JudikaturBVwG

W231 2180182-2 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
20. Juni 2024

Spruch

W231 2180182-2/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Birgit HAVRANEK als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX StA. Iran, vertreten durch RA Mag. Timo GERERSDORFER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.02.2023, Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Vorverfahren:

I.1.1. Der Beschwerdeführer („BF“) stellte am 19.09.2015 in Österreich seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund brachte er vor, dass er im Iran mit seiner (ehemaligen) Freundin außerehelichen Kontakt gehabt habe, was im Iran verboten sei. Ihr Vater, ein Mullah, habe dann gesagt, dass die beiden heiraten müssten, was sie nicht gewollt hätten. Daher sei der BF zunächst nach Teheran und in der Folge nach Europa geflohen. Zudem sei er zum Christentum konvertiert. Im Falle einer Rückkehr fürchte er um sein Leben.

I.1.2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl („BFA“) vom 27.10.2017 wurde der Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Iran (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt, sondern gegen den BF eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung nach Iran zulässig sei (Spruchpunkte III. bis V.). Unter Spruchpunkt VI. wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt.

I.1.3. Gegen diesen Bescheid erhob der BF im Wege seiner Rechtsvertretung fristgerecht Beschwerde.

I.1.4. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.07.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der BF sowie die Vertretung des BF teilnahmen.

I.1.5. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.11.2021, Zl. W137 2180182-1/19E, wurde die Beschwerde des BF als unbegründet abgewiesen.

Das erkennende Gericht führte im Wesentlichen aus:

„1. Feststellungen:

Aufgrund der der Entscheidung zugrundeliegenden Akten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl sowie des Bundesverwaltungsgerichtes steht nachstehender entscheidungswesentlicher Sachverhalt als erwiesen fest:

1.1. Der Beschwerdeführer ist iranischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Perser an. Er stammt aus der Provinz Ghom und lebte dort bis zu seiner Ausreise. Er besuchte dort etwa 12 Jahre die Schule und arbeitete ca. 8 Jahre bis knapp vor seiner Ausreise aus dem Iran als Grafiker. Der Beschwerdeführer war vor der Ausreise – als schiitischer Moslem - nie religiös engagiert; in seiner Familie lebte lediglich seine Mutter vergleichsweise nachhaltig nach den schiitischen Glaubensvorschriften.

Der Beschwerdeführer ist legal mit dem Flugzeug aus seinem Herkunftsstaat ausgereist später illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat am 19.09.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Dabei hat er bewusst falsche Angaben zu seinem Alter gemacht und insbesondere eine Minderjährigkeit behauptet um sich unberechtigt Vorteile im Asylverfahren zu schaffen. Tatsächlich ist der Beschwerdeführer 6 Jahre älter, als bei Antragstellung behauptet.

Im Herkunftsstaat leben noch der Vater, der Bruder und die Schwester des Beschwerdeführers. Diese sind keinen staatlichen oder staatlich nicht sanktionierten Verfolgungshandlungen ausgesetzt. Seine Mutter hingegen lebt derzeit in Italien und verfügt über einen Status als Asylberechtigte. Der Beschwerdeführer steht aktuell mit diesen Familienangehörigen in Kontakt. In Österreich leben keine Verwandten des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer pflegt in Österreich soziale Kontakte, es bestehen jedoch keine Abhängigkeitsverhältnisse oder über herkömmliche Freundschaftsverhältnisse hinausgehende Bindungen.

1.2. Der Beschwerdeführer war in Österreich zwischenzeitlich als selbständiger Friseur tätig, geht derzeit jedoch keiner legalen Arbeit nach. Seit der Antragstellung befand sich der Beschwerdeführer lediglich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz durchgängig rechtmäßig im Bundesgebiet. Der Beschwerdeführer bezog bis Ende August 2020 regelmäßig Leistungen aus der Grundversorgung des Bundes.

Er verfügt über Deutschkenntnisse, er hat in der Vergangenheit mehrere Deutschkurse auf Niveau A1, A2 sowie B1 besucht und die Deutschzertifikate A1 sowie A2 erlangt. Der Beschwerdeführer war einmal bei einer Essensverteilung an einem Bahnhof ehrenamtlich tätig und ist Mitglied in einem Verein. Seine Tätigkeit als Musiker dient nicht der Existenzsicherung und ist weder mit einer politischen Aktivität noch mit einem religiösen (christlichen) Engagement verbunden – es handelt sich um säkulare Popmusik.

Der Beschwerdeführer ist gesund, es liegen bei ihm keine Hinweise auf eine die Schwelle des Art. 3 EMRK überschreitende ernsthafte physische oder psychische Krankheit vor. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in den Iran eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Der Beschwerdeführer hatte zudem die Möglichkeit, sich in den letzten (zumindest) 4 Monaten in Österreich mit einem hoch wirksamen, zugelassenen und von den zuständigen europäischen und nationalen Gremien empfohlenen Impfstoff (kostenlos) gegen das Sars-CoV-2-Virus impfen zu lassen und damit einem schweren Krankheitsverlauf vorzubeugen.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.3. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründete er im Wesentlichen zunächst mit einer Verfolgungsgefahr durch den Vater seiner ehemaligen Freundin sowie durch die iranischen Behörden aufgrund der außerehelichen sexuellen Beziehung mit dieser. Dieses Vorbringen erweist sich aufgrund massiver Widersprüche und fehlender Plausibilität, die auch das Bundesamt bereits im angefochtenen Bescheid umfassend herausgearbeitet hat, als nicht glaubhaft.

Der Beschwerdeführer war im Iran nie politisch engagiert. Er hat auch im gegenständlichen Verfahren keine politische Betätigung behauptet, aus der sich Hinweise auf eine oppositionelle Einstellung ergeben könnten.

1.4. Überdies macht der Beschwerdeführer geltend, dass er zum christlichen Glauben konvertiert sei. Ein bis zwei Monate nach seiner Einreise in das österreichische Bundesgebiet begann der Beschwerdeführer in Linz eine katholische Kirche zu besuchen. In der Folge nahm der Beschwerdeführer nicht mehr regelmäßig am Gottesdienst teil. Darüber hinaus ist er in seiner Kirchengemeinde nicht engagiert. Nach dem Besuch eines etwa einjährigen Taufvorbereitungskurse wurde der Beschwerdeführer am 18.04.2017 getauft.

Der Beschwerdeführer hat lediglich sehr oberflächliche Grundkenntnisse vom Christentum. Insbesondere sind ihm wesentliche Kernelemente der katholischen Glaubenslehre nicht bekannt. Eine innere Überzeugung bei der Konversion zum Christentum ist nicht feststellbar; der christliche Glaube ist nicht wesentlicher Bestandteil der Identität des Beschwerdeführers. Es ist daher auch nicht davon auszugehen, dass sich der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat öffentlich zum christlichen Glauben bekennen würde. Der Beschwerdeführer missioniert nicht und würde im Iran auch nicht christlich missionieren, zumal es ihm auch am dazu nötigen Wissen in hohem Maße gebricht.

Ebenso steht fest, dass dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in den Iran aufgrund seiner behaupteten Konversion zum christlichen Glauben keine Lebensgefahr oder Eingriff in seine körperliche Integrität durch den iranischen Staat drohen würde. Der Beschwerdeführer ist auch aufgrund seines behaupteten Abfalls vom Islam, der formal erfolgten Taufe oder seiner oberflächlichen Kontakte zu Pfarrgemeinden in Österreich nicht gefährdet, im Iran in das Blickfeld der iranischen Behörden zu geraten. Eine weitgehende (stille) Ignoranz der religiösen Vorschriften hat der Beschwerdeführer über Jahre hinweg bereits im Iran gelebt und hat dies nie zu substanziellen Problemen geführt.

1.5. Dem Beschwerdeführer droht im Iran keine unmenschliche Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe bzw. eine sonstige konkrete individuelle Gefahr. Im Falle einer Rückkehr würde er auch in keine existenzgefährdende Notsituation geraten und wäre als Zivilperson auch keiner ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen oder internationalen Konfliktes ausgesetzt.

(...)“

Die Feststellungen beruhen auf einer umfassenden Beweiswürdigung des Gerichts. Das Fluchtvorbringen hinsichtlich der Verfolgung durch den Vater der ehemaligen Freundin des BF sowie durch die iranischen Behörden aufgrund der außerehelichen sexuellen Beziehung mit dieser habe sich aufgrund massiver Widersprüche und fehlender Plausibilität als nicht glaubhaft erwiesen.

Im Hinblick auf die vorgebrachte Konversion zum Christentum und die daraus resultierende Verfolgungsgefahr im Herkunftsland wurde vom Gericht ausgeführt, dass auch dieser Nachfluchtgrund nicht als glaubhaft anzusehen war.

Im Rahmen der damaligen mündlichen Verhandlung prüfte das erkennende Gericht die vom BF vorgebrachte Konversion und befragte den BF zu seinem Wissen in Bezug auf das Christentum, seine Gottesdienstbesuche und sonstige religiöse Aktivitäten. Eine individuelle Motivation und Bezugsebene zum Christentum konnte beim BF nicht festgestellt werden. Die Erzählungen des BF waren bloß oberflächlich und konnte er selbst grundlegende Fragen zum christlichen (katholischen) Glauben nicht beantworten.

Alle geschilderten Umstände zusammen ließen für das Gericht keine Zweifel übrig, dass es sich hinsichtlich der vorgebrachten Konversion zum Christentum um eine Konstruktion handelte. Im Rahmen einer ganzheitlichen Würdigung des Vorbringens des BF war somit nicht davon auszugehen, dass ihm im Herkunftsland Verfolgung aufgrund einer Konversion zum Christentum droht.

I.1.6. Um sich der Durchsetzung der Entscheidung zu entziehen, verließ der BF das österreichische Bundesgebiet in Richtung Italien und reiste weiter nach Norwegen.

I.2. Gegenständliches Verfahren:

1.2.1. Am 09.05.2022 wurde der BF von Norwegen nach Österreich abgeschoben und stellte am selben Tag im Bundesgebiet einen (Folge-)Antrag auf internationalen Schutz.

I.2.2. Im Rahmen der am selben Tag erfolgten Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF zu seinem Fluchtgrund befragt an, dass seine Fluchtgründe aufrecht bleiben würden. Als neuen Fluchtgrund brachte er vor, dass er als Christ im Iran zu 100% mit dem Tode bestraft werde.

I.2.3. Am 26.01.2023 erfolgte eine Einvernahme des BF durch das BFA. Dabei gab der BF im Wesentlichen an, dass der Grund, weshalb sich der BF in Österreich befinde, immer noch derselbe sei. Mit den neuen Umständen im Iran sei der Konflikt sicher noch stärker als vorher. Er sei Christ geworden und auch getauft. Er sei auch auf Instagram aktiv und poste politische Dinge. In Österreich habe der BF schon an Demonstrationen teilgenommen.

I.2.4. Mit gegenständlichem Bescheid des BFA vom 15.02.2023 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 09.05.2022 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Iran abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Iran zulässig ist (Spruchpunkt V.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise in der Dauer von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, dass der Instagram Account, auf dem er Posts veröffentlichen würde, lediglich 33 Posts beinhalte und auch nicht auf seinen (Klar)Namen lauten würde. Nachdem der BF sohin nicht zu erkennen sei, ließe sich keine Verfolgungsgefahr im Herkunftsland ableiten. Der BF habe offensichtlich versucht, sein Vorbringen zu steigern, um eine Abschiebung ins Heimatland zu verhindern. Auch die aktuelle Lage im Iran führe nicht zu einer derartigen objektiven Lageänderung, sodass von einem neuen Sachverhalt auszugehen wäre.

I.2.5. Gegen diesen Bescheid erhob der BF Beschwerde und führte darin aus, dass er zum Christentum konvertiert sei und dies bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat auch für jeden sofort sichtbar sei. Aufgrund seines Glaubens drohe dem BF Verfolgung im Herkunftsstaat.

I.2.6. Mit Beschluss vom 18.12.2023 wurde das Verfahren gemäß § 38 AVG iVm § 17 VwGVG bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union in der Rechtssache C-222/22 über die mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 16.03.2021, Zl. EU 2022/0001-1, vorgelegten Fragen ausgesetzt.

I.2.7. Am 29.02.2024 hat der EuGH in der Rechtssache C-222/22 entschieden.

I.2.8. Am 24.04.2024 fand vor dem BVwG eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung statt, in welcher der BF eingehend zu seinen geltend gemachten Fluchtgründen befragt wurde. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme an der Verhandlung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen:

II.1.1. Zur Identität und sozialem Hintergrund des BF:

Der BF ist ein volljähriger iranischer Staatsangehöriger. Seine Identität steht nicht fest. Er ist Angehöriger der Volksgruppe der Perser und seine Muttersprache ist Farsi.

Der BF ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF stammt aus der Provinz Ghom und lebte dort bis zu seiner Ausreise. Er besuchte dort etwa 12 Jahre die Schule und arbeitete ca. 8 Jahre bis knapp vor seiner Ausreise aus dem Iran als Grafiker.

Im Iran lebt der Vater sowie die beiden Geschwister des BF und zahlreiche Onkel und Tanten. Zu seinem Vater und seiner Schwester hat er regelmäßig Kontakt. Die Mutter des BF ist in Italien aufhältig und verfügt dort über den Asylstatus, der BF steht auch mit ihr in Kontakt.

In Österreich verfügt der BF über keine familiären Anknüpfungspunkte. Er pflegt soziale Kontakte, es bestehen aber keine Abhängigkeitsverhältnisse oder über herkömmliche Freundschaftsverhältnisse hinausgehende Bindungen.

Im Bundesgebiet weist der BF keine strafgerichtlichen Verurteilungen auf.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig.

Der BF reiste legal mit dem Flugzeug aus dem Iran aus und illegal nach Österreich ein. Am 19.09.2015 stellte der BF in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.11.2021, Zl. W137 2180182-1/19E, als unbegründet abgewiesen wurde. Das erkennende Gericht hielt fest, dass der BF eine Verfolgung durch den Vater seiner ehemaligen Freundin sowie durch die iranischen Behörden aufgrund einer außerehelichen sexuellen Beziehung mit dieser aufgrund massiver Widersprüche und fehlender Plausibilität nicht glaubhaft machen konnte. Ferner erkannte das Gericht, dass der BF nicht aus innerer Überzeugung zum Christentum konvertiert ist und dem BF auch keine Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat aufgrund politisch-oppositionellen Gesinnung droht.

Nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts verließ der BF das österreichische Bundesgebiet und reiste zuerst nach Italien und von dort aus weiter nach Norwegen; er hielt sich dort von November 2021 bis Mai 2022 auf. In Norwegen wurde der BF aufgegriffen und nach Österreich abgeschoben. Seit seiner Rückkehr in das österreichische Bundesgebiet am 09.05.2022 hält er sich ununterbrochen in Österreich auf.

Der BF verfügt über keinen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet. Seit der nunmehr zweiten Antragstellung befand sich der BF lediglich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz durchgängig rechtmäßig im Bundesgebiet.

Im Jahr 2019 eröffnete der BF einen Frisörsalon im Bundesgebiet, welchen er aufgrund der Corona-Pandemie wieder schließen musste. Der BF bezog bis Ende August 2020 regelmäßig Leistungen aus der Grundversorgung des Bundes. Seit Oktober 2022 geht der BF einer Beschäftigung in einem Restaurant nach und ist selbsterhaltungsfähig. Er verfügt über eine Arbeitserlaubnis.

Er ist aktuell nicht Mitglied in einem Verein.

Er verfügt über Deutschkenntnisse, er hat in der Vergangenheit mehrere Deutschkurse auf Niveau A1, A2 sowie B1 besucht und die Deutschzertifikate A1 sowie A2 erlangt. Unterhaltungen in deutscher Sprache funktionieren nur eingeschränkt. Der BF war einmal bei einer Essensverteilung an einem Bahnhof ehrenamtlich tätig und arbeitet nebenbei als Musiker.

II.1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF wuchs im Iran als schiitischer Moslem auf, seine Eltern sind nicht streng gläubig. Er hat sich weder im Iran, noch in der Türkei oder in Österreich bislang tiefergehend dem Christentum zugewandt oder christlich missioniert und wird ihm dies auch nicht von iranischen Behörden oder Privatpersonen unterstellt. Das Christentum ist (nach wie vor) kein wesentlicher Bestandteil der Identität des BF geworden. Dass der BF sich seit negativem Abschluss seines ersten Verfahrens entscheidungswesentlich weiter dem Christentum zugewandt hätte, kann nicht festgestellt werden. Dem BF droht aus diesem Grund keine Verfolgung im Iran.

Etwa ein bis zwei Monate nach seiner Einreise in das Bundesgebiet im Jahr 2015 besuchte der BF regelmäßig die katholische Kirche sowie einen Taufvorbereitungskurs. Am 18.04.2017 wurde der BF getauft. Aktuell besucht der BF nur unregelmäßig eine protestantische Kirche.

Der BF hat einen Social Media Account, ist dort aber nicht politisch aktiv. Dass der BF im Jahr 2022 intensiv auf seinem mittlerweile gelöschten Social Media Account gegen das iranische Regime aktiv war, kann nicht festgestellt werden. Sein aktueller Instagram Account beschäftigt sich ausschließlich mit seiner Musik.

Der BF hat in Österreich drei Mal an Demonstrationen gegen das iranische Regime teilgenommen. Ihm droht im Herkunftsland deshalb keine Verfolgung aufgrund (unterstellter) oppositioneller Gesinnung. Er übt in Österreich keine hochrangigen exilpolitischen Tätigkeiten aus.

Andere Fluchtgründe wurden vom BF nicht vorgebracht und sind auch während des Verfahrens nicht hervorgekommen.

II.1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:

Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA zum Iran (Version 7, 26.01.2024):

Politische Lage

Letzte Änderung 2024-01-25 10:26

Iran ist seit 1979 eine Islamische Republik (FAZ 24.3.2023). Sie kombiniert republikanisch-demokratische Elemente mit einem theokratischen System (BS 23.2.2022; vgl. BPB 10.1.2020). Das Kernkonzept der Verfassung ist die "Rechtsgelehrtenherrschaft" (velayat-e faqih). Nach schiitischem Glauben gibt es einen verborgenen Zwölften Imam, den als Erlöser am Jüngsten Gericht von Gott gesandten Muhammad al-Mahdi (BPB 10.1.2020). Gemäß diesem Prinzip soll ein schiitischer Theologe praktisch in Stellvertretung des seit dem Jahr 874 in Verborgenheit weilenden Mahdi agieren und die Geschicke des Gemeinwesens lenken (BAMF 5.2022). Darauf aufbauend schuf Ajatollah Ruhollah Khomeini 1979 ein auf ihn zugeschnittenes Amt, das über allen gewählten Organen steht, und somit die republikanischen Verfassungselemente des Präsidenten und des Parlaments neutralisiert: das Amt des "Herrschenden Rechtsgelehrten" (vali-ye faqih), dessen Inhaber auch "Revolutionsführer" (rahbar) genannt wird. Der Revolutionsführer übt quasi stellvertretend für den Zwölften Imam bis zu dessen Rückkehr die Macht aus (BPB 10.1.2020).

Der Revolutionsführer (auch Oberster Führer, Oberster Rechtsgelehrter, religiöser Führer) ist seit 1989 Ayatollah Seyed Ali Hosseini Khamenei (ÖB Teheran 11.2021; vgl. USDOS 20.3.2023). Er wird von einer Klerikerversammlung (Expertenrat) auf Lebenszeit gewählt (AA 14.9.2021), ist höchste Autorität des Landes, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und ernennt den Leiter des Justizwesens sowie des staatlichen Rundfunks und die Mitglieder des Schlichtungsrats (FH 10.3.2023). Ihm unterstehen auch die Islamischen Revolutionsgarden (Pasdaran oder IRGC) inkl. der mehrere Millionen Mitglieder umfassenden, paramilitärischen Basij-Milizen. In der Hand religiöser Stiftungen und der "Garden" liegen mächtige Wirtschaftsunternehmen, die von der infolge der US-Sanktionen wachsenden Schattenwirtschaft profitieren (ÖB Teheran 11.2021). Obwohl der Revolutionsführer oberste Entscheidungsinstanz ist, kann er zentrale Entscheidungen nicht gegen wichtige Machtzentren treffen. Die Revolutionsgarden, die direkt Revolutionsführer Khamenei unterstehen, bleiben ein militärischer, politischer und wirtschaftlicher Machtfaktor (AA 30.11.2022).

Entscheidende Gremien sind der vom Volk direkt gewählte Expertenrat mit 86 Mitgliedern sowie der Wächterrat mit zwölf Mitgliedern. Davon sind sechs vom Obersten Führer ernannte Geistliche und sechs von der Judikative bestimmte (klerikale) Juristen, die vom Parlament bestätigt werden müssen (ÖB Teheran 11.2021). Des Weiteren gibt es noch den Schlichtungsrat. Er vermittelt im Gesetzgebungsverfahren und hat darüber hinaus die Aufgabe, auf die Wahrung der "Gesamtinteressen des Systems" zu achten (AA 14.9.2021). Der Expertenrat ernennt den Obersten Führer und kann diesen (theoretisch) auch absetzen (ÖB Teheran 11.2021; vgl. USDOS 20.3.2023), er sollte die Arbeit des Revolutionsführers kontrollieren. In der Praxis scheint er die Entscheidungen des Revolutionsführers jedoch nicht herauszufordern (FH 10.3.2023). Auch wenn der Expertenrat nominell direkt von der Bevölkerung gewählt wird, hat der Revolutionsführer indirekt Einfluss auf dessen Zusammensetzung, da der Wächterrat, der zur Hälfte vom Revolutionsführer und zur Hälfte vom (durch den Revolutionsführer eingesetzten) Leiter des Justizwesens besetzt wird, die Kandidatenauswahl dafür vornimmt und den Wahlvorgang kontrolliert (USDOS 20.3.2023). Der Wächterrat hat mit einem Verfassungsgerichtshof vergleichbare Kompetenzen (Gesetzeskontrolle), ist jedoch wesentlich mächtiger. Ihm obliegt unter anderem auch die Genehmigung von Kandidaten bei allen nationalen Wahlen (ÖB Teheran 11.2021). Da der Wächterrat die Kandidaten für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen (Majles oder Islamische Beratende Versammlung) überprüft und regelmäßig eine bedeutsame Anzahl an Kandidaten von der Wahl ausschließt und den Wahlvorgang kontrolliert, übt der Revolutionsführer somit indirekt Einfluss auf die legislativen und exekutiven Institutionen des Landes aus (USDOS 20.3.2023). Der Wächterrat ist somit das zentrale Mittel zur Machtausübung des Revolutionsführers (GIZ 2020).

Der Präsident ist nach dem Revolutionsführer der zweithöchste Amtsträger im Staat. Er bildet ein Regierungskabinett, das vom Parlament bestätigt werden muss (FH 10.3.2023). Das iranische Regierungssystem ist damit ein semipräsidiales und an der Spitze der Regierung steht der vom Volk für vier Jahre direkt gewählte Präsident (ÖB Teheran 11.2021). Der Präsident ist für das tagespolitische Geschäft zuständig und hat einen bedeutsamen Einfluss auf die Innen- und Außenpolitik des Landes (BBC 8.10.2022). Seine Macht ist allerdings vergleichsweise beschränkt (BBC 8.10.2022; vgl. BPB 10.1.2020). Der religiöse Führer hat das letzte Wort in allen staatlichen Angelegenheiten (DW 16.6.2021). Die Macht des Präsidenten wird auch durch das Parlament eingeschränkt und der Wächterrat muss neuen Gesetzen zustimmen oder kann ein Veto einlegen (BBC 8.10.2022).

Am 18.6.2021 fanden in Iran Präsidentschaftswahlen statt (AA 14.9.2021). Gewonnen hat die Wahl der konservative Hardliner und vormalige Justizchef Ebrahim Raisi mit mehr als 62 % der Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag bei unter 50 % und war somit niedriger als jemals zuvor bei einer Präsidentschaftswahl in der Geschichte der Islamischen Republik. In der Hauptstadt Teheran lag die Wahlbeteiligung bei nur 26 %. Zudem wurden mehr als 3,7 Millionen Stimmzettel für ungültig erklärt (Standard 19.6.2021). Der Wettbewerb um die Wählerstimmen war stark manipuliert. Der Wächterrat hatte im Vorfeld die meisten der 600 Präsidentschaftskandidaten - darunter auch 40 Frauen - abgelehnt. Drei der genehmigten Kandidaten zogen ihre Kandidatur wenige Tage vor der Wahl zurück. Die Behörden übten auf die Medien Druck aus, um kritische Berichterstattung über Raisi oder den Wahlvorgang zu verhindern (FH 10.3.2023). In Folge der Präsidentschaftswahlen vom Juni 2021 befindet sich die gesamte Befehlskette in konservativer bzw. erzkonservativer Hand (Oberster Führer, Präsident/Regierungschef, Leiter der religiösen Judikative, Regierung, Parlament, Wächterrat, Expertenrat) (ÖB Teheran 11.2021).

Ebenfalls alle vier Jahre gewählt wird das Einkammerparlament, genannt Majles, mit 290 Abgeordneten, das gewisse legislative Kompetenzen hat und Ministern das Vertrauen entziehen kann (ÖB Teheran 11.2021). Die Bewerber um einen Parlamentssitz erhalten ihre Unterstützung nicht von Parteien, sondern von klerikalen und wirtschaftlichen Interessengruppen. Das Parlament ist die gesetzgebende Institution Irans. Allerdings muss bei Gesetzesvorhaben ihre Vereinbarkeit mit der islamischen Rechtstradition beachtet werden. Gesetzesvorschläge kommen von den Ministern oder den Abgeordneten. Ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz kann vom Wächterrat so lange an das Parlament zurückverwiesen werden, bis es seinen Vorstellungen entspricht (DW 16.6.2021). Bei den Parlamentswahlen vom 21.2.2020 haben (ultra-)konservative Kandidaten knapp 80 % der Sitze im Parlament gewonnen (AA 30.11.2022). Vor der Abstimmung disqualifizierte der Wächterrat mehr als 9.000 der 16.000 Personen, die sich für eine Kandidatur angemeldet hatten, darunter eine große Anzahl reformistischer und gemäßigter Kandidaten (FH 10.3.2023). Die Wahlbeteiligung lag bei 42,6 %, was als die niedrigste Wahlbeteiligung bei einer Parlamentswahl in die Geschichte der Islamischen Republik einging (FH 10.3.2023; vgl. AA 30.11.2022).

Präsident, Parlament und Expertenrat werden also in geheimen und direkten Wahlen vom Volk gewählt. Den OECD-Standards entspricht das Wahlsystem jedoch schon aus dem Grund nicht, dass sämtliche Kandidaten im Vorfeld durch den vom Revolutionsführer und Justizchef ernannten Wächterrat zugelassen werden müssen (AA 30.11.2022; vgl. FH 10.3.2023, BPB 31.1.2020a). Dennoch kommt es in kaum einem anderen Land des Nahen Ostens zu derart umkämpften Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Die bestehenden programmatischen Differenzen zwischen prinzipientreuem Klerus und neokonservativen Technokraten, wirtschaftsliberalen Pragmatikern und klerikalen oder gar säkularen Reformern spiegeln einen Pluralismus in Iran wider, der allerdings phasenweise aufs Schärfste bedroht ist (BPB 31.1.2020a).

Das Regime reagierte auch unter der moderaten Regierung von Ex-Präsident Rohani in den letzten Jahren auf die wirtschaftliche Krise und immer wieder hochkommenden Unmut und Demonstrationen mit einem harten Vorgehen gegen Menschenrechtsverteidiger, Frauenrechtsaktivisten, religiöse und ethnische Minderheiten und Umweltaktivisten. Die Regierung Raisi ist noch dabei, ihre Machtstruktur auf allen Ebenen zu festigen. Sie hat jedoch bereits stärkere Einschränkungen der Meinungsfreiheit im Sinne der "islamischen Gesellschaftsordnung" (Rolle der Frauen fokussiert auf Gebärfunktion), der Ablehnung "westlicher" Kultur, der Unterdrückung von Kritik (Internetzensur) und eine stärkere Ausrichtung auf Russland und China und deren politische Modelle angekündigt (ÖB Teheran 11.2021).

Frauen haben das aktive Wahlrecht, werden bei der politischen Teilhabe allerdings mit bedeutsamen rechtlichen, religiösen und kulturellen Hindernissen konfrontiert. Nach Interpretation des Wächterrats verwehrt die iranische Verfassung es Frauen, die Ämter des Revolutionsführers oder Präsidenten, Funktionen im Experten-, Wächter- und Schlichtungsrat sowie mancher Richterposten anzutreten (USDOS 20.3.2023). Unter 40-Jährige, die etwa drei Viertel der iranischen Bevölkerung ausmachen, waren bislang größtenteils von jeglicher politischen Partizipation ausgeschlossen. Politische Ämter werden überwiegend von Männern der ersten Generation der Elite der Islamischen Republik - den heute über 70-jährigen Gründungsvätern - und der zweiten Generation - den heute über 60-jährigen Veteranen des Iran-Irak-Kriegs sowie Vertretern der Revolutionsgarden - regiert (BPB 31.1.2020a).

Proteste 2022/2023

Nach dem Tod der 22-Jährigen Mahsa Jîna (ihr kurdischer Vorname) Amini am 16.9.2022 (USDOS 20.3.2023) in Gewahrsam der sogenannten Sittenpolizei (gasht-e ershâd) in Teheran (BPB 16.2.2023) aufgrund eines angeblich unkorrekt getragenen Hijabs kam es in Iran zu den größten Protesten seit Jahren (EN 1.2.2023). Während in den letzten Jahren in Iran häufig Demonstrationen stattfanden, waren die Proteste hinsichtlich ihrer geographischen Verbreitung und Dauer beispiellos (ACLED 12.4.2023).

Als Frau sunnitischer Konfession und als Kurdin verkörperte Mahsa Jina Amini alle drei Dimensionen der systematischen Diskriminierung durch die Islamische Republik: Geschlecht, Konfession und ethnische Zugehörigkeit (Posch/Chatham 5.5.2023). Die Proteste in Iran richteten sich gegen Diskriminierung und fokussierten auf Menschenrechte. Die Wut der Tausenden von Demonstranten, die auf die Straße gingen, konzentrierte sich auf die Tatsache, dass weder das Geschlecht noch die ethnische Zugehörigkeit die Ursache für den Tod eines iranischen Bürgers in Gewahrsam sein sollte, was eine eindeutige Menschenrechtsfrage darstellt (Posch 2023). Der von den Demonstranten verwendete Spruch "Frau, Leben, Freiheit" (auf Farsi: "zan, zendegi, âzâdi") stammt dabei ursprünglich von der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) (auf Kurdisch "jin, jîyan, azadî"). Er war zunächst unter iranischen Demonstranten im Westen zu hören. Dann begannen auch in Iran die säkularen und linken Teile der Gesellschaft, ihn zu verwenden, bevor er sich landesweit über Klassen- und ethnische Grenzen hinweg verbreitete (Posch/Chatham 5.5.2023). Die Proteste wurden insbesondere von den folgenden Gruppen getragen: Frauen, Jugendliche, Studentinnen und Studenten sowie von marginalisierten Ethnien - insbesondere Kurden und Belutschen (BPB 16.2.2023). Die auf Menschen- und Bürgerrechten basierende Agenda der Proteste konnte jedoch sowohl säkulare Teheraner aus der Mittelschicht als auch sunnitische Fundamentalisten aus den marginalisierten Grenzprovinzen Irans mobilisieren. Unter anderem kritisierten auch prominente Stimmen wie Kak Hasan Amini, einer der profiliertesten sunnitischen Geistlichen Irans, oder Moulana Abdulhamid aus Belutschistan, Führer der sunnitischen Gemeinschaft im Osten des Irans, das Regime (Posch 2023).

Dieses reagierte mit massiver Repression auf die Proteste. Zeitweise wurden rund 20.000 Personen inhaftiert (BPB 16.2.2023). Bis Mitte Februar 2023 zählte die NGO Human Rights Activists News Agency (HRANA) 530 Todesopfer unter den Protestteilnehmern (DIS 3.2023; vgl. BPB 16.2.2023). Auch wurden im Rahmen der Proteste zwischen September 2022 und April 2023 rund 50 Angehörige der Basij, Revolutionsgarden und Polizei getötet (ACLED 12.4.2023), laut HRANA waren es beinahe 70 Regimekräfte (BPB 16.2.2023). Eine unbekannte Zahl von Personen, wie z.B. Journalisten, Menschenrechtsaktivisten, Studenten, Künstler, Akademiker, Rechtsanwälte, medizinisches Personal, das sich um Protestteilnehmer gekümmert hat, Minderjährige und Personen, die sich online an anti-Regierungsaktivitäten beteiligt haben, wurde wegen "Verbreitung von Propaganda", "Absprachen zur Begehung von Straftaten und Handlungen gegen die nationale Sicherheit" oder "Kriegsführung gegen Gott" sowie "Korruption auf Erden" verurteilt, wobei diese Tatbestände vor den iranischen Revolutionsgerichten mit hohen Strafen geahndet werden (DIS 3.2023).

Die Proteste zeichneten sich durch ihre Dezentralität, die Bedeutung von zivilem Ungehorsam und Flashmobs als Protestform - insbesondere durch Frauen, die ihr Kopftuch ablegen - und, wie vor allem in europäischen Debatten oft bemängelt wird, durch fehlende Organisations- und Führungsstrukturen aus (BPB 16.2.2023). Die fehlenden Führungsstrukturen waren sowohl Stärke als auch Schwäche der Proteste, bei denen das Internet und soziale Medien eine große Rolle zur Mobilisierung und Verbreitung der Protestbotschaften spielten: Einerseits machen die fehlenden Führungsstrukturen staatliche Repression schwieriger, andererseits erschweren sie auch die Herausbildung einer Bewegung, welche eine politische Alternative zum derzeitigen System darstellen könnte (FR24 16.12.2022).

Bis zum Sommer 2023 sind die Straßenproteste schließlich abgeflaut und die Regierung hat beispielsweise versucht, die Strafen für Verstöße gegen die Hijab-Regeln zu verschärfen (USIP 6.9.2023). Die Islamische Republik blieb weiterhin funktionsfähig und im Zuge der Proteste konnte nicht beobachtet werden, dass eine Einheit des hochkompetitiven iranischen Sicherheitsapparats geschwächelt hätte oder sich illoyal verhalten habe (Posch/Chatham 5.5.2023). Die Regierung ist darauf bedacht, ihre Anhängerschaft zu halten, versucht aber auch, Menschen am Rande der Gesellschaft zu Anhängern der Islamischen Republik zu machen. So haben die staatlichen Medien jüngst beispielsweise neue Fernsehsendungen produziert und eine größere Anzahl von Gästen eingeladen, um heikle politische Themen zu diskutieren. Die Regierung möchte aufgeschlossen und sympathisch erscheinen, um ein gewisses Maß an Legitimität aufrechtzuerhalten und gleichzeitig Sicherheitsaspekte zu berücksichtigen. Die Regierungsvertreter sind sich allerdings darüber im Klaren, dass die Legitimität des Regimes erodiert ist, insbesondere seit der gewaltsamen Niederschlagung der landesweiten Demonstrationen, die durch den Tod von Mahsa Amini in Polizeigewahrsam im Jahr 2022 ausgelöst worden sind (USIP 17.11.2023). Die Proteste scheinen im Jahr 2023 abgeklungen zu sein, aber die dort artikulierten Missstände bleiben weiterhin bestehen (CRS 29.9.2023).

Sicherheitslage

Letzte Änderung 2024-01-26 15:22

Verglichen mit Nachbarstaaten wie dem Irak, Libanon, Syrien und Afghanistan hat Iran eine sehr starke Zentralregierung mit mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsbehörden. Mit Ausnahme von einigen peripheren Grenzregionen ist die Regierung im Besitz der Kontrolle über das gesamte Staatsterritorium. In den Provinzen West-Aserbaidschan und Kermanshah, an der westlichen Staatsgrenze zu Irakisch-Kurdistan, kommt es regelmäßig zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den Islamischen Revolutionsgarden (IRGC, Pasdaran) und separatistischen Gruppierungen, wie der Kurdistan Democratic Party of Iran (KDPI) und der Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê (PJAK) (BS 23.2.2022).

Die schwierige Wirtschaftslage und die latenten Spannungen führen periodisch zu Kundgebungen, zum Beispiel im Zusammenhang mit Preiserhöhungen oder an (religiösen) Lokalfeiertagen und Gedenktagen. Es muss mit schweren Ausschreitungen und gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Demonstrierenden sowie mit Straßenblockaden gerechnet werden. Ab Mitte September 2022 kam es in zahlreichen Städten des Landes immer wieder zu Protesten gegen die Regierung. Bei Ausschreitungen und gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Demonstrierenden sind zahlreiche Personen getötet oder verletzt worden. Teilweise wird scharfe Munition eingesetzt (EDA 4.1.2024). Die Sicherheitskräfte gingen insbesondere in Randgebieten wie den Provinzen Kurdistan sowie Sistan und Belutschistan hart gegen Protestierende vor (Newsweek 1.12.2022; vgl. UNHRC 7.2.2023). Während Mitglieder der Basij-Miliz in Teheran Demonstranten verprügelten, haben die Sicherheitsbehörden in Kurdistan, Belutschistan und Ahwaz beispielsweise schwere Maschinengewehre, gepanzerte Fahrzeuge, schwere Artillerie und sogar Kampfhubschrauber zur Bekämpfung der Proteste in Stellung gebracht (TWI 14.10.2022).

Das Risiko von Anschlägen besteht im ganzen Land. Am 3.1.2024 forderte ein Anschlag anlässlich einer Gedenkfeier in der Stadt Kerman [Provinz Kerman] rund 100 Todesopfer und zahlreiche Verletzte. Im August 2023 sowie Oktober 2022 wurden mehrere Personen bei Attentaten auf den Shah Cheragh-Schrein in Shiraz [Provinz Fars] getötet oder verletzt. In den Grenzprovinzen im Osten und Westen werden die Sicherheitskräfte immer wieder Ziel von bewaffneten Überfällen und Anschlägen (EDA 4.1.2024). Vor allem in Grenzregionen kommt es unregelmäßig zu Zwischenfällen mit terroristischem Hintergrund. Besonders betroffen sind die Provinzen Kurdistan und Sistan und Belutschistan, der Osten der Provinz Kerman sowie die Grenzgebiete zu Irak, Pakistan und Afghanistan. Die iranischen Behörden haben seit einiger Zeit die allgemeinen Sicherheitsmaßnahmen im Grenzbereich zu Irak und zu Pakistan, aber auch in der Hauptstadt Teheran, erhöht (AA 18.12.2023).

Der o.g. Anschlag in der Stadt Kerman am 3.1.2024 mit fast 100 Todesopfern und über 200 Verletzten ereignete sich während einer Gedenkfeier anlässlich des Todestags von Qassem Soleimani (IRINTL 3.1.2024; vgl. Soufan 4.1.2024). Als Befehlshaber der Auslandsoperationen der Revolutionsgarden, der Quds-Kräfte (BBC 4.1.2024; vgl. AP 4.1.2024), war Soleimani einer der Architekten der iranischen Politik in der Region. Er war für die geheimen Missionen der Quds-Kräfte und die Bereitstellung von Führung, Finanzierung, Waffen, Geheimdienstinformationen und logistischer Unterstützung für verbündete Regierungen und bewaffnete Gruppen, einschließlich der Hisbollah und der Hamas, verantwortlich (BBC 4.1.2024; vgl. Soufan 4.1.2024). Er war auch im Irak und in Syrien aktiv, wo er das Assad-Regime gegen den Islamischen Staat (IS) und andere Gruppierungen unterstützt hat. Der in Iran populäre Soleimani wurde im Jahr 2020 bei einem Drohnenangriff der USA nahe Bagdad getötet (AP 4.1.2024). Zum Anschlag in Kerman bekannte sich der IS, wobei von einem US-amerikanischen Nachrichtendienst abgefangene Gespräche gemäß der Nachrichtenagentur Reuters bestätigen, dass der Ableger des IS in Afghanistan, der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP), für den Anschlag verantwortlich war (REU 5.1.2024; vgl. FAZ 12.1.2024). Seit 2015 kommt es nach iranischen Angaben in der Provinz Khuzestan und in anderen Landesteilen, auch in Teheran, wiederholt zu Verhaftungen von Personen, die mit dem IS in Verbindung stehen und Terroranschläge in Iran geplant haben sollen (AA 18.12.2023; vgl. TWI 31.10.2022). Die Anschläge im Oktober 2022 und August 2023 auf den schiitischen Shah Cheragh-Schrein in Shiraz haben iranische staatliche Medien ebenfalls dem IS zugeschrieben (AJ 26.10.2022) bzw. bekannte sich die Organisation selbst zu ihnen (AJ 13.8.2023). Dieser Anschlag war der erste des IS auf iranischem Boden seit 2018. Zuvor hatte der ISKP mehrere Drohungen gegen den iranischen Staat ausgesprochen (TWI 31.10.2022). Der ISKP hat seine Strategie nach der Machtübernahme der Taliban 2021 teils geändert und seine Operationsgebiete sowie Rekrutierungsbestrebungen "internationalisiert" (Conversation 11.1.2024; vgl. FAZ 12.1.2024).

Die Grenzzone zu Afghanistan, das östliche Kerman und Sistan und Belutschistan stehen teilweise unter dem Einfluss von Drogenhändler- sowie von extremistischen Organisationen. Sie verüben immer wieder Anschläge und setzen teilweise Landminen auf Überlandstraßen ein (EDA 4.1.2024). Die Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt und es gibt vermehrte Sicherheits- und Personenkontrollen (AA 18.12.2023). Es kann jederzeit zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften kommen (EDA 4.1.2024). In Sistan und Belutschistan (Südosten, Grenze zu Pakistan/Afghanistan) wurden zahlreiche Zusammenstöße zwischen Mitgliedern von Drogenbanden, Kämpfern, Zivilisten und Sicherheitskräften verzeichnet, bei denen Menschen getötet und verletzt wurden (MBZ 9.2023; vgl. AA 18.12.2023, Arabiya 17.1.2024).

Im Dezember 2023 wurde ein Angriff auf eine Polizeistation in der Stadt Rask in Sistan und Belutschistan verübt, der mindestens elf Tote forderte. Laut dem staatlichen iranischen Fernsehen war die dschihadistische Gruppierung Jaysh al-Adl (JAA, auch JUA) für den Anschlag verantwortlich (Spiegel 15.12.2023; vgl. NZZ 16.12.2023). Im Juli 2023 hatte sich die Gruppierung zu einem Angriff auf eine Polizeistation in Zahedan [Anm.: Hauptstadt von Sistan und Belutschistan] bekannt (IRJ 10.7.2023; vgl. BAMF 10.7.2023). Mitte Jänner 2024 führten die Revolutionsgarden einen Raketenangriff auf eine angebliche Stellung der JAA auf pakistanischem Staatsgebiet durch (IRINTL 17.1.2024; vgl. BBC 18.1.2024), woraufhin die pakistanischen Streitkräfte mehrere Ziele in der Ortschaft Saravan in der iranischen Provinz Sistan und Belutschistan angriffen, bei denen es sich nach pakistanischen Angaben um "terroristische Verstecke" handelte (IRINTL 18.1.2024; vgl. BBC 18.1.2024). Zeitgleich tötete die JAA nach eigenen Angaben einen Kommandanten der Revolutionsgarden, als sie sein Fahrzeug nahe der pakistanischen Grenze unter Beschuss nahmen (IRINTL 17.1.2024; vgl. AnA 18.1.2024). Die JAA bestätigte, dass bei dem Raketenbeschuss der Revolutionsgarden auf pakistanisches Territorium die Häuser zweier Mitglieder getroffen worden waren, wobei unter anderem zwei Kinder getötet wurden (IRINTL 17.1.2024). Bei den pakistanischen Angriffen auf Ziele in Saravan starben nach staatlichen iranischen Angaben drei Frauen und vier Kinder, die keine iranischen Staatsbürger waren (IRINTL 18.1.2024; vgl. BBC 18.1.2024). Die JAA operiert vor allem von Pakistan aus (IRINTL 17.1.2024; vgl. AnA 18.1.2024) und Iran war auch schon früher in bewaffnete Auseinandersetzungen mit der Gruppe entlang der Grenze verwickelt (IRINTL 17.1.2024).

Die Grenze [zu Afghanistan und Pakistan] ist durchlässig, größtenteils gebirgig und eine wichtige Schmuggelroute für Drogen und andere Waren, die das organisierte Verbrechen anzieht (DFAT 24.7.2023; vgl. BAMF 10.7.2023). Die Beziehungen zwischen der iranischen Regierung und der Taliban-Regierung in Afghanistan sind teils angespannt (DFAT 24.7.2023). Seit die Taliban im August 2021 die Kontrolle übernommen haben, liefern sich iranische Soldaten und Taliban-Sicherheitskräfte entlang der gemeinsamen Grenze immer wieder bewaffnete Auseinandersetzungen (DFAT 24.7.2023; vgl. IRINTL 3.9.2022). Iranische Nachrichtenagenturen mit Verbindungen zur Regierung behaupteten, dass die Kämpfe jeweils entweder mit den Taliban oder mit Drogenschmugglern stattfanden (DFAT 24.7.2023).

In der Provinz Kurdistan und der ebenfalls von Kurden bewohnten Provinz West-Aserbaidschan gibt es wiederholt Anschläge gegen Sicherheitskräfte, Personal der Justiz und Angehörige des Klerus. In diesem Zusammenhang haben Sicherheitskräfte ihr Vorgehen gegen kurdische Separatistengruppen sowie Kontrollen mit Checkpoints noch einmal verstärkt (AA 18.12.2023). Die Sicherheitskräfte sind in den Provinzen Kurdistan, Kermanshah und West-Aserbaidschan in großer Zahl präsent (MBZ 9.2023). In dieser von Kurden bewohnten Region an der Grenze zum Irak und der Türkei (Izady/Gulf 2000 o.D.) kam es zu einigen bewaffneten Zusammenstößen zwischen iranischen Sicherheitskräften und Mitgliedern kurdischer Parteien, die Stützpunkte im Nordirak haben, manchmal auch mit Toten und Verletzten auf beiden Seiten. Die iranischen Behörden behaupteten, dass die Proteste ab Mitte September 2022 auch aus dem Nordirak unterstützt wurden. Scheinbar als Reaktion darauf führten die Revolutionsgarden mehrfach Raketenangriffe und Drohnenangriffe gegen Stützpunkte und Mitglieder kurdischer Parteien im Nordirak durch (MBZ 9.2023). Im Herbst 2022 feuerten iranische Sicherheitskräfte zur Bekämpfung iranisch-kurdischer Gruppen mehr als 70 Raketen über die Grenze auf Gebiete des benachbarten Irak - der größte grenzüberschreitende Angriff des Landes seit den 1990er-Jahren (DW 13.11.2022; vgl.K24 28.11.2022, Rudaw 28.9.2022). Im Juni 2023 kam es an verschiedenen Orten in der Provinz Kurdistan zu Gefechten zwischen Mitgliedern der PJAK und Angehörigen der Revolutionsgarden, wobei auch Todesopfer gemeldet wurden (BAMF 19.6.2023; vgl. RFE/RL 14.6.2023). Eine kurdische NGO warf den Revolutionsgarden vor, bei einem der Vorfälle unterschiedslos Häuser von Zivilisten beschossen zu haben (RFE/RL 14.6.2023).

Im iranisch-irakischen Grenzgebiet sind zahlreiche Minenfelder vorhanden (in der Regel Sperrzonen) (EDA 4.1.2024).

Gelegentlich wirken sich die Spannungen aus dem Grenzkonflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan auf die Sicherheitslage im iranischen Grenzgebiet aus (EDA 4.1.2024).

Mitunter kommt es im Grenzgebiet zur Türkei zu Schusswechseln zwischen militanten Gruppierungen und den iranischen Sicherheitskräften. Auch für unbeteiligte Personen besteht das Risiko, unversehens in einen Schusswechsel zu geraten (EDA 4.1.2024).

Iran und regionale Konflikte

Der neue de facto-Anführer von al-Qaida - sein Amtsantritt wurde bislang nicht offiziell bekannt gegeben - Sayf al-Adl befindet sich nach Einschätzungen von Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrats in Iran (UNSC 13.2.2023).

Den komplexen Verhältnissen in der Region muss stets Rechnung getragen werden. Bestimmte Ereignisse und Konflikte in Nachbarländern können sich auf die Sicherheitslage in Iran auswirken (EDA 4.1.2024).

Iran hat eine lange Geschichte der Unterstützung von terroristischen Organisationen wie der Hisbollah, der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Jihad (JPOST 27.2.2023). Das Regime unterstützt auch verschiedene "Widerstands"-Milizen im Irak (TWI 20.12.2023), in Syrien, im Jemen und auch Bahrain (CFR 11.12.2023). Die Hilfen umfassen umfangreiche finanzielle und logistische Unterstützung (TWI 20.12.2023). Im Zentrum des iranischen Netzwerks steht die libanesische Hisbollah, die Iran dabei unterstützt hat, die schiitisch-arabisch-persische Kluft zu überbrücken. Die Hisbollah half dem Iran auch bei der Unterstützung des Regimes von Bashar al-Assad im Bürgerkrieg in Syrien, wo sie andere Milizen zur Verteidigung des Regimes heranzog (CFR 11.12.2023). Die geografische Ausdehnung von Irans Allianznetz ist derzeit so groß wie nie zuvor seit der Islamischen Revolution 1979. Die mit Iran verbündeten Milizen agieren laut dem Experten Walter Posch selbstständig. Doch bei allen Aktionen gibt es Spuren, die zurück nach Iran führen (NZZ 2.1.2024).

Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7.10.2023 haben die Spannungen in der Region zugenommen (IRINTL 11.1.2024; vgl. BBC 16.1.2024a). Seitdem [Stand Mitte Jänner 2024] kommt es in einem Gebiet an der libanesisch-israelischen Grenze zu vermehrtem Raketenbeschuss zwischen der Hisbollah und Israel (DlF 4.1.2024; vgl. ORF 14.1.2024). In Syrien und dem Irak haben iranische Stellvertreter seit dem 7.10.2023 mehr als 100 Mal US-Streitkräfte beschossen (Soufan 8.1.2024; vgl. IRINTL 11.1.2024). Mitte Jänner 2024 haben die Revolutionsgarden auch direkt Ziele in der Kurdistan Region Irak (KRI) und in Nordwestsyrien angegriffen. Nach iranischen Angaben handelte es sich dabei um Vergeltungsschläge gegen den IS und israelische Spione anlässlich des Anschlags in Kerman am 3.1.2024 sowie gezielter Tötungen von ranghohen Verbündeten Irans in Syrien und dem Libanon, für die Israel verantwortlich gemacht wird. Iran hat auch schon zu früheren Zeitpunkten Stützpunkte separatistischer iranischer Oppositionsgruppen [s. Unterkap. " Kurdische separatistische Gruppierungen"] und "israelische Agenten" in der KRI angegriffen (IRINTL 16.1.2024; vgl. BBC 16.1.2024a). Die von Iran unterstützte jemenitische Houthi-Bewegung hat nach dem 7.10.2022 Geschosse auf Israel abgefeuert, von denen fast alle abgefangen wurden (Soufan 8.11.2023). Mitte November sind die Houthis dazu übergegangen, Handelsschiffe im Roten Meer und vor der jemenitischen Küste ins Visier zu nehmen und bedrohen damit eine bedeutsame Welthandelsroute (Soufan 9.1.2024; vgl. BBC 16.1.2024b). Die USA haben daraufhin gemeinsam mit dem Vereinigten Königreich eine Sicherheitsoperation im Roten Meer aufgestellt (Soufan 9.1.2024; vgl. BBC 16.1.2024b) und Stellungen der Houthis im Jemen bombardiert (BBC 16.1.2024b). Mitte Jänner 2024 haben die Houthis auch ein US-Kriegsschiff beschossen. Die Houthis sind der Militärmacht der USA und des Vereinigten Königreichs nicht gewachsen, aber sie scheinen über genügend Entschlossenheit und Waffen zu verfügen - die von Iran bereitgestellt werden -, um das Rote Meer für die Schifffahrt unsicher zu machen und den Konflikt im Nahen Osten zu verschärfen (IRINTL 15.1.2024).

Seit 2010 hat Israel angeblich mindestens zwei Dutzend Operationen - darunter Attentate, Drohnenangriffe und Cyberangriffe - gegen Iran durchgeführt (USIP 30.1.2023). Die meisten Ziele standen im Zusammenhang mit dem umstrittenen Atomprogramm Teherans, das Israel als existenzielle Bedrohung betrachtet (USIP 30.1.2023; vgl. TIS 29.12.2023). Im Jahr 2022 wurden zwei Einrichtungen, die Teil des zunehmend fortschrittlichen iranischen Drohnenprogramms waren, von Drohnen getroffen (USIP 30.1.2023). Israel hat Berichten zufolge auch Militärkommandeure ins Visier genommen, die für Operationen im Ausland verantwortlich sind (USIP 30.1.2023; vgl. TIS 29.12.2023). 2023 wurde im Jänner (RFE/RL 31.1.2023) und April von israelischen Drohnenangriffen auf militärische Ziele in Iran berichtet (IRINTL 5.4.2023), im Dezember vermeldete der iranische Ölminister einen Cyberangriff, den er Israel und den USA zuschrieb (FR24 18.12.2023; vgl. NZZ 2.1.2024).

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung 2024-01-26 11:31

Das in der iranischen Verfassung enthaltene Gebot der Gewaltenteilung ist in der Praxis stark eingeschränkt (AA 30.11.2022; vgl. BS 23.2.2022). Art. 57 der Verfassung verleiht dem Revolutionsführer weitreichende Aufsichtsbefugnisse über das Justizwesen (BS 23.2.2022). Er ernennt für jeweils fünf Jahre den Chef der Judikative (AA 30.11.2022; vgl. FH 10.3.2023), der wiederum für die Ernennung und Entlassung der Gerichtsleiter (Soltani/Shooshinasab 8.2022) und von Richtern zuständig ist (BS 23.2.2022). Die Unabhängigkeit der Gerichte ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 30.11.2022). Während die Gerichte innerhalb des herrschenden Establishments ein gewisses Maß an Autonomie genießen, wird das Justizsystem regelmäßig als Instrument eingesetzt, um Regimekritiker und Oppositionelle zum Schweigen zu bringen (FH 10.3.2023). Der Sicherheitsapparat (AA 30.11.2022) - insbesondere die Revolutionsgarden (BS 23.2.2022) - nehmen v. a. in politischen Fällen jedoch massiven Einfluss auf Urteilsfindung und Strafzumessung (AA 30.11.2022; vgl. BS 23.2.2022). Das Justizwesen ist geprägt von Korruption (AA 30.11.2022; vgl. USIP 1.8.2015). Es wird von Fällen berichtet, in denen Richter bestochen wurden, um Gerichtsprozesse zu beeinflussen (IrWire 28.4.2021).

Iranische Gerichte, insbesondere Revolutionsgerichte, sind regelmäßig weit davon entfernt, faire Gerichtsverfahren zu gewährleisten (HRW 12.1.2023). So verweigerten die Behörden z. B. Untersuchungshäftlingen den Zugang zu einem Rechtsbeistand, ließen Inhaftierte "verschwinden" oder hielten sie ohne Kontakt zur Außenwelt fest (AI 27.3.2023), ließen in Prozessen "Geständnisse" als Beweise zu, die unter Folter erpresst worden waren (AI 27.3.2023; vgl. HRW 12.1.2023), und führten summarische und geheime Scheinprozesse durch, die keinerlei Ähnlichkeit mit fairen Verfahren aufwiesen, in denen jedoch Haftstrafen, Körperstrafen und Todesurteile verhängt wurden (AI 27.3.2023). Im Zusammenhang mit den weitverbreiteten Protesten haben die Justizbehörden im September und November 2022 über 1.000 Anklagen erhoben (HRW 12.1.2023), wobei in den ersten Wochen der Proteste über 15.000 Personen inhaftiert worden sind. Im Laufe des Jahres 2022 wurden Tausende Menschen willkürlich inhaftiert und/oder zu Unrecht strafrechtlich verfolgt, nur weil sie friedlich ihre Menschenrechte wahrgenommen haben. Unzählige weitere bleiben zu Unrecht in Haft (AI 27.3.2023).

Das Recht ist in allen Rechtsbereichen umfassend kodifiziert, so etwa das Zivilrecht, das Familien- und Erbrecht oder das Strafrecht. Die iranischen Gerichte müssen auf der Grundlage dieser Gesetze Recht sprechen. Die Bindung der Rechtsprechung an das Gesetz ist somit formal gewahrt (LTO 26.10.2022). Der Grundsatz der Rechtmäßigkeit ist zwar durch die Verfassung geschützt, aber mit einem Vorbehalt versehen. In Artikel 167 der Verfassung, einem der umstrittensten Artikel, heißt es, dass die Richter verpflichtet sind, sich zu bemühen, jeden Fall auf der Grundlage des kodifizierten Rechts zu entscheiden. Im Falle des Fehlens, der Unzulänglichkeit, der Kürze oder der Widersprüchlichkeit der Gesetze müssen die Richter den Fall jedoch auf der Grundlage der maßgeblichen islamischen Quellen und der authentischen Fatwas (fatāwā) entscheiden, um zu verhindern, dass ein Fall unentschieden bleibt (Islamic Law Blog 22.11.2015).

Gerichtswesen

Die iranische Justiz verwaltet ein vielschichtiges Gerichtssystem. Die Strafverfolgung geht von niedrigeren Gerichten aus und kann bei höheren Gerichten angefochten werden. Der Oberste Gerichtshof überprüft Fälle von Kapitalverbrechen und entscheidet über Todesurteile. Er hat auch die Aufgabe, für die ordnungsgemäße Anwendung der Gesetze und die Einheitlichkeit der Gerichtsverfahren zu sorgen (USIP 1.8.2015). Bestimmte Urteile können vor dem Obersten Gerichtshof angefochten werden (Soltani/Shooshinasab 8.2022; vgl. Landinfo/et al. 12.2021). Anders als die Berufungsgerichte ist der Oberste Gerichtshof nicht befugt, ein neues Urteil zu fällen. Im Falle einer erfolgreichen Anfechtung verweist er den betroffenen Fall wieder an ein zuständiges Gericht zurück (Landinfo/et al. 12.2021).

Die allgemeinen Gerichte des Iran sind offiziell damit beauftragt, alle Arten von Fällen und Streitigkeiten zu schlichten. Diese verteilen sich auf die kleineren Landkreise, Bezirke und Distrikte des Landes. In den Strafgerichten werden Fälle gemäß der iranischen Strafprozessordnung behandelt, in den Zivilgerichten [Anm.: auf Englisch "legal courts"] gilt die Zivilprozessordnung (IrWire 9.9.2020).

Seit 2001 gibt es darüber hinaus sogenannte Streitschlichtungsräte (Shurāhā-I hal-e ikhtilāf) als alternative Konfliktlösungskörperschaften. Die Richter dieser Räte können in Abstimmung mit den Ratsmitgliedern in bestimmten Fragen in den Bereichen Finanzen, Miete, Erbschaft, Mitgift und Unterhalt sowie bestimmten Ta'zir-Vergehen Fälle anhören und Urteile sprechen. Sie können aber z. B. keine Scheidungsfragen behandeln und sind auch nicht dazu befugt, Körper- oder Haftstrafen auszusprechen. Die Zuständigkeit der Streitbeilegungsräte in den Dörfern beschränkt sich auf Friedens- und Kompromissentscheidungen (Soltani/Shooshinasab 8.2022).

Die Zivilgerichte verhandeln über lokale materielle und immaterielle zivilrechtliche Streitigkeiten, die nicht in die Zuständigkeit der Streitschlichtungsräte fallen. Die Familiengerichte entscheiden hierbei unter anderem bei Ehe- und Scheidungsfragen, Obsorge wie auch geschlechtsangleichenden Operationen. Die Urteile werden von einem männlichen Richter gefällt, nachdem er eine beratende Richterin schriftlich konsultiert hat (Soltani/Shooshinasab 8.2022).

Die Strafgerichte unterteilen sich in verschiedene Untereinheiten (IrWire 9.9.2020). Neben den Strafgerichten 1 und 2 gibt es die Revolutionsgerichte, Jugendgerichte und Militärgerichte (Landinfo/et al. 12.2021; vgl. Soltani/Shooshinasab 8.2022). Darüber hinaus gibt es mehrere Sondergerichte (IrWire 9.9.2020), darunter beispielsweise ein Sondergericht für die Geistlichkeit (Dadgah-e Vīzheh-ye Rouhaniyat), das als einziges Gericht nicht dem Justizchef, sondern direkt dem Revolutionsführer untersteht (Landinfo/et al. 12.2021). Es wird u. a. dazu genutzt, um prominente Kleriker, welche Kritik am Regime äußern, strafrechtlich zu verfolgen (IrWire 9.9.2020; vgl. USIP 1.8.2015). Das Gesetz ermöglicht die Einsetzung eines zuständigen Gerichts zur Behandlung von Verstößen gegen das Pressegesetz von 1986 - das sogenannte Pressegericht - das unter Einbeziehung von Schöffen tagen soll. Derzeit werden Journalisten allerdings eher vor Revolutionsgerichten wegen Vergehen gegen die nationale Sicherheit, "Propaganda gegen den Staat" und/oder das "Schüren von Angst in der öffentlichen Meinung" angeklagt - nach Ansicht eines Experten, um Prozesse unter Anwesenheit von Schöffen zu vermeiden. Das Pressegericht ist derzeit nicht im Einsatz (Landinfo/et al. 12.2021).

Die Revolutionsgerichte haben verschiedene Zweige in der Hauptstadt, in den Provinzen und in manchen Justizdistrikten (Landinfo/et al. 12.2021). Die Verfassung sieht weder ihre Einrichtung noch ein Mandat für die Revolutionsgerichte vor. Sie wurden gemäß dem Dekret des ehemaligen obersten Führers, Ayatollah Khomeini, unmittelbar nach der Revolution von 1979 geschaffen, wobei ein Scharia-Richter zum Leiter der Gerichte ernannt worden ist. Die Revolutionsgerichte waren ursprünglich als vorübergehende Maßnahme gedacht, um hochrangige Beamte der abgesetzten Monarchie vor Gericht zu stellen, aber sie wurden später institutionalisiert und arbeiten weiterhin parallel zum restlichen Strafjustizsystem (USDOS 20.3.2023). Sie sollten eigentlich von der Justiz beaufsichtigt werden (IrWire 9.9.2020). In der Praxis werden sie allerdings von und für Sicherheitsbehörden betrieben, die außerhalb des Gesetzes stehen (IrWire 9.9.2020; vgl. MRAI 19.6.2023). Manche Quellen gehen davon aus, dass die Revolutionsgerichte in Zusammenarbeit mit den Revolutionsgarden und dem Geheimdienstministerium (MOIS) operieren (Landinfo/et al. 12.2021).

Die Revolutionsgerichte unterscheiden sich bezüglich der Angelegenheiten, welche sie behandeln, von anderen Gerichten. Sie befassen sich in erster Linie mit Straftaten im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit, was im Grunde alle politischen und sozialen Aktivitäten von Dissidenten und Menschenrechtsaktivisten einschließt (MRAI 19.6.2023). Weiters sind sie auch für bestimmte Finanzverbrechen zuständig (Soltani/Shooshinasab 8.2022). Die Zuständigkeit der Revolutionsgerichte beschränkt sich auf die folgenden Delikte:

Alle Verbrechen gegen die nationale und internationale Sicherheit, "mohārebeh" (Waffenaufnahme gegen Gott und Staat) oder "baghei" (bewaffneter Aufstand gegen die Regierung) (Soltani/Shooshinasab 8.2022; vgl. IrWire 9.9.2020) und "efsād fe-l-arz" ["Korruption auf Erden"] - jeweils definiert und kriminalisiert in den Artikeln 279 bis 285 und 286 bis 288 des islamischen Strafgesetzbuchs von 2013 (Soltani/Shooshinasab 8.2022);

Rebellion, geheime Absprachen und Versammlungen gegen die Islamische Republik Iran oder bewaffnete Aktionen, Brandanschläge, Zerstörung und Verschwendung von Eigentum, um sich gegen das Regime zu stellen (Soltani/Shooshinasab 8.2022; vgl. JIS 8.9.2018);

Spionage gegen das Regime (JIS 8.9.2018);

Beleidigung des Revolutionsgründers Ayatollah Khomeini und aller Revolutionsführer, die ihm nachfolgen (JIS 8.9.2018; vgl. Soltani/Shooshinasab 8.2022);

Alle Straftaten im Zusammenhang mit Drogen, psychotropen Stoffen und deren Vorläufersubstanzen sowie dem Schmuggel von Waffen, Munition und anderen einschlägigen Gegenständen (Soltani/Shooshinasab 8.2022; vgl. JIS 8.9.2018);

Andere Fälle, für die laut Gesetz das Revolutionsgericht zuständig ist (Artikel 303 der Strafprozessordnung 2014) (Soltani/Shooshinasab 8.2022): z.B. in Art. 49 der Verfassung erwähnte Delikte wie Bestechung, Korruption, Unterschlagung öffentlicher Mittel und Verschwendung von Volksvermögen (JIS 8.9.2018; vgl. Soltani/Shooshinasab 8.2022).

Strafrecht und Scharia

Die Verfassung Irans ist ein hybrides System aus republikanisch-demokratischen und theokratisch-autoritären Elementen unter dem Vorrang des islamischen Rechts der Ja'afari-Rechtsschule (BAMF 5.2021). Die iranische Verfassung besagt, dass alle Gesetze sowie die Verfassung auf islamischen Grundsätzen beruhen müssen (ÖB Teheran 11.2021). Von den drei Staatsgewalten haben die Geistlichen in der Judikative die stärkste Präsenz, wobei sie eine Ausbildung in islamischer Rechtswissenschaft oder Abschlüsse von religiösen Rechtsschulen haben müssen, um Richter zu werden. Der Chef der Justiz, der Generalstaatsanwalt des Landes und alle Richter des Obersten Gerichtshofs müssen hochrangige Geistliche oder Mujtahids sein (USIP 1.8.2015), also Rechtsgelehrte, die nach schiitischer Auslegung dazu qualifiziert sind, Ijtihad zu betreiben (EB o.D.a), d. h. islamische Texte in ungeklärten Rechtsfragen unabhängig auszulegen (EB o.D.b). Die iranische Justiz ist insofern ein einzigartiges System, als sie islamische Prinzipien und eine vom französischen System inspirierte Gesamtstruktur kombiniert. Nach der islamischen Revolution wurde das Justizsystem stark verändert, um die Scharia einzubeziehen. Das neue System wurde jedoch auf einer bereits bestehenden säkularen Struktur aufgebaut, wodurch ein sehr komplexes Justizwesen entstanden ist (Landinfo/et al. 12.2021).

Mit der islamischen Revolution von 1979 kam es zur Wiedereinführung des islamischen Strafrechts, das die bisherige, vom "code pénal napoléon" von 1810 beeinflusste Gesetzgebung, ablöste und sich aus drei eigenständigen Teilbereichen zusammensetzt (BAMF 5.2021). Die Schwere und Art einer Straftat sowie die vorgeschriebene Strafe bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung des Falles zuständig ist. Art. 14 des Islamischen Strafgesetzbuches (IStGB) unterteilt Verbrechen in vier Strafkategorien gemäß der Scharia: hadd, qisas, diyah und ta’zīr (Landinfo/et al. 12.2021).

Hadd-Delikte umfassen Unzucht/Ehebruch (zina), Sodomie (levat), lesbische Beziehung (mosaheqeh), Beschaffung von Prostitution (qavadī), falsche Anschuldigung der Unzucht/Sodomie (qazf), Verleumdung des Propheten (sabb-e nabī), Alkoholkonsum (shorb-e khamr), Raub/Diebstahl, Waffennahme gegen Gott (mohārebeh ba khoda), Korruption auf Erden (mofsad/efsad fe-l-arz) und Rebellion (baghei). Zu den hadd-Strafen gehören die Todesstrafe, Steinigung, Kreuzigung, Auspeitschung, Amputation (von Hand und Fuß), lebenslange Haft und Verbannung. Art und Umfang dieser Strafen werden vom islamischen Recht bestimmt und gelten als von Gott festgelegt, sie können daher von einem Richter nicht abgeändert oder begnadigt werden. Aufgrund der Schwere der Strafen und der Tatsache, dass sie unveränderlich sind, gelten strenge Beweis- und andere Anforderungen (Landinfo/et al. 12.2021), wie zum Beispiel eine bestimmte Anzahl an Zeugen. Darüber hinaus gibt es auch die Beweisregelung des "richterlichen Wissens" (‘elm-e qāzī) (Landinfo/et al. 12.2021; vgl. MRAI 19.6.2023), die in vielen hadd-Fällen angewandt wird. Sie bedeutet, dass der Richter auf Grundlage von Indizien entscheiden muss, ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht. Eine Strafrechtsnovelle im Jahr 2013 hat die Anwendung dieser Regelung bei Ehebruchsfällen abgeschwächt. Bei Anklagen aufgrund der hadd-Tatbestände mohārebeh und mofsad/efsād fe-l-arz ist das "richterliche Wissen" immer noch einer der Hauptfaktoren zur Ermittlung der Schuld oder Unschuld eines Angeklagten (MRAI 19.6.2023).

Iranische Aktivisten und Dissidenten, darunter Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten, werden normalerweise mit vage formulierten und weit gefassten Anklagen konfrontiert, die aus dem IStGB stammen. Die hadd-Verbrechen "Waffennahme gegen Gott" (mohārebeh) und "Korruption auf Erden" (efsād fe-l-arz) sind dabei die berüchtigtsten (Landinfo/et al. 12.2021). Manche Interpretationen von mohārebeh schließen selbst Messer als Waffen ein. Es kann daher passieren, dass Personen des mohārebeh beschuldigt werden, weil sie ein Messer bei sich trugen. Dieser Straftatbestand wird insbesondere gegen Minderheitengruppen wie kurdische Gemeindemitglieder verwendet, wenn ihnen Verbindungen zu militanten Gruppierungen vorgeworfen werden. Mofsad/efsad fe-l-arz ist dagegen eine völlig andere Kategorie. Die Definition dieses Begriffs obliegt dem jeweiligen Richter. Dies kann ein sexuelles Vergehen ebenso sein, wie Wirtschaftskriminalität, wenn die Handlung als so schwerwiegend interpretiert wird, dass sie eine ernsthafte Bedrohung für die Gesellschaft darstellt (MRAI 19.6.2023). Hadd-Strafen werden im zweiten Buch des IStGB (Art. 217–288) behandelt (BAMF 5.2021).

Qisas-Vebrechen sind sogenannte Talions- oder Vergeltungsstrafen (Landinfo/et al. 12.2021; vgl. BAMF 5.2021). Sie basieren auf einem Prinzip des islamischen Rechts, den Opfern eine analoge Vergeltung für Gewaltverbrechen wie Totschlag oder Körperverletzung zu erlauben - unter der Voraussetzung, dass die Taten vorsätzlich waren. Angehörige eines Tötungsopfers (nächste Familienangehörige) und Opfer von Körperverletzung können alternativ ihre Forderung nach Vergeltung gegen Geldentschädigung (diyah), also Blutgeld, zurücknehmen und den Täter freilassen. Sie können dem Täter auch ganz vergeben und auf diyah verzichten. Das iranische Rechtssystem betrachtet diese Verbrechen als Angelegenheit zwischen Privatpersonen. Die Rolle des Staates besteht darin, die Ermittlungen und Gerichtsverfahren in diesen Fällen zu erleichtern und sicherzustellen, dass nachfolgende Bestrafungen in organisierter Form erfolgen. Doch selbst wenn die Bluträcher auf ihren Anspruch auf Vergeltung verzichten, kann der Staat eine zusätzliche Strafe verhängen, wenn er der Ansicht ist, dass das Verbrechen die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Gesellschaft stört. In Fällen von Körperverletzung ist Vergeltung selten. Auch bei Mord ist es für die Angehörigen oftmals attraktiver, diyah anzunehmen. Bei nicht vorsätzlicher Körperverletzung oder Totschlag ist diyah dagegen grundsätzlich vorgesehen (und nicht nur als Alternative zu Vergeltung, so die Opfer oder ihre Angehörigen zustimmen). Diyah wird weiters auch in manchen Fällen der vorsätzlichen Körperverletzung angewendet, in denen Vergeltung verboten oder undurchführbar ist (Landinfo/et al. 12.2021). Qisas-Strafen werden im dritten Buch (Art. 289–447) und im vierten Buch das Blutgeld bzw. diyah (Art. 448–728) behandelt (BAMF 5.2021).

Für alle sonstigen aus Sicht der Rechtsordnung strafwürdigen Taten sind ta’zīr-Strafen (BAMF 5.2021; vgl Landinfo/et al. 12.2021) - Ermessensstrafen - und sogenannte "Abschreckungsstrafen" (mojāzāt-e bāzdārandeh) vorgesehen. Letztere dienen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Während hadd, qisas und diyah durch islamisches Recht definiert werden, leiten sich ta'zir und Abschreckungsstrafen aus dem staatlichen Recht ab. In diese Kategorien fallen zum Beispiel Straftaten gegen die interne und externe Sicherheit des Staates (Art. 498-512 und 610-611 IStGB); Fälschung (Art. 523-542 IStGB); Vergehen gegen öffentliche Moral und Anstand (Art. 637-641 IStGB) - beispielsweise ungehörige Beziehungen zwischen Männern und Frauen, wie z.B. Berührungen und Küsse (Art. 637), oder unislamische Kleidung (Art. 638); Diebstahl (Art. 651-667 IStGB); sowie öffentliche Konsumation von Alkohol, Glücksspiel und Vagabundieren (Art. 701-713 IStGB). Ta’zīr-Strafen werden nach Art und Umfang nach Ermessen des Richters (auf der Grundlage des kodifizierten Rechts) verhängt (Landinfo/et al. 12.2021).

Wenn sich Gesetze, die seit der Gründung der Islamischen Republik erlassen wurden, mit einer spezifischen Rechtssituation nicht befassen, rät die Regierung den Richtern, ihrer Kenntnis und Auslegung der Scharia (islamisches Gesetz) Vorrang einzuräumen. Bei dieser Methode können Richter eine Person aufgrund ihres eigenen "göttlichen Wissens" [divine knowledge] für schuldig erklären (USDOS 20.3.2023).

Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis, Rechtsschutz

Bei Delikten, die im starken Widerspruch zu islamischen Grundsätzen stehen, können jederzeit Körperstrafen ausgesprochen und auch exekutiert werden (ÖB Teheran 11.2021). Im iranischen Strafrecht sind also körperliche Strafen wie die Amputation von Fingern, Händen und Füßen vorgesehen. Berichte über erfolgte Amputationen dringen selten an die Öffentlichkeit. Wie hoch die Zahl der durchgeführten Amputationen ist, kann nicht geschätzt werden (AA 30.11.2022). Auf die Anwendung der Vergeltungsstrafen (qisas) der Amputation (z. B. von Fingern bei Diebstahl) und der Blendung kann der Geschädigte gegen Erhalt eines Abstandsgeldes (diyah) verzichten. Derzeit ist bei Ehebruch noch die Strafe der Steinigung vorgesehen. Auch auf diese kann vom Geschädigten gegen diyah verzichtet werden. Im Jahr 2002 wurde ein Moratorium für die Verhängung der Steinigungsstrafe erlassen, seit 2009 sind keine Fälle von Steinigungen belegbar (ÖB Teheran 11.2021). Stattdessen hat sich die islamische Führung auf die Hinrichtung als Alternative verlegt. Im Jahr 2023 wurden beispielsweise zwei Todesurteile aufgrund des Straftatbestands Ehebruch verhängt (RFE/RL 3.11.2023).

Verlässliche Aussagen zur Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis sind nur eingeschränkt möglich, da diese sich durch Willkür auszeichnet. Mitunter bewusst unbestimmte Formulierungen von Straftatbeständen und Rechtsfolgen sowie eine unzureichende Kontrolle innerhalb der Justiz ermöglichen ein willkürliches Handeln von Richtern. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass Gerichte in politischen Verfahren nicht unabhängig agieren. Auch willkürliche Verhaftungen kommen häufig vor und führen dazu, dass Häftlinge ohne ein anhängiges Strafverfahren festgehalten werden. Wohl häufigster Anknüpfungspunkt für Diskriminierung im Bereich der Strafverfolgung ist die politische Überzeugung. Beschuldigten bzw. Angeklagten werden grundlegende Rechte vorenthalten, die auch nach iranischem Recht eigentlich garantiert sind. Untersuchungshäftlinge werden bei Verdacht einer Straftat unbefristet ohne Anklage festgehalten. Oft erhalten Gefangene während der laufenden Ermittlungen keinen rechtlichen Beistand, weil ihnen dieses Recht bewusst verwehrt wird oder ihnen die finanziellen Mittel fehlen. Insbesondere bei politisch motivierten Verfahren gegen Oppositionelle erfolgt die Anklage oft aufgrund konstruierter oder vorgeschobener Straftaten. Die Strafen sind in Bezug auf die vorgeworfene Tat oft unverhältnismäßig hoch, besonders bei Verurteilungen wegen Äußerungen in sozialen Medien oder Engagement gegen die Hijab-Pflicht (Kopftuchzwang) (AA 30.11.2022).

Hafterlass ist nach Ableistung der Hälfte der Strafe möglich. Amnestien werden unregelmäßig vom Revolutionsführer auf Vorschlag des Chefs der Justiz im Zusammenhang mit hohen religiösen Feiertagen und dem iranischen Neujahrsfest am 21. März ausgesprochen (AA 30.11.2022).

Rechtsschutz ist nur eingeschränkt gegeben (AA 30.11.2022). Es gibt Fälle von Rechtsanwälten, welche Dissidenten vertraten und daraufhin inhaftiert und mit einem Berufsverbot belegt worden sind (FH 10.3.2023). Anwälte, die politische Fälle übernehmen, werden systematisch eingeschüchtert oder an der Übernahme der Mandate gehindert, zum Teil auch selbst inhaftiert und verurteilt (AA 30.11.2022). Eine Rechtsanwältin, die in der Vergangenheit Angeklagte in politischen Fällen vor Revolutionsgerichten vertreten hat, berichtete unter anderem von permanenter Überwachung, sobald derartige Fälle übernommen werden. Auch drohen manchen Rechtsanwälten derzeit sehr lange Haftstrafen (MRAI 19.6.2023). Der Anwalt Amirsalar Davoudi, der u. a. politische Gefangene vertrat und öffentlich Missstände im Justizsystem anprangerte, wurde 2019 beispielsweise zu 30 Jahren Haft verurteilt (IHRNGO 1.12.2022), was auf andere Anwälte äußerst abschreckend wirkt (MRAI 19.6.2023).

Der Zugang von Verteidigern zu staatlichem Beweismaterial wird häufig eingeschränkt oder verwehrt. Die Unschuldsvermutung wird - insbesondere bei politisch aufgeladenen Verfahren - nicht beachtet. Zeugen werden durch Drohungen zu belastenden Aussagen gezwungen. Insbesondere Isolationshaft wird genutzt, um politische Gefangene und Journalisten psychisch unter Druck zu setzen. Gegen Kautionszahlungen können Familienmitglieder die Isolationshaft in einzelnen Fällen verhindern oder verkürzen. Fälle von Sippenhaft existieren, meistens in politischen Fällen. Üblicher ist jedoch, dass Familienmitglieder unter Druck gesetzt werden, um im Sinne einer Unterlassung politischer Aktivitäten auf die Angeklagten einzuwirken (AA 30.11.2022).

Während es an allen iranischen Gerichten bestimmte Probleme gibt, sind die Revolutionsgerichte besonders dafür berüchtigt, selbst die grundlegendsten Rechte nicht einzuhalten (MRAI 19.6.2023). Strafverfahren vor den Revolutionsgerichten finden oft hinter verschlossenen Türen unter dem Vorsitz von Geistlichen statt, ohne dass Standardgarantien eines Strafverfahrens, wie etwa die Gewährung von Zeit und Zugang zu Anwälten zur Vorbereitung einer Verteidigung, gewährleistet sind (Conversation 13.1.2023). Laut Menschenrechtsgruppen und internationalen Beobachtern werden vor Revolutionsgerichten, die im Allgemeinen die Fälle politischer Gefangener anhören, routinemäßig grob unfaire Gerichtsprozesse ohne ordnungsgemäße Verfahren abgehalten; es werden vorab festgelegte Urteile verkündet und Hinrichtungen für politische Zwecke befürwortet. Diese unlauteren Praktiken treten Berichten zufolge in allen Phasen der Strafverfahren vor den Revolutionsgerichten auf (USDOS 20.3.2023). Die Revolutionsgerichte haben sich bei der Verurteilung von Personen im Zusammenhang mit den Protesten seit September 2022 auf unter Folter oder durch andere Zwangsmittel erzwungene Geständnisse als Beweismittel gestützt, unter anderem auch bei Todesurteilen (UNHRC 7.2.2023).

Anwälte benötigen vor Revolutionsgerichten in der Regel schon alleine dafür eine Erlaubnis der Richter, um den Gerichtssaal betreten zu können. Anwälten von Personen, die in der Vergangenheit wegen mohārebeh angeklagt waren, wurde manchmal die Teilnahme am Prozess verweigert. In anderen sicherheitsrelevanten Fällen durften sie teilnehmen, aber ihr Recht auf eine angemessene Verteidigung wurde eingeschränkt (Landinfo/et al. 12.2021). Eine Novelle der Strafprozessordnung im Jahr 2015 höhlte die ohnehin begrenzten Beschuldigtenrechte bei Prozessen wegen Vergehen gegen die nationale Sicherheit weiter aus. Den Beschuldigten und ihren Anwälten wurde mit der Novelle beispielsweise das Recht auf eine Kopie der Gerichtsakten verweigert (MRAI 19.6.2023) und Angeklagte dürfen zumindest im Anfangsstadium des Verfahrens (AA 30.11.2022) - dem Untersuchungsstadium (MRAI 19.6.2023) - nur aus einer Liste mit vom Staat zugelassenen und damit mutmaßlich systemfreundlichen Anwälten auswählen (AA 30.11.2022; vgl. MRAI 19.6.2023). In dieser bedeutsamen Prozessphase werden oftmals sensible Informationen aufgedeckt, diese Einschränkung der Auswahl gibt Anlass zur Sorge über die Fairness und Transparenz der Prozesse (MRAI 19.6.2023).

Die Revolutionsgerichte sehen meist davon ab, das Urteil an die Angeklagten zu übermitteln. In der Regel laden sie den Anwalt des Angeklagten vor Gericht und verlesen das Urteil. Solche Urteile sind folglich auf der elektronischen Datenbank Adliran nicht zugänglich. Rechtsanwälte dürfen Urteile lediglich direkt bei Gericht lesen und sich dort Notizen machen (Landinfo/et al. 12.2021).

In Iran gibt es eine als unabhängige Organisation aufgestellte Rechtsanwaltskammer (Iranian Bar Association; IBA), deren Unabhängigkeit die Judikative einzuschränken versucht. Anwälte der IBA sind staatlichem Druck und Einschüchterungsmaßnahmen ausgesetzt (AA 30.11.2022). Um eine Anwaltslizenz zu erhalten, mussten Anwärter bislang unter anderem eine Prüfung bei der IBA ablegen (MBZ 9.2023; vgl. Soltani/Shooshinasab 8.2022). Im August 2023 verabschiedete das iranische Parlament ein Gesetz, das die Kontrolle zur Erteilung von Anwaltslizenzen an das Ministerium für Industrie, Bergbau und Handel übertrug (MBZ 9.2023).

Doppelbestrafung (ne bis in idem), im Ausland begangene Vergehen, Verurteilung in Abwesenheit

Einer vertraulichen Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge hält sich der Iran an den Grundsatz ne bis in idem, wenn es um ta'zir-Strafen geht. Im Falle von hadd- und qisas-Strafen ist eine doppelte Strafverfolgung dagegen möglich. Auch ist es möglich, dass ein Gericht eine ta'zir-Strafe gegen eine Person verhängt, der Staatsanwalt jedoch im Nachhinein angibt, dass dies ein Fehler war und das Vergehen unter einen hadd-Tatbestand fällt. In diesem Fall kann eine Person zweimal für dieselbe Straftat verurteilt werden, in der Praxis kommt dies jedoch selten vor (MBZ 9.2023).

Iranische Staatsbürger unterliegen auch im Ausland der iranischen Gesetzgebung und können nach Artikel 7 des IStGB 2013 für Vergehen, die im Ausland begangen wurden, in Iran belangt werden (Landinfo 9.11.2022). Das Verbot der Doppelbestrafung gilt in diesem Fall nur stark eingeschränkt. Nach dem IStGB werden Iraner oder Ausländer, die bestimmte Straftaten im Ausland begangen haben und in Iran festgenommen werden, nach den jeweils geltenden iranischen Gesetzen bestraft. Auf die Verhängung von islamischen Strafen [Anm.: hadd- und qisas-Strafen] haben bereits ergangene ausländische Gerichtsurteile keinen Einfluss; die Gerichte erlassen eigene Urteile. Insbesondere bei Betäubungsmittelvergehen drohen drastische Strafen (AA 30.11.2022). Ein von Landinfo im Jahr 2021 befragter Rechtsanwalt zeichnete jedoch ein differenzierteres Bild und gab an, dass insbesondere im Ausland begangene Vergehen, welche die innere und äußere Sicherheit betreffen, in Iran strafrechtlich verfolgt werden. Laut dem Rechtsanwalt werden beispielsweise Alkoholkonsum oder "unzüchtiges" Verhalten iranischer Staatsbürger im Ausland in Iran nicht strafrechtlich verfolgt (Landinfo 9.11.2022). In jüngster Vergangenheit sind keine Fälle einer Doppelbestrafung bekannt geworden (AA 30.11.2022).

Es kommt in der Praxis vor, dass Personen in Iran in Abwesenheit aufgrund von im Ausland durchgeführten Tätigkeiten verurteilt werden, beispielsweise aufgrund von Veröffentlichungen von kritischen Beiträgen in den sozialen Medien. Mehrere Quellen berichteten von derartigen Fällen von bekannten Aktivisten im Ausland (MBZ 9.2023). Der ehemalige, in Dubai wohnhafte Profifußballer Ali Karimi wurde zum Beispiel von den iranischen Behörden in absentia verurteilt, nachdem er nach Mahsa Aminis Tod kritische Texte auf Instagram gepostet hatte (MBZ 9.2023; vgl. ArTR 16.12.2022).

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung 2024-01-26 15:22

Diverse Behörden teilen sich die Verantwortung für die innere Sicherheit. Das Informations- oder Geheimdienstministerium [vezarat -e etela’at - VAJA, wobei auch das englischsprachige Akronym MOIS weit verbreitet ist] und die Strafverfolgungsbehörden unterstehen dem Innenministerium, das dem Präsidenten verantwortlich ist. Die Islamischen Revolutionsgarden [sepah-e pasdaran -e enqhelab -e Islami - IRGC] unterstehen direkt dem Obersten Führer Khamenei. Die Basij, eine aus Freiwilligen bestehende paramilitärische Gruppierung, agieren zum Teil unter den Revolutionsgarden als Hilfseinheiten zum Gesetzesvollzug. Die Revolutionsgarden und die nationale Armee (Artesh) sorgen für die externe Verteidigung (USDOS 20.3.2023). Die zivilen Behörden bzw. die Regierung behalten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte (USDOS 20.3.2023; vgl. BS 23.2.2022) und über den größten Teil des Landes, mit Ausnahme einiger Grenzgebiete (BS 23.2.2022). Der Oberste Führer hat die höchste Autorität über alle Sicherheitsorganisationen (USDOS 20.3.2023).

Polizei - Strafverfolgungsbehörde NAJA

Die iranische Polizei wird offiziell "Strafverfolgungsbehörde" (nīrū-ye entezāmī-ye jomhūrī-ye eslāmī-ye īrān) genannt und ist auch unter ihrem Akronym in Farsi bekannt, nämlich NAJA. Sie unterteilt sich in verschiedene Zweige (Landinfo/et al. 12.2021): Kriminalpolizei, Polizei für Sicherheit und öffentliche Ordnung (Sittenpolizei), Internet-, Drogen-, Militär-, Luftfahrt- sowie Grenzschutzpolizei, Küstenwache, eine Polizeispezialtruppe zur Terrorismusbekämpfung und Verkehrspolizei. Die Polizei hat auch einen eigenen Geheimdienst (AA 30.11.2022). Ungefähr die Hälfte der Polizeikräfte sind Wehrpflichtige, die in der Polizei ihren verpflichtenden Wehrdienst ableisten. Seit dem Jahr 2000 werden bestimmte Verwaltungsaufgaben in teilprivate, der NAJA angegliederte Firmen ausgelagert. Zu den Aufgaben dieser Firmen zählen beispielsweise die Ausstellung von Führerscheinen und Schutz- bzw. Wachdienste (Landinfo/et al. 12.2021).

Zu den Zweigen der NAJA gehört die Polizei für Geheimdienst und öffentliche Sicherheit (polīs-e ettelā’āt va amnīyat-e‘ omūmī - PAVA). Eine der Untereinheiten der PAVA ist die Sittenpolizei (polīs-e amnīyat-e akhlāqī). Ihr Auftrag ist die Überwachung von Bekleidungsvorschriften für Frauen (u. a. richtig getragene Hijabs) und Männer (Vermeidung eines "unislamischen" Erscheinungsbilds) in der Öffentlichkeit sowie die Überwachung (und Verhinderung) von Verhalten gegen die "islamische Moral" im Allgemeinen. Die Sittenstreife (gasht-e ershād [auch: "Belehrungsstreife"]) ist eine Untereinheit der Sittenpolizei. Sie besteht aus männlichen wie weiblichen Sicherheitskräften und ist üblicherweise in Polizeiautos auf öffentlichen Plätzen stationiert. Dort überwachen sie die Lage und verhaften Personen, insbesondere Frauen, die vorgeblich "unzüchtig" gekleidet sind, oder versuchen, eine Vermischung der Geschlechter zu unterbinden [Anm.: So die betroffenen Männer und Frauen nicht nah miteinander verwandt sind] (Landinfo/et al. 12.2021). Die Sittenpolizei wird beschuldigt, Frauen willkürlich wegen Übertretungen zu verhaften. Der Tod einer jungen Frau, die zuvor von der Sittenpolizei wegen eines angeblich unkorrekt getragenen Hijabs festgenommen worden war, hat zuletzt monatelange Proteste ausgelöst (DW 4.12.2022). Nach dem Ausbruch der landesweiten Proteste im September 2022 verschwand die Sittenpolizei weitgehend von den Straßen. Der Regierung schien klar zu sein, dass die Ordnungshüter in ihren allgegenwärtigen weißen Transportern den Unmut der Öffentlichkeit noch stärker auf sich ziehen würden (USIP 6.9.2023). Anfang Dezember 2022 berichteten Medien, dass die Sittenpolizei aufgelöst werden soll (DW 4.12.2022; vgl. Tagesschau 11.3.2023), was als Zugeständnis an die Protestbewegung gewertet wurde (Tagesschau 11.3.2023). Tatsächlich wurde die Sittenpolizei jedoch nie aufgelöst. Die iranische Regierung hielt bezüglich der Umsetzung der Bekleidungsvorschriften an ihrer Position fest, indem sie die Durchsetzung der Vorschriften später wieder verstärkte. Im Juli 2023 setzte sie die Sittenpolizei wieder ein (USIP 6.9.2023; vgl. RFE/RL 20.7.2023).

Revolutionsgarden

Die Revolutionsgarden (auch bekannt als Pasdaran oder Sepah) sind sowohl militärische Kampftruppe, Sicherheitsbehörde und Geheimdienstorganisation als auch eine soziale und kulturelle Macht und ein industrielles wie wirtschaftliches Konglomerat. Ihr Einfluss hat in allen genannten Bereichen im vergangenen Jahrzehnt zugenommen (Landinfo/et al. 12.2021). Die Revolutionsgarden nehmen eine Sonderrolle ein. Ihr Auftrag ist formell der Schutz der Islamischen Revolution. Als Parallelarmee haben die Revolutionsgarden neben ihrer herausragenden Bedeutung im Sicherheitsapparat im Laufe der Zeit Wirtschaft, Politik und Verwaltung durchdrungen und sich zu einem Staat im Staate entwickelt. Militärisch kommt ihnen eine höhere Bedeutung als dem regulären Militär zu. Sie verfügen über eine fortschrittlichere Ausrüstung als die reguläre Armee, eigene Gefängnisse und Geheimdienste, die auch mit Inlandsaufgaben betraut sind, sowie über engste Verbindungen zum Revolutionsführer (AA 30.11.2022). Die Revolutionsgarden unterhalten auch eine eigene Bodenkampftruppe, Luftwaffe und Marine sowie mehrere Einheiten für nicht-konventionelle Kriegsführung und verdeckte Operationen. Den Revolutionsgarden unterstehen auch die Basij. Die Quds-Einheiten (sepāh-e qods) sind für alle verdeckten und militärischen Auslandseinsätze der Revolutionsgarden zuständig (Landinfo/et al. 12.2021). Heute sollen die Revolutionsgarden über ca. 190.000 Soldatinnen und Soldaten verfügen, während die regulären Streitkräfte 420.000 Mann unter Waffen haben. Hinzu kommen noch einmal 450.000 Reservisten als Teil der Basij-Milizen, die ebenfalls den Revolutionsgarden unterstellt sind (IRJ 1.2.2021), wobei Schätzungen über die Zahl der Basij weit auseinandergehen und bis zu mehreren Millionen reichen (ÖB Teheran 11.2021).

Die Revolutionsgarden spielen eine dominante Rolle in der iranischen Wirtschaft (FH 10.3.2023). In den vergangenen Jahrzehnten haben sie ihren ökonomischen Einfluss massiv ausgebaut. Sie besitzen ein Baukonglomerat, das bei vielen strategischen Infrastrukturprojekten und milliardenschweren Investitionen federführend ist: Khatam-al-Anbia. Die Revolutionsgarden betreiben gigantische Wirtschaftsunternehmen, bauen Kraftfahrzeuge, Autobahnen, Eisenbahnstrecken und U-Bahnen. Sie sind eng mit der Öl- und Gaswirtschaft des Landes verflochten, bauen Staudämme und sind im Bergbau aktiv. Wie groß der Anteil der iranischen Volkswirtschaft insgesamt ist, den die Revolutionsgarden inzwischen kontrollieren, lässt sich nicht sagen. Genaue Statistiken und Daten dazu fehlen (DW 7.3.2023). Die Unternehmen der Revolutionsgarden sind jedenfalls breit aufgestellt. Unter anderem betreiben sie auch Hotelketten, Versicherungen, private Banken und entwickeln Kriegsgerät (LMD 2020a). Sie betreiben den Imam Khomeini International Airport in der iranischen Hauptstadt und verfügen damit allein durch Start- und Landegebühren über ein äußerst lukratives Geschäft. Auch an den anderen Flug- und Seehäfen im Land kontrollieren die Truppen der Revolutionsgarden Irans Grenzen. Sie entscheiden, welche Waren ins Land gelassen werden und welche nicht. Sie zahlen weder Zoll noch Steuern (DW 18.2.2016). Mittlerweile sind die wirtschaftlichen Aktivitäten der Revolutionsgarden außerhalb des normalen Marktgeschehens so umfangreich, dass der Privatsektor in vielen Bereichen nicht mehr existiert. Er wurde verdrängt und ist gegenüber der Marktbeherrschung der Garden nicht mehr wettbewerbsfähig (IRJ 1.2.2021).

Die Revolutionsgarden sind nicht nur in Iran, sondern auch in der Region aktiv. Es gibt nur wenige Konflikte, an denen sie nicht beteiligt sind. Libanon, Irak, Syrien, Jemen – überall mischen die Revolutionsgarden mit und versuchen, die islamische Revolution zu exportieren. Ihre Al-Quds-Brigaden sind als Kommandoeinheit speziell für Einsätze im Ausland ausgebildet (Tagesschau 8.6.2017).

Wichtigste Nachrichten- und Geheimdienste

Die beiden wichtigsten Geheimdienste Irans sind das MOIS und der Geheimdienst der Revolutionsgarden (USIP 17.2.2023). Das MOIS ist mit dem Schutz der nationalen Sicherheit, Gegenspionage und der Beobachtung religiöser und illegaler politischer Gruppen beauftragt. Aufgeteilt ist dieser in den Inlandsgeheimdienst, Auslandsgeheimdienst und den technischen Aufklärungsdienst. Der Inlandsgeheimdienst beobachtet die politische Opposition und übt Druck auf diese aus (AA 30.11.2022). Eine der Einheiten des MOIS trägt den Namen Herasat (sāzmān-e herāsat-e koll-e keshvar). Sie hat in allen Zivilorganisationen und Universitäten Zweige zur Identifizierung von Sicherheitsbedrohungen für das Regime (Landinfo/et al. 12.2021; vgl. TWI 5.1.2018). Die Geheimdienstorganisation der Revolutionsgarden (sāzmān-e ettelā’āt-e sepāh-e pāsdārān-e enqelāb-e eslāmī) wurde im Zuge der Proteste im Jahr 2009 gegründet (Landinfo/et al. 12.2021). Laut dem Iran-Experten Walter Posch ist die Organisation allerdings nur nominell und aus historischen Gründen Teil der Revolutionsgarden, in Wirklichkeit ist sie ein eigenständiger Dienst (Posch/Chatham 5.5.2023).

Die Missionen des MOIS und des Geheimdienstes der Revolutionsgarden überlappen sich deutlich (USIP 17.2.2023; vgl. Landinfo/et al. 12.2021), da beide Institutionen umfangreiche Aufgabenbereiche haben. Die Hauptaufgabe des MOIS wie des Geheimdienstes der Revolutionsgarden ist es, die Islamische Republik an der Macht zu halten. Die Überwachung von Dissidenten im In- und Ausland und die Unterdrückung organisierter Opposition sind wichtige Aufgabenfelder der Dienste (USIP 17.2.2023). Das MOIS ist laut dem Verfassungsschutz der Bundesrepublik Deutschland der Hauptakteur iranischer Nachrichtendienstaktivitäten in Deutschland. In seinem Fokus stehen insbesondere iranische Oppositionsgruppen. Darüber hinaus sind auch die geheimdienstlich agierenden Quds-Kräfte in Deutschland aktiv (BMIH/BfV 20.6.2023). Das Netzwerk iranischer Nachrichtendienste ist auch in Österreich präsent (BMI/DSN 2022). Bei ihren Operationen im westlichen Ausland stützen sich die iranischen Nachrichten- und Geheimdienste auch auf Dritte, wie zum Beispiel Kriminelle (WP 1.12.2022a). Der Leiter des MOIS hat einen Kabinettsposten inne und ist dem Präsidenten verantwortlich. Der Geheimdienst der Revolutionsgarden fällt dagegen unter die militärische Befehlskette und untersteht direkt dem Obersten Führer (USIP 17.2.2023).

Behörden zur Überwachung von Internetaktivitäten

Zur Überwachung des Internets wurde der "Hohe Rat für den Cyberspace" gegründet. Er setzt sich aus hochrangigen Militärs und Politikern zusammen (DlF 26.9.2022; vgl. RSF o.D.a). Dem Innenministerium unterstellt ist darüber hinaus die Cyberpolizei (polīs-e fazā-ye toulīd va tabādol-e ettelā’āt - FATA), wortwörtlich die "Polizei für virtuellen Raum und Informationsaustausch" (Landinfo/et al. 12.2021), die auf der EU-Menschenrechtssanktionsliste steht. Sie beschäftigt sich mit Internetkriminalität mit Fokus auf Wirtschaftskriminalität, Betrugsfällen, Verletzungen der Privatsphäre im Internet sowie der Beobachtung von Aktivitäten in sozialen Netzwerken und sonstigen politisch relevanten Äußerungen im Internet (AA 30.11.2022). Die Ausforschung von Verkäufern von Virtual Private Network (VPN)-Zugängen zählt ebenfalls zu den Aufgaben der FATA (Landinfo/et al. 12.2021). Nach eigenen Angaben beschäftigt die FATA rund 42.000 Freiwillige, die Aufgaben bei der Überwachung des virtuellen Raums sowie bei der Erstellung und Bewerbung von Inhalten übernehmen (Medium 18.2.2019; vgl. Landinfo 9.11.2022). Das Aufgabenfeld der FATA überlappt sich mit jenem des Zentrums zur Überwachung Organisierter Kriminalität (markaz-e barrasī-ye jarā’em-e sāzmān-yāfteh - CIOC) und dem Cyberverteidigungskommando der Revolutionsgarden (qarārgāh-e defā’-e sāiberī). Diese beschäftigen sich jedoch in stärkerem Ausmaß mit Fragen der nationalen Sicherheit, wie zum Beispiel der Verbreitung von Onlinematerial kurdischer Parteien und politischer Bewegungen, oder der Verbreitung des christlichen Glaubens in den sozialen Medien. Die FATA beschäftigt sich demgegenüber eher mit "einfachen" Verbrechen, darunter auch Sittenverbrechen (Landinfo/et al. 12.2021). Unter anderem überwacht sie die Inhalte von als apolitisch wahrgenommenen Influencerinnen in den sozialen Medien bezüglich der Einhaltung der Hijab-Pflicht (Medium 18.2.2019). Darüber hinaus spielen auch die Basij eine Rolle bei der Überwachung von Internetaktivitäten (Landinfo 9.11.2022).

Basij

Die Basij sind laut einer Quelle die größte zivile Milizorganisation der Welt, mit vierundzwanzig Abteilungen und vier Hauptkategorien an Mitgliedern: reguläre, aktive, Kader- und Spezialmitglieder. Sie bilden ein Netzwerk, das aus Basij-Basen, Distrikten und Regionen besteht. Die Basij-Basen sind aufgrund ihrer großen Sichtbarkeit (50.000 Standorte im gesamten Iran) das eigentliche Rückgrat der Organisation an der Basis (TWI 5.1.2018). Die Basij haben unter anderem in Schulen und Universitäten Stützpunkte, wodurch die permanente Kontrolle der iranischen Jugend gewährleistet ist (ÖB Teheran 11.2021). Sie sind auch in Moscheen stationiert (DW 7.3.2023). Jeder Basij-Distrikt kontrolliert zehn bis fünfzehn Stützpunkte und beherbergt lokale Sicherheits- und Militärkräfte. Diese Distrikte werden wiederum von regionalen Abteilungen der Revolutionsgarden kontrolliert. Nicht alle Basij-Mitglieder sind an politischen Repressionen beteiligt. Dennoch verfügt die Organisation über mehrere Sicherheits- und Militäreinheiten, die sich aus aktiven oder freiwilligen Mitgliedern zusammensetzen (TWI 5.1.2018). Das Regime setzt eine ausgewählte Gruppe an Basij in Zivil für Sicherheitsagenden und zur "Kontrolle bei Massenansammlungen" ein (Kayhan 14.10.2022). Diese Einheiten sind bewaffnet und werden in Zivil zur gewaltsamen Unterdrückung von Demonstrationen eingesetzt. So spielen sie bei der Unterdrückung der Protestaktionen [ab September 2022] eine Schlüsselrolle (DW 7.3.2023). Die meist jungen Freiwilligen absolvieren normalerweise eine begrenzte Ausbildung, um als Hilfskräfte für die lokale Sicherheit zu dienen und die staatliche Kontrolle über die Gesellschaft durchzusetzen, indem sie Demonstrationen unterdrücken und Informationen sammeln (IRINTL 1.7.2022). Alle Basij-Mitglieder, die über 15 Jahre alt sind, müssen als Teil ihres Dienstes ein zweimonatiges Militärtraining bei den Revolutionsgarden absolvieren (FP 30.1.2023). In die Basij einzutreten eröffnet vielen jungen Menschen Perspektiven für Bildung und Beruf. Um von einer Mitgliedschaft in vollem Maße zu profitieren und dadurch in den Genuss von Krediten, kürzerem Wehrdienst und besseren Berufsaussichten zu kommen, müssen spezielle Trainingsprogramme absolviert werden, die mindestens sechs Monate dauern (SWP 19.4.2023).

Die Basij-Organisation ist in verschiedene Zweige mit unterschiedlichen Spezialisierungen unterteilt (USIP 6.10.2010; vgl. ABC News 13.10.2022). Der Sicherheitsapparat der Basij umfasst bewaffnete Brigaden, Aufstandsbekämpfungseinheiten und ein umfangreiches Netzwerk an Informanten (ABC News 13.10.2022), wobei der Geheimdienst der Revolutionsgarden auf Letzteres zurückgreifen kann (TWI 5.1.2018). Darüber hinaus gibt es auch Zweige wie zum Beispiel die Schüler-Basij [basij-e danesh-amouzi], Studenten-Basij [basij-e daneshjouyi] oder die Arbeiter-Basij [basij-e karegaran], die ein Gegengewicht zu zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Gewerkschaften oder Studentenvereinigungen bilden sollen (USIP 6.10.2010). Die Studenten-Basij (auf Englisch Student Basij Organisation, SBO) ist der bedeutsamste Zweig der Basij. Sie war unter anderem in die gewaltsame Niederschlagung der Proteste an den Universitäten ab September 2022 involviert und in dieser Untergruppierung befinden sich die radikalsten Mitglieder der Basij (NLM 20.4.2023; vgl. IRINTL 22.5.2023). Mitglieder der Studenten-Basij bilden auch den Kern von wissenschaftlichen Projekten der Revolutionsgarden, wie zum Beispiel deren atomare und ballistische Programme. Die Mitgliedschaft in der Gruppierung ist auch hilfreich, um eine Arbeitsstelle in der öffentlichen Verwaltung oder bei den Sicherheitsbehörden zu finden (NLM 20.4.2023).

Reguläre Armee - Artesh

Das reguläre Militär (Artesh) erfüllt im Wesentlichen Aufgaben der Landesverteidigung und Gebäudesicherung (AA 30.11.2022).

Behandlung der Zivilbevölkerung

In Bezug auf die Überwachung der Bevölkerung ist nicht bekannt, wie groß die Kapazität der iranischen Behörden ist. Die Behörden können nicht jeden zu jeder Zeit überwachen, haben aber eine Atmosphäre geschaffen, in der die Bürger von einer ständigen Beobachtung ausgehen (DIS 23.2.2018). Die kurdische Region ist das am stärksten militarisierte Gebiet Irans. Die Regierung überwacht die Bevölkerung dort durch ein Netzwerk von Kontrollpunkten (DIS 7.2.2020).

Angehörige der Sicherheitskräfte können Misshandlungen begehen, ohne befürchten zu müssen, bestraft zu werden. Straffreiheit innerhalb des Sicherheitsapparates ist weiterhin ein Problem. Menschenrechtsgruppen beschuldigen reguläre und paramilitärische Sicherheitskräfte (wie zum Beispiel die Basij), zahlreiche Menschenrechtsverletzungen zu begehen, darunter Folter, Verschwindenlassen und Gewaltakte gegen Demonstranten und Umstehende bei öffentlichen Demonstrationen. Die Regierung unternimmt nur wenige Schritte, um Beamte, die Menschenrechtsverletzungen begehen, zu identifizieren, zu untersuchen, strafrechtlich zu verfolgen und zu bestrafen. Die Straflosigkeit bleibt auf allen Ebenen der Regierung und der Sicherheitskräfte allgegenwärtig (USDOS 20.3.2023).

Mit willkürlichen Verhaftungen kann und muss jederzeit gerechnet werden, da die Geheimdienste (der Regierung und der Revolutionsgarden) sowie Basij de facto willkürlich handeln können. Bereits auffälliges Hören von (insbesondere westlicher) Musik, ungewöhnliche Bekleidung, Partys oder gemeinsame Autofahrten junger nicht miteinander verheirateter Männer und Frauen können den Unwillen zufällig anwesender Basij bzw. mit diesen sympathisierenden Personen hervorrufen. Willkürliche Verhaftungen oder Misshandlung durch Basij können in diesem Zusammenhang nicht ausgeschlossen werden (ÖB Teheran 11.2021). Bei der brutalen Durchsetzung von Regeln wie der Kopftuchpflicht für Frauen, die im September 2022 Auslöser der Proteste war, stehen nicht unbedingt die regulären Polizeieinheiten im Fokus, sondern "überambitionierte Freiwillige", die sich normalerweise aus den Basij-Milizen rekrutieren. Sie nennen sich die "Hezbollahis", also "Parteigänger Gottes" und vertreten dabei das islamische Prinzip des "Gebieten des Guten, Verbieten des Schlechten" (al-amr bi-l-maʿrūf wa-n-nahy ʿani-l-munkar) [Anm.: nicht gleichzusetzen mit der libanesischen Hisbollah]. Die Polizei hat wenig Anreiz, Frauen vor Willkür zu schützen und sich mit den übereifrigen, politisch bestens vernetzten Hezbollahis anzulegen, die sich als Schutzherren der öffentlichen Moral aufspielen. Sie lassen die Miliz gewähren und vertrauen darauf, dass sich die Gewalt im Rahmen hält (Zenith 21.9.2022).

Es wird sowohl von "großer" Korruption durch hochrangige Vertreter der Sicherheits- und Strafvollzugsbehörden berichtet (FP 28.2.2023; vgl. IrWire 4.6.2021) als auch von der Zahlung von Bestechungsgeldern ("Teegeld") an Polizeibeamte, beispielsweise zur Vermeidung von Strafen wegen Geschwindigkeitsübertretungen oder Drogenbesitzes. Manchmal werden auch Mitglieder der Revolutionsgarden und Basij oder Richter bestochen, um Strafen wegen schwerwiegenderer Taten zu verhindern, oder um Gerichtsprozesse zu beeinflussen. Umgekehrt zahlen auch Einbruchsopfer manchmal Bestechungsgelder an Polizisten, um die "Chancen auf die Fassung des Diebes zu erhöhen" (IrWire 28.4.2021). Die Bestechung von Militärangehörigen, Polizeibeamten und anderen Mitgliedern der Strafvollzugsbehörden in Iran wurde als "systemisch" bezeichnet. Begünstigende Faktoren sind unter anderem die Anwerbung von Personen mit Vorstrafen als Polizeibeamte. Auch Ungleichheiten und Lohndiskriminierung spielen eine Rolle, ebenso wie das Fehlen einer angemessenen Aufsicht durch verantwortliche Beamte. Die Polizei leidet zudem an "ineffizienter Organisation" (IrWire 6.9.2021).

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung 2023-04-12 13:37

Die iranische Verfassung (IRV) vom 15.11.1979 enthält einen umfassenden Grundrechtskatalog. Der Generalvorbehalt des Einklangs mit islamischen Prinzipien des Art. 4 IRV lässt jedoch erhebliche Einschränkungen zu. Der im Jahr 2001 geschaffene "Hohe Rat für Menschenrechte" untersteht unmittelbar der Justiz. Das Gremium erfüllt allerdings nicht die Voraussetzungen der 1993 von der UN-Generalversammlung verabschiedeten "Pariser Prinzipien" (AA 30.11.2022).

Iran hat folgende UN-Menschenrechtsabkommen ratifiziert:

Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR)

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) (ICCPR)

Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (CERD)

Übereinkommen über die Rechte des Kindes (unter Vorbehalt des Einklangs mit islamischem Recht) (CRC)

Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie (CRC-OP-SC)

Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)

Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes

UNESCO Konvention gegen Diskriminierung im Unterrichtswesen

UN-Apartheid-Konvention

Internationales Übereinkommen gegen Apartheid im Sport (AA 28.1.2022)

Bislang hat Iran auch 15 Konventionen und ein Protokoll der International Labor Organization (ILO) unterzeichnet (FITR 8.2.2023).

Iran hat folgende UN-Menschenrechtsabkommen nicht ratifiziert:

Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (CAT)

Fakultativprotokoll zur Antifolterkonvention (OP-CAT)

Zweites Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe (OP2-ICCPR)

Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW)

Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (CED)

Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten (CRC-OP-AC) (unterzeichnet aber nicht ratifiziert) (AA 28.1.2022).

Iran zählt zu den Ländern mit einer anhaltend beunruhigenden Menschenrechtslage, insbesondere der politischen und bürgerlichen Rechte, wobei sich der Spielraum für zivilgesellschaftliches Engagement im Menschenrechtsbereich in den letzten Jahren erheblich verengt hat (ÖB Teheran 11.2021). Der iranische Staat verstößt regelmäßig gegen die Menschenrechte nach westlicher Definition, jedoch auch immer wieder gegen die islamisch definierten (GIZ 2020). Zu den wichtigsten Menschenrechtsproblemen gehören: rechtswidrige oder willkürliche Tötungen durch die Regierung und ihre Vertreter, vor allem Hinrichtungen für Verbrechen, die nicht dem internationalen Rechtsstandard für "schwerste Verbrechen" entsprechen, oder für Verbrechen, die von jugendlichen Straftätern begangen wurden, sowie Hinrichtungen nach Gerichtsverfahren ohne ordnungsgemäßen Prozess; Verschwindenlassen und Folter durch Regierungsbeamte; harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen; systematische Inhaftierungen, einschließlich politischer Gefangener. Weiters gibt es unrechtmäßige Eingriffe in die Privatsphäre; erhebliche Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz, insbesondere der Revolutionsgerichte; Bestrafung von Familienmitgliedern, Beschränkungen der freien Meinungsäußerung, der Presse und des Internets - einschließlich Gewalt, Androhung von Gewalt sowie ungerechtfertigte Festnahmen und Strafverfolgung gegen Journalisten, Zensur, Blockieren von Webseiten und strafrechtliche Verfolgung sogar von Verleumdung und übler Nachrede; erhebliche Eingriffe in das Recht auf friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit; Einschränkungen der Religionsfreiheit; Beschränkungen der politischen Beteiligung durch willkürliche Kandidatenprüfung; weitverbreitete Korruption auf allen Regierungsebenen; rechtswidrige Rekrutierung von Kindersoldaten durch Regierungsakteure zur Unterstützung des Assad-Regimes in Syrien; Menschenhandel; Gewalt gegen ethnische Minderheiten; strenge staatliche Beschränkungen der Rechte von Frauen und Minderheiten; Kriminalisierung von sexuellen Minderheiten sowie Verbrechen, die Gewalt oder Gewaltdrohungen gegen Angehörige sexueller Minderheiten beinhalten; und schließlich das Verbot unabhängiger Gewerkschaften. Die Regierung unternimmt kaum Schritte, um verantwortliche Beamte zur Rechenschaft zu ziehen. Straffreiheit ist auf allen Ebenen der Regierung und der Sicherheitskräfte weit verbreitet (USDOS 20.3.2023).

Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden wird oder die islamische Grundsätze infrage stellt. Dies ist besonders ausgeprägt bei Gruppierungen, welche die Interessen religiöser oder ethnischer Minderheiten vertreten. Als rechtliche Grundlage dienen dazu weit gefasste Straftatbestände (vgl. Art. 279 bis 288 iStGB) sowie Staatsschutzdelikte (insbesondere Art. 1 bis 18 des 5. Buches des iStGB). Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der Islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, laufen Gefahr, der Spionage beschuldigt zu werden. Strafverfolgung erfolgt selbst bei niedrigschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv (AA 30.11.2022).

Die Behörden haben im Jahr 2022 weitverbreitete Proteste, bei denen Grundrechte gefordert wurden, brutal unterdrückt, wobei die Sicherheitskräfte unrechtmäßig mit übermäßiger und tödlicher Gewalt gegen die Demonstranten vorgingen. Sie verhafteten und verurteilten im Jahr 2022 zahlreiche friedliche Menschenrechtsaktivisten aufgrund vager Anschuldigungen im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit und unterließen es, Berichten über Misshandlungen oder Folter durch Polizei und Sicherheitskräfte nachzugehen. Die Sicherheitskräfte nehmen ethnische und religiöse Minderheiten ins Visier und setzen diskriminierende Kleidervorschriften für Frauen gewaltsam durch (HRW 12.1.2023). Auch Umweltaktivisten sind von Geldbußen, Haftstrafen und Folter betroffen (BS 23.2.2022).

Religionsfreiheit

Letzte Änderung 2024-01-26 13:39

In Iran leben schätzungsweise rund 87,6 Millionen Menschen (CIA 7.3.2023), von denen nach offiziellen Angaben ungefähr 99 % dem Islam angehören. Etwa 90 % der Bevölkerung sind demnach Schiiten, ca. 9 % sind Sunniten und der Rest verteilt sich auf Christen, Juden, Zoroastrier, Baha‘i, Sufis, Ahl-e Haqq (Yaresan) und nicht weiter spezifizierte religiöse Gruppierungen (STDOK 3.5.2018; vgl. USDOS 15.5.2023). Im Rahmen einer vielbeachteten und breit diskutierten (NYMAG 21.10.2022) Onlinebefragung der Organisation Gamaan aus dem Jahr 2020, an der sich 40.000 innerhalb Irans lebende Iraner sowie rund 10.000 im Ausland lebende Iraner beteiligt haben, wurden folgende Einstellungen bzw. religiösen Ausrichtungen angegeben: nur rund 32 % der Bevölkerung bekennen sich zum Schiitentum, 5 % zum Sunnitentum und rund 8 % zum Zoroastrismus. 9 % identifizierten sich dagegen als Atheisten, 7 % als "spirituell" und 6 % als Agnostiker. Andere gaben an, dem Sufismus, Humanismus, Christentum, dem Baha'i-Glauben oder dem Judentum zu folgen (Anteile zwischen rd. 0,1 und 3 %) und rund 22 % der Befragten wollten sich mit keiner der genannten Gruppierungen identifizieren (GAMAAN 25.8.2020). Auch wenn nicht genau gesagt werden kann, inwiefern die von Gamaan vorgelegten Zahlen auf die Gesamtbevölkerung Irans umlegbar sind, zeigt sich eine deutliche Diskrepanz zum nationalen Zensus. Aus der Studie lässt sich eine erosionsartige Fragmentierung des religiösen Feldes zumindest bei den befragten Iranerinnen und Iranern ablesen. Interessant ist unter anderem die Vielfalt an verschiedenen Glaubensbekenntnissen von Konfessionslosigkeit und Atheismus, beides eigentlich Tabus in einer offiziell islamischen Gesellschaft wie der iranischen, über Zoroastrismus und Trends zu spirituellen und esoterischen Sekten, bis hin zum Agnostizismus, zu sufischen Bewegungen, den Bahai und zum Christentum. Letztere stellen laut der Studie lediglich eine relativ kleine Gruppe dar (BAMF 5.2022).

Laut Verfassung ist Iran eine islamische Republik und der schiitische Zwölfer- oder Ja'afari-Islam ist die offizielle Staatsreligion. Die Verfassung schreibt vor, dass alle Gesetze und Vorschriften auf "islamischen Kriterien" und einer offiziellen Auslegung der Scharia beruhen müssen. In der Verfassung heißt es, dass die Bürger alle menschlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte "in Übereinstimmung mit islamischen Kriterien" genießen sollen (USDOS 15.5.2023). Für Frauen bedeutet dies beispielsweise unter anderem eine allgemeine Kopftuchpflicht in der Öffentlichkeit, die zuletzt im Zuge der Proteste anlässlich des Todes von Mahsa Amini von vielen Protestierenden abgelehnt wurde und in den Fokus der Auseinandersetzung zwischen dem Regime und seinen Gegnern geriet (Tagesschau 6.10.2022). Gleichwohl dürfen die in Art. 13 der iranischen Verfassung anerkannten 'Buchreligionen' Christentum, Judentum und Zoroastrismus ihren Glauben in ihren Gemeinden relativ frei ausüben (AA 30.11.2022; vgl. ÖB Teheran 11.2021). In Fragen des Ehe- und Familienrechts genießen sie verfassungsrechtlich Autonomie (AA 30.11.2022).

Die Lehrpläne aller öffentlichen und privaten Schulen müssen einen Kurs über die schiitischen Lehren enthalten. Sunnitische Schüler und Schülerinnen, sowie jene, die einer anerkannten religiösen Minderheit angehören, müssen die Kurse über den schiitischen Islam belegen und bestehen, obwohl sie auch separate Kurse über ihre eigenen religiösen Überzeugungen belegen können. Anerkannte religiöse Minderheitengruppen, mit Ausnahme der sunnitischen Muslime, dürfen Privatschulen betreiben (USDOS 15.5.2023).

Anhänger religiöser Minderheiten unterliegen Beschränkungen beim Zugang zu höheren Staatsämtern. Lediglich schiitische Muslime dürfen in vollem Umfang am politischen Leben teilnehmen (AA 30.11.2022; vgl. MRG 24.11.2022). Nichtmuslime sehen sich darüber hinaus im Familien- und Erbrecht nachteiliger Behandlung ausgesetzt, sobald ein Muslim Teil der relevanten Personengruppe ist (AA 30.11.2022). Auch anerkannte religiöse Minderheiten (Zoroastrier, Juden, Christen) werden diskriminiert. Sie sind in ihrer Religionsausübung jedoch nur relativ geringen Einschränkungen unterworfen. Sie haben gewisse rechtlich garantierte Minderheitenrechte (ÖB Teheran 11.2021). Im Parlament sind beispielsweise fünf der insgesamt 290 Sitze für ihre Vertreterinnen und Vertreter reserviert: zwei für armenische Christen, einer für Juden, einer für Zoroastrier und einer für assyrische Christen (Zeit online 19.1.2023; vgl. FH 10.3.2023). Nichtmuslimische Abgeordnete dürfen jedoch nicht in Vertretungsorgane oder in leitende Positionen in der Regierung, beim Geheimdienst oder beim Militär gewählt werden (USDOS 15.5.2023) und ihre politische Vertretung bleibt schwach (FH 10.3.2023). Wichtige politische Ämter stehen ausschließlich schiitischen Muslimen offen (ÖB Teheran 11.2021; vgl. OpD 18.1.2023). Sunniten werden v.a. beim beruflichen Aufstieg im öffentlichen Dienst diskriminiert (ÖB Teheran 11.2021). Für nicht anerkannte religiöse Gruppen gibt es keine rechtlichen Schutzgarantien. Diese Gruppierungen - z.B. Baha'i, Sabäer-Mandäer, Yaresani [Anm.: auch Ahl-e Haqq] (MRG 24.11.2022; vgl. BAMF 5.2022), Anhänger fernöstlicher oder esoterischer Philosophien und Kulte (IRINTL 25.1.2022), konvertierte evangelikale Christen, Sufi (Derwisch-Orden), Atheisten - werden in unterschiedlichem Ausmaß verfolgt (ÖB Teheran 11.2021; vgl. OpD 18.1.2023).

Das Ministerium für Kultur und islamische Führung und das Ministerium für Nachrichtenwesen und Sicherheit (MOIS) überwachen religiöse Aktivitäten. Die Revolutionsgarden überwachen auch Kirchen (USDOS 15.5.2023; vgl. OpD 18.1.2023). Die iranische Regierung verfolgt Angehörige religiöser Minderheiten bisweilen unter dem Vorwand, diese seien eine Gefahr für die nationale Sicherheit, und nicht, weil sie beispielsweise Christen sind (CNEN 4.2.2023). Führende Vertreter von Minderheitengruppen und Aktivisten werden oftmals unter dem allgemeinen Vorwurf der Bedrohung der "öffentlichen Moral" oder der nationalen Sicherheit zu langen Haftstrafen oder zum Tod verurteilt (MRG 24.11.2022; vgl.OpD 18.1.2023). Auch oppositionelle schiitische Geistliche und muslimische Sekten sind der Verfolgung ausgesetzt (ÖB Teheran 11.2021). Zur Sanktionierung von Vergehen wie "Irrlehre", "Abweichung" und "Propaganda" durch Geistliche besteht ein Sondergericht, das über eine eigene Polizei, Strafprozessordnung, Gefängnisse und einen eigenen Strafkatalog verfügt, zu dessen Strafen etwa Verbote, Seminare abzuhalten oder die Kleriker-Robe in der Öffentlichkeit zu tragen ebenso gehören wie Verbannung, Haftstrafen und Todesurteile (Qantara 16.5.2023). Das Sondergericht für Geistliche untersteht direkt dem Revolutionsführer und ist, wie auch die Revolutionsgerichte, in der Verfassung nicht vorgesehen (USDOS 15.5.2023).

Ethnische und religiöse Minderheiten, die jahrzehntelang unter systemischer und systematischer Diskriminierung und Verfolgung gelitten haben, waren von der Welle der Repression seit Beginn der Proteste im September 2022 unverhältnismäßig stark betroffen (UNHRC 7.2.2023). Im Zuge der Proteste übten auch prominente sunnitische Stimmen wie Kak Hasan Amini, einer der profiliertesten sunnitischen Geistlichen Irans, oder Moulana Abdulhamid aus Belutschistan, Führer der sunnitischen Gemeinschaft im Osten des Irans, Kritik am Regime (Posch 2023). Zum tödlichsten Zwischenfall im Rahmen der Proteste kam es nach einem Freitagsgebet Moulana Abdulhamids in Zahedan, als Sicherheitskräfte das Feuer auf Protestierende eröffneten [Anm.: s. Unterkap. "Sunniten" für weitere Informationen] (UNHRC 7.2.2023; vgl. USIP 9.3.2023). Im Jänner 2023 wurde ein sunnitischer Geistlicher aus dem Umfeld von Moulana Abdulhamid verhaftet, dem die Behörden "Manipulation der öffentlichen Meinung" sowie "Kommunikation mit ausländischen Personen und Medien" vorwarfen (USIP 9.3.2023). Unter anderem verwehrten die iranischen Behörden Angehörigen von getöteten Protestteilnehmerinnen und Protestteilnehmern, Begräbnisse nach ihren religiösen Riten zu vollziehen (UNHRC 7.2.2023). Obwohl diese Vorkommnisse nicht völlig neu waren, kam es im Zuge der Proteste auch vermehrt zu Übergriffen auf schiitische Geistliche, die aufgrund der umfassenden Politisierung von Religion mit dem iranischen Regime gleichgesetzt werden und als Vollstrecker von dessen politischen Zielen fungieren (INSS 18.5.2023; vgl. Qantara 16.5.2023).

Religiöse Minderheiten und Nichtgläubige berichteten auch von eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten, der Verweigerung oder Schwierigkeiten, Genehmigungen für die Gründung eigener Unternehmen zu erhalten, sowie eingeschränkten Bildungsmöglichkeiten und verhetzenden Äußerungen (IrWire 27.2.2023). Muslimische Geistliche rufen manchmal zu Gewalt gegen religiöse Minderheiten auf (OpD 18.1.2023). Dabei ist die iranische Gesellschaft weniger fanatisch als ihre Führung (OpD 18.1.2023; vgl. NLM 23.2.2023). Dies ist zum Teil auf den weitverbreiteten Einfluss des gemäßigteren Sufi-Islams zurückzuführen sowie auf den Stolz des iranischen Volkes auf seine vorislamische persische Kultur (OpD 18.1.2023). Dennoch wird mitunter von bedrohlicher Diskriminierung von Nicht-Schiiten seitens des familiären oder gesellschaftlichen Umfelds berichtet (ÖB Teheran 11.2021; vgl. OpD 18.1.2023).

Nach Einschätzung des australischen Außenministeriums sind nicht praktizierende iranische Muslime einem geringen Risiko behördlicher oder gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt, insbesondere in den Großstädten (DFAT 24.7.2023). Der Besuch von Moscheen ist in Iran beispielsweise nicht weit verbreitet, verglichen mit anderen muslimischen Ländern (Moaddel/FTJ 2022; vgl. MRAI 19.6.2023), und Personen werden nicht per se als Atheisten betrachtet, weil sie keine Moscheen aufsuchen. Dies gilt auch im ländlichen Bereich. Auch halten sich viele Iraner im Privaten nicht strikt an die Fastenregeln des Ramadan. Solange die Fastenregeln nicht in der Öffentlichkeit gebrochen werden, führte dies bislang üblicherweise zu keinen Problemen (MRAI 19.6.2023). Der Konsum von Speisen und Getränken sowie Rauchen in der Öffentlichkeit während des Ramadan kann nach dem iranischen Strafgesetzbuch (IStGB) jedoch mit Strafen wie Peitschenhieben sowie Haft geahndet werden. Während des Ramadan 2023 wurden Dutzende Geschäfte in Teheran wegen Verstößen gegen die Fastenregeln von der Polizei geschlossen und die Behörden riefen die Bevölkerung dazu auf, Verstöße gegen das Fasten in der Öffentlichkeit zu melden (IRINTL 27.3.2023).

Nach dem Gesetz dürfen Nicht-Muslime nicht missionieren oder versuchen, einen Muslim zu einem anderen Glauben zu bekehren. Das Gesetz betrachtet diese Aktivitäten als Bekehrungsversuche, die mit dem Tod bestraft werden können (USDOS 15.5.2023). Nicht einmal Zeugen Jehovas missionieren in Iran (DIS 23.2.2018). Das Parlament höhlte das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit im Jänner 2021 weiter aus, indem es zwei neue Paragrafen in das IStGB aufnahm, wonach die "Diffamierung staatlich anerkannter Religionen, iranischer Bevölkerungsgruppen und islamischer Glaubensrichtungen" sowie "abweichende erzieherische oder missionarische Aktivitäten, die dem Islam widersprechen" mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren und/oder einer Geldstrafe geahndet werden können. Im Juli 2021 wurden drei Männer, die zum Christentum konvertiert waren, auf dieser Grundlage zu langjährigen Haftstrafen verurteilt (AI 29.3.2022b). Das Regime betrachtet auch fernöstliche oder esoterische Philosophien und Kulte kritisch (IRINTL 25.1.2022). Unter anderem wurde auch ein Yogalehrer wegen "Propaganda gegen die Heiligtümer des Islam" vor einem Revolutionsgericht angeklagt, wobei seine Rechtsanwältin angab, die Behörden hätten seine Tätigkeit als Meditations- und Yogalehrer fälschlicherweise als islamfeindlich interpretiert (RFE/RL 7.11.2023).

Menschen, deren Eltern von den Behörden als Muslime eingestuft wurden, laufen Gefahr, willkürlich inhaftiert, gefoltert oder wegen "Apostasie" mit der Todesstrafe belegt zu werden, wenn sie andere Religionen oder atheistische Überzeugungen annehmen (AI 29.3.2022b; vgl. ÖB Teheran 11.2021), auch wenn Fälle von Hinrichtungen aus diesem Grund in den letzten Jahren nicht bekannt wurden. In der Praxis werden kaum mehr Verurteilungen wegen Apostasie registriert. Bei keiner der Hinrichtungen in den letzten Jahren gab es Hinweise darauf, dass Apostasie ein bzw. der eigentliche Verurteilungsgrund gewesen ist (ÖB Teheran 11.2021).

Christen

Letzte Änderung 2024-01-26 13:41

Nach Angaben des staatlichen iranischen Statistikzentrums aus dem Jahr 2016 gibt es 117.700 Christen in Iran. Einige Schätzungen deuten jedoch darauf hin, dass es deutlich mehr sind, als tatsächlich angegeben (USDOS 15.5.2023). Glaubwürdige Schätzungen sprechen von 100.000 bis 300.000 Christen in Iran. Den größten Anteil [unter den anerkannten christlichen Gemeinschaften] stellen dabei armenische Christen (STDOK 3.5.2018), wobei Vertreter dieser Religionsgemeinschaft ihre Gesamtanzahl auf 40.000-50.000 schätzen. Die Anzahl der Assyrer und Chaldäer wird auf insgesamt rund 7.000 geschätzt (USDOS 15.5.2023). Sonstige zahlenmäßig bedeutende Gruppen stellen Katholiken und Protestanten, die ihren Ursprung in der Zeit des Schah-Regimes haben (ÖB Teheran 11.2021), wobei erstere auf rund 21.000 Personen geschätzt werden, während es zu letzteren keine belastbaren Daten gibt. Viele Protestanten praktizieren ihren Glauben im Geheimen (USDOS 15.5.2023). Schätzungen zufolge stellen Konvertiten aus dem Islam mit mehreren Hunderttausend inzwischen die größte Gruppe dar, noch vor den Angehörigen traditioneller Kirchen (AA 30.11.2022). Armenische Christen leben hauptsächlich in Teheran und Isfahan (STDOK 3.5.2018).

Das Christentum ist in der iranischen Verfassung als Religion anerkannt, dies gilt allerdings nicht für evangelikale Freikirchen. Den historisch ansässigen Kirchen, die vorwiegend ethnische Gruppierungen abbilden (die armenische, assyrische und chaldäische Kirche) wird eine besondere Stellung zuerkannt (ÖB Teheran 11.2021): Da Konversion vom Islam zu einer anderen Religion verboten ist, erkennt die Regierung nur diese historisch ansässigen Christen an [abgesehen von Juden und Zoroastriern], da diese Gruppen schon vor dem Islam im Land waren, bzw. es sich um Staatsbürger handelt, die beweisen können, dass ihre Familien schon vor 1979 [Islamische Revolution] Christen waren. Sabäer-Mandäer werden auch als Christen geführt, obwohl sie sich selbst nicht als solche bezeichnen. Staatsbürger, die nicht den anerkannten Religionsgemeinschaften angehören, oder die nicht beweisen können, dass ihre Familien schon vor der Islamischen Revolution Christen waren, werden als Muslime angesehen. Mitglieder der anerkannten Minderheiten müssen sich registrieren lassen. Mit der Registrierung sind bestimmte Rechte verbunden, darunter die Verwendung von Alkohol zu religiösen Zwecken. Die Behörden können eine Kirche schließen und ihre Leiter verhaften, wenn die Kirchenbesucher sich nicht registrieren lassen oder wenn nicht registrierte Personen an den Gottesdiensten teilnehmen (USDOS 15.5.2023).

Religiöse Aktivitäten sind nur in den jeweiligen Gotteshäusern und Gemeindezentren erlaubt (ÖB Teheran 11.2021); christliche Gottesdienste auf Farsi sowie missionarische Tätigkeiten sind generell verboten (ÖB Teheran 11.2021), ebenso die Verbreitung christlicher Schriften. Soweit ethnische Christen die Ausübung ihres Glaubens ausschließlich auf die Angehörigen der eigenen Gemeinden beschränken, werden sie kaum behindert oder verfolgt. Dies trifft insbesondere auf armenische und assyrische Christen zu. Konvertiten vom Islam zum Christentum und Mitglieder protestantischer Freikirchen sind demgegenüber willkürlichen Verhaftungen und Schikanen ausgesetzt (AA 30.11.2022). Die iranischen Behörden gestatten Konvertiten nicht, die Kirchen der armenischen und assyrischen Gemeinschaften zu besuchen (ARTICLE18 o.D.). Einerseits wird immer wieder von Razzien und Verhaftungen von Christinnen und Christen berichtet, was ein hartes staatliches Vorgehen signalisiert. Die Gemeinden sollen durch diese Unvorhersehbarkeit in Angst und Unsicherheit gehalten werden. Andererseits belegen Einzelbeispiele, dass es immer darauf ankommt, welche Person dem Beschuldigten gegenübersitzt. Auch persönliche Einstellungen und Charakteristika von Amtsträgern spielen eine Rolle. Dabei kann es fallweise erhebliche Unterschiede geben. Die Aussage, dass Pastoren, Missionare oder Organisatoren von Hauskirchen besonders im Fokus der Sicherheitsdienste stehen, bedeutet nicht, dass sich das Risiko für normale, nicht in entsprechende Aktivitäten involvierte Gemeindemitglieder automatisch auf null reduzieren würde (BAMF 5.2022).

Historisch ansässige Christen genießen Kultusfreiheit innerhalb der Mauern der Gemeindezentren und der Kirchen (ÖB Teheran 11.2021) und sind in familienrechtlichen Angelegenheiten weitgehend autonom (BAMF 5.2022). Jedoch haben Nichtmuslime weder Religionsfreiheit in der Öffentlichkeit noch Meinungsfreiheit oder Versammlungsfreiheit. Jegliche missionarische Tätigkeit inklusive des öffentlichen Verkaufs von werbenden Publikationen und der Anwerbung von Andersgläubigen ist verboten (Proselytismusverbot) und wird streng bestraft. Missionierung kann im Extremfall mit dem Tod bestraft werden, wobei im November 2021 berichtet wurde, dass es in den letzten Jahren zu keinem derartigen Urteil kam (ÖB Teheran 11.2021). Im September 2022 wurde jedoch bekannt, dass zwei Aktivistinnen für die Rechte von Angehörigen sexueller Minderheiten, denen die Behörden neben anderen Anklagepunkten auch "Missionierung für das Christentum" vorwarfen, zum Tod verurteilt worden sind (BAMF 1.1.2023; vgl. OMCT 22.9.2022).

Für das iranische Regime besonders bedrohlich erscheinen Religionen wie das evangelikale Christentum, welches die aktive Ausübung des christlichen Glaubens etwa im Rahmen von Hauskirchen und missionarischen Aktivitäten einfordert. Die möglichen Verbindungen zu evangelikalen Gruppierungen und Organisationen in Ländern wie Großbritannien und den USA, die seit 1979 als Feinde des Landes und seines politischen Systems gelten, verstärken den Eindruck einer Bedrohung. Diese Gemengelage führt die iranischen Machthaber und Behörden zur Einschätzung, dass man es hier mit einer Bedrohung der nationalen Sicherheit zu tun hat (BAMF 5.2022). Infolge des Proselytismusverbots wird gegen evangelikale Gruppen ('Hauskirchen') oft hart vorgegangen (u. a. Verhaftungen und Beschlagnahmungen). Autochthone Kirchen halten sich meist penibel an das Verbot. Kirchenvertreter sind angehalten, die Behörden zu informieren, bevor sie neue Mitglieder in ihre Glaubensgemeinschaft aufnehmen (ÖB Teheran 11.2021).

Es gibt auch Einschränkungen, mit denen anerkannte religiöse Minderheiten zu leben haben, beispielsweise Nachteile bei der Arbeitssuche, islamische Bekleidungsvorschriften und Benachteiligungen insbesondere im Familien- und Erbrecht (STDOK 3.5.2018). Im Weltverfolgungsindex von Christen für das Jahr 2023, den die NGO Open Doors jährlich veröffentlicht, befindet sich Iran auf dem achten Platz (2022: Platz neun). Der Weltverfolgungsindex ist eine Rangliste der 50 Länder, in denen Christen der stärksten Verfolgung und Diskriminierung wegen ihres Glaubens ausgesetzt sind. Je niedriger die Zahl, desto höher die Verfolgung. Der durchschnittliche Druck in Iran ist weiterhin extrem hoch. Die Zahl dokumentierter gewaltsamer Übergriffe, einschließlich Entführungen, ist laut Open Doors in Iran zuletzt gestiegen (OpD 18.1.2023).

Ausländische christliche Gemeinden können ihre Religion weitgehend ungehindert ausüben, werden jedoch von staatlicher Seite dabei genau beobachtet. Eine nachhaltige Gemeindearbeit wird durch staatliche Schikanen verhindert (z. B. Verweigerung der Visaverlängerung für in Iran praktizierende, ausländische Priester oder Visaverweigerung). Dadurch könnten die Gemeinden langfristig "aussterben". Insbesondere Iraner, die sich aktiv für nicht-muslimische Glaubens- und Gemeindearbeit einsetzen, laufen Gefahr, ins Visier der Sicherheitsbehörden zu geraten (AA 30.11.2022). Ausländischen Christen ist es streng verboten, mit iranischen christlichen Konvertiten aus dem Islam in Kontakt zu treten, geschweige denn sie in ihre Gemeinden aufzunehmen (OpD 20.2.2023).

Es gibt Kirchen, die auch von außen als solche erkennbar sind (STDOK 3.5.2018; vgl. Qantara o.D.). Anerkannte christliche Religionsgemeinschaften haben das Recht, religiöse Riten und Zeremonien abzuhalten, Ehen nach den eigenen religiösen Gesetzen zu schließen und auch Privatschulen zu betreiben. Persönliche Angelegenheiten und religiöse Erziehung können dem eigenen religiösen Kanon nach geregelt werden (STDOK 3.5.2018), wobei Schüler und Schülerinnen, die einer anerkannten religiösen Minderheit angehören, auch Kurse in schiitischem Islam belegen und bestehen müssen (USDOS 15.5.2023).

Es gehört zum Erscheinungsbild in den Großstädten, dass christliche Symbole im Modebereich als Accessoires Verwendung finden und auch in den entsprechenden Geschäften angeboten werden. Auch Dekorationen mit christlichen Motiven sind nicht ungewöhnlich. Eine solche kommerzielle Präsentation führte bisher nach Darstellung der in Teheran vertretenen westlichen Botschaften zu keinen Strafverfahren (BAMF 3.2019). Weihnachtsdekoration ist in vielen Städten Irans beliebt, man kann sie ohne Probleme finden (MRAI 19.6.2023; vgl. BAMF 3.2019). Vor einigen Kirchen in Teheran stehen anlässlich der Weihnachtsfeiertage, zu denen von staatlicher Seite immer wieder Glückwünsche übermittelt werden, Weihnachtsbäume (BAMF 3.2019). Die gestiegene Beliebtheit von christlichen Weihnachtsfeiern und Christbäumen (unter Nicht-Christen) wurde von konservativer Seite allerdings auch kritisiert (IRJ 30.12.2019). Der Staat kann zwar Bedenken äußern oder Beschränkungen für Geschäfte, die diese Dekorationen verkaufen, auferlegen, aber er erhebt normalerweise keine Anklage wegen Besitzes oder Verwendung dieser Dekorationen (MRAI 19.6.2023). Unter anderem versucht er auch, das in Iran verbreitete Feiern des Valentinstages zu unterbinden, der zeitlich mit dem Jahrestag der Islamischen Revolution zusammenfällt. Seit über zwei Jahrzehnten ist die Herstellung von Postern, Broschüren, Schachteln und Karten mit Liebesherzsymbolen und roten Rosen, wie sie zum Valentinstag verschenkt werden, offiziell verboten. Dennoch werden derartige Waren von Ladenbesitzern angeboten und von Kunden gekauft, wobei Ladenbesitzer Sanktionen wie temporäre Geschäftsschließungen riskieren (NLM 14.2.2022). Das Tragen von christlichen Symbolen [wie z. B. Kreuzanhängern] kann nach Angaben einer iranischen Rechtsanwältin für Personen allerdings je nach Interpretation der Sittenpolizei zu Problemen führen. Die Behördenvertreter können dies beispielsweise als allgemeines und zweideutiges Vergehen im Zusammenhang mit Straftaten gegen die Keuschheit und die öffentliche Moral einstufen. Letztendlich ist es Sache des Richters oder der Polizei zu entscheiden, ob die Verwendung christlicher Symbole unter diese Straftatbestände fällt. Ein weiterer möglicher Ansatz besteht darin, Personen der "Störung der öffentlichen Werte" zu beschuldigen. Es gibt Fälle, in denen die Sittenpolizei Menschen wegen des Tragens christlicher Symbole verhaftet hat (MRAI 19.6.2023). Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge kann ein Richter sichtbare christliche Tätowierungen oder im Rahmen einer Verhaftung eines Konvertiten beschlagnahmten Schmuck oder Bilder mit christlicher Symbolik in die Beweislast im Zusammenhang mit einer Konversion einbeziehen. Dies kann jedoch von Fall zu Fall variieren (MBZ 9.2023).

Apostasie, Konversion zum Christentum, Proselytismus, Hauskirchen

Letzte Änderung 2024-01-26 13:44

Abfall vom Islam, Apostasie (Farsi: ertedad) fällt in den Bereich der sog. Hadd-Strafen der Sharia, die allgemein mit der Todesstrafe geahndet werden, obwohl die islamischen autoritativen Rechtsquellen wie der Koran und Hadithe (Aussagen des Propheten) nicht immer eindeutig und zuweilen auch widersprüchlich sind. Das Strafgesetzbuch der Islamischen Republik Iran (IStGB) ist nicht mit der Sharia identisch und Apostasie wird nicht als Straftatbestand im IStGB aufgeführt. In Fällen wie diesen erlaubt Art. 167 der Verfassung Richtern den Rückgriff auf traditionelle islamische Rechtsquellen (Koran, Hadith und Fatwas, sog. Rechtsgutachten). Damit besteht rechtlich zumindest in der Theorie die Möglichkeit, bei Apostasie eine Bestrafung gemäß den islamischen Rechtsquellen und Fatwas vorzunehmen. Obwohl die iranischen Behörden zuweilen mit Apostasie-Anklagen drohen, sind solche jedoch sehr selten (BAMF 5.2022; vgl. ARTICLE 19 6.7.2022). Gerichte können somit immer noch Todesurteile wegen Apostasie verhängen, indem sie sich in Art. 167 des Strafgesetzbuches auf die Scharia berufen. Zwischen 1990 und 2020 haben sie das - vermutlich auf internationalen Druck - nur dreimal getan. Die einzige Hinrichtung aufgrund von Apostasie fand 1990 statt (OpD 20.2.2023; vgl. IRB 9.3.2021). Ein Teilnehmer an den Protesten vom September 2022 wurde im Dezember 2022 von einem Revolutionsgericht unter anderem wegen Apostasie zum Tod verurteilt. Ihm war die Verbrennung eines Korans vorgeworfen worden, wobei er laut Amnesty International durch Folter zu einem Geständnis gezwungen worden war. Das Urteil wurde im Mai 2023 aufgehoben, der Protestteilnehmer verstarb jedoch in Haft, bevor es zu einer Neuverhandlung kommen konnte (AI 7.9.2023; vgl. BBC 31.8.2023).

Zum Christentum Konvertierte können auch auf Grundlage anderer Straftatbestände angeklagt werden, wobei diese Anklagepunkte zu den sogenannten Taʿzir-Strafen (Ermessensstrafen) zählen, bei denen die Urteilsfindung und das Strafmaß im Ermessen des vorsitzenden Richters liegen. Mögliche Anklagepunkte, die lt. IStGB mit unterschiedlich langen Haftstrafen geahndet werden, sind z.B.: Aktionen gegen die nationale Sicherheit (IStGB 5. Buch/Art. 498-99), Propaganda gegen das System (IStGB 5. Buch/Art. 500), Beleidigung heiliger islamischer Werte und Prinzipien (IStGB 5. Buch/Art. 513), Versammlung und Verschwörung zur Unterminierung der Landessicherheit (IStGB/Art. 610) oder Alkoholgenuss [im Zuge der Heiligen Kommunion] (IStGB/Art. 701) (BAMF 5.2022), wobei der Alkoholkonsum im Rahmen der religiösen Riten einer registrierten Gemeinschaft erlaubt ist (ÖB Teheran 11.2021). Andere politisch motivierte Anklagen wie Feindschaft gegen Gott (moharebeh) und Verderbtheit auf Erden (efsad-e fi’l-arz) wurden ebenfalls verschiedentlich dokumentiert, sind im Zusammenhang mit Bekenntnissen zu religiösen Alternativen allerdings eher selten (BAMF 5.2022).

Christen, insbesondere Evangelikale und andere Konvertiten aus dem Islam, sind nach Angaben christlicher Nichtregierungsorganisationen weiterhin unverhältnismäßig vielen Verhaftungen und Inhaftierungen sowie einem hohen Maß an Schikanen und Überwachung ausgesetzt. Menschenrechtsorganisationen und christliche NGOs berichten weiterhin, dass die Behörden Christen, einschließlich Mitglieder nicht anerkannter Kirchen, aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit oder ihrer Aktivitäten verhaften und sie beschuldigen, illegal in Privathäusern zu operieren oder "feindliche" Länder zu unterstützen und deren Hilfe anzunehmen. Das katholische Medienunternehmen AsiaNews hat berichtet, dass die Behörden zwischen Jänner und Juni 2022 58 christliche Konvertiten verhaftet haben, verglichen mit 72 im gesamten Jahr 2021. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen setzt die Regierung auch das Verbot der Missionierung weiter durch (USDOS 15.5.2023).

Trotz des Verbots des "Abfalls vom Islam" ist in Iran ein anhaltender Trend von Konversion zum Christentum festzustellen. Unter den Christinnen und Christen des Landes stellen Konvertiten aus dem Islam mit schätzungsweise mehreren Hunderttausend inzwischen die größte Gruppe dar, noch vor den Angehörigen traditioneller Kirchen. Viele vor allem jüngere Iranerinnen und Iraner haben sich von der Religion auch gänzlich abgewendet, weil sie mit den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen seit der Islamischen Revolution nicht einverstanden sind (AA 30.11.2022). Das Regime ist bestrebt, die Werte der Islamischen Revolution von 1979 zu schützen, von denen es seine Legitimität ableitet. Der christliche Glaube gilt als gefährlicher westlicher Einfluss und als Bedrohung der islamischen Identität der Republik (OpD 20.2.2023). Konversion und Bekenntnis zum Christentum sind damit Akte des Protests, der Fundamentalopposition und des Bruches mit der Islamischen Republik (BAMF 5.2022). Dies erklärt, warum insbesondere Konvertiten, die sich vom Islam ab- und dem christlichen Glauben zugewandt haben, wegen "Verbrechen gegen die nationale Sicherheit" verurteilt werden (OpD 20.2.2023). Aufgrund der häufigen Unterstützung ausländischer Kirchen für Kirchen in Iran und der Rückkehr von Christen aus dem Ausland lautet das Urteil oft auch Verdacht auf Spionage und Verbindung zu ausländischen Staaten und Feinden des Islam (z. B. Zionisten) (ÖB Teheran 11.2021). Freikirchliche Protestanten werden des "evangelikalen und zionistischen" Christen- bzw. Sektentums bezichtigt (BAMF 5.2022).

Missionarische Tätigkeit – d. h. jegliches nicht-islamisches religiöses Agieren in der Öffentlichkeit - ist verboten und wird geahndet (ÖB Teheran 11.2021; vgl. USDOS 15.5.2023). Das Strafgesetz sieht für Proselytismus formell die Todesstrafe vor, wobei es laut Auskunft der österreichischen Botschaft in Teheran vom November 2021 in den letzten Jahren zu keinem derartigen Urteil gekommen ist (ÖB Teheran 11.2021). Im September 2022 wurde jedoch bekannt, dass zwei Aktivistinnen für die Rechte von Angehörigen sexueller Minderheiten, denen die Behörden neben anderen Anklagepunkten auch "Missionierung für das Christentum" vorwarfen, zum Tod verurteilt worden sind (BAMF 1.1.2023; vgl. OMCT 22.9.2022).

Die Aktivitäten anerkannter christlicher Gemeinschaften sind streng geregelt, um Missionstätigkeit zu verhindern. Anerkannte christliche Gruppen lehnen Missionierungsarbeit daher ab, was von den Behörden regelmäßig auch überprüft wird (DFAT 24.7.2023). Alle Christen und christlichen Kirchen müssen bei den Behörden registriert sein, und nur anerkannte Christen dürfen die Kirche besuchen. Die Sicherheitsbehörden überwachen die registrierten Kirchen genau, um sicherzustellen, dass die Gottesdienste nicht auf Farsi abgehalten werden (sie müssen in der traditionellen Sprache der Kirche und nicht in der Volkssprache abgehalten werden), und führen regelmäßige Identitätskontrollen der Gläubigen durch, um zu überprüfen, dass keine Nichtchristen oder Konvertiten an den Gottesdiensten teilnehmen. Kirchen, die sich nicht daran halten, müssen mit der Schließung rechnen (DFAT 24.7.2023; vgl. ARTICLE18 o.D.).

Einige Konvertiten haben sich daher den "Assemblies of God"-Kirchen angeschlossen, andere gehören verschiedenen evangelikalen Hauskirchen-Netzwerken an (RFE/RL 5.5.2022). Die Schließungen von "Assembly of God"-Kirchen im Jahr 2013 führten zu einer Ausbreitung der Hauskirchen. Einer vom Danish Immigration Service (DIS) befragten Quelle zufolge zeigt die steigende Zahl von Hauskirchen, dass sie Spielraum für ihre Tätigkeit haben, obwohl sie illegal sind (DIS 23.2.2018). Die Größe der Hauskirchen, ihre Art und Struktur variieren. Die meisten sind klein und informell, sie bestehen aus engen Verwandten und Freunden, die sich regelmäßig zum Beten und Bibellesen oder zum Ansehen von christlichen Fernsehprogrammen auf Farsi treffen (DFAT 24.7.2023).

Die hauskirchlichen Vereinigungen stehen unter besonderer Beobachtung, ihre Versammlungen werden regelmäßig aufgelöst und ihre Angehörigen gelegentlich festgenommen (AA 30.11.2022). Die Behörden fürchten die Ausbreitung der Hauskirchen und beobachten sie. Allerdings ist es schwierig, diese zu kontrollieren, da sie verstreut, unstrukturiert und ihre Örtlichkeiten meist nicht bekannt sind. Eine Hauskirche kann beispielsweise durch Nachbarn aufgedeckt werden, die ungewöhnliche Aktivitäten um ein Haus bemerken und dies den Behörden melden. Weiters setzen die Behörden Informanten ein. Ansonsten haben die Behörden eigentlich keine Möglichkeit, eine Hauskirche zu entdecken, da die Mitglieder in der Regel sehr diskret sind. Erfolgreiche Hauskirchen sind einem größeren Risiko ausgesetzt: Ob Behörden eingreifen, hängt auch von der Größe der Gemeinde ab. Eine andere Quelle gab dagegen an, dass Hauskirchen systematisch durchsucht werden. Eine Überwachung von Telekommunikation, Social Media und Online-Aktivitäten ist weit verbreitet, wenn ein Christ das Interesse der Behörden geweckt hat. So können zum Beispiel Stichwörter wie "Kirche", "Christ", "Jesus" oder "Taufe" als Grundlage für eine elektronische Überwachung dienen (DIS 23.2.2018).

Einige derjenigen Christen, die die schwersten Strafen erhalten haben (2-10 Jahre Gefängnis), wurden wegen der Leitung/Organisation von Hauskirchen verurteilt (Landinfo 20.6.2022). Typischerweise werden die Leiter von Hauskirchen verhaftet und wieder freigelassen, da die Behörden die Hauskirche schwächen wollen (DIS 23.2.2018). Gewöhnliche Mitglieder von Hauskirchen riskieren ebenfalls, in einer Hauskirche verhaftet zu werden (DIS 23.2.2018; vgl. OpD 20.2.2023, BAMF 5.2022). Manche der Festgenommenen werden später nicht verurteilt und inhaftiert (Landinfo 20.6.2022). Ob ein Mitglied einer Hauskirche im Visier der Behörden steht, hängt auch von seinen durchgeführten Aktivitäten, und ob es auch im Ausland bekannt ist, ab. Normale Mitglieder von Hauskirchen riskieren, zu regelmäßigen Befragungen vorgeladen zu werden, da die Behörden diese Personen schikanieren und einschüchtern wollen. Eine Konversion und ein anonymes Leben als konvertierter Christ allein führen meist nicht zu einer Verhaftung. Wenn der Konversion aber andere Aktivitäten folgen, wie zum Beispiel Missionierung oder das Unterrichten von anderen Personen im Glauben, dann kann dies zu einem Problem werden. Wenn ein Konvertit nicht missioniert oder eine Hauskirche bewirbt, werden die Behörden in der Regel nicht über ihn Bescheid wissen (DIS 23.2.2018). Die Aussage, dass Pastoren, Missionare oder Organisatoren von Hauskirchen besonders im Fokus der Sicherheitsdienste befinden, bedeutet allerdings nicht, dass sich das Risiko für normale, nicht in entsprechende Aktivitäten involvierte Gemeindemitglieder automatisch auf null reduzieren würde. So berichtete Landinfo über die Verhaftung eines Mannes im Jahr 2016, der kein auffälliges Profil aufwies, das Rückschluss auf eine wie auch immer geartete Exponiertheit erlauben würde (BAMF 5.2022).

Im November 2021 entschied der Oberste Gerichtshof, dass neun christliche Konvertiten, die wegen ihrer Beteiligung an Hauskirchen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden waren, nicht wegen "Handelns gegen die nationale Sicherheit" angeklagt werden sollten. In der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs heißt es: "Die bloße Verkündigung des Christentums und die Förderung der 'evangelikalen zionistischen Sekte', wobei beides offensichtlich die Propagierung das Christentum durch Familientreffen [Hauskirchen] bedeutet, ist kein Ausdruck der Zusammenkunft und der geheimen Absprache, um die Sicherheit des Landes zu stören, weder im Inneren noch nach außen" (ARTICLE18 25.11.2021; vgl. RFE/RL 5.5.2022). Anders als die Berufungsgerichte kann der Oberste Gerichtshof keine neuen Urteile erlassen, sondern entscheidet lediglich über die Wiederaufnahme von Gerichtsverfahren. Der Fall wurde nun an eine Zweigstelle des Berufungsgerichtshofes innerhalb des Revolutionsgerichts überstellt, das nun unabhängig von den bislang ergangenen Gerichtsurteilen - aber auch unabhängig vom Obersten Gerichtshof - zu einem Urteil in der Sache gelangen konnte. Die Konvertiten wurden daraufhin im Februar 2022 freigesprochen und bis auf eine Person, die wegen ihrer christlichen Aktivitäten noch eine andere Haftstrafe verbüßt, freigelassen. Gegen zwei der Freigelassenen wurden umgehend neue Anklagen erhoben (BAMF 5.2022). In einem ähnlich gelagerten Fall wurde ein zum Christentum konvertiertes Ehepaar, das 2020 aufgrund der Teilnahme an hauskirchlichen Treffen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden ist, im Mai 2023 freigesprochen und aus der Haft entlassen. Auch hier hatte ein Berufungsgericht geurteilt, dass die Organisation, Mitgliedschaft und Teilnahme an christlichen Gruppen keine Handlungen gegen die Sicherheit des Landes darstellen würden (BAMF 15.5.2023). Menschenrechtsorganisationen betonen einerseits eine mögliche Signalwirkung der Urteile (BAMF 15.5.2023; vgl. ARTICLE18 25.11.2021), andererseits wurde beispielsweise im September 2022 bekannt, dass mehrere Christen aufgrund ihrer Beteiligung an Hauskirchen unter dem Anklagepunkt "Bildung und Betrieb illegaler Organisationen, mit dem Ziel die Sicherheit des Landes zu stören", von einem Berufungsgericht teilweise zu langen Haftstrafen verurteilt worden sind (ET 24.9.2022; vgl. OpD 22.9.2022).

Inhaftierten Christen, besonders christlichen Konvertiten, wird oft eine Entlassung gegen Kaution angeboten. Dabei geht es meist um hohe Geldbeträge, die Berichten zufolge zwischen 2.000 und 150.000 US-Dollar liegen. Die betroffenen Christen oder deren Familien werden dadurch gezwungen, ihre Häuser oder Geschäfte mit Hypotheken zu belasten. Personen, die gegen Kaution freigelassen werden, schweigen oft, da sie den Verlust ihres Familienbesitzes fürchten müssen. Das iranische Regime drängt sie, das Land zu verlassen und damit ihre Kaution zu verlieren. Es wird angenommen, dass Regierungsbeamte das Kautionssystem nutzen, um sich zu bereichern und Christen finanziell in den Ruin zu treiben (OpD 20.2.2023).

Die von der Regierung ausgeübte Kontrolle ist in städtischen Gegenden am höchsten. Ländliche Gebiete werden weniger stark überwacht. In der Anonymität der Städte haben Christen jedoch mehr Freiheiten, Treffen und Aktivitäten zu organisieren als in ländlichen Gebieten, in denen die soziale Kontrolle stärker ist (OpD 20.2.2023).

Einige Geistliche, die in der Vergangenheit in Iran verfolgt oder ermordet wurden, waren im Ausland zum Christentum konvertiert. Die Tragweite der Konsequenzen für jene Christen, die im Ausland konvertiert sind und nach Iran zurückkehren, hängt von der religiösen und konservativen Einstellung ihres Umfeldes ab. Jedoch wird von familiärer Ausgrenzung berichtet, sowie von Problemen, sich in der islamischen Struktur des Staates zurechtzufinden (z. B. Eheschließung, soziales Leben) (ÖB Teheran 11.2021). Informanten in westlichen Ländern berichten dem iranischen Geheimdienst über Aktivitäten iranischer Christen im Ausland (OpD 20.2.2023).

Die Rückkehr von Konvertiten nach Iran führt nicht zwingend zu einer Festnahme oder Inhaftierung (BAMF 3.2019). Wenn ein Konvertit den Behörden auch zuvor nicht bekannt war, dann ist eine Rückkehr weitgehend problemlos. Auch konvertierte Rückkehrer, die keine Aktivitäten in Bezug auf das Christentum setzen, sind für die Behörden nicht von Interesse. Wenn ein Konvertit schon vor seiner Ausreise den Behörden bekannt war, kann sich die Situation anders darstellen. Auch Konvertiten, die ihre Konversion öffentlich machen, können sich womöglich Problemen gegenübersehen. Wenn ein zurückgekehrter Konvertit sehr freimütig über seine Konversion in den Social Media-Kanälen berichtet, besteht die Möglichkeit, dass die Behörden auf ihn aufmerksam werden und ihn bei der Rückkehr verhaften und befragen. Der weitere Vorgang hängt davon ab, was der Konvertit den Behörden erzählt. Wenn der Konvertit kein 'high-profile'-Fall ist und nicht missionarisch tätig ist bzw. keine anderen Aktivitäten setzt, die als Bedrohung der nationalen Sicherheit angesehen werden, ist eine harsche Strafe eher unwahrscheinlich. Eine Bekanntgabe der Konversion auf Facebook allein führt zumeist nicht zu einer Verfolgung, aber dies kann durchaus dazu führen, dass man beobachtet wird. Ein gepostetes Foto im Internet kann von den Behörden ausgewertet werden, gemeinsam mit einem Profil und den Aktivitäten der konvertierten Person. Wenn die Person vor dem Verlassen des Landes keine Verbindung mit dem Christentum hatte, wird diese aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht verfolgt werden. Wenn eine konvertierte Person die Religion in politischer Weise heranzieht, um zum Beispiel Nachteile des Islam mit Vorteilen des Christentums auf sozialen Netzwerken zu vergleichen, kann das aber zu Problemen führen (DIS 23.2.2018). Eine befragte Rechtsanwältin schilderte in diesem Zusammenhang auch, dass es Fälle gibt, bei denen Personen aufgrund von Beiträgen in den sozialen Netzwerken mit nur geringer Reichweite oder Beiträgen von lediglich "privat" einsehbaren Profilen inhaftiert wurden, da sie von Personen aus ihrem Umfeld gemeldet wurden. Der Staat ist rechtlich dazu in der Lage, Personen in derartigen Fällen aufgrund von "Vergehen gegen die nationale Sicherheit" oder "Vergehen gegen den Islam" zu verfolgen (MRAI 19.6.2023). Die iranischen Behörden fokussieren bei der Überwachung von Konvertiten zuletzt zunehmend auf Online-Aktivitäten (Landinfo 20.6.2022). Dies fällt unter den Kompetenzbereich des Cyber Defense Commands der Revolutionsgarden sowie des Centre to Investigate Organized Crimes (CIOC), da dies als Angelegenheit der nationalen Sicherheit wahrgenommen wird (Landinfo/et al. 12.2021).

Ob eine Taufe für die iranischen Behörden Bedeutung hat, kann nicht zweifelsfrei gesagt werden. Während Amnesty International und eine anonyme Quelle vor Ort aussagen, dass eine Taufe keine Bedeutung hat, ist sich ein Ausländer mit Kontakt zu Christen in Iran darüber unsicher; Middle East Concern, eine Organisation, die sich um die Bedürfnisse von Christen im Mittleren Osten und Nordafrika kümmert, ist der Meinung, dass eine dokumentierte Taufe die Behörden alarmieren und problematisch sein kann (DIS 23.2.2018). Open Doors gibt im Weltverfolgungsindex 2023 an, dass die Taufe als öffentliches Zeichen der Abwendung vom Islam gesehen wird und deshalb verboten ist (OpD 20.2.2023).

Christlichen NGOs zufolge werden die staatlichen Beschränkungen für die Veröffentlichung von religiösem Material fortgesetzt, obwohl staatlich genehmigte Bibelübersetzungen Berichten zufolge weiterhin erhältlich sind. Regierungsbeamte beschlagnahmen häufig Bibeln und ähnliche nicht schiitische religiöse Literatur und üben Druck auf Verlage aus, die nicht genehmigtes nicht-muslimisches religiöses Material drucken, um ihre Tätigkeit einzustellen (USDOS 15.5.2023). Der Besitz christlicher Literatur in Farsi, besonders in größeren Stückzahlen, legt den Verdacht nahe, dass sie zur Weitergabe an muslimische Iraner gedacht ist (OpD 20.2.2023). Gleichzeitig ist bekannt, dass ein Projekt seitens des Erschad-Ministeriums zur Übersetzung der 'Katholischen Jerusalem Bibel' ins Farsi genehmigt und durchgeführt wurde. Auch die Universität für Religion und Bekenntnis in Qom, die Religionsstudien betreibt, übersetzte noch im Jahr 2015 den 'Katechismus der Katholischen Kirche' ins Farsi. Beide Produkte waren mit Stand 2019 ohne Probleme in Büchergeschäften erhältlich (BAMF 3.2019).

In Iran Konvertierte nehmen von öffentlichen Bezeugungen ihrer Konversion naturgemäß Abstand, behalten ihren muslimischen Namen und treten in Schulen, Universitäten und am Arbeitsplatz als Muslime auf. Wer zum Islam zurückkehrt, tut dies ohne besondere religiöse Zeremonie, um Aufsehen zu vermeiden. Es genügt, wenn die betreffende Person glaubhaft versichert, weiterhin oder wieder dem islamischen Glauben zu folgen. Es gibt hier für den Rückkehrer bestimmte religiöse Formeln, die dem Beitritt zum Islam ähneln bzw. nahezu identisch sind. Die Probleme, die durch Konversion auftreten können, sind breit gefächert. Sie beginnen in der Schule, wo Kinder aus konvertierten Familien einen Verweis oder die Verwehrung des Hochschuleintritts riskieren, sollten sie den Fächern Religionsunterricht, Islamische Lehre und Koranstunde fernbleiben (ÖB Teheran 11.2021).

Atheismus

Rechtlich gesehen ist es im Iran nicht möglich, sich nicht zu einer Religion zu bekennen. Es gibt mehrere Situationen, in denen Iraner den Behörden ihre Religionszugehörigkeit mitteilen müssen (MBZ 9.2023). Personen, die sich öffentlich vom Islam lossagen, können wegen Apostasie (DFAT 24.7.2023) und Blasphemie angeklagt werden (SäkF 24.8.2020; vgl. RFE/RL 8.5.2023). Beispielsweise im Mai 2023 exekutierte das iranische Regime zwei atheistische Aktivisten, die wegen Blasphemie zum Tod verurteilt worden waren, da sie in den sozialen Medien angeblich "Atheismus und die Beleidigung von religiösen und islamischen Heiligtümern" gefördert hätten (RFE/RL 8.5.2023; vgl. AJ 8.5.2023). Atheisten sind daher üblicherweise diskret bei der Zurschaustellung ihrer Anschauung (DFAT 24.7.2023; vgl. USDOS 15.5.2023). Wenn sie diese nicht weithin bekannt machen, ist es eher unwahrscheinlich, dass die Behörden auf sie aufmerksam werden (DFAT 24.7.2023). Unter anderem verbietet auch das Pressegesetz ausdrücklich eine Verbreitung von atheistischen Inhalten oder von Inhalten, die als schädlich für die islamischen Kodizes oder als Beleidigung islamischer Rechtsgelehrter angesehen werden. Die weit gefassten Definitionen erleichtern hierbei eine umfassende Zensur und verwehren den Bürgern den Zugang zu verschiedenen Informationsquellen (ARTICLE19 27.2.2018).

Atheisten aus konservativen Familien könnten mit familiärem Druck und potenzieller Ächtung konfrontiert werden, wenn ihr Atheismus bekannt würde. Atheisten aus liberaleren Familien und Teilen des Landes, wie dem Norden Teherans, sind solchem Druck dagegen nicht ausgesetzt (DFAT 24.7.2023). Gemäß einer anderen Quelle gaben Atheisten dagegen an, dass sie ihren Atheismus in den meisten gesellschaftlichen und sogar familiären Kontexten zu ihrer eigenen Sicherheit verbergen müssen (IrWire 27.2.2023).

Wechsel vom Schiitentum zum Sunnitentum, Konversion von einer nicht-islamischen Religion

Es liegen keine Daten bzw. Details zu Rechtsprechung und Behördenpraxis im Zusammenhang mit 'Konversion' bzw. Wechsel vom Schiitentum zum Sunnitentum vor. Dieser Wechsel [zwischen den beiden Hauptzweigen des Islam] ist auch nicht als Apostasie zu werten; bislang wurde noch kein solcher Fall als Apostasie angesehen (ÖB Teheran 11.2021). Er gilt nicht als Konversion, da es sich dabei um keinen Religionswechsel handelt, schließlich zählen Sunnitentum wie Schiitentum zum Islam. Eine befragte Rechtsanwältin geht nicht davon aus, dass es für einen Wechsel vom Schiitentum zum Sunnitentum bestimmte formale Anforderungen bzw. Regeln gibt. Personen, die dies wünschen, können schlicht in eine sunnitische Moschee gehen und dort beten. Aus rechtlicher Sicht besteht kein Problem bei einem Wechsel vom Schiitentum zum Sunnitentum. Es sind keine Fälle einer rechtlichen Verfolgung ähnlich wie bei einer Konversion von Muslimen zum Christentum bekannt (MRAI 19.6.2023). Aufgrund von Diskriminierung von Sunniten im Iran könnten öffentlich "konvertierte" Sunniten jedoch Nachteile in Beruf und Privatleben erfahren. Keine besonderen Bestimmungen gibt es zur Konversion von einer nicht-islamischen zu einer anderen nicht-islamischen Religion, da diese ebenfalls nicht als Apostasie gilt (ÖB Teheran 11.2021).

Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung 2024-01-24 12:58

Das Gesetz sieht die Bewegungsfreiheit im Land, Auslandsreisen, Emigration und Repatriierung vor. Im Prinzip respektiert die Regierung diese Rechte, es gibt jedoch einige Einschränkungen, besonders für Frauen und Flüchtlinge. Die Regierung verlangt von allen Bürgern für Auslandsreisen eine Ausreisebewilligung (USDOS 20.3.2023). Bestimmte Gruppen, wie Angestellte in sensiblen Bereichen, iranische Studenten im Ausland und alle Männer im Alter von 18 bis 30 Jahren, die ihren Militärdienst noch nicht abgeleistet haben, benötigen eine besondere Ausreisebewilligung (Landinfo 21.1.2021 vgl. CGRS-CEDOCA 10.5.2023). Bürger, die auf Staatskosten ausgebildet wurden oder Stipendien erhalten haben, müssen diese entweder zurückzahlen, oder erhalten befristete Ausreisebewilligungen. Die Regierung schränkt auch die Reisefreiheit von einigen religiösen Führern, Mitgliedern von religiösen Minderheiten und Wissenschaftlern in sensiblen Bereichen ein. Journalisten, Akademiker, oppositionelle Politiker, Künstler sowie Menschen- und Frauenrechtsaktivisten sind von Reiseverboten und Konfiszierung der Reisepässe betroffen (USDOS 20.3.2023).

Zur rechtmäßigen Ausreise aus der Islamischen Republik Iran benötigen iranische Staatsangehörige einen gültigen Reisepass und einen Nachweis über die Bezahlung der Ausreisegebühr (gestaffelte Gebühr: derzeit 4 bis 8 Millionen Rial [Stand 31.3.2023: 8,7 bis 17 Euro - Wechselkurse schwanken stark]). Die illegale Ausreise erfolgt zumeist auf dem Landweg unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Türkei (AA 30.11.2022). Verheiratete Frauen dürfen nicht ohne die Zustimmung ihrer Männer ins Ausland reisen (USDOS 20.3.2023; vgl. FH 10.3.2023). Unverheiratete Frauen über 18 Jahren brauchen nicht die Zustimmung ihres Vaters oder Vormunds, um einen Pass zu bekommen oder ins Ausland zu reisen (CGRS-CEDOCA 10.5.2023).

Ein vom Staatsanwalt bei Gericht eingebrachter Antrag auf ein Ausreiseverbot kann von der Person, gegen die ein Ausreiseverbot verhängt worden ist, nicht im SANA-System eingesehen werden (MBZ 9.2023).

Zu den Gerichtsurteilen gehört manchmal die interne Verbannung nach der Haftentlassung. So werden Personen daran gehindert, in bestimmte Provinzen zu reisen. Frauen benötigten oft die Aufsicht eines männlichen Vormunds oder einer Aufsichtsperson, um reisen zu können. Sie werden mitunter behördlichen und gesellschaftlichen Schikanen ausgesetzt, wenn sie alleine reisen (USDOS 20.3.2023).

Ausweichmöglichkeiten

Soweit Repressionen praktiziert werden, geschieht dies landesweit unterschiedslos. Zivile und militärische Verwaltungsstrukturen arbeiten effektiv. Ausweichmöglichkeiten bestehen somit nicht (AA 30.11.2022).

Grundversorgung und Wirtschaft

Letzte Änderung 2024-01-15 12:42

Die Grundversorgung ist gesichert, wozu neben staatlichen Hilfen auch ein enger Familienzusammenhalt sowie das islamische Spendensystem beitragen (AA 30.11.2022). Die iranische Regierung hat angekündigt, den monatlichen Mindestlohn ab März 2023 auf ca. 56 Millionen Rial festzulegen [mit Stand 12.4.2023 umgerechnet 100 Euro - aufgrund von Inflation und Wechselkursveränderung stark schwankend] (IRINTL 1.2.2023). Das durchschnittliche Jahreseinkommen eines städtischen Haushalts lag 2019 (letzte offiziell verfügbare Zahlen) bei rund 747 Millionen Rial (AA 30.11.2022). Nach Angaben des iranischen Ministeriums für Kooperativen, Arbeit und Wohlfahrt benötigt eine Familie mit vier Personen in Teheran schätzungsweise mindestens 147 Millionen Rial [am 12.4.2023 ca. 260 Euro] monatlich, um nicht unter die Armutsgrenze zu rutschen, im Landesdurchschnitt sind es ca. 77 Millionen Rial [am 12.4.2023 ca. 140 Euro] (IRINTL 1.2.2023).

Angesichts der immer schärferen US-Sanktionen und des dramatischen Währungsverfalls hat sich die wirtschaftliche Lage weiter verschlechtert (ÖB Teheran 11.2021; vgl. BS 23.2.2022). Iran befindet sich weiterhin in einer ökonomisch hochproblematischen Lage. Die Trends der vergangenen Jahre setzen sich weiter fort (BAMF 13.2.2023). Im Februar 2023 erreichte der Rial mit ca. 1:580.000 zum US-Dollar seinen bisherigen Tiefststand, wobei die Währung in den vergangenen zehn Jahren 94 % ihres Werts verloren hat (IRINTL 30.3.2023). Dies verteuert vor allem Importe auf breiter Front (BAMF 13.2.2023) und brachte im Februar 2023 viele Unternehmen fast zum Stillstand (IRINTL 26.2.2023). Gründe sind die US-Sanktionen und deren extraterritoriale Anwendung und damit Zurückhaltung europäischer Unternehmen vor Geschäften mit Iran, aber auch die Folgen der COVID-19-Pandemie. Viele Privatunternehmen mussten aufgrund fehlender Devisen und Importmöglichkeiten von Rohstoffen, Bestandteilen oder Ausrüstung die Produktion drosseln oder schließen (ÖB Teheran 11.2021).

Neben der Abwertung des Rial sieht sich das Land auch mit einer ungezähmten Inflation konfrontiert, die laut einem Bericht des Statistischen Zentrums Irans am 19.2.2023 bei mehr als 53 % lag (AJ 2.3.2023) und in den vergangenen vier Jahren durchgehend über 40 % betrug, was sich negativ auf die Kaufkraft der Haushalte auswirkt (WB 20.10.2022). Lebensmittel waren davon zuletzt besonders stark betroffen (AJ 2.3.2023; vgl. BAMF 13.2.2023).

Gleichzeitig reichte die Schaffung von Arbeitsplätzen nicht aus, um die große Zahl junger und gebildeter Berufsanfänger zu absorbieren (WB 20.10.2022). Neben Arbeitslosigkeit spielt auch Unterbeschäftigung eine Rolle. Ausgebildete Arbeitskräfte (Facharbeiter, Uni-Absolventen) finden oft keine ihrer Ausbildung entsprechenden Jobs. Daraus folgen soziale Spannungen, aber auch ein beträchtlicher "Braindrain", der die Gesellschaft und Wirtschaft beeinträchtigt. Angesichts der Kaufkrafteinbußen können viele Menschen ihre Lebenshaltungskosten nur sehr knapp abdecken, jede Verschlechterung führt zu Verzweiflung. So kam es zu lokal begrenzten kurzzeitigen Protesten und Streiks, etwa wegen Gehaltsrückständen und schlechter Arbeitsbedingungen oder aufgrund des Preisdrucks in der Produktion (ÖB Teheran 11.2021) oder aufgrund der gestiegenen Lebenshaltungskosten (IRINTL 26.2.2023).

Inoffizielle Schätzungen zur Armutsrate gehen von mindestens 15-20 Millionen Iranerinnen und Iranern aus (bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 83 Millionen), die in absoluter Armut leben, wobei die COVID-19-Pandemie und ihre Folgen das Armutsrisiko weiter erhöht haben (BS 23.2.2022). Laut einem Bericht des iranischen Ministeriums für Kooperativen, Arbeit und Wohlfahrt lebt rund ein Drittel der iranischen Bevölkerung in extremer Armut. Ihre Anzahl hat sich von 2020 auf 2021 verdoppelt. Rund zwei Drittel der Bevölkerung leben laut offiziellen Zahlen des Innenministeriums in relativer Armut (IRINTL 1.2.2023). Laut dem Human Development Index (HDI) des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) befindet sich Iran mit einem Indexwert von 0,774 für das Jahr 2021 (letztverfügbare Daten) unter den Ländern mit einem hohen Entwicklungsstand. Der HDI misst den Entwicklungsstand von Staaten anhand der Faktoren "langes und gesundes Leben", "Zugang zu Bildung" und "menschenwürdige Lebensstandards für die Bevölkerung". Während die errechneten Indexwerte für Iran im Zeitraum 1990-2017 gestiegen sind, nehmen sie seit 2018 wieder ab (UNDP 8.9.2022).

Die Wirtschaft zeichnet sich durch ihren Kohlenwasserstoff-, Landwirtschafts- und Dienstleistungssektor sowie eine bemerkenswerte staatliche Präsenz in der verarbeitenden Industrie und den Finanzdienstleistungen aus. Iran steht weltweit an zweiter Stelle, was die Größe der Erdgasreserven betrifft, und bei den nachgewiesenen Rohölreserven an vierter Stelle (WB 20.10.2022). Obwohl die iranische Wirtschaft für ein erdölexportierendes Land relativ diversifiziert ist (WB 20.10.2022; vgl. BPB 15.5.2020) und über ein Reservoir gut ausgebildeter Arbeitskräfte verfügt (BPB 15.5.2020), hängen die Wirtschaftstätigkeit und die Staatseinnahmen von den Öleinnahmen ab und sind daher volatil (WB 20.10.2022; vgl. BPB 15.5.2020). Die unter US-Präsident Trump verhängten Sanktionen schränken die Fähigkeit Irans, Absatzmärkte für Öl zu finden, empfindlich ein. Außerdem bekam Iran nur unzureichend Zugang zu Hochtechnologien, was dazu beiträgt, dass die Erdölanlagen nur mangelhaft instandgehalten und das Potenzial der enormen Vorkommen an Naturgas nicht annähernd ausgeschöpft wird. Dies verschärft die Depression, in die das Land bereits 2018 geschlittert ist, noch weiter (BPB 31.1.2020b).

Der staatliche Sektor (staatliche und halbstaatliche Unternehmen) macht etwa 80 % der iranischen Wirtschaftstätigkeit aus, während der private und kooperative Sektor nur einen Anteil von rund 20 % hat. Viele Staatsbetriebe gehören nicht der Regierung, sondern wirtschaftlich starken religiösen, revolutionären und militärischen Stiftungen ("Bonyads"). Diese werden direkt oder indirekt vom Obersten Führer kontrolliert und genießen viele Privilegien, wie Steuerbefreiungen und exklusiven Zugang zu lukrativen Regierungsaufträgen (BS 23.2.2022). Das exakte Ausmaß der Vermögenswerte und Aktivitäten der Bonyads ist nicht bekannt, sie spielen in der iranischen Wirtschaft jedoch eine bedeutsame Rolle (MEI 7.6.2022). Die Bonyads beanspruchen für sich, eine Vielzahl von Aktivitäten im Zusammenhang mit Sozialarbeit, Beratungs-, Sozial- und Rehabilitationsdiensten durchzuführen (MEI 29.1.2009). Sie sind eine wichtige Säule im Machtapparat des Regimes (LMD 2020b). Die größten Organisationen sind die Imam-Reza-Stiftung (LMD 2020b) oder Astân Quds Razavi, eine Stiftung, die den Schrein von Imam Reza in Mashhad verwaltet und mit sechs großen Holdinggesellschaften und insgesamt 351 Firmen als größter Landbesitzer im Nahen Osten gilt; die Märtyrer-Stiftung (Bonyâd Shahid), die mehr als 250 Unternehmen kontrolliert (MEI 7.6.2022); die Stiftung für die Unterdrückten (Bonyâd Mostazâfan) (MEI 7.6.2022; vgl. LMD 2020b), die mehr als 400 Unternehmen und Tochtergesellschaften in fast allen Sektoren der Industrie beaufsichtigt; die Imam Khomeini Relief Foundation (Comité Emdâd Emâm Khomeini), ein weiterer führender Akteur mit ihren vier Beteiligungen (MEI 7.6.2022); und das Stabszentrum zur Ausführung des Imam-Dekrets (Setâd Ejrâ-ye Farmân Emâm) (LMD 2020b; vgl. MEI 7.6.2022), das in den meisten Industrie- und Unternehmenssektoren tätig ist (MEI 7.6.2022). Die Revolutionsgarden sind mit einigen der Bonyads eng verbunden (MEI 3.5.2022). Sie sind wirtschaftlich ebenso aktiv und haben ihre eigenen finanziellen, wirtschaftlichen, industriellen und landwirtschaftlichen Zweige. Das Wirtschaftskonglomerat Khatam al-Anbiyam, das sich im Besitz der Revolutionsgarden befindet, hat es geschafft, ein Monopol auf große Infrastrukturprojekte in Iran aufzubauen (MEI 7.6.2022). Die Vermengung der politischen mit der wirtschaftlichen Sphäre hat eine staatliche Verteilungs- und Klientelpolitik gefördert, die mit hoher Korruption einhergeht (BPB 31.1.2020b; vgl. MEI 7.6.2022).

Die iranische Wirtschaft ist in vielen Bereichen zentralisiert und steht zu großen Teilen unter staatlicher Kontrolle. So haben viele iranische Unternehmen neben wirtschaftlichen auch politische Ziele zu erfüllen. Durch regelmäßige staatliche Eingriffe über Preisregulierungen und Subventionen, die in aller Regel politische Ursachen haben, konnte sich bisher eine eigenständige Wirtschaft nur bedingt entwickeln. Eine etablierte Privatwirtschaft gibt es vor allem auf dem Basar, in der Landwirtschaft und im Dienstleistungsgewerbe (GIZ 12.2020b). Der Staat hat einen erheblichen Einfluss auf die Preisgestaltung, die Festsetzung des [offiziellen] Wechselkurses und des Zollsatzes, die Kontrolle von Handel und Investitionen und die Verwaltung der Kernindustrien, insbesondere des Öl- und Petrochemiesektors. Das Ministerium für Arbeit und Soziales regelt die Lohnhöhe, berechnet die Inflation und analysiert die Wirtschaftslage (BS 23.2.2022).

Als die Behörden im November 2019 den Treibstoffpreis um 300 % erhöhten, kam es zu den bis zu diesem Zeitpunkt größten Protesten der Islamischen Republik (IrFocus 6.2.2023). Im Februar 2023 kündigte die Regierung einen Privatisierungsplan an, der in den nächsten zwei Jahren umgesetzt werden und das staatliche Budget aufbessern soll (IRINTL 4.2.2023). Ökonomen befürchten allerdings, dass von den Privatisierungen vor allem einflussreiche, gut vernetzte Unternehmer profitieren werden (Fanack 6.3.2023; vgl. IRINTL 4.2.2023). Von 2001 bis 2013 fanden mehrere Privatisierungsrunden statt, bei denen größtenteils staatsnahe Akteure, wie die Basij, die Revolutionsgarden, Stiftungen, Geistliche und andere mit dem Regime verbundene Geschäftsleute Staatsbesitz erwarben. Als die Behörden in Reaktion auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie 2020 weitreichende Privatisierungen durchführten, von denen auch wieder v. a. Angehörige und Verbündete von hohen Regierungsvertretern profitierten, hat dies Proteste ausgelöst. Darüber hinaus führten die Privatisierungen in den meisten iranischen Städten zu groß angelegten Streiks, da neue Investoren die Kosten senkten, indem sie einen großen Anteil an Bergleuten während der Pandemie entlassen haben (Fanack 6.3.2023).

Iranische Banken sind seit der Wiedereinführung der Sanktionen im Jahr 2018 vom SWIFT-System ausgeschlossen (MEE 30.1.2023).

Rückkehr

Letzte Änderung 2024-01-26 15:22

Die iranische Regierung verfolgt seit langem die Politik, keine zwangsweisen Rückführungen zuzulassen. Freiwillige Rückführungen sind möglich und werden manchmal von den rückführenden Regierungen oder der Internationalen Organisation für Migration (IOM) unterstützt. In Fällen, in denen eine iranische diplomatische Vertretung vorübergehende Reisedokumente ausgestellt hat, werden die Behörden über die bevorstehende Rückkehr der Person informiert (DFAT 24.7.2023).

Das Ansuchen um Asyl im Ausland ist an sich nicht strafbar und auch kein Grund, die iranische Staatsbürgerschaft zu verlieren (MBZ 31.5.2022). Allein der Umstand, dass eine Person einen Asylantrag gestellt hat, löst bei einer Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus (AA 30.11.2022). Eine von der belgischen Herkunfstländerrechercheeinheit CEDOCA im Jänner 2023 durchgeführte Recherche zu diesbezüglichen Fällen blieb ergebnislos (CGRS-CEDOCA 10.5.2023). Im Allgemeinen schenken die Behörden abgelehnten Asylwerbern bei ihrer Rückkehr nach Iran wenig Beachtung. Das australische Außenministerium geht davon aus, dass ihre Aktivitäten (einschließlich Beiträgen in sozialen Medien über Aktivitäten vor Ort) von den Behörden nicht routinemäßig untersucht werden. Die Behörden können allerdings in den sozialen Medien einsehbare Aktivitäten von in Australien (oder anderswo) bekannten Iranern überprüfen (DFAT 24.7.2023) und laut einem von CEDOCA befragten Experten wird es immer üblicher, dass die Behörden Rückkehrer anweisen, ihre Konten in sozialen Netzwerken offenzulegen (CGRS-CEDOCA 10.5.2023). Einer vom niederländischen Außenministerium befragten Quelle zufolge befragen die Behörden fast jede Person, von der sie wissen, dass sie einen Asylantrag gestellt hat, um herauszufinden, was der Grund für den Asylantrag war und ob sich die Person nicht politisch oder religiös betätigt hat. Ob Rückkehrer im Ausland einen Asylantrag gestellt haben, können die Behörden beispielsweise durch Angehörige oder Freunde der Betroffenen erfahren, durch abgehörte Kommunikation oder aufgrund einer Durchsicht von Inhalten in den sozialen Medien (MBZ 9.2023). An Personen, die seitens iranischer Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert wurden, besteht ein Verfolgungsinteresse (AA 30.11.2022).

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Rückkehrer aufgrund der Protestbewegung ab September 2022 verstärkt von den Sicherheitsdiensten überprüft werden. Bereits vor den aktuellen Protesten ist es in Einzelfällen zu einer Befragung durch die Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt gekommen, deren Ausgang sich zum Beispiel der Kenntnis des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland entzieht. Bisher ist dem Auswärtigen Amt kein Fall bekannt, in dem Zurückgeführte im Rahmen dieser Befragungen psychisch oder physisch gefoltert worden sind (AA 30.11.2022). Eine andere Quelle betont, dass aus Europa zurückkehrende Asylwerber gefährdet sind, von den iranischen Behörden befragt, verhaftet und in manchen Fällen auch gefoltert und getötet zu werden, wenn die Behörden sie mit politischem Aktivismus in Verbindung bringen (DIS 7.2.2020).

​ Es gibt leicht unterschiedliche Ansichten darüber, was das Interesse der Behörden an einem abgelehnten Asylwerber wecken könnte. Allgemein herrscht der Eindruck vor, dass diejenigen, die vor ihrer Ausreise aus Iran Gegenstand negativer behördlicher Aufmerksamkeit waren, bei ihrer Rückkehr mit Reaktionen rechnen müssen. Als weiterer Faktor wird die Art der Informationen genannt, welche Behörden über die Aktivitäten einer Person im Ausland erhalten haben, und ob diese Aktivitäten dem Regime schaden - oder ihm möglicherweise nützen - könnten (Landinfo 21.1.2021). Einer Quelle zufolge spielt der ethnische oder religiöse Hintergrund oder die sexuelle Orientierung eines Rückkehrers für sich genommen keine Rolle. Einer anderen Quelle zufolge können diese Faktoren eine kumulierende Wirkung haben (MBZ 31.5.2022; vgl. MBZ 9.2023).

Insbesondere in Fällen, in denen Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. Im Rahmen der Befragung wird der Reisepass regelmäßig einbehalten und eine Ausreisesperre ausgesprochen (AA 30.11.2022). Wenn Personen mit einem Laissez-Passer anstelle eines regulären Reisedokuments ins Land zurückkehren, kann dies zu Befragungen führen, da dies bedeuten könnte, dass die betroffenen Personen illegal ausgereist sind und/oder um internationalen Schutz im Ausland angesucht haben (CGRS-CEDOCA 10.5.2023; vgl. MBZ 9.2023). Eine juristische Quelle in Iran vom Dezember 2020 erklärte, dass im Falle einer illegalen Ausreise die häufigste Strafe eine Geldstrafe oder eine Gefängnisstrafe auf Bewährung ist, es sei denn, die Person wird zusätzlich anderer Straftaten verdächtigt. Wenn die Person Iran illegal verlassen hat, um einer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen, oder in kriminelle Aktivitäten wie Schmuggel, Menschenhandel oder Aktivitäten militanter Gruppen an der Grenze verwickelt ist, ist die Reaktion wesentlich schärfer (CGRS-CEDOCA 10.5.2023).

Einige Mitglieder der iranischen Diaspora kehren regelmäßig nach Iran zurück, zum Beispiel für einen Urlaub oder um Verwandte zu besuchen (MBZ 9.2023). Es hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, ob jemand nach der Rückkehr befragt wird. Oft wird erst im Laufe der Zeit klar, ob eine echte Bedrohung vorliegt (MBZ 31.5.2022). Iranreisende - sowohl iranische als auch z. B. deutsche Staatsangehörige - müssen seit einiger Zeit verstärkt damit rechnen, dort willkürlich verhaftet und möglicherweise auch angeklagt zu werden (BMIH/BfV 20.6.2023). Politische Aktivisten und andere, die als Bedrohung angesehen werden, werden beobachtet und haben das Gefühl, sich nicht frei bewegen zu können (MBZ 31.5.2022). Ferner häufen sich seit 2022 gezielte nachrichtendienstliche Ansprachen zum Zweck einer Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit iranischen Nachrichtendiensten. Dies gilt insbesondere für Personen, die durch iranische Stellen mit einer oppositionellen Gruppierung in Verbindung gebracht werden oder bei denen Kontakte zu Personen aus der oppositionellen Szene vermutet werden. Zudem besteht die Gefahr, dass Mobilfunkgeräte und Informations- und Kommunikationshardware ausgelesen oder manipuliert werden (BMIH/BfV 20.6.2023). Es gibt auch Berichte, dass Einzelpersonen unter Druck gesetzt werden, die Passwörter ihrer Social-Media-Konten herauszugeben. Dadurch erhalten die Behörden Zugang zu sozialen Netzwerken innerhalb und außerhalb Irans (MBZ 9.2023). Eine Befragung von aus dem Ausland zurückkehrenden Iranerinnen und Iranern kann bei der Ankunft am Flughafen durch Geheimdienstmitarbeiter erfolgen (IRINTL 7.1.2022; vgl.MBZ 31.5.2022), oder zu einem späteren Zeitpunkt, in der Wohnung des Befragten und durch die lokalen Behörden (MBZ 31.5.2022). Ebenso kommt es vor, dass es Rückkehrern nach ihrer Ankunft am Flughafen erlaubt wird, nach Iran einzureisen, und sie dann zu einem späteren Zeitpunkt von den iranischen Behörden strafrechtlich verfolgt werden. Einer Quelle zufolge nehmen die Behörden Rückkehrer in der Regel nicht gleich bei der Ankunft am Flughafen fest, weil sie dort sichtbar sind und von den vielen anwesenden Personen mit ihren Handys gefilmt werden könnten. Den Rückkehrern wird dann am Flughafen zum Beispiel gesagt, dass etwas mit ihrem Pass nicht stimmt oder dass ein Bußgeld aussteht, und dass sie sich später an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit melden sollen (MBZ 9.2023).

Es gibt nur wenige Informationen über die Situation von Iranern, die nach Iran zurückkehren, im Allgemeinen und von zurückgekehrten Antragstellern auf internationalen Schutz im Besonderen (CGRS-CEDOCA 10.5.2023). Zum Thema Rückkehrer gibt es nach wie vor kein systematisches Monitoring, das allgemeine Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulassen würde (ÖB Teheran 11.2021; vgl. CGRS-CEDOCA 10.5.2023). In Einzelfällen konnte im Falle von Rückkehrern aus Deutschland festgestellt werden, dass diese bei niederschwelligem Verhalten und beim Abstandnehmen von politischen Aktivitäten, mit Ausnahme von Einvernahmen durch die iranischen Behörden unmittelbar nach der Einreise, keine Repressalien zu gewärtigen hatten. Allerdings ist davon auszugehen, dass Rückkehrer keinen aktiven Botschaftskontakt pflegen, der ein seriöses Monitoring ihrer Situation zulassen würde. Auch IOM Iran, die in Iran Unterstützungsleistungen für freiwillige Rückkehrer im Rahmen des ERIN-Programms anbietet, unternimmt ein Monitoring nur hinsichtlich der wirtschaftlichen Wiedereingliederung der Rückkehrer, nicht jedoch im Hinblick auf die ursprünglich vorgebrachten Fluchtgründe und die Erfahrungen mit Behörden nach ihrer Rückkehr (ÖB Teheran 11.2021).

Das iranische Außenministerium hat im Dezember 2021 ein Webportal eingerichtet, auf dem Iraner, die sich im Ausland aufhalten und eine Rückkehr nach Iran erwägen, ihre Daten hochladen können, woraufhin ihnen mitgeteilt wird, ob sie sicher und ungehindert ein- und ausreisen können oder ob es offene Fälle gegen sie gibt. Allerdings ist nicht jeder in der iranischen Diaspora davon überzeugt, dass dieses System funktioniert und dass er oder sie ohne Bedenken nach Iran reisen kann. Ein Grund dafür ist, dass nicht alle iranischen Nachrichtendienste koordiniert zusammenarbeiten und daher immer die Möglichkeit besteht, dass Rückkehrer dennoch aufgegriffen werden (IRINTL 7.1.2022; vgl. MBZ 9.2023).

Nach derzeitigem Kenntnisstand können Asylantragsteller bzw. anerkannte Flüchtlinge Kontakt mit iranischen Auslandsvertretungen aufnehmen, um beispielsweise einen neuen iranischen Pass zu beantragen. Fälle von daraus folgenden Repressalien gegen die Antragsteller oder ggf. gegen deren Familien in Iran sind bislang nicht bekannt (AA 30.11.2022). Im April 2022 kündigte das Amt für Personenstandswesen an, hinkünftig "smarte" Identitätsnachweise an im Ausland lebende Iraner auszustellen. Antragsteller können sich unter anderem im iranischen Konsulat in Wien registrieren lassen, um den Identitätsnachweis zu erhalten (TEHT 10.4.2022).

Das Verbot der Doppelbestrafung gilt nur stark eingeschränkt. Iraner oder Ausländer, die bestimmte Straftaten im Ausland begangen haben und in Iran festgenommen werden, werden nach dem iranischen Strafgesetzbuch (IStGB) bestraft. Auf die Verhängung von islamischen Strafen haben bereits ergangene ausländische Gerichtsurteile keinen Einfluss; die Gerichte erlassen eigene Urteile. Insbesondere bei Betäubungsmittelvergehen drohen drastische Strafen. In jüngster Vergangenheit sind jedoch keine Fälle einer Doppelbestrafung bekannt geworden (AA 30.11.2022).

Iran erkennt Doppelstaatsbürgerschaften nicht an (RFE/RL 2.3.2023; vgl. BBC 7.6.2022) und ist dafür bekannt, Doppelstaatsbürger als Geiseln zu nehmen, und sie in seinen Verhandlungen mit anderen Ländern als Verhandlungsmasse einzusetzen (IRINTL 7.1.2022). Eine Reihe von Doppelstaatsbürgern, die nach Iran zurückkehrten, werden so im Land festgehalten (CHRI 22.1.2022; vgl. BBC 7.6.2022).

Dokumente, Meldewesen und Personenstandsregister

Letzte Änderung 2023-04-13 13:15

Alle iranischen Staatsbürger erhalten bei der Geburtsregistrierung ein Ausweisheft (Shenasnameh) [auch: Familienbuch/Stammbuch]. Dieses ist in zwei Versionen erhältlich: eine für Kinder bis zu 15 Jahren und ein für Personen über 15 Jahren. Das Shenasnameh wird bei Änderungen des Familienstandes und der Familienverhältnisse aktualisiert. Darüber hinaus stellen die iranischen Behörden für iranische Staatsbürger über 15 Jahren einen nationalen Personalausweis aus (Kart-e melli). Dabei handelt es sich inzwischen um eine elektronische Chipkarte, die allmählich zum wichtigsten Ausweisdokument der Iraner im täglichen Leben geworden ist. Sowohl die Shenasnameh als auch die Kart-e melli werden von der Nationalen Organisation für Zivilregistrierung (NOCR) ausgestellt. Die Pass- und Einwanderungspolizei stellt Reisepässe auf der Grundlage von Shenasnameh und Kart-e melli aus (Landinfo 5.1.2021).

Gefälschte bzw. mit falschen Angaben erstellte Dokumente sind in Iran einfach erhältlich (ÖB Teheran 11.2021; vgl. AA 30.11.2022). Auch echte Dokumente unrichtigen Inhaltes sind einfach zu beschaffen. Dies betrifft insbesondere die Shenasnameh. So ist es relativ einfach, in eine echte Shenasnameh ein anderes Geburtsdatum eintragen zu lassen. Bei Kindern, die außerehelich geboren werden, wird zumeist ein beliebiger Name als Vater eingetragen, um die Kinder vor Benachteiligungen in der Schule und im Erwachsenenleben zu schützen. Frauen lassen sich nach einer Scheidung häufig eine neue Shenasnameh ausstellen, aus der die gescheiterte Ehe nicht hervorgeht (AA 30.11.2022). Die neuesten Ausgaben von Shenasnameh und Kart-e melli verfügen über fortschrittlichere Sicherheitsstandards als die Vorgängermodelle. Dies hat dazu beigetragen, die Authentizität der iranischen Ausweise zu verbessern. Es sind aber noch immer die alten Versionen in Gebrauch und diese sind weitaus leichter zu manipulieren (Landinfo 5.1.2021).

Sowohl die von iranischen Behörden als auch von der afghanischen Botschaft in Iran ausgestellten Dokumente bestätigen unrichtige Angaben. Eine Überprüfung ist seitens der österreichischen Botschaft nicht möglich. Die Überprüfung von Haftbefehlen kann von der Botschaft aufgrund von Datenschutz nicht durchgeführt werden (ÖB Teheran 11.2021). Auch für Justizunterlagen wie Urteile, Vorladungen etc. kann eine mittelbare Falschbeurkundung nicht ausgeschlossen werden. Denn einerseits ist auch das Justizsystem korruptionsanfällig, andererseits ist es in der iranischen Kultur nicht unüblich, auf der Grundlage von Beziehungsgeflechten Hilfeleistungen und Gefälligkeiten zu erbringen (AA 30.11.2022).

Meldewesen und Personenstandsregister

Es gibt kein, etwa mit dem deutschen, vergleichbares Meldewesen (AA 30.11.2022).

Es gibt ein zentral angelegtes, elektronisches Personenstandsregister (Saseman-e sabt-e Ahwal keschwar), in das Geburt, Eheschließung/Scheidung und Tod eingetragen werden. Registereinträge können von dem jeweiligen Bezirksamt für Personenstandsangelegenheiten erteilt werden. Auskünfte über die bei der Ehe grundsätzlich geschlossenen Eheverträge können zudem von dem Notar erteilt werden, bei dem sie geschlossen worden sind (AA 30.11.2022).

Die offizielle Registrierungsbehörde nimmt alle iranischen Staatsangehörigen in ihre Datenbank auf, nachdem zuvor die Identität durch Polizei- und Informationsdienste festgestellt worden ist. Auslandsvertretungen sind nicht ermächtigt, Auskünfte einzuholen. Ein formales Staatsangehörigkeitsfeststellungsverfahren ist nicht bekannt (AA 30.11.2022).

SANA-System/Justizdatenbank Adliran

Durch die sukzessive Digitalisierung des Justizsystems können seit Ende 2016 Justizdokumente über das sog. SANA-System abgerufen werden (AA 30.11.2022). Bürgerinnen und Bürger können sich bei SANA elektronisch registrieren (Website www.sana.adliran.ir), um in der Datenbank Adliran Zugang zu ihren Gerichtsdokumenten zu erhalten (Landinfo/et al. 12.2021). Seit 2019 werden Justizdokumente in allen Provinzen in der Regel fast ausschließlich über diese Datenbank kommuniziert (vgl. Art. 175 iranische StPO in der Fassung von 2013/14) (AA 30.11.2022). Während die Justiz versucht, elektronische Aufzeichnungen und Zustellungsdokumente über diese Methode zu erstellen, ist sie allerdings von einer landesweiten Akzeptanz der Registrierung bei Adliran noch entfernt. Die Registrierung ist nicht verpflichtend (obwohl dringend empfohlen) und Personen können relevante Rechtsdokumente auch über die traditionelle Zustellungsmethode erhalten, d. h. durch einen persönlich anwesenden Gerichtsvollzieher (Landinfo/et al. 12.2021). Sofern die Dokumente in der Justizdatenbank hinterlegt sind, kann von deren Echtheit ausgegangen werden (AA 30.11.2022).

Die Datenbank kann von Iran aus - oder unter Verwendung einer iranischen VPN-Verbindung - über die folgenden Links abgerufen werden: www.adliran.ir; http://eblagh.adliran.ir und http://eblagh1.adliran.ir. Ein Zugang ist auch über eine Handy-App mit dem Namen "mobile Justiz" (’edālat-e hamrāh) möglich (Landinfo/et al. 12.2021). Der Zugang zum Sana-System war aus dem Ausland aufgrund von Geo-Blocking bisher nicht möglich. Seit dem 21.04.2021 kann die Datenbank unter www.kharej.adliran.com oder unter www.international.adliran.ir auch aus dem Ausland abgerufen werden, um den Status laufender Gerichtsverfahren zu überprüfen. Die Systemabfrage setzt eine vorherige Registrierung der betroffenen Person voraus, die durch persönliche Vorsprache oder eine Art Video-Identitätsverfahren erfolgen kann. Ferner sind v. a. die Kart-e melli-Nummer und eine erreichbare iranische Mobilfunknummer erforderlich, an die ein temporäres Passwort versendet wird (AA 30.11.2022). Auch Dritte können auf die Justizdokumente einer Person zugreifen, wenn sie die zehnstellige "nationale Nummer" des Benutzers (den Benutzernamen) und das sechsstellige temporäre Passwort haben, das per SMS zugesandt wird. So kann jeder, einschließlich Familienmitgliedern und Rechtsvertretern eines Beschuldigten, auf die in der Datenbank gespeicherten Informationen zugreifen und Dokumente ausdrucken, so sie die Zugangsdaten dazu besitzen. Rechtsanwälte können allerdings auch persönlich bei Gericht erscheinen und um Kopien von Akteninhalten ansuchen, so diese vom Gericht zur Akteneinsicht freigegeben wurden (Landinfo/et al. 12.2021).

II.2. Beweiswürdigung:

II.2.1. Zu den Feststellungen zur Person der BF:

Die Feststellungen zur Person des BF (Staatsangehörigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit, Muttersprache, Familienstand) ergeben sich aus den Angaben des BF (AS 33ff, 91f) und wurden bereits im Verfahren zu GZ W137 2180182-1 rechtskräftig festgestellt. Mangels Vorlage unbedenklicher Identitätsdokumente konnte die Identität des BF nicht zweifelsfrei festgestellt werden.

Auch die Feststellungen zum Leben des BF im Herkunftsland ergeben sich aus den glaubhaften Ausführungen des BF in Zusammenschau mit den rechtskräftigen Feststellungen im Vorverfahren.

Im Hinblick auf den Aufenthalt der Familienangehörigen des BF ist auf die Ausführungen des BF im Verfahren (VH S. 7, AS 92) zu verweisen.

Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung gab der BF an, dass er in Österreich ein enge Freundschaft zu einer Familie pflege (VH S. 6). Aus den Angaben des BF ergab sich aber kein besonderes Abhängigkeitsverhältnis und kann auch nicht auf eine über herkömmliche Freundschaftsverhältnisse hinausgehende Bindung geschlossen werden. Der BF ist weder finanziell noch in einer anderen Art und Weise von der Familie abhängig und auch umgekehrt besteht keine Abhängigkeit. Zudem ist es dem BF jedenfalls möglich, bei einer Rückkehr in den Iran mit dieser Familie über das Internet oder telefonisch in Kontakt zu bleiben.

Die Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus der Einsichtnahme in einen aktuellen Strafregisterauszug.

Der BF brachte zu keinem Zeitpunkt vor, an einer schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankung zu leiden. Angesichts seiner aktuellen Beschäftigung ist zudem auf seine Arbeitsfähigkeit zu schließen.

Die Feststellungen zur Einreise des BF und seinem Aufenthalt im Bundesgebiet konnten aufgrund des unstrittigen Akteninhaltes getroffen werden. Die Feststellungen zum Vorverfahren auf internationalen Schutz ergeben sich aus dem diesbezüglichen Akt des Verwaltungsgerichts zu GZ W137 2180182-1.

Die Beschäftigung des BF im Bundesgebiet ist aus seinen Angaben im Vorverfahren erkennbar sowie aus seinen Angaben im Rahmen der Beschwerdeverhandlung (VH S. 5).

Hinsichtlich der Deutschkenntnisse und der Integrationsschritte des BF ist auf die Feststellungen im Vorverfahren zu verweisen. Die Deutschkenntnisse wurden von der Behörde in der Einvernahme überprüft (AS 91). In der Beschwerdeverhandlung gab der BF an, dass er seit Beginn seiner beruflichen Tätigkeit keine Freizeit mehr dafür habe, sich ehrenamtlich oder in Vereinen zu engagieren.

II.2.2. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen des BF:

Die Feststellung, dass der BF nicht glaubhaft machen konnte, dass er seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr in seinen Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte, ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

II.2.2.1. Im vorliegenden Fall stellte der BF bereits im Jahr 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, welchen er damit begründete, dass er im Iran mit seiner (ehemaligen) Freundin außerehelichen Kontakt gehabt habe, was im Iran verboten sei. Ihr Vater, ein Mullah, habe dann gesagt, dass die beiden heiraten müssten, was sie nicht gewollt hätten. Daher sei der Beschwerdeführer zunächst nach Teheran und in der Folge nach Europa geflohen. Im Falle einer Rückkehr fürchte er um sein Leben. Zudem habe er den christlichen Glauben angenommen.

Bereits der erste Antrag auf internationalen Schutz des BF wurde abgewiesen und das gesamte Vorbringen, unter anderem jenes Vorbringen, wonach er zum Christentum konvertiert sei, als nicht glaubhaft gewertet.

Seinen nunmehrigen zweiten Antrag auf internationalen Schutz vom 09.05.2022 begründete der BF erneut mit seinem Fluchtvorbringen aus dem Erstverfahren und seiner Konversion zum Christentum. Ferner brachte der BF vor, auf Instagram aktiv zu sein und politische Dinge zu posten. Er habe zudem an Demonstrationen gegen das iranische Regime teilgenommen.

Hinsichtlich des Vorbringens in Zusammenhang mit der drohenden Verfolgung aufgrund von außerehelichem Kontakt zur Tochter eines Mullahs ist auszuführen, dass der BF im aktuellen Verfahren nichts Neues diesbezüglich vorbringen konnte und steht das rechtskräftige Erkenntnis zu GZ W137 2180182-1/19E einer neuerlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema entgegen.

II.2.2.2. Zum Fluchtvorbringen im Zusammenhang mit der Konversion des BF zum Christentum:

Bereits im Erstverfahren wurde die vom BF vorgebrachte Konversion zum Christentum als nicht glaubhaft angesehen und erwuchs diese Entscheidung in Rechtskraft.

Die Feststellungen des Gerichts beruhen auf einer umfassenden Beweiswürdigung, wonach dieses Vorbringen zu Nachfluchtgründen nicht als glaubhaft anzusehen war. Die Schilderungen des BF zeigten sich oberflächlich und vage. Alle geschilderten Umstände zusammen ließen für das Gericht keine Zweifel übrig, dass es sich bei der vorgebrachten Konversion zum Christentum um eine Konstruktion handelte.

Im Rahmen der damaligen mündlichen Verhandlung prüfte das erkennende Gericht eingehend die vom BF vorgebrachte Konversion und befragte den BF zu seinem Wissen in Bezug auf das Christentum, seinen Gottesdienstbesuchen und sonstigen religiösen Aktivitäten. Auch in diesen Aspekten konnte der BF im ersten Verfahren nicht überzeugen. Eine individuelle Motivation und Bezugsebene zum Christentum konnte beim BF demnach nicht festgestellt werden. Die Erzählungen des BF waren bloß oberflächlich und floskelhaft. Bereits im Erstverfahren gab der BF auch an, bereits längere Zeit über keinen Gottesdienst mehr besucht zu haben und konnte er auch keine überzeugende Begründung darlegen, weshalb er sich für die katholische Kirche entschieden hat.

Auch im gegenständlichen Verfahren konnte der BF das Vorbringen der nunmehr tatsächlich vollzogenen Konversion nicht glaubhaft vorbringen. Dies aus den folgenden Gründen:

Der BF wurde erneut zu seiner Motivation für den Glaubenswechsel, seinem Wissen in Bezug auf das Christentum, seinen Gottesdienstbesuchen und sonstigen religiösen Aktivitäten und einer allfälligen Verhaltens- und Einstellungsänderung befragt. Die Befragung widmete sich der aktuellen Glaubensüberzeugung des BF sowohl im Hinblick auf eine öffentliche Ausübung des Glaubens als auch auf die persönliche, innere Beziehung zum Christentum.

Im Rahmen der Befragung in der mündlichen Beschwerdeverhandlung gab der BF – wie schon in der Verhandlung im Erstverfahren – an, dass er aktuell nicht sehr oft dazu komme, in die Kirche zu gehen (VH S. 9). Dazu befragt, was „nicht sehr oft“ heiße, führte der BF aus, dass er derzeit nicht bei einer Kirche gemeldet sei und sich das Beten auf das Aufstehen und Schlafengehen begrenze, weil er derzeit beruflich sehr unter Druck sei. Wenn er Zeit habe, gehe er aber in die protestantische Kirche und rede mit Gott. In diese Kirche gehe er, weil dort ein Freund von ihm wohne (VH S. 6). Eine Ausübung des Glaubens im Kreis von gleichgesinnten Gläubigen, wie es für eine ernsthafte Religionsausübung westlich ist, ist daraus nicht erkennbar.

Die Frage nach für Katholiken wichtigen und typischen Gebeten beantwortete der BF damit, dass das wichtigste Gebet das Vater Unser sei und er ansonsten auf seine Art und Weise bete (VH S. 6). Auch daraus ist nicht erkennbar, dass der BF nach außen sichtbare Aktivitäten setzt und blieben die Ausführungen dazu, wie er auf seine Art und Weise bete, oberflächlich und vage.

Befragt nach den wesentlichen Inhalten der christlichen Religion und was dem BF am Christentum so sehr gefalle, antwortete der BF lediglich oberflächlich und floskelhaft: „Wenn ich jemanden erklären muss... Ich habe ja früher dem Islam angehört und das unterscheidet sich komplett davon. In dieser Religion ist die Rede von Gottesliebe zu uns und die Nächstenliebe zu seiner Schöpfung und das unterscheidet sich vollkommen zum Islam.“ (VH S. 10). Auch hinsichtlich der Frage zu den Unterschieden zwischen dem Islam und dem Christentum antwortete der BF bloß: „Im Islam haben die Menschen – Untertan Angst vor ihrem Gott, aber im Christentum liebt Gott die Menschen.“ (VH S. 10). Dem BF gelang es sohin nach wie vor nicht überzeugend darzulegen, warum er sich gegen den Islam und für das Christentum entschieden habe.

Auch das Wissen des BF über das Christentum zeigte sich bloß oberflächlich und konnte der BF tiefergehende Fragen oft nicht bzw. nur unzureichend beantworten. Zu wichtigen biblischen Personen und deren Bedeutung befragt, nannte der BF im Neuen Testament die Jünger Jesus, Michael und den Engel Gabriel. Auf die Frage, warum diese beiden wichtig seien, gab der BF an: „Der Engel Gabriel ist Maria erschienen und hat die Geburt prophezeit... Der „Heilige Geist“, ich weiß nicht wie ich das sagen soll.“ (VH S. 11).

Die lediglich oberflächliche Beantwortung von Wissensfragen setzte sich fort und gab der BF auf die Frage nach zentralen Passagen aus dem Alten und dem Neuen Testament an: „Also über das NT (gemeint: Neues Testament) kann ich die Bergpredigt Jesus sagen.“ (VH S. 11). Eine wichtige Passage aus dem Alten Testament konnte der BF dabei nicht wiedergeben.

Der BF zeigte auch gravierende Wissenslücken und antwortete auf die Frage, was ihm die Korintherbriefe und die Paulusbriefe sagen würden: „Das weiß ich nicht.“ (VH S. 12).

In Bezug auf die in der mündlichen Verhandlung gestellten Wissensfragen zum Christentum und zu der vom BF gewählten Glaubensrichtung verlangt das BVwG bewusst keine tiefgehenden, theologisch-wissenschaftlichen Kenntnisse und soll diesem Aspekt kein überzogenes Gewicht beigemessen werden. Von einer Person, welche sich im Erwachsenenalter und unter Kenntnis der grundsätzlichen Gefahrenlage, die eine Konversion für sie und ihre Familie mit sich bringen kann, bewusst für einen neuen Glauben entscheidet, kann aber verlangt werden, dass sie sich mit den Wesensmerkmalen dieses Glaubens auseinandergesetzt hat und über ein entsprechendes Grundwissen zum Christentum sowie der gewählten Glaubensrichtung verfügt. Im konkreten Fall kommt hinzu, dass es sich konkret um den Folgeantrag des BF handelt, und er eine entscheidungswesentliche tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Christentum in den letzten Jahren seit negativem Abschluss seines ersten Verfahrens behauptet.

Der BF konnte auch nicht erklären, inwiefern sich sein Leben als Christ zu seinem Leben früher, als er noch kein Christ war, unterscheiden würde und gab an: „Bevor ich Christ wurde war ich vielleicht nur ein Moslem, aber ich hatte in Grunde keinen Glauben. Aber ab dem Zeitpunkt als ich Jesus Christus kennenlernte, hat sich mein Leben sehr verändert. Ich war unter schwersten Bedingungen, aber ich habe Gott vertraut und gewartet.“ (VH S. 12).

Die Frage, was christliche Werte sind und wie der BF diese in sein Leben integrieren würde, verstand der BF zunächst nicht und musste diese genauer erklärt werden. Danach antwortete der BF: „Es gibt viele Werte die wichtig sind und wenn man sich daranhält, vor Gott und seinen Mitmenschen als wertvoll gilt. Ich kann z.B. die zehn Gebote sagen: Nicht stehlen, nicht morden. Das sind alles Werte.“ (VH S. 13).

Angesichts der obigen Ausführungen ist sohin jedenfalls nicht erkennbar, dass der BF sich nunmehr entscheidungswesentlich intensiver mit dem Christentum auseinandergesetzt hätte und aus innerer Überzeugung nun tatsächlich Christ geworden wäre.

Im Ergebnis ist bei einer Gesamtbetrachtung aller Beweismittel und insbesondere aufgrund der Einvernahme des BF nach wie vor eine ernsthafte und innere Glaubensüberzeugung in Bezug auf das Christentum nicht ableitbar. Wenngleich der BF über vereinzelte Themen im Zusammenhang mit dem Inhalt der Bibel informiert war, konnte keine tatsächliche, tiefergehende Auseinandersetzung mit Glaubensinhalten im Sinne einer nachhaltigen, persönlichen Hinwendung erkannt werden, sodass in weiterer Folge auch nicht von der Weitergabe von Glaubensinhalten und dem Verbreiten der christlichen Glaubenslehre ausgegangen werden kann und hat der BF auch nicht behauptet, dass er bei einer Rückkehr in den Iran missionieren würde. Missionstätigkeiten in Österreich hat der BF nicht dargelegt. Es ergibt sich somit keinerlei wesentliche Änderung zum Vorbringen im Erstverfahren.

II.2.2.3. Zum Fluchtvorbringen im Zusammenhang mit der exilpolitischen Tätigkeit:

Über den bloßen Glaubenswechsel hinaus brachte der BF nunmehr als Fluchtgrund auch vor, dass er auf Instagram politisch aktiv sei. Außerdem habe er in Österreich an Demonstrationen teilgenommen.

Aber auch dieses Vorbringen macht eine Verfolgung im Iran nicht wahrscheinlich:

Vorweg ist festzuhalten, dass der BF selbst angab, dass das Instagram-Profil, auf welchem er politische Inhalte gepostet habe, nicht mehr aktiv sei und sich sein neues Profil ausschließlich mit seiner Musik beschäftige (VH S. 14f).

Hinzu kommt, dass der BF zu keinem Zeitpunkt Beweismittel vorlegte, die seine angebliche frühere politische Aktivität auf Social Media belegen konnte, obwohl er seinen zweiten Asylantrag im Jahr 2022, und somit in dem Jahr, in welchem er angeblich am aktivsten gewesen sei, stellte.

Wenngleich auf dem aktuellen Instagram Profil des BF seine Identität angesichts des vollständigen Namens und des Fotos erkennbar ist, ergibt sich daraus keine Verfolgungsgefahr, zumal der BF ausschließlich über seine Musik postet (VH S. 15). Wie bereits im Vorverfahren festgestellt wurde, handelt es sich bei der Musik des BF aber um keine religiöse Musik, sondern normale bzw. säkulare Pop-Musik. Dies bestätigte der BF im gegenständlichen Verfahren nochmals (VH S. 15).

Aus diesem Vorbringen ergibt sich daher keine asylrelevante Verfolgungsgefahr des BF.

Aus den aktuellen Länderberichten (Rückkehr) ergibt sich, dass allein der Umstand, dass eine Person einen Asylantrag im Ausland gestellt hat, dies bei einer Rückkehr keine staatlichen Repressionen auslöst. Ausgenommen davon sind Personen, die seitens iranischer Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert wurden und an denen ein Verfolgungsinteresse besteht, was beim BF keinesfalls anzunehmen ist.

Allgemein herrscht der Eindruck vor, dass diejenigen, die vor ihrer Ausreise aus Iran Gegenstand negativer behördlicher Aufmerksamkeit waren, bei ihrer Rückkehr mit Reaktionen rechnen müssen. Wie das Erstverfahren bereits ergeben hat, war der BF vor seiner Ausreise aus dem Iran keiner verstärkten Beobachtung durch die Behörden ausgesetzt, seine diesbezüglichen Fluchtgründe haben sich als unglaubwürdig erwiesen.

Als weiterer Faktor wird die Art der Informationen genannt, welche Behörden über die Aktivitäten einer Person im Ausland erhalten haben, und ob diese Aktivitäten dem Regime schaden können. Politische Aktivisten und andere, die als Bedrohung angesehen werden, werden „beobachtet“ und haben das Gefühl, „sich nicht frei bewegen zu können“. Zum Thema Rückkehrer gibt es nach wie vor kein systematisches Monitoring, das allgemeine Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern zulassen würde. In Einzelfällen konnte im Falle von Rückkehrern aus Deutschland festgestellt werden, dass diese bei niederschwelligem Verhalten und beim Abstandnehmen von politischen Aktivitäten, mit Ausnahme von Einvernahmen durch die iranischen Behörden unmittelbar nach der Einreise, keine Repressalien zu gewärtigen hatten.

Es kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass Rückkehrer aufgrund der Protestbewegung ab September 2022 verstärkt von den Sicherheitsdiensten „überprüft“ werden. Bisher ist aber kein Fall bekannt, in dem Zurückgeführte im Rahmen dieser Befragungen psychisch oder physisch gefoltert worden sind, sofern ihnen kein besonderer Aktivismus vorgeworfen werden kann.

Zur dreimaligen Demonstrationsteilnahme durch den BF ist folgendes zu sagen: Der BF behauptet, Ende 2022/Anfang 2023 an politischen Demonstrationen teilgenommen zu haben.

In diesem Zusammenhang ist auszuführen, dass eine lediglich dreimalige Teilnahme an Demonstrationen als niederschwellige Betätigung anzusehen ist, insbesondere hat der BF in keiner Weise behauptet, in die Organisation oder Durchführung dieser Demonstrationen eingebunden oder führend tätig gewesen zu sein, sondern er ist jeweils mit einem Freund hingegangen. Dass der BF Fotos/Videos, die seine Teilnahme sichtbar machen würden, angefertigt und/oder auf seinen Social Media Kanälen gepostet hätte, hat der BF auch nicht behauptet.

Angesichts des Umstandes, dass die iranischen Behörden nicht jeden iranischen Staatsangehörigen zu jeder Zeit überwachen können, ist ihr Interesse zwangsläufig auf Personen beschränkt, welche aufgrund ihrer exponierten Stellung, ihres Einflusses auf andere iranische Staatsbürger und eines herausragenden Engagements eine potentielle Gefahr für das iranische Regime darstellen könnten.

Vorliegend weist der BF auch durch eine lediglich dreimalige Teilnahme an Demonstrationen nur ein niederschwelliges Verhalten auf, welches sich nicht als derart markant darstellt, dass es geeignet erscheint, einen erhöhten Ermittlungsaufwand bei den iranischen Behörden auszulösen. Insgesamt ist der BF in Österreich nicht auffällig regimekritisch in Erscheinung getreten.

Es ist nicht anzunehmen, dass sich der BF aus der Masse iranischer Asylwerber hervorhebt, die konkret lediglich drei Mal bei Demonstrationen präsent sind. Untergeordnete exilpolitische Tätigkeiten, die nicht geeignet sind, auf die Verhältnisse im Heimatland ernsthaft einzuwirken, und aus der Sicht des iranischen Staates keine Gefahr begründen, können nicht mit dem Gefährdungspotenzial inneriranischer Systemkritik verglichen werden.

Aus einer Zusammenschau der Angaben und Aktivitäten des BF im Laufe des Verfahrens ergibt sich, dass er exiloppositionelle Tätigkeiten, die seine Verfolgung in Iran maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen, nicht glaubwürdig vorbringen konnte. Das BVwG verkennt nicht, dass Iraner, die im Ausland leben und sich dort öffentlich regimekritisch äußern, nach den Länderfeststellungen im Falle der Rückkehr zwar von staatlichen Repressionen betroffen sein können. Die Schwere des Problems für solche Personen hängt aber vom Inhalt und Ausmaß der Aktivitäten im Ausland und auch vom persönlichen Aktivismus in Iran ab.

Insgesamt ist der BF in Österreich jedenfalls nicht als überzeugter und aktiver, exponierter Regimekritiker nach außen in Erscheinung getreten, weshalb in weiterer Folge nicht davon ausgegangen werden kann, dass die von ihm gesetzten Aktivitäten in Österreich den iranischen Behörden bekannt sind und ein Interesse der Behörden an seiner Person begründen. Es kam nicht hervor, dass sich der BF besonders engagiert hat und sich in weiterer Folge in besonderer Weise nach außen hin für diese exponiert und sich von der Menge anderer Demonstranten abgehoben hat.

Angesichts der nur untergeordneten Tätigkeiten ist somit nicht davon auszugehen, dass der BF durch iranische Sicherheitsbehörden mit maßgebender Wahrscheinlichkeit als ernsthafte Bedrohung, welche auf die Verhältnisse in Iran einzuwirken vermag, identifiziert und qualifiziert worden ist und dass wegen der von ihm ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staates besteht. Dass er im Rückkehrfall aufgrund der geltend gemachten exilpolitischen Aktivitäten einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt ist, ist angesichts der beschriebenen Aktivitäten des BF in Verbindung mit den Länderfeststellungen daher nicht erkennbar.

Weitere Fluchtgründe wurden vom BF im Verfahren nicht vorgebracht und sind auch amtswegig nicht erkennbar.

II.2.3. Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat des BF stützen sich auf die zitierten Quellen. Es handelt sich dabei um Berichte diverser anerkannter staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen bzw. Organisationen und bieten diese ein in inhaltlicher Hinsicht grundsätzlich übereinstimmendes und ausgewogenes Bild zur Situation im Iran. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen Berichte älteren Datums zugrundeliegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation fallrelevant nicht wesentlich geändert haben. Diesen Berichten ist der BF auch in seinen Schriftsätzen und Stellungnahmen nicht substantiiert entgegengetreten.

II.3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

II.3.1. Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz (BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Da in den anzuwendenden gesetzlichen Bestimmungen keine gegenteiligen Bestimmungen enthalten sind, liegt gegenständlich somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

II.3.2. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

Gemäß § 3 Abs. 2 AsylG 2005 kann die Verfolgung auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

Mit Beschluss vom 16.03.2022, Zl. EU 2022/0001-1 (Ro 2020/01/0023) hat der Verwaltungsgerichtshof beschlossen, dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) die Frage vorzulegen, ob Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung), ABl. L 337 vom 20.12.2011. S. 9-26, dahin anzulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaates, wonach einem Fremden, der einen Folgeantrag stellt, in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind, entgegensteht.

Der EuGH hat am 29.02.2024, C-222/22, entschieden, dass Art 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU (QualifikationsRL) dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund eines Folgeantrags im Sinne von Art 2 Buchst q der Richtlinie 2013/32/EU AsylverfahrensRL der auf eine Verfolgungsgefahr gestützt wird, die auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat, von der Voraussetzung abhängig macht, dass diese Umstände Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung des Antragstellers sind.“ § 3 Abs. 2 AsylG 2005 hat insofern unangewendet zu bleiben.

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine solche liegt dann vor, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde.

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen (vgl. VwGH v. 09.03.1999, Zl. 98/01/0370). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH v. 23.09.1998, Zl. 98/01/0224).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet.

Die Verfolgungsgefahr muss auch aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen muss. Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass eine Person bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung ("Vorverfolgung") für sich genommen nicht hinreichend. Es ist entscheidend, dass im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen gerechnet werden muss (vgl. aktuell VwGH 03.05.2016, Ra 2015/18/0212, mwN).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (VwGH 16.11.2016, Ra 2016/18/0233, mwN).

Ausgehend von diesen rechtlichen Voraussetzungen ergibt sich für den konkreten Fall Folgendes:

II.3.2.1. Konversion zum Christentum:

Eine Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention kann gemäß § 3 Abs. 2 AsylG 2005 auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe).

Ein in der Praxis häufiges Beispiel für sogenannte subjektive Nachfluchtgründe ist die (meist im Zufluchtsstaat erfolgende) Konversion zum Christentum insbesondere bei Asylwerbern aus islamischen Staaten. Auch wenn in einem solchen Fall der Nachweis einer (religiösen) Überzeugung, die bereits im Heimatstaat bestanden hat, nicht erbracht werden kann, drohen dem Antragsteller bei seiner Rückkehr in den Heimatstaat gegebenenfalls Sanktionen, die von ihrer Intensität und ihrem Grund her an sich asylrelevant sind. Die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt in diesen Fällen nicht darauf ab, ob die entsprechende Überzeugung bereits im Heimatland bestanden hat (VwGH 17.09.2008, 2008/23/0675). Vielmehr ist bei der Frage der asylrechtlichen Relevanz einer Konversion zum Christentum wesentlich, ob der vom Islam zum Christentum Übergetretene bei weiterer Ausführung seines behaupteten inneren Entschlusses, nach dem christlichen Glauben zu leben, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen müsste, aus diesem Grund mit einer die Intensität von Verfolgung erreichenden Sanktion belegt zu werden (vgl. VwGH 29.05.2019, Ra 2019/20/0230; 07.05.2018, Ra 2018/20/0186).

Bei einer Konversion ist zu prüfen, ob diese allenfalls bloß zum Schein erfolgt ist. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt es bei der Beurteilung eines behaupteten Religionswechsels und der Prüfung einer Scheinkonversion auf die aktuell bestehende Glaubensüberzeugung an, die im Rahmen einer Gesamtbetrachtung anhand einer näheren Beurteilung von Zeugenaussagen und einer konkreten Befragung des Asylwerbers zu seinen religiösen Aktivitäten zu ermitteln ist (ua VwGH 22.02.2018, Ra 2017/18/0426; VwGH 23.06.2015, Ra 2014/01/0117 mwN; in diesem Sinne auch VfGH 12.12.2013, U 2272/2012). Mangelndes religiöses Grundwissen kann für das Vorliegen einer Scheinkonversion sprechen, ist aber alleine nicht ausreichend (VwGH 14.11.2007, 2004/20/0215; 14.11.2007, 2004/20/0485). Maßgebliche Indizien für einen aus innerer Überzeugung vollzogenen Religionswechsel sind beispielsweise das Wissen über die neue Religion, die Ernsthaftigkeit der Religionsausübung, welche sich etwa in regelmäßigen Gottesdienstbesuchen oder sonstigen religiösen Aktivitäten manifestiert, eine mit dem Religionswechsel einhergegangene Verhaltens- bzw. Einstellungsänderung des Konvertiten sowie eine schlüssige Darlegung der Motivation bzw. des auslösenden Moments für den Glaubenswechsel (VwGH 21.04.2021, Ra 2021/18/0155).

Im gegenständlichen Fall wurde bereits im Erstverfahren zu W137 2180182-1/19E sowie in der Beweiswürdigung eingehend erörtert, dass dem Fluchtvorbringen des BF hinsichtlich der Konversion insgesamt die Glaubwürdigkeit abzusprechen war. Bereits im Erstverfahren konnte nicht erkannt werden, dass der BF aus innerer Überzeugung zum Christentum konvertiert ist und kamen auch im gegenständlichen Verfahren keine Umstände hervor, die darauf hindeuten, dass nunmehr eine Konversion aus innerer Überzeugung vorliegt. Das erkennende Gericht erachtet die Angaben des BF in dem im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegten Umfang als unwahr und ist nach Ansicht des erkennenden Gerichtes im Falle des BF eine aktuelle Verfolgungsgefahr aus einem der in der GFK genannten Gründe daher nicht gegeben.

Beim BF handelt es sich um eine zum Schein konvertierte Person, die in Österreich lediglich vereinzelt Gottesdienste besucht und an kirchlichen Veranstaltungen teilnimmt. Der BF brachte bereits im Erstverfahren vor, erst nach seiner Ausreise aus dem Herkunftsland konvertiert zu sein, weshalb auszuschließen ist, dass der BF im Herkunftsland bereits das Interesse der Behörden auf sich gezogen hat. Eine Rückkehr in den Herkunftsstaat ist für den BF somit möglich, zumal auch keine missionarischen Tätigkeiten vom BF ausgingen bzw. ausgehen.

II.3.2.2. Zur Verfolgung aufgrund seiner exilpolitischen Tätigkeit:

Wie bereits beweiswürdigend eingehend ausgeführt, ergibt sich auch aufgrund der Posts des BF im Internet und seiner lediglich dreimaligen Demonstrationsteilnahme keine Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat.

Der BF betätigte sich nicht in einem derartigen Ausmaß politisch, sodass davon ausgegangen werden könnte, dass er das Interesse iranischer Behörden auf sich ziehen würde. Die Inhalte seines Social-Media-Profils beschränken sich auf seine Musik, und auch durch seine lediglich dreimalige Teilnahme an Demonstrationen geht nicht hervor, dass er in besonderer Weise in Erscheinung getreten ist, wodurch er das Interesse der iranischen Behörden auf sich gezogen hätte.

II.3.2.3. Abschließend ist festzuhalten, dass aus den amtswegigen Ermittlungen des Bundesverwaltungsgerichtes in Form von Einsichtnahmen in die relevanten Länderberichte und dem am Bundesverwaltungsgericht vorhandenen Fachwissen eine asylrelevante Verfolgung auch aus anderen, nicht vom BF vorgebrachten Gründen nicht maßgeblich wahrscheinlich ist.

II.3.2.4. Insgesamt war somit das Vorbringen des BF nicht geeignet, eine mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung aus asylrelevanten Gründen darzutun, weshalb es dem BF insgesamt nicht gelungen ist, eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen.

Daher war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abzuweisen.

II.3.3. Zu Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides:

Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung oder Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.

Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 offen steht.

Wie bereits ausgeführt, bestehen im vorliegenden Fall keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass das Leben oder die Freiheit des BF aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Ansichten bedroht wäre. Das Bundesverwaltungsgericht hat somit zu klären, ob im Falle der Rückführung des Fremden in seinen Herkunftsstaat Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde.

Unter „realer Gefahr“ ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen („a sufficiently real risk“) im Zielstaat zu verstehen (VwGH 19.02.2004, Zahl 99/20/0573; auch ErläutRV 952 BlgNR 22. GP zu § 8 AsylG 2005). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK zu gelangen (zB VwGH 26.06.1997, Zahl 95/21/0294; 25.01.2001, Zahl 2000/20/0438; 30.05.2001, Zahl 97/21/0560). Es müssen stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, dass eine Person einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre und es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade die betroffene Person einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde. Die bloße Möglichkeit eines realen Risikos oder Vermutungen, dass der Betroffene ein solches Schicksal erleiden könnte, reichen nicht aus. Gemäß der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes erfordert die Beurteilung des Vorliegens eines tatsächlichen Risikos eine ganzheitliche Bewertung der Gefahr an dem für die Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK auch sonst gültigen Maßstab des „real risk“, wobei sich die Gefahrenprognose auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. VwGH 31.03.2005, 2002/20/0582; 31.05.2005, 2005/20/0095).

Nach der gefestigten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bedarf es einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 25.05.2016, Ra 2016/19/0036, mwN; 08.09.2016, Ra 2016/20/006; VwGH 25.04.2017, Ra 2017/01/0016; jüngst VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095, VwGH 08.08.2017, Ra 2017/19/0118, mit zahlreichen Hinweisen auf die Vorjudikatur sowie die Judikatur des EGMR). Ebenso ist in der Rechtsprechung des VwGH in Hinblick auf den anzuwendenden Prüfungsmaßstab des Art. 3 MRK (weiterhin) anerkannt, dass es unter Berücksichtigung der Judikatur des EGMR Ausnahmefälle geben kann, in denen durch eine schwere Erkrankung bzw. einen fehlenden tatsächlichen Zugang zur erforderlichen Behandlung im Herkunftsstaat die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründet wird (vgl. VwGH 21.03.2018, Ra 2018/18/0021).

Der Verwaltungsgerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auf die ständige Judikatur des EGMR, wonach es – abgesehen von Abschiebungen in Staaten, in denen die allgemeine Situation so schwerwiegend ist, dass die Rückführung eines abgelehnten Asylwerbers dorthin eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde – grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person obliegt, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos darzulegen, dass ihr im Fall der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (vgl. VwGH 23.02.2016, Ra 2015/01/0134, mit Verweis auf das Urteil des EGMR vom 05.09.2013, I gegen Schweden, Nr. 61 204/09).

Die Prüfung des Vorliegens einer realen Gefahr im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 stellt letztlich eine rechtliche Beurteilung dar, die auf Basis der getroffenen Feststellungen zu erfolgen hat.

Das bedeutet für den konkreten Fall:

In Anbetracht der aktuellen Länderberichte in Zusammenschau mit den getroffenen Feststellungen zur Person des BF ergibt sich, dass der BF im Falle einer Rückkehr in den Iran in keine lebensgefährliche oder existenzbedrohende Situation gelangen würde.

Vom erkennenden Gericht wird dabei nicht verkannt, dass insbesondere seit Mitte September 2022 im Iran Spannungen herrschen und es immer wieder zu Protesten gegen die Regierung kommt. Dennoch ist die Sicherheitslage – wie sich aus den Länderberichten ergibt – nicht derart, dass der BF allein aufgrund seiner Anwesenheit im Iran einem realen Risiko für seine körperliche Unversehrtheit oder sein Leben ausgesetzt wäre. Wie bereits festgestellt wurde, handelt es sich bei den politischen und religiösen Tätigkeiten des BF nicht um derart markante, die die Aufmerksamkeit iranischer Behörden auf den BF lenken und zu einer Verfolgung im Herkunftsland führen würden. Es ergaben sich auch keinerlei Hinweise darauf, dass er sich bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat politisch betätigen würde.

Auch aus der Person des BF ergeben sich keine subjektiven Gründe, aus denen im Fall einer Rückführung in den Iran die reale Gefahr einer Verletzung seiner durch Art. 2 und 3 EMRK sowie Nr. 6 und 13 ZPEMRK geschützten Rechte maßgeblich wahrscheinlich wäre. Beim BF handelt es sich um einen volljährigen, gesunden und arbeitsfähigen Mann im Alter von 31 Jahren, dessen Muttersprache die Landessprache Farsi ist. Er hat im Iran die Schule besucht und es sind zu keinem Zeitpunkt im Verfahren Hinweise hervorgekommen, die darauf schließen lassen, dass der BF im Falle einer Rückkehr in eine existenz- bzw. lebensbedrohliche Situation geraten würde. Für das Bundesverwaltungsgericht sind keine Gründe ersichtlich, warum sich der BF im Iran nicht wieder eine Existenz aufbauen könnte, zumal auch nach wie vor Angehörige des BF in Form seines Vaters, seiner Geschwister und mehrerer Onkel und Tanten im Iran aufhältig sind, mit denen er auch in Kontakt steht. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes verwiesen, wonach es dem Antragsteller obliegt, Gründe für ein entsprechendes Risiko nachzuweisen (vgl. VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314). Darüber hinaus liegen auch keine Hinweise auf eine allgemeine existenzbedrohende Notlage im Iran vor und die Grundversorgung der Bevölkerung ist im Iran gesichert.

Im Hinblick auf die gegebenen Umstände kann daher ein „reales Risiko“ einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung bzw. der Todesstrafe im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erkannt werden.

Im Ergebnis war daher die Beschwerde auch gegen Spruchpunkt II. abzuweisen.

II.3.4. Zu Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides:

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt wird.

Gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:

1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,

2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder

3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 liegen nicht vor, weil der Aufenthalt des BF weder seit mindestens einem Jahr gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG geduldet ist, noch zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig ist, noch der BF Opfer von Gewalt wurde. Weder hat der BF das Vorliegen eines solchen Grundes behauptet, noch kam ein Hinweis auf das Vorliegen eines solchen Sachverhaltes im Ermittlungsverfahren hervor.

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt III. war daher abzuweisen.

II.3.5. Zu Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides:

Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

§ 9 Abs. 1 bis 3 BFA-Verfahrensgesetz lautet:

(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.

Bei dieser Interessenabwägung sind – wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird – die oben genannten Kriterien zu berücksichtigen (vgl. VfSlg. 18.224/2007; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; 26.01.2006, 2002/20/0423 uva).

Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in seiner ständigen Rechtsprechung, dass bei der Beurteilung, ob im Falle der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in das durch Art. 8 EMRK geschützte Privat- und Familienleben des oder der Fremden eingegriffen wird, eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen ist, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt (vgl. VwGH vom 28. April 2014, Ra 2014/18/0146-0149, mwN). Bei dieser Interessenabwägung sind insbesondere die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen das Einwanderungsrecht, Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat-und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, zu berücksichtigen (vgl. VfGH 29. 9. 2007, B 1150/07; 12. 6. 2007, B 2126/06; VwGH 26. 6. 2007, 2007/01/479; 26. 1. 20006, 2002/20/0423; 17. 12. 2007, 2006/01/0216; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention2, 194; Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl-und Fremdenrecht K15 ff zu § 9 BFA-VG).

Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts kommt dem öffentlichen Interesse am Schutz und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Art. 8 Abs. 2 EMRK ein hoher Stellenwert zu. Der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof haben in ihrer Judikatur ein öffentliches Interesse in dem Sinne bejaht, als eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragsstellung im Inland aufhalten durften, verhindert werden soll (VfSlg. 17.516 und VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479).

Vom Prüfungsumfang des Begriffes des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern z.B. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität, etwa ein gemeinsamer Haushalt, vorliegt.

Nach der Rechtsprechung des EGMR garantiert die Konvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (z.B. eine Ausweisungsentscheidung) aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl. EGMR 8.3.2008, Nnyanzi v. The United Kingdom, Appl. 21.878/06; 4.10.2001, Fall Adam, Appl. 43.359/98, EuGRZ 2002, 582; 9.10.2003, Fall Slivenko, Appl. 48.321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.6.2005, Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554).

Es ist auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal etwa das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist (VwGH 17. 2. 2007. 2006/01/0216). Auch eine lange Dauer des Asylverfahrens macht für sich allein keinesfalls von vornherein eine Ausweisung unzulässig (VwGH 2010/22/0094).

Dem öffentlichen Interesse, eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragstellung im Inland aufhalten durften, zu verhindern, kommt aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Art. 8 Abs. 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu (vgl. VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216; siehe die weitere Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zum hohen Stellenwert der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften: VwGH 26. 6. 2007, 2007/01/0479; VwGH 16. 1. 2007, 2006/18/0453; jeweils VwGH 8. 11. 2006, 2006/18/0336 bzw. 2006/18/0316; VwGH 22. 6. 2006, 2006/21/0109; VwGH 20. 9. 2006, 2005/01/0699).

II.3.5.1. Das bedeutet für den konkreten Fall:

Im vorliegenden Fall verfügt der BF über keinerlei familiäre Angehörige im österreichischen Bundesgebiet. Er lebt auch nicht in einer Beziehung und weist auch keine Sorgepflichten auf. Es ergaben sich keine Hinweise auf das Bestehen von Bekanntschaften oder Freunden, zu denen eine besondere Abhängigkeit besteht.

Zwar gab der BF an, ein enges Verhältnis zu einer befreundeten Familie zu pflegen, doch ergibt sich daraus keine besondere Abhängigkeit. Dem BF wäre es jedenfalls zumutbar, den Kontakt zu dieser Familie telefonisch oder über Besuche im Ausland aufrechtzuerhalten.

Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den BF stellt somit jedenfalls keinen unrechtmäßigen Eingriff in sein Familienleben dar.

II.3.5.2. Es ist weiters zu prüfen, ob mit einer Rückkehrentscheidung in das Privatleben des BF eingegriffen wird und bejahendenfalls, ob dieser Eingriff eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist (Art. 8 Abs. 2 EMRK).

Im gegenständlichen Fall reiste der BF am 19.09.2015 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher zunächst mit Bescheid des BFA vom 27.10.2017 und letztlich rechtskräftig mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.11.2021, GZ W137 2180182-1/19E, abgewiesen wurde.

Um sich der Durchsetzung der Entscheidung zu entziehen, reiste der BF nach Norwegen und hielt sich dort ca. ein halbes Jahr auf. Von dort wurde er am 09.05.2022 wieder nach Österreich abgeschoben und stellte am selben Tag einen Folgeantrag, der sich als unberechtigt erwiesen hat.

Seit seiner Einreise hält sich der BF sohin etwa acht Jahren im Bundesgebiet auf. Der bisherige Aufenthalt des BF in Österreich ist ausschließlich auf seinen ersten negativ entschiedenen Asylantrag sowie seinen gegenständlichen zweiten Antrag auf internationalen Schutz gestützt, wodurch er nie über ein Aufenthaltsrecht abgesehen des bloß vorübergehenden Aufenthaltsrechts aufgrund seines Antrags auf internationalen Schutz, verfügt hat und seine erste negative Entscheidung und die daraus resultierende Rückkehrentscheidung nicht respektierte.

Der mehrjährige Aufenthalt des BF im Bundesgebiet wird sohin dadurch wesentlich relativiert, dass der BF nach rechtskräftigem Abschluss seines Asylverfahrens nicht in sein Herkunftsland zurückreiste, ohne einen plausiblen Grund anzugeben, der ihn an seiner Ausreise hindern würde. Hinzu kommt, dass der BF versuchet, durch eine Ausreise nach Norwegen der Durchsetzung der bestehenden Ausreiseverpflichtung zu entgehen. Bereits aus diesem Grund liegen Umstände vor, die das gegen einen Verbleib des BF im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken und die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland wie auch insgesamt die Schutzwürdigkeit seines Privatlebens ebenso relativieren.

Trotz seines mehrjährigen Aufenthalts kann zudem auch kein schützenswertes Privatleben iSd Art. 8 EMRK oder eine nennenswerte Integration des BF in Österreich angenommen werden. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass Integrationsbemühungen des BF bestehen und er Deutschkurse besuchte sowie aktuell über eine Arbeitsbewilligung verfügt und einer Beschäftigung nachgeht. Der BF besuchte zwar einen Deutschkurs auf dem Niveau B1, eine Prüfung dazu legte er aber nicht ab. Er ist zwar aktuell selbsterhaltungsfähig, doch geht er erst seit Obtober 2022 einer Beschäftigung nach und bezog bis Ende August 2020 regelmäßig Leistungen aus der Grundversorgung. Sein ehrenamtliches Engagement ist überschaubar. Weitere Integrationsbemühungen sind nicht zu erkennen. Er ist aktuell kein Mitglied in einem Verein oder anderen Organisationen und nimmt nicht am sozialen und kulturellen Leben in Österreich teil.

In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass das Privatleben des BF in Österreich zu einem Zeitpunkt begründet wurde, als sich die Zulässigkeit des Aufenthalts allein auf den unbegründeten Antrag auf internationalen Schutz stützen konnte. Abgesehen von einer befreundeten Familie hat der BF keine nennenswerten sozialen Kontakte geltend gemacht.

Im Ergebnis konnte sich der BF nur auf niedrigem Niveau integrieren.

Bei der Beurteilung der Frage, ob der BF in Österreich über ein schützenswertes Privatleben verfügt, spielt der verstrichene Zeitraum im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art 8 MRK, ÖJZ 2007, 852 ff). Die zeitliche Komponente ist insofern wesentlich, als - abseits familiärer Umstände - eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist (vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541). Der Verwaltungsgerichtshof geht in seinem Erkenntnis vom 26.06.2007, 2007/01/0479, davon aus, dass "der Aufenthalt im Bundesgebiet in der Dauer von drei Jahren [...] jedenfalls nicht so lange ist, dass daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abgeleitet werden könnte". Darüber hinaus hat der Verwaltungsgerichthof bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055, mwN).

Erst bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen und wurden nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. grundlegend VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005).

Zwar ist der BF nunmehr seit etwa acht Jahren im österreichischen Bundesgebiet aufhältig, doch kann im gegenständlichen Fall angesichts der überschaubar vorhandenen Integrationsschritte nicht von einer besonderen Integration des BF im Bundesgebiet ausgegangen werden.

Den privaten Interessen des BF an einem weiteren Aufenthalt in Österreich stehen die öffentlichen Interessen an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber. Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kommt den Normen, die die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regeln, aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Art. 8 Abs. 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu (zB VwGH 16.01.2001, 2000/18/0251).

Der BF verfügt weiters nach wie vor über enge Bindungen zu ihrem Heimatstaat. So hat der BF sein gesamtes bisheriges Leben bis zum Verlassen des Herkunftsstaates im Iran verbracht. Er wuchs dort auf, besuchte dort die Schule und ging einer Beschäftigung nach. Der BF wurde dort sozialisiert, beherrscht die Landessprache Farsi und ist mit den kulturellen Gepflogenheiten im Herkunftsstaat vertraut. Zudem leben noch Familienangehörige des BF im Iran, zu denen Kontakt besteht. Es ist daher davon auszugehen, dass er sich bei seiner Rückkehr in die Gesellschaft seines Herkunftsstaates wieder eingliedern können wird.

Dass der BF strafgerichtlich unbescholten ist, vermag weder sein persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich zu verstärken noch das öffentliche Interesse an der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entscheidend abzuschwächen (zB VwGH 19.04.2012, 2011/18/0253).

Es ist ferner nicht ersichtlich, dass die Dauer des bisherigen Aufenthaltes in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist. Es ist jedoch auch in diesem Zusammenhang erneut festzuhalten, dass der BF nach Abschluss seines Asylverfahrens seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachkam und versuchte, illegal in einem anderen europäischen Land zu bleiben.

Angesichts der obigen Erwägungen ist davon auszugehen, dass die Interessen des BF an einem Verbleib im Bundesgebiet gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung, dem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein hoher Stellenwert zukommt, auch nach einem nun schon längeren Aufenthalt in den Hintergrund treten. Zu diesem Ergebnis kam das Bundesverwaltungsgericht bereits im Vorverfahren und sind seither keine maßgeblichen Änderungen im Privat- und Familienleben des BF hervorgekommen, die zu einer anderen Beurteilung führen würden. Zum damaligen Entscheidungszeitpunkt betrug die Aufenthaltsdauer des BF etwa sechs Jahre und letztlich hat der BF nur seinen Aufenthalt illegal fortgesetzt. Gleichermaßen hat sich aber auch das öffentliche Interesse an der Beendigung dieses illegalen Aufenthaltes verstärkt, zumal der BF nicht nachweisen konnte, dass ihm die Ausreise nicht möglich wäre.

In einer Gesamtbetrachtung überwiegen nach vorgenommener Interessenabwägung aufgrund der vorliegenden Umstände somit die öffentlichen Interessen die privaten Interessen des BF. Dass im gegenständlichen Fall durch eine Rückkehrentscheidung unverhältnismäßig in das Privatleben des BF iSv Art. 8 Abs. 2 EMRK eingegriffen würde, kann nicht erkannt werden.

II.3.5.3. Aus den aufgezeigten Gründen ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den BF zulässig.

II.3.6. Zu Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheids:

Gemäß § 52 Abs. 9 FPG ist mit der Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.

Nach § 50 Abs. 1 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.

Nach § 50 Abs. 2 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).

Nach § 50 Abs. 3 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.

Eine derartige Empfehlung besteht für den Iran nicht.

Die Zulässigkeit der Abschiebung des BF in den Herkunftsstaat ist gegeben, da nach den getroffenen Länderfeststellungen in Zusammenschau mit seiner individuellen Situation, wie an anderer Stelle bereits dargelegt, keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des § 50 FPG ergeben würde.

Daher war die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt V. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.

II.3.7. Zu Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides:

II.3.7.1. Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt; die Frist beträgt gemäß § 52 Abs. 2 FPG vierzehn Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

Derartige Gründe wurden im vorliegenden Fall nicht dargetan und liegen keine Anhaltspunkte vor, die für eine längere Frist sprächen.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

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