur Kontrolle der Bevölkerung wieder zu verstärken und zu institutionalisieren. Die Regierung baut weiterhin eine umfangreiche Datenbank mit Informationen über alle Personen auf, die ins Land zurückkehren oder im Land bleiben. In der Vergangenheit wurde diese Art von Informationen genutzt, um Personen zu erpressen oder zu verhaften, die aus irgendeinem Grund als Bedrohung oder Problem wahrgenommen wurden (EIP 7.2019). Das Verfassen eines ’Taqrir’ (eines ’Berichts’, d. h., die Meldung von Personen an die Sicherheitsbehörden) war im ba’athistischen Syrien jahrzehntelang gang und gäbe und wird laut International Crisis Group (ICG) auch unter Flüchtlingen im Libanon praktiziert. Die Motive können persönlicher Gewinn oder die Beilegung von Streitigkeiten sein, oder die Menschen schreiben ’Berichte’, um nicht selbst zur Zielscheibe zu werden. Selbst Regimevertreter geben zu, dass es aufgrund unbegründeter Denunziationen zu Verhaftungen kommt (ICG 13.2.2020). Eine Umfrage des Middle East Institute veröffentlicht im Februar 2022 ergab, dass 27 Prozent der RückkehrerInnen berichteten, dass sie oder ihnen nahestehende Personen aufgrund ihres Herkunftsorts, ihres illegalen Verlassens von Syrien oder wegen eines Asylantrags im Ausland Repressionen ausgesetzt sind (USDOS 20.3.2023).
Zur digitalen Überwachung einschließlich Hackerangriffen durch die Syrian Electronic Army siehe Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage sowie bzgl. Abfrage von Login-Daten bei Einund Ausreise siehe Kapitel Bewegungsfreiheit im Unterkapitel Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen.
Überwachung von SyrerInnen im Ausland
Die Überwachung im Ausland ist ein Eckpfeiler der syrischen Außenpolitik, und wird von einem koordinierten Netzwerk von Botschaftsangestellten, nachrichtendienstlichen Quellen und Sicherheitsdiensten umgesetzt. Es sind keine Änderung diesbezüglich absehbar. Das Syria Justice and
Accountability Centre sieht die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen Syriens und die
Wiedereröffnung ausländischer Botschaften auch als Weg zu einer verstärkten Kontrolle der im
Ausland aufhältigen SyrerInnen. Seit 2011 mehren sich die Berichte über syrische Botschaften als Ausgangspunkt für die Überwachung und Einschüchterung von Oppositionellen. Bereits vor dem SJAC-Bericht mit einer Auswertung von interner Korrespondenz der involvierten syrischen Behörden (SJAC 3.5.2023) gingen Berichte verschiedener Stellen davon aus, dass syrische
Sicherheitsdienste in der Lage sind, politische Aktivitäten im Exil auszuspionieren und darüber zu berichten (ÖB Damaskus 29.9.2020; vgl. TWP 2.6.2019, EASO 6.2021). Dabei erstreckt sich die Überwachung über die Länder mit großen Zahlen an SyrerInnen hinaus rund um die Welt (SJAC 3.5.2023). Nach Angaben von Jusoor for Studies haben die syrischen Behörden Agenten und Informanten in Asylstaaten, unter anderem in die EU und der Türkei entsandt, die Syrer in der Diaspora beobachten und wöchentlich über sie berichten. Diese Agenten und Informanten arbeiten für verschiedene Abteilungen der Sicherheitsbehörden: die 4. Division des Sicherheitsbüros, die Abteilung 279 desAllgemeinen Nachrichtendienstes, die Abteilung 297 der Abteilung für militärische Aufklärung, das Direktorat für den Geheimdienst der Luftwaffe und die Abteilung 300 (EASO 6.2021). In Staaten mit etablierter syrischer diplomatischer Präsenz, wie die Türkei und der Libanon, werden besonders große Ressourcen für die Überwachung eingesetzt. In der Türkei werden auch die Kreise der politischen Exilopposition unterwandert, z. B. indem sich in einem dokumentierten Fall ein Agent als Unterstützer der Opposition ausgab, um Informationen über diese zu sammeln (SJAC 3.5.2023).
Trotz der Konkurrenz zwischen den Organisationen des syrischen Sicherheitsapparats koordinieren sich diese, wenn notwendig, zwecks Sammlung von Informationen über für sie interessante Personen. Gleichwohl ist z. B. ein Fall aus Zypern bekannt, wo ein Oppositioneller es schaffte, aufgrund seiner Rolle als vermeintlicher Informant für das Büro des syrischen Militärattachés
weiterhin offen seinen regimegegnerischen Aktivitäten nachzugehen (SJAC 3.5.2023).
Syrische Sicherheitsdienste setzen auch Drohungen gegen in Syrien lebende Familienmitglieder ein, um Druck auf Verwandte im Ausland auszuüben, die z.B. in Deutschland leben (AA 13.11.2018): Seit 2011 sind in Syrien lebenden Familien von im Ausland aufhältigen oppositionellen Ziele. Dabei taucht in schriftlichen Anweisungen des Sicherheitsapparats an ihre MitarbeiterInnen der Befehl ’das Notwendige zu tun’ auf. Diese Anweisung erlaubt den Mitgliedern des Sicherheitsapparats bei der Ausführung von Befehlen den Einsatz einer Bandbreite an Maßnahmen bis hin zu tödlicher Gewalt nach ihrem Ermessen (SJAC 3.5.2023).Auch Gewalt und Drohungen gegen Personen außerhalb Syriens werden berichtet, darunter Fälle, in denen SyrerInnen zur Rückkehr nach Syrien mit dem Ziel politischer Repressalien gegen sie gezwungen wurden (USDOS 20.3.2023).
Einem Syrien-Experten des Europäischen Friedensinstituts zufolge werden Syrer in der Diaspora auf zwei Arten überwacht: informell und formell. Die formelle Art der Überwachung besteht darin, dass staatliche Einrichtungen wie Botschaften und Sicherheitsdienste Informationen über im Ausland lebende Dissidenten sammeln einschließlich durch Überwachung von Social-Media-Konten und Social-Media-Gruppen im Ausland lebender Syrerinnen und Syrern. Bei der informellen Überwachung melden Einzelpersonen andere Personen an die syrischen Behörden. Diese Informanten sind nicht offiziell bei den Sicherheitsbehörden angestellt, melden aber andere Personen, um der Regierung gegenüber loyal zu erscheinen. Auf diese Weise versuchen sie, mögliche negative Aufmerksamkeit von sich abzuwenden (EASO 6.2021). Laut Syrien-Experten Prof. Uğur Ümit Üngör war ein Auslandsaufenthalt schon vor dem Krieg ein Grund für Misstrauen. SyrerInnen mit einem europäischen Pass nach der Asylantragstellung und mit einer bewiesenen regimeloyalen Haltung können seiner Erfahrung nach sehr nützlich für das Regime sein. Bei manchen Fällen stellt sich die Frage, ob das Regime ihre Flucht erlaubt hat. Z. B. gab es in den Niederlanden einen derartigen Fall, wo der Betreffende syrische Gemeinschaften ausspionierte, und sich zurück in Syrien mit diversen offiziellen Funktionären fotografieren ließ, bevor er wieder in die Niederlande zurückkehrte, wo dann ein Verfahren gegen ihn eingeleitet
wurde (Üngör 15.12.2021).
Die syrische Regierung sammelt nicht nur Informationen über oppositionelle Aktivitäten im Ausland, sondern verwendet diese auch gegen diese, was Fragen zur Sicherheit zurückkehrender SyrerInnen aufwirft (SJAC 3.5.2023). Die Informationen, welche die syrischen Botschaften sammeln, sind detailliert und genau, einschließlich Details, die eine Identifizierung von Rückkehrenden und ihrer vorhergehenden Aktivitäten im Ausland erlaubt (Enab 5.5.2023). Die Gefährdung eines Rückkehrers im Falle politischer Aktivitäten im Exil hängt jedoch von den Aktivitäten selbst, dem Profil der Person und vielen anderen Faktoren ab, wie dem Hintergrund der Familie und den der Regierung zur Verfügung stehenden Ressourcen (STDOK 8.2017). Politische und humanitäre Aktivisten, die erwägen, nach Syrien zurückzukehren, sind nach Ansicht von Jusoor for Studies aufgrund der Auslandsüberwachung großen Gefahren ausgesetzt (EASO 6.2021).
Es gibt nicht nur eine Unzahl weiter zurückliegender Fälle, bei denen Personen am Flughafen Damaskus aufgrund von Informantenberichten aus dem Ausland verhaftet wurden, sondern auch in der Gegenwart: So wurde bereits eine Anzahl an RückkehrerInnen in Syrien verhaftet und gezwungen, Informationen über ihre Familienmitglieder bekannt zu geben. Andere wurden auch zwecks Erhalt von Informationen über oppositionelle Aktivitäten im Ausland gefoltert (SJAC3.5.2023).
Unterstützung von nach dem Prinzip der universellen Jurisdiktion angeklagten ehemaligen Regimemitarbeitern und das Vorgehen gegen syrische ZeugInnen
Die Wiedereröffnung von syrischen Botschaften schafft auch Hindernisse für Gerichtsverfahren im Rahmen universeller Jurisdiktion. Überwachungen sind eine zusätzliche Hürde für die Behörden und die Menschenrechtsorganisationen bei den Gerichtsverfahren in Europa, denn ZeugInnen werden eingeschüchtert und mit ihren Familien (in Syrien) erpresst: So wurden im Fall eines in Deutschland wegen Mordes, Folter und sexuellen Missbrauchs in syrischen Militärspitälern angeklagtenArztes dieAngehörigen der Zeugen in Syrien bedroht.Aufgrund der Gefahr für die Angehörigen im Regimegebiet Syriens haben viele ZeugInnen die Aussage verweigert,
weil der Angeklagte sonst ihre Namen erfahren hätte. Ein Syrer, der im Verdacht steht, Zeugen in diesem Gerichtsverfahren bedroht zu haben, wurde von Norwegen an Deutschland ausgeliefert. Der angeklagte Arzt erhielt zudem von einem syrischen Botschaftsmitarbeiter Angebote zur Hilfe bei der Flucht nach Syrien (SJAC 3.5.2023).
Quellen: […]“
Auszug aus „ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (6.5.2022): Anfragebeantwortung zu Syrien: Voraussetzungen für Einreise syrischer Staatsangehöriger in Gebiete unter Kontrolle der SDF/YPG in Nordostsyrien; Legale Einreise aus dem Irak bzw der Türkei; Informationen zum Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur; Kontrolle der Grenzübergänge zwischen Nordostsyrien und der Türkei/dem Irak [a-11859-1]“:
„[…] Voraussetzungen für Einreise syrischer Staatsangehöriger in Gebiete unter Kontrolle der SDF/YPG in Nordost-Syrien
Ein Syrienexperte, der im Auftrag von ACCORD mit lokalen Quellen vor Ort, inklusive Beamten der Provinz Al-Hasaka und der Autonomen Region Kurdistan Irak, sowie Fahrern, die am Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur arbeiten, gesprochen hat, gibt an, dass es nur Syrer·innen, die aus Gebieten unter Kontrolle der SDF/YPG stammen, gestattet sei, von außerhalb in die Region Nordostsyrien einzureisen. Dies bedeute, dass eine Person innerhalb der von den SDF kontrollierten Gebiete registriert sein müsse, um von außerhalb einreisen zu können. Selbst wenn eine Person zum Beispiel 50 Jahre in Al-Hasaka gelebt habe, jedoch ihr Personenstandsregister in Deir Ezzor registriert sei, gelte die Person nicht als aus Al-Hasaka stammend (Syrienexperte, 25. April 2022).
Die Expat-Karte
Al-Monitor beschreibt in einem Artikel vom Jänner 2022, dass intern vertriebene Araber·innen in von den SDF kontrollierten Gebieten um eine sogenannten Expat-Karte ansuchen müssten, um in die Gebiete einreisen oder dort bleiben zu dürfen. Die Anforderungen seien von Region zu Region unterschiedlich, jedoch müsse in allen Fällen ein lokal wohnhafter Bürge vorhanden sein und der Personalausweis sowie ein Mietvertrag vorgelegt werden. Die Expat-Karte sei für sechs Monate gültig (Al-Monitor, 12. Jänner 2022). JFL (Justice for Life Organization) präzisiert im Februar 2022, dass auch Einwohner der SDF-Gebiete, die in Gebieten unter Kontrolle der Regierung gemeldet seien, um eine Expat-Karte ansuchen müssten (JFL, Februar 2022, S. 5).
Laut des genannten Syrienexperten müssten Antragsteller·innen bei der Antragstellung der Expat-Karte persönlich anwesend sein. Es sei aus diesem Grund nicht möglich, dass Syrer·innen von außerhalb der SDF-Gebiete mit syrischen Reisedokumenten aus Europa direkt in die SDF-Gebiete einreisen würden, da es ihnen nicht möglich sei, außerhalb des Landes eine Bewilligung zu erhalten. Es sei ihnen folglich nicht gestattet, den Semalka-Grenzübergang zu überqueren. Von ihm kontaktierte Fahrer hätten angegeben, dass Personen aus Damaskus und Homs aus diesem Grund die Einreise am Grenzübergang Semalka verweigert worden sei. Der Syrienexperte wisse auch von Fällen, in denen sich potenzielle Bürgen an die kurdischen Sicherheitsbehörden (Asayish) gewandt hätten, um in Abwesenheit des Expats die Beantragung der Expat-Karte einzuleiten. Die Anträge seien abgelehnt worden. In andere Fällen hätten die Bürgen, um ein Dokument vom Komin (die Person, die die Angelegenheiten der Nachbarschaft organisiert, wie ein Mukhtar) angesucht, in dem stehe, dass eine Person aus dem Ausland zu Besuch nach Al-Hasaka käme. Der Bürge habe in Semalka auf den Expat gewartet und das Dokument den Grenzbeamten übergeben. In einigen Fällen hätte der Expat einreisen können, in anderen sei die Person an der Grenze abgelehnt und die Einreise verweigert worden. Laut des Syrienexperten seien Korruption und Bestechung gang und gäbe an der Grenze (Syrienexperte, 25. April 2022).
Legale Einreise aus der Türkei
ANHA (Hawar News Agency) schreibt in einem Artikel vom April 2021, dass die Türkei alle Grenzübergänge mit dem Nordosten Syriens seit 2014 für Personen- und Güterverkehr geschlossen habe (ANHA, 12. April 2021).
Legale Einreise aus dem Irak
Der genannte Syrienexperte gibt an, dass es keinen Flugverkehr in die von den SDF kontrollierten Gebiete gebe. Die einzige Möglichkeit den Nordosten Syriens direkt von Europa kommend zu erreichen, sei nach Erbil (Autonome Region Kurdistan Irak) zu fliegen und von dort zum Grenzübergang Semalka- Faysh Khabur zu fahren. Syrer·innen, die mit syrischen Reisedokumenten reisen, müssten zunächst ein Visum der irakischen Autonomen Region Kurdistan beantragen und erhalten (Syrienexperte, 25. April 2022).
Einreise in den Irak für syrische Staatsbürger·innen
Die Vertretung der Regionalregierung Kurdistan-Irak in Österreich schreibt auf ihrer Webseite, dass alle Staatsbürger·innen, die keine Staatsbürgerschaft eines europäischen Landes oder der Länder Australien, Brasilien, China, Iran, Japan, Kanada, Katar, Kuwait, Neuseeland, Südkorea, Türkei, USA oder den Vereinigten Arabischen Emiraten haben, vor Reiseantritt ein Visum beantragen müssten, welches 110.000 irakische Dinar (68 Euro[1]) koste und für 90 Tage gültig sei (Regionalregierung Kurdistan-Irak - Vertretung in Österreich, 17. April 2019).
Laut der Vertretung der Regionalregierung Kurdistan-Irak in Großbritannien müssten Antragsteller·innen einen Reisepass vorlegen, dessen Gültigkeit nicht weniger als sechs Monate betrage. Weiters werde eine Farbkopie des Reisepasses oder des Reisedokuments benötigt, ein Passfoto, das ausgefüllte Visumsformular, Name und Adresse des Hotels, in dem die Person in der Region Kurdistan übernachten werde, beziehungsweise Name, Telefonnummer, Adresse und E-Mail-Adresse, wenn der/die Antragsteller·in bei einer Privatperson übernachten werde, sowie die Antragstellungsgebühr (Kurdistan Regional Government - Representation in the United Kingdom, ohne Datum).
Grenzübergänge Irak-Nordostsyrien und ihre Verwaltung
Enab Baladi schreibt in einem Artikel vom März 2022, dass sich die Grenze der Autonomen Verwaltung von Nordostsyrien zum Irak über 150 Kilometer erstrecke. Es gebe vier Grenzübergänge und Einreisepunkte: Rabia-Yarubiyah, Semalka- Faysh Khabur, Al-Waleed und Al-Faw.
Der Rabia-Yarubiyah-Grenzübergang sei 2020 durch ein russisches Veto im UN-Sicherheitsrat geschlossen worden (Enab Baladi, 9. März 2022). CEIP (Carnegie Endowment for International Peace) erklärt, dass von den vier Grenzübergängen nur Rabia-Yarubiyah von der irakischen und syrischen Regierung als formeller Grenzübergang anerkannt sei. Beide Regierungen hätten jedoch den Zugang dazu verloren und er sei seit 2013 geschlossen (CEIP, 30. März 2021).
Der Grenzübergang Semalka-Faysh Khabur liege zwischen der Stadt Faysh Khabur am Ostufer des Tigris in der Provinz Duhok auf irakischer Seite und dem Ort Semalka im Distrikt Malikiya auf syrischer Seite. Der Übergang sei zwischen er irakischen Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung umstritten, und die Regierung in Bagdad erkenne ihn nicht offiziell an. Derzeit verwalte die Demokratische Partei Kurdistan (KDP) die irakische Seite und die SDF würden die syrische Seite kontrollieren (CEIP, 30. März 2021). Laut Enab Baladi hänge die Öffnung beziehungsweiße Schließung des Grenzüberganges von den politischen Spannungen zwischen der Regionalregierung Kurdistans und der Autonomen Verwaltung Nordostsyriens ab (Enab Baladi, 9. März 2022).
Der Al-Waleed-Übergang befinde sich im umstrittenen Unterbezirk Zummar in der Nähe der Provinz Duhok im Irak. Er werde von der Regionalregierung Kurdistans (KRG) auf irakischer Seite und der Autonomen Verwaltung auf syrischer Seite kontrolliert. Im Jahr 2013 habe die KRG den Übergang vorübergehend geöffnet, nachdem der Semalka-Faysh Khabur-Grenzübergang geschlossen worden sei. Die Benutzung des Grenzübergangs sei auf Personen beschränkt gewesen, die vom Irak nach Syrien hätten ziehen wollen. 2017 sei der Grenzübergang für Handel genützt worden. 2019 hätten die US-Truppen den Grenzübergang bei ihrem Abzug aus Syrien genützt (CEIP, 30. März 2021).
Al-Faw sei ein informeller Übergang, der laut lokalen Quellen vor allem von der PKK genützt werde (CEIP, 30. März 2021).
Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur
Der kontaktierte Syrienexperte erklärt gegenüber ACCORD den Ablauf ab Einreise in der Region Kurdistan bis zur Ankunft in Syrien für Personen, die im Gebiet der Autonomen Verwaltung gemeldet sind:
Vom Flughafen Erbil brächten Taxis oder Minibusse Reisende zum Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur, welcher der einzige offene Grenzübergang zwischen der Autonomen Region Kurdistan Irak und Nordostsyrien sei. Die Transportkosten vom Flughafen Erbil nach Semalka-Faysh Khabur betrügen in etwa 50 US-Dollar pro Person in einem geteilten Minibus oder etwa 100 US-Dollar für ein privates Taxi. Die Fahrt dauere ca. 2,5 Stunden. Am Grenzübergang angekommen, gehe der/die Reisende ein kurzes Stück zu Fuß, um dann Grenzbeamt·innen Ausweispapiere und etwaige andere Dokumente, nach denen in manchen Fällen gefragt werde, wie den Personalausweis, das Familienbuch, das Personenstandsregister und ähnliches vorzulegen. Wenn es der Person erlaubt wird zu passieren, nehme sie auf syrischer Seite des Grenzüberganges ein neues Auto mit Fahrer, um nach Al-Hasaka zu gelangen. Es sei für Reisende nicht möglich, die Grenze mit einem Auto zu passieren. Fahrer von beiden Seiten würden sich jedoch oft kennen und zusammenarbeiten. Die Fahrt vom Grenzübergang nach Al-Hasaka koste in etwa 50 US-Dollar und dauere circa zwei Stunden.
Der Grenzübergang sei momentan montags, freitags und samstags geöffnet. Laut dem Syrienexperten seien logistische Hürden, um die Grenze passieren zu können, ein Problem. Der Grenzübergang sei häufig geschlossen und seine betrieblichen Regeln und Vorschriften würden sich häufig ändern (Syrienexperte, 25. April 2022).
Schließungen des Semalka - Faysh Khabur Grenzübergangs
NPA (North Press Agency) berichtet am 16. Dezember 2021 von der Schließung des Grenzübergangs für jeglichen Transitverkehr sowie Handel. In den vergangenen Jahren sei der Übergang mehrmals geschlossen worden, unter anderem für eine Woche im Juni 2021 (NPA, 16. Dezember 2021).
Laut VOA (Voice of America) sei der Grenzübergang von Seiten der Regionalregierung Kurdistans im Irak Im Dezember 2021 auf unbestimmte Zeit geschlossen worden, aufgrund von Zusammenstößen zwischen Demonstranten der syrisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) und Sicherheitskräften der irakischen Regionalregierung Kurdistans. Auch frühere Schließungen seien das Resultat politischer Dispute gewesen. Die Grenzschließung verhindere nicht nur den Reiseverkehr, sondern auch den Warentransport, was Befürchtungen aufkommen lasse, dass dies zu einer Verknappung der Grundversorgung in Syrien führen könnte (VOA, 22. Dezember 2021).
NPA schreibt am 24. Jänner 2022, dass der Grenzübergang nach über einem Monat wieder teilweise geöffnet worden sei. Güterverkehr sei wieder gestattet sowie limitierter Personenverkehr bestimmter Gruppen (NPA, 24. Jänner 2022).
Laut dem irakisch-kurdischen Nachrichtensender Kurdistan 24 sei der Grenzübergang am 27. Jänner 2022 wieder vollständig geöffnet worden. Laut irakischer Seite habe es während der Zeit der Schließung Ausnahmen für bestimmte Personen gegeben, denen das Passieren erlaubt gewesen sei (Kurdistan 24, 28. Jänner 2022).
Enab Baladi beschreibt die Schließung des Grenzübergangs im Dezember/Jänner, als schwerwiegend, da der Grenzübergang für Privatpersonen, wie auch Handel geschlossen worden sei und auch der zehn Kilometer südlich gelegene Al-Waleed Grenzübergang nicht geöffnet worden sei. Dies habe zu einer Wirtschaftskrise in den von der SDF-kontrollierten Gebieten in Nordostsyrien geführt, die stark von der Autonomen Region Kurdistan im Irak abhängig seien, insbesondere im Hinblick auf den Handel und die Sicherung von Rohstoffen und Industrieerzeugnissen (Enab Baladi, 9. März 2022). […]“
Auszug aus der Anfragebeantwortung zu Syrien: Wehrdienstverweigerung und Desertion [a-11951] vom 08.09.2022:
„[…] 5 Unterstellung politisch oppositionell zu sein
Sowohl der von ACCORD kontaktierte Syrienexperte als auch Muhsen Al-Mustafa erklärten, dass während zu Beginn des Konflikts Wehrdienstverweigerer und Deserteure mit der Opposition assoziiert worden seien, dies mittlerweile nicht mehr (unbedingt) der Fall sei (Al Mustafa, 8. August 2022; Syrienexperte, 11. August 2022). Muhsen Al-Mustafa ergänzte hierzu weiters, dass Wehrdienstverweigerer, sofern sie sich nicht tatsächlich den Oppositionsgruppen angeschlossen haben, auch als solche eingestuft würden. Es gebe hier bestimmte Beispiele, wie zum Beispiel die Situation in dem Großteils von Drusen bewohnten Gouvernement Suweida, wo viele junge Leute den Wehrdienst verweigern würden, die syrische Regierung sie aber nicht als Teil der Opposition betrachten würde (Al-Mustafa, 8. August 2022). Demgegenüber erwähnt Amnesty International in seinem bereits erwähnte Bericht vom September 2021, dass die bloße Tatsache der Flucht ins Ausland ausreiche, um Verdacht zu erregen. Zwei im Zuge dieses Berichts befragte Auskunftspersonen hätten angegeben, dass sie aufgrund ihrer Flucht in den Libanon von den syrischen Sicherheitskräften nach ihrer Rückkehr ins Land als Terroristen angesehen worden seien. Einer davon sei bei seiner Rückkehr nach Syrien 2018 zweieinhalb Monate von den Sicherheitsbehörden gefangen gehalten worden und des Terrorismus bezichtigt worden, da er den Wehrdienst nicht abgeleistet habe und aus einem Dorf aus Aleppo stammte (AI, September 2021, S. 7; 20).Die Sicherheitskräfte würden zwischen Deserteuren und Wehrdienstverweigerern, die sich dem Militärdienst aufgrund von Notlagen entziehen, und solchen, die sich dem Militärdienst aus Gründen entziehen, die mit einer negativen Einstellung gegenüber der Regierung zusammenhängen, unterscheiden. Was die zweite Gruppe betreffe, so würden diese Deserteure und Wehrdienstverweigerer immer beschuldigt, Verbindungen zu den Oppositionsgruppen zu haben, und folglich des Terrorismus beschuldigt, auch wenn sie nichts mit den Oppositionsgruppen zu tun hätten (Jusoor for Studies, 6. September 2022). […]“
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungs- und Gerichtsakt sowie durch Einvernahme des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung.
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde und dem BVwG. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen, seiner familiären Situation sowie seiner Schul- und Berufserfahrung gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben. Das BVwG hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren im Wesentlichen gleich gebliebenen Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.
Die Feststellung zum Gesundheitszustand gründet sich auf den diesbezüglich glaubhaften Aussagen des Beschwerdeführers im Verfahren bzw. auf dem Umstand, dass nichts Gegenteiliges hervorgekommen ist.
2.2. Zu den Feststellungen zum Vorbringen zu den Flucht- und Verfolgungsgründen des Beschwerdeführers:
2.2.1. Die Feststellungen unter Pkt. II.1.2.1. ergeben sich aus dem LIB, insbesondere aus dem Kapitel „9.1 Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst“.
2.2.2. Die Feststellung unter Pkt. II.1.2.2. ergibt sich aus den folgenden Erwägungen: Im LIB (insbesondere Kapitel 9) wird angeführt, dass in Syrien keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung bestehe und es keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit gebe, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Männern im wehrpflichtigen Alter sei die Ausreise verboten.
Das Gericht verkennt dabei nicht, dass auch angeführt wird, dass das syrische Militärdienstgesetz es syrischen Männern und registrierten Palästinensern aus Syrien im Militärdienstalter (18-42 Jahre) und mit Wohnsitz im Ausland erlaube, eine Gebühr („badal an-naqdi") zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit und nicht wieder einberufen zu werden. Jedoch geht aus dem LIB auch hervor, dass der Prozess der Befreiung sehr lange dauern würde und willkürlich sei. Es müssten viele zusätzliche Kosten aufgewendet werden. Darunter auch Bestechungsgelder für die Bürokratie. Schon alleine dieser Umstand deutet für das BVwG darauf hin, dass es sich bei der Zahlung der Befreiungsgebühr um keine effektive und nachhaltige Möglichkeit handelt, sich dem Wehrdienst zu entziehen. Bestätigt wird dies zudem auch dadurch, dass im LIB explizit angeführt wird, dass in Syrien eine Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Recht und der Implementierung der Gesetze in der Praxis bestehe. Dabei darf auch nicht verkannt werden, dass der syrische Sicherheitsapparat geprägt von Willkür und Brutalität sei und es keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter gebe (LIB, Kapitel 9).
2.2.3. Die Feststellung unter Pkt. II.1.2.3. ergibt sich aus den folgenden Erwägungen: Das Wehrersatzgeld ist nach der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 gestaffelt nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts und beträgt 10.000 USD (ein Jahr), 9.000 USD (zwei Jahre), 8.000 USD (drei Jahre) bzw. 7.000 USD (vier Jahre). Bei einem Aufenthalt ab fünf Jahren kommen pro Jahr weitere 200 USD Strafgebühr hinzu (LIB, Kapitel 9).
Unabhängig davon, dass im Verfahren nicht hervorgekommen ist und auch von der belangten Behörde nicht dargelegt wurde, dass der Beschwerdeführer über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen würde, da dieser keiner Arbeit in Österreich nachgeht und seine Ersparnisse durch die Reise nach Österreich aufgebracht sind (Bescheid, S. 6), führte dieser nachvollziehbar an, dass er diese Mittel nicht bezahlen würde, da er damit das Regime und das Morden finanzieren würde (VHS, S. 7 f.). Dies deckt sich im Übrigen mit den Angaben im LIB, wo angeführt wird, dass die Zahlung des Wehrersatzgeldes für Auslandssyrer maßgeblich der Generierung ausländischer Devisen dienen würde (LIB, Kapitel 9).
2.2.4. Die Feststellung unter Pkt. II.1.2.4 ergibt sich aus den Angaben des Beschwerdeführers in der Erstbefragung sowie vor der belangten Behörde und dem BVwG. Dies ist zudem unbestritten.
2.2.5. Die Feststellung, dass eine Rückkehr nach Syrien nur über die Grenzübergänge, die in der Hand des syrischen Regimes sind (wie über den Flughafen von Damaskus) sicher und legal oder zumindest in dem Sinne, dass die den Grenzübergang beherrschenden Autoritäten eine Einreise zulassen, möglich ist, ergibt sich aus dem LIB und aus dem Umstand, dass eine andere Möglichkeit im Verfahren nicht hervorgekommen ist. So ist die Einreise etwa über den syrisch - irakischen Grenzübergang Semalka-Faysh Khabur äußerst zweifelhaft. Es ist unklar, ob dieser derzeit für den Personenverkehr beschränkt oder uneingeschränkt geöffnet oder gänzlich geschlossen ist. Auch die Informationslage hinsichtlich anderer Grenzübergänge ist vage. Überhaupt kommt es an den Grenzübergängen auch immer wieder zu kurzfristigen Schließungen ohne Vorankündigung (LIB, Kapitel 16 mit dem Verweis auf „ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (6.5.2022): Anfragebeantwortung zu Syrien: Voraussetzungen für Einreise syrischer Staatsangehöriger in Gebiete unter Kontrolle der SDF/YPG in Nordostsyrien; Legale Einreise aus dem Irak bzw. der Türkei; Informationen zum Grenzübergang Semalka-Faysh Khabur; Kontrolle der Grenzübergänge zwischen Nordostsyrien und der Türkei/dem Irak [a-11859-1]“).
Auch wird in diesem Dokument angeführt, dass der Grenzübergang Semalka-Faysh Khabur zwischen der irakischen Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung umstritten sei, und die Regierung in Bagdad ihn nicht offiziell anerkennen würde. Des Weiteren hänge die Öffnung bzw. Schließung des Grenzüberganges von den politischen Spannungen zwischen der Regionalregierung Kurdistans und der Autonomen Verwaltung Nordostsyriens ab. SyrerInnen, die mit syrischen Reisedokumenten reisen, müssten zudem ein Visum der irakischen Autonomen Region Kurdistan beantragen und erhalten. Auch sei es nur SyrerInnen, die aus Gebieten unter Kontrolle der SDF/YPG stammen würden, gestattet, von außerhalb in die Region Nordostsyrien einzureisen. Dies bedeute, dass eine Person innerhalb der von den SDF kontrollierten Gebiete registriert sein müsse, um von außerhalb einreisen zu können. Selbst wenn eine Person zum Beispiel 50 Jahre in Al-Hasaka gelebt habe, jedoch ihr Personenstandsregister in Deir Ezzor registriert sei, gelte die Person nicht als aus Al-Hasaka stammend. Des Weiteren wird auch angeführt, dass die Türkei alle Grenzübergänge mit dem Nordosten Syriens seit 2014 für Personen- und Güterverkehr geschlossen habe.
2.2.6. Dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr Gefahr laufen würde, verhaftet und zum Militärdienst bei der syrischen Armee eingezogen zu werden, ergibt sich aus den folgenden Erwägungen: Das Vorbringen des Beschwerdeführers war zu den Verfolgungsursachen, den wesentlichen Umständen, so zu Ablauf der Ereignisse, Namen von Beteiligten und Ortsbezeichnungen sowie bezüglich der Beweggründe für die Weigerung, den Militärdienst in der syrischen Armee abzuleisten, konkret, detailliert und stimmig. Es blieb über das gesamte Verfahren im Wesentlichen gleich sowie stimmt mit den generellen Verhältnissen im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers laut den dem Gericht vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Informationen überein.
Etwaige Unstimmigkeiten (so bezüglich seines Kontaktes zu den Militärbehörden oder seiner zweimaligen Rückkehr mit kurzfristigen Aufenthalten in Syrien) konnten vom Beschwerdeführer nachvollziehbar aufgeklärt werden.
Der Beschwerdeführer kam auch seiner Mitwirkungsverpflichtung im Ermittlungsverfahren nach, indem er umgehend antwortete und flüssig sprach sowie auf Übertreibungen verzichtete. Er wirkte mit seinem authentischen Auftreten in der mündlichen Verhandlung (zur besonderen Bedeutung der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung s. für viele VwGH 17.11.2016, Ra 2016/21/0316) sehr überzeugend auf das Gericht (vgl. allgemein zu den Grundanforderungen an einem Vorbringen eines Asylwerbers, wonach dieses substantiiert, schlüssig und plausibel und der Asylwerber persönlich glaubwürdig sein muss, sodass eine Flüchtlingseigenschaft als glaubhaft vorgebracht gewürdigt werden kann: Materialien zum Asylgesetz 1991, RV 270 BlgNR 18. GP, zu § 3).
Zudem wird im LIB unmissverständlich angeführt, dass Checkpoints sowohl von Regimesicherheitskräften sowie lokalen und ausländischen Milizen unterhalten werden würden. Die Kontrollpunkte würden die Stadtteile voneinander abgrenzen. Sie befänden sich auch an den Zugängen zu Städten und größeren Autobahnen, wie etwa Richtung Libanon, Flughafen Damaskus und an der M5-Autobahn. Es sei nicht möglich, vom Regimegebiet in die Gebiete der sog. Errettungsregierung (mit HTS als dominante Kraft) oder in das Gebiet der syrischen Interimsregierung (mit den pro-türkischen Einheiten der Syrian National Army) zu reisen (betrifft auch die umgekehrte Richtung). Es sei auch nicht möglich, vom kurdischen Selbstverwaltungsgebiet ins Gebiet der syrischen Interimsregierung zu gelangen. Die Grenzen seien zum Teil für den Personenverkehr geschlossen bzw. würden ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen. Das Regime schließe regelmäßig den Flughafen von Damaskus sowie Grenzübergänge. Junge Männer würden an Checkpoints sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert werden. Auch gebe es in Syrien, wie bereits oben angeführt, keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müsste der Beschwerdeführer zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Beim Grenzübertritt bzw. bei der anschließenden Weiterreise in seine Herkunftsregion würde der Beschwerdeführer daher Gefahr laufen, beim Passierens von Checkpoints hinsichtlich des Status seines Wehrdienstes gesondert überprüft und festgenommen zu werden (LIB, Kapitel 16).
Daher widersprechen die Angaben der belangten Behörde den Informationen aus dem LIB.
Das syrische Regime unterscheide zudem nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen“. Human Rights Watch kategorisiere laut dem LIB einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen (LIB, Kapitel 4). Im Falle einer Rekrutierung liefe der Beschwerdeführer daher auch Gefahr, als Mitglied der syrischen Armee, an der Begehung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen beteiligt zu werden.
Weiters ergibt sich aus dem LIB, dass dem Beschwerdeführer, im Falle der Weigerung den Wehrdienst in der syrischen Armee abzuleisten, zumindest eine mit Folter verbundene Gefängnisstrafe drohen würde. Ferner mangle es in den Haftanstalten an Nahrung, Trinkwasser und Hygiene sowie am Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung (LIB, Kapitel 7).
Die syrische Regierung betrachte Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen. Neben anderen Personengruppen seien insbesondere auch Wehrdienstverweigerer Ziel einer umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung der syrischen Regierung (LIB, Kapitel 9).
Insbesondere kann auch vor dem Hintergrund, dass eine Abschiebung des Beschwerdeführers in der Weise erfolgen würde, dass er bei der Einreise über den Luftweg oder aber in weiterer Folge jedenfalls bei einer der zahlreichen militärischen und paramilitärischen Straßenkontrollstellen eingehenden Personenkontrollen durch die syrischen Behörden (oder aber durch oppositionelle Kräfte) ausgesetzt wäre, nicht angenommen werden, dass der Beschwerdeführer sich einer Einberufung zum Wehrdienst durch Bestechung bereinigen oder auf andere Weise entziehen könnte.
Es wird dabei nicht verkannt, dass sich aus dem LIB ergibt, dass das syrische Regime Wehrdienstverweigerern nicht automatisch eine oppositionelle Gesinnung unterstellen würde. Manche Experten würden zwar davon ausgehen, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen werden würde. Der Syrien-Experte Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber jedoch als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen könne. Andererseits würden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet hätten, statt „ihr Land zu verteidigen“. Wehrdienstverweigerung würde aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen werden. Das syrische Regime sei sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen hätten, um nicht zu sterben. Daher sei auch die Möglichkeit geschaffen worden, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen könne. (LIB, Kapitel 9)
Auch ein für eine internationale Forschungsorganisation mit Schwerpunkt auf den Nahen Osten tätiger Syrienexperte geht davon aus, dass das syrische Regime möglicherweise am Anfang des Konflikts, zwischen 2012 und 2014, Wehrdienstverweigerer durchwegs als oppositionell eingestuft habe, inzwischen allerdings nicht mehr jeden Wehrdienstverweigerer als oppositionell ansehe (LIB, Kapitel 9). Bestätigt wird dies auch durch die Anfragebeantwortung zu Syrien: Wehrdienstverweigerung und Desertion [a-11951] vom 08.09.2022. Dort wird angeführt, dass die Sicherheitskräfte zwischen Deserteuren und Wehrdienstverweigerern, die sich dem Militärdienst aufgrund von Notlagen entzogen hätten, und solchen, die sich dem Militärdienst aus Gründen entzogen hätten, die mit einer negativen Einstellung gegenüber der Regierung zusammenhängen würden, unterscheiden würde. Lediglich die zweite Gruppe würde immer beschuldigt werden, eine Verbindung zu den Oppositionsgruppen zu haben.
Daher ergibt sich, dass, wie auch der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgeführt hat, nach der aktuellen Berichtslage sich kein Automatismus dahingehend als gegeben annehmen lässt, dass jedem im Ausland lebenden Syrer, der seinen Wehrdienst nicht abgeleistet hat, im Herkunftsstaat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt und deswegen eine unverhältnismäßige Bestrafung drohen würde (VwGH 28.02.2024, Ra 2023/20/0619).
Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, dass nicht jedem im Ausland lebenden Syrer, der seinen Wehrdienst nicht abgeleistet hat, im Herkunftsstaat keine oppositionelle Gesinnung unterstellt und deswegen keine unverhältnismäßige Bestrafung drohen würde.
Vielmehr ist dieser Sachverhalt einer Einzelfallbeurteilung zu unterziehen.
Aufgrund der im LIB angeführten Voraussetzungen/Kriterien einer Wehrdiensteinberufung in Syrien und dem persönlichen Profil des Beschwerdeführers (als körperlich gesunder syrischer Staatsangehöriger im Alter von unter 42 Jahren) ergibt sich, dass eine Person mit diesen formellen Voraussetzungen in Syrien angesichts des dortigen innerstaatlichen Konfliktes mit erheblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, zum Militärdienst eingezogen zu werden. Zudem ist aus dem LIB ersichtlich, dass der Personalbedarf des syrischen Militärs aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch sei (LIB, Kapitel 9).
Der Beschwerdeführer möchte jedoch nach eigenen Angaben nicht am Krieg teilnehmen, da es sich bei dem syrischen Regime um ein verbrecherisches Regime handle, welches aus Mördern bestehen würde. Diese würden unschuldige Zivilisten, Kinder und Frauen töten (VHS, S. 7). Aus diesem Grund wolle der Beschwerdeführer dem syrischen Regime auch keine finanziellen Mittel geben, da er damit das Töten von unschuldigen Menschen finanzieren würde (VHS, S. 7 f.).
Der Verwaltungsgerichtshof führte dahingehend aus, dass „[e]s […] für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten für sich genommen auch nicht ausreichend [ist], wenn der asylwerbende Fremde - wie hier der Mitbeteiligte, der in der Verhandlung angegeben hat, dass er keine Waffe tragen und keine Menschen töten wolle - Gründe, warum er den Militärdienst nicht ableisten möchte, ins Treffen führt, die Ausdruck einer politischen oder religiösen Gesinnung sein können.“ (VwGH 28.02.2024, Ra 2023/20/0619).
Der Verwaltungsgerichtshof hat aber auch wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zu komme, und zwar sowohl in Bezug auf die (allenfalls erforderliche) Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände (VwGH 17.11.2016, Ra 2016/21/0316).
Nichts Anderes kann bei der Beurteilung einer persönlichen Meinung des Beschwerdeführers gelten. In diesen Fällen hat der Beschwerdeführer regelmäßig nicht mehr als seine persönlichen Worte und sein Auftreten vor der Behörde oder dem Gericht.
Gegenständlich war der Beschwerdeführer bezüglich seiner Ablehnung sehr authentisch, da er sehr emotional und vehement seine Abscheu vor der syrischen Regierung in der mündlichen Verhandlung, welcher die belangte Behörde ferngeblieben ist, zum Ausdruck brachte.
Daher fällt der Beschwerdeführer nach Ansicht des Gerichtes in die Kategorie der im Ausland lebenden Syrer, die ihren Wehrdienst nicht abgeleistet haben und denen aufgrund ihrer negativen Einstellung gegenüber der syrischen Regierung eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde.
Das BVwG geht somit davon aus, dass der Beschwerdeführer im konkreten Fall in Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung drohen würde (vgl. UNHCR, Handbuch und Richtlinien über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 2011, Rz. 196, 203 f. mit dem Hinweis, nach dem Grundsatz „im Zweifel für den Antragsteller“ zu verfahren).
2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zu A):
§ 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:
„Status des Asylberechtigten
§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn 1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder 2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.
[…].“
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Es ist demnach für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass ein Asylwerber bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn der Asylwerber daher im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, ob er im Zeitpunkt der Entscheidung weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108).
Die Bestimmung der Heimatregion des Asylwerbers ist Grundlage für die Prüfung, ob dem Asylwerber dort mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung droht und ob ihm - sollte dies der Fall sein - im Herkunftsstaat außerhalb der Heimatregion eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht (VwGH 25.08.2022, Ra 2021/19/0442).
Zur Bestimmung der Heimatregion kommt der Frage maßgebliche Bedeutung zu, wie stark die Bindungen des Asylwerbers an ein bestimmtes Gebiet sind. Hat er vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsland nicht mehr in dem Gebiet gelebt, in dem er geboren wurde und aufgewachsen ist, ist der neue Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen, soweit der Asylwerber zu diesem Gebiet enge Bindungen entwickelt hat. In Fällen, in denen ein Asylwerber nicht auf Grund eines eigenen Entschlusses, sondern unter Zwang auf Grund einer Vertreibung seinen dauernden Aufenthaltsort innerhalb des Herkunftsstaates gewechselt hat und an dem neuen Aufenthaltsort nicht Fuß fassen konnte (Zustand innerer Vertreibung), ist der ursprüngliche Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen (VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0192).
Zur Beantwortung der Frage, wo sich die Heimatregion des Asylwerbers befindet, bedarf es somit einer Auseinandersetzung damit, welche Bindungen der Asylwerber zu den in Betracht kommenden Ortschaften, etwa in Hinblick auf familiäre und sonstige soziale Kontakte und örtliche Kenntnisse, aufweist (VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0192).
Im vorliegenden Fall wurde der Beschwerdeführer in XXXX in der Provinz Al-Raqqah geboren und lebte den überwiegenden Teil seines Lebens dort. Daher ist XXXX in der Provinz Al-Raqqah unstrittig als Herkunftsregion des Beschwerdeführers anzusehen.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs stellt die Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrechtlich relevante Verfolgung dar, sondern könnte nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen (VwGH 23.01.2018, Ra 2017/18/0330). Einer Wehrdienstverweigerung kann Asylrelevanz zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen seiner Wehrdienstverweigerung vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen - wie etwa bei Anwendung von Folter - jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Würde der Wehrdienst dazu zwingen, an völkerrechtswidrigen Militäraktionen teilzunehmen, kann nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung auch schon eine Bestrafung mit einer „bloßen“ Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein (VwGH 25.06.2019, Ra 2018/19/0705).
Wie oben ausgeführt, besteht für den Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr die Gefahr, zum Militärdienst einberufen zu werden. Auch konnte der Beschwerdeführer glaubhaft darlegen, dass er die Ableistung des Militärdienstes in Syrien ablehnt. Mit seiner sehr vehementen Abscheu vor einem Dienst in der syrischen Armee und der syrischen Regierung wird diese renitente Haltung des Beschwerdeführers als oppositionelle Haltung von Seiten des syrischen Regimes gewertet werden. Für den Beschwerdeführer besteht daher im Falle einer Rückkehr eine asylrelevante Verfolgungsgefahr, weil er sich durch seine Ausreise dem syrischen Militärdienst, in dessen Rahmen er zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen (wie Angriffe auf die Zivilbevölkerung) gezwungen und bei Weigerung mit Haft und Folter bedroht werden würde, entzogen hat bzw. auch bei seiner Rückkehr entziehen würde und sohin als politischer Gegner des syrischen Regimes angesehen werden würde.
Zudem fällt der Beschwerdeführer (auch) in eine von UNHCR angeführte Risikogruppe, nämlich der „Personen, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen“ (u.a. Wehrdienstentzieher; zur Indizwirkung von UNHCR-Positionen vgl VwGH 01.02.2022, Ra 2021/19/0056, Rn. 13, m.w.N.).
Der Beschwerdeführer liefe somit Gefahr, beim Grenzübertritt von den syrischen Behörden aufgegriffen und verfolgt zu werden. Die Herkunftsregion des Beschwerdeführers wäre, wie oben ausgeführt, nicht erreichbar, ohne dass der Beschwerdeführer am Weg dorthin Gefahr laufen würde, verhaftet und im Anschluss wegen seiner (unterstellten) oppositionellen Gesinnung gefoltert oder gar getötet zu werden (VfGH 29.06.2023, E 3450/2022).
Eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative besteht deshalb nicht. Die Annahme ebendieser würde zudem im Widerspruch zum aufgrund der derzeitigen Situation in Syrien bereits gewährten subsidiären Schutz stehen (VwGH 23.11.2016, Ra 2016/18/0054).
Der Beschwerdeführer konnte somit glaubhaft machen, dass ihm im Herkunftsstaat mit hoher Wahrscheinlichkeit Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 (politische bzw oppositionelle Gesinnung) der GFK droht.
Da auch keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt, ist dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen und gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 festzustellen, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
3.2. Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen.
In der Beschwerde findet sich kein Hinweis auf das Bestehen von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren und sind solche auch aus Sicht des BVwG nicht gegeben. Die Entscheidung folgt der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.
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