Spruch
L502 2170811-6/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Nikolas BRACHER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.01.2024, FZ. XXXX , zu Recht:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (BF) stellte im Gefolge seiner illegalen Einreise in das Bundesgebiet am 04.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 23.08.2017 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig ist. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ihm eine Frist von zwei Wochen zur freiwilligen Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt.
3. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24.07.2018 mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 19.02.2019 als unbegründet abgewiesen. Das Erkenntnis erwuchs mit 21.02.2019 in Rechtskraft.
4. Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH) vom 29.04.2019 wurde die gegen das Erkenntnis des BVwG erhobene Revision zurückgewiesen.
5. Er kam seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach und wurde am 06.03.2020 zum BFA geladen um dort Dokumente zur Erlangung eines Heimreisezertifikats auszufüllen, wobei er dies verweigerte.
6. Er wurde im Juni 2020 vom BFA darüber verständigt, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbots beabsichtigt sei. Eine Stellungnahme gab er dazu nicht ab. Er legte über seine rechtsfreundliche Vertreterin eine Bestätigung der irakischen Botschaft in Wien vor, wonach die irakische Regierung keine Zwangsrückführungen von irakischen Staatsbürgern akzeptiere.
7. Mit Bescheid des BFA vom 29.07.2020 wurde gegen ihn gem. § 35 AVG eine Mutwillensstrafe verhängt.
8. Mit Erkenntnis des BVwG vom 30.12.2020 wurde die Beschwerde gegen diesen Bescheid des BFA vom 29.07.2020 abgewiesen
9. Mit Bescheid des BFA vom 07.08.2020 wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt I). Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erlassen (Spruchpunkt II). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt III). Einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung wurde gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt IV). Gemäß § 55 Abs. 4 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt V). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG wurde gegen ihn ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI).
10. Mit Teilerkenntnis des BVwG vom 16.09.2020 wurde der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV (Aberkennung der aufschiebenden Wirkung) stattgegeben und dieser Spruchpunkt ersatzlos aufgehoben.
11. Mit Erkenntnis des BVwG vom 01.10.2020 wurde die Beschwerde gegen den Bescheid des BFA vom 07.08.2020 hinsichtlich der übrigen Spruchpunkte abgewiesen, wobei die freiwillige Rückkehr mit 14 Tagen ab Rechtskraft des Erkenntnisses bestimmt wurde. Das Erkenntnis erwuchs mit 08.10.2020 in Rechtskraft.
12. Mit Mail an das BFA vom 31.08.2022 stellte er einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG. Diesen Antrag brachte er am 06.09.2022 persönlich beim BFA ein.
13. Mit Bescheid des BFA vom 06.09.2022 wurde sein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK vom 06.09.2022 gem. § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG als unzulässig zurückgewiesen.
14. Gegen den zurückweisenden Bescheid des BFA vom 06.09.2022 erhob er fristgerecht Beschwerde und führte das BVwG am 15.03.2023 in dieser Sache eine öffentliche mündliche Verhandlung.
15. Mit Erkenntnis des BVwG vom 12.05.2023 wurde der Bescheid des BFA vom 06.09.2022 aufgehoben.
16. Im fortgesetzten Verfahren wies das BFA mit Bescheid vom 29.09.2023 den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK ab. Das Verfahren über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde ist beim BVwG anhängig.
17. Am 26.09.2023 wurde er aufgrund eines gegen ihn erlassenen Festnahmeauftrages festgenommen und in das Polizeianhaltezentrum (PAZ) Wien Roßauer Lände verbracht.
18. Am 26.09.2023 wurde ihm mitgeteilt, dass seine Abschiebung für den 03.10.2023 festgelegt sei.
19. Am 28.09.2023 langte beim BFA eine Bestätigung seiner Haftfähigkeit ein.
20. Am 28.09.2023 richtete das BFA eine Anfrage an die Staatendokumentation, die am selben Tag beantwortet wurde.
21. Am 28.09.2023 stellte der BF im Stande seiner Anhaltung einen weiteren Antrag (Folgeantrag) auf internationalen Schutz.
22. Am 29.09.2023 erfolgte dazu die Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes.
23. Am 29.09.2023 wurde ihm ein Aktenvermerk gemäß § 40 Abs. 5 BFA-VG zur Kenntnis gebracht.
24. Über ihn wurde am 29.09.2023 um 16:00 Uhr die Schubhaft verhängt. Die gegen den Schubhaftbescheid erhobene Beschwerde ist beim BVwG anhängig.
25. Mit Mandatsbescheid des BFA vom 29.09.2023 wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 12a Abs. 4 Z. 1 und Z. 2 AsylG nicht vorliegen. Der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12 AsylG wurde ihm gemäß § 12a Abs. 4 AsylG nicht zuerkannt.
26. Mit Mail der Landespolizeidirektion Wien vom 29.09.2023 wurde das BFA über die Verweigerung der Annahme des Mandatsbescheides durch den BF informiert.
27. Am 03.10.2023 wurde er auf dem Luftweg in den Irak abgeschoben.
28. Gegen den seiner Vertretung am 04.10.2023 zugestellten Mandatsbescheid wurde fristgerecht Vorstellung erhoben. Die Vorstellung langte am 05.10.2023 beim BFA ein.
29. Mit Mail vom 20.11.2023 ersuchte das BFA seine Vertretung um Mitteilung, ob das Vertretungsverhältnis nach wie vor aufrecht sei.
30. Mit Mail vom 20.11.2023 und 29.11.2023 bestätigte seine Vertretung die aufrechte Vollmacht.
31. Mit Mail vom 21.12.2023 übermittelte das BFA seiner Vertretung die Länderinformationen der Staatendokumentation zum Irak.
32. Mit Mail vom selben Tag ersuchte seine Vertretung um ordentliche Zustellung und übermittelte die mit 27.09.2023 datierte Vollmacht, mit der auch eine Zustellvollmacht erteilt wurde. Zugleich wurde auf die postalische Zustellung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zum Irak verzichtet. Unter einem wurde um eine Verlängerung der Frist zur Abgabe einer Stellungnahme ersucht.
33. Mit Schreiben vom 22.12.2023 teilte das BFA seiner Vertretung mit, dass das Länderinformationsblatt postalisch zugestellt und dem Ersuchen um Fristverlängerung nicht entsprochen werde und die Frist daher unverändert bis zum 04.01.2024 bestehe.
34. Am 02.01.2024 bestätigte seine Vertretung den postalischen Erhalt des Länderinformationsblattes mit 28.12.2023 und beantragte erneut eine Fristverlängerung bis zum 16.01.2024.
35. Mit Mail des BFA vom 03.01.2024 wurde dem Ersuchen um Fristverlängerung nicht entsprochen.
36. Am 04.01.2023 langte eine Stellungnahme seiner Vertretung beim BFA ein. Zugleich wurden mehrere Beweismittel in Vorlage gebracht.
37. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 22.01.2024 wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 12a Abs. 4 Z. 1 und Z. 2 AsylG nicht vorliegen. Der faktische Abschiebeschutz wurde ihm gemäß § 12a Abs. 4 AsylG nicht zuerkannt.
38. Gegen den seiner Vertretung am 23.01.2024 zugestellten Bescheid wurde mit Schriftsatz vom 06.02.2024 fristgerecht Beschwerde erhoben.
39. Die Beschwerdevorlage der belangten Behörde langte mit 12.02.2024 beim BVwG ein und wurde das gg. Beschwerdeverfahren in der Folge der nun zur Entscheidung berufenen Gerichtsabteilung zur Entscheidung zugewiesen, wo die Beschwerdevorlage mit 13.02.2024 einlangte.
40. Das BVwG ersuchte mit Schreiben vom 13.02.2024 um Übermittlung des Zustellnachweises zum bekämpften Bescheid sowie um Übermittlung eines aktuellen Informationsblattes nach § 52 Abs. 1 BFA-VG.
41. Mit Schreiben vom 13.02.2024 übermittelte das BFA einen Zustellnachweis betreffend die erfolgte Zustellung des Länderinformationsblattes an seine Vertretung mit 28.12.2023.
42. Mit Mail vom 15.02.2024 teilte das BFA mit, dass bislang kein Zustellnachweis des bekämpften Bescheides aktenkundig sei.
43. Das BVwG erstellte aktuelle Auszüge aus dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister, dem Strafregister, dem Betreuungsinformationssystem sowie dem Zentralen Melderegister.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der og. Verfahrensgang steht fest.
1.2. Der BF konnte nicht glaubhaft machen, dass er den Folgeantrag zu keinem früheren Zeitpunkt stellen konnte.
Die objektive Lage im Irak hat sich seit der Entscheidung über den ersten Antrag auf internationalen Schutz nicht entscheidungsrelevant geändert.
1.3. Zur aktuellen Lage im Irak wird, den länderkundlichen Feststellungen der belangten Behörde im bekämpften Bescheid entsprechend, festgestellt:
Länderspezifische Anmerkungen
In der vorliegenden Länderinformation wird für die irakischen Gebiete unter der direkten Kontrolle der Zentralregierung in Bagdad, d. h., ohne die Kurdistan Region Irak (KRI) auch der Begriff "föderaler Irak" verwendet, um die Zuordenbarkeit von Informationen, die einerseits den gesamten Irak (inkl. der KRI) und andererseits nur die Gouvernements unter der direkten Kontrolle Bagdads betreffen, zu verdeutlichen.
Wie in allen Länderinformationen wird bei staatlichen nationalen Institutionen in der Quellenangabe das Land in eckiger Klammer genannt. Aus Gründen der Stringenz geschieht dies auch, wenn aus dem Quellennamen das Land bereits eindeutig hervorgeht.
Im Hinblick auf offizielle Statistiken des Irak wird darauf hingewiesen, dass auch offizielle irakische Stellen bzw. deren zugängliche Veröffentlichungen immer noch veraltetes Zahlenmaterial anführen, da aufgrund der Post-Konflikt-Situation kein neueres empirisches Material generiert wurde. Viele, vor allem wirtschaftliche Zahlen und solche zu humanitären Fragen berufen sich auf Hochrechnungen basierend auf Umfragen sowie empirischen Untersuchungen, deren Ergebnisse je nach angewandter Methodik variieren können.
In den Kapiteln zur Sicherheitslage im Irak wird unter anderem auf die Vorfallsdaten bzw. -datensätze von ACLED (Armed Conflict Location Event Data Project) und Joel Wing zurückgegriffen.
ACLED erfasst sicherheitsrelevante Vorfälle und Todesopfer mittels Medienbeobachtung, d. h. es werden online verfügbare Nachrichtenberichte sowie Berichte von anderen Quellen über sicherheitsrelevante Vorfälle gesammelt und die relevanten Ereignisse anhand eines vorgegebenen Codierschemas in den Vorfallsdatensatz aufgenommen (ACLED o.D.).
ACLED verwendet bei der Zählung der Todesopfer die kleinste in den Quellen zu findende Anzahl an Todesopfern. Sind die Angaben zu den Todesopfern in den Quellen ungenau (z. B. "zahlreiche Tote") oder unbekannt, so codiert ACLED je nach Kontext entweder drei oder zehn Todesopfer (ACLED o.D.). Die Angaben zu den Todesopfern sind somit Schätzungen von ACLED.
ACLED sammelt und codiert Fälle von politischer Gewalt. Politische Gewalt wird dabei definiert als die Anwendung von Gewalt durch eine Gruppe mit einem politischen Ziel oder einer politischen Motivation oder mit eindeutigen politischen Auswirkungen. Ein Ereignis politischer Gewalt ist eine einzelne Auseinandersetzung, bei der eine oder mehrere Gruppen Gewalt zu einem politischen Zweck anwenden. ACLED erfasst dabei die folgenden Vorfälle von politischer Gewalt: Kampfhandlungen staatlicher und nicht-staatlicher Akteure, Gewalt gegen Zivilisten, sogenannte "remote violence" - Gewalt ohne die physische Anwesenheit des Gewaltausübenden (z. B. Bombenanschläge, IEDs, Raketenangriffe etc.) - wie auch Demonstrationen und Aufstände. Auch gewaltlose Ereignisse werden unter der Kategorie "strategische Entwicklungen" sowie in Bezug auf friedliche Proteste erfasst (ACLED o.D.).
Weitergehende Informationen zur Vorgehensweise von ACLED können der aktuellen Methodologie bzw. dem Codebuch von ACLED entnommen werden: https://acleddata.com/acleddatanew/wp-content/uploads/dlm_uploads/2023/06/ACLED_Codebook_2023.pdf.
Der US-amerikanische Irak-Experte Joel Wing, der für die Jamestown Foundation geschrieben hat, von der BBC und CNN eingeladen wird und immer wieder in einschlägigen Berichten (z. B. UK Home Office-Bericht zum Irak) oder von der österreichischen Nahost-Expertin Gudrun Harrer zitiert wird, veröffentlicht in seinem Blog "Musings on Iraq" Zahlen zu den Opfern von Gewalt im Irak, wobei er sich auf Angriffe nicht- oder teil-staatlicher Akteure fokussiert, wie z. B. des Islamischen Staats (IS), pro-iranischer Milizen, Sadristen, u. a. Die Statistiken von Joel Wing enthalten genaue Angaben zur Anzahl Getöteter, getöteter Zivilisten, Verwundeter, etc. - dies fast immer in Kombination mit der Art des Angriffes/Anschlages. Laut Joel Wing handelt es sich bei den auf seiner Webseite angegebenen Zahlen um keine Schätzungen, die versuchen das Gesamtausmaß zu erfassen, sondern um einzeln dokumentierte Fälle. Sie seien daher keinesfalls als erschöpfend anzusehen. Zudem würde die irakische Regierung aus Propagandagründen immer wieder aktiv Informationen über bestimmte Vorfälle unterdrücken. Die Blogseite kann unter dem folgenden Link abgerufen werden: https://musingsoniraq.blogspot.com/.
COVID-19
Zur aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Websites der WHO: http://covid19.who.int/ oder https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports. Für historische Daten bis zum 10.3.2023 siehe die Datenbank der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6.
Politische Lage
Mit dem gewaltsamen Sturz Saddam Husseins und der Ba’ath-Partei im März 2003 (KAS 2.5.2018, S.2; vgl.DFAT 17.8.2020, S.9) wurde die politische Landschaft des Irak enorm verändert (KAS 2.5.2018, S.2; vgl. Fanack 8.7.2020). 2005 hielt der Irak erstmals demokratische Wahlen ab und führte eine Verfassung ein, die zahlreiche Menschenrechtsbestimmungen enthält. Das Machtvakuum infolge des Regimesturzes und die Misswirtschaft der Besatzungstruppen führten hingegen zu einem langwierigen Aufstand gegen die US-geführten Koalitionstruppen (DFAT 17.8.2020, S.9). Dieses gemischte Bild ist das Ergebnis der intensiven politischen Dynamik, die durch den Aufstieg des Islamischen Staates (IS) auf eine harte Probe gestellt wurde (KAS 2.5.2018, S.2).
Gemäß der Verfassung von 2005 ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch republikanischer Staat. Der Islam ist Staatsreligion und eine der Hauptquellen der Gesetzgebung (AA 28.10.2022, S.6; vgl. Fanack 8.7.2020). Das Land ist in 18 Gouvernements (muhafazāt) unterteilt (Fanack 8.7.2020; DFAT 16.1.2023, S.9), jedes mit einem gewählten Rat. Die Gouverneure werden vom Präsidenten auf Anraten der Bundesregierung ernannt (DFAT 16.1.2023; S.9). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und
Judikative vor (BS 29.4.2020, S.11; vgl. RIL 15.10.2005, S.14). An der Spitze der Exekutive steht der Präsident, welcher mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (arab.: majlis al-nuwwāb, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt wird. Eine einmalige Wiederwahl ist möglich. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 8.7.2020). Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und repräsentiert die Souveränität und Einheit des Staates (DFAT 17.8.2020, S.17). Das zweite Organ der Exekutive ist der Premierminister, welcher vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt wird (Fanack 8.7.2020; vgl. RIL 15.10.2005, S.23). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist zudem Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 8.7.2020; vgl. DFAT 17.8.2020, S.17). Die Legislative wird durch den Repräsentantenrat, d. h. das Parlament, ausgeübt (Fanack 8.7.2020; vgl. KAS 2.5.2018, S.2). Er besteht aus 329 Abgeordneten, die für eine Periode von vier Jahren gewählt werden (FH 2023). Neun Sitze sind per Gesetz für ethnische und religiöse Minderheiten reserviert (AA 22.1.2021, S.11; vgl. FH 2023, USDOS 12.4.2022) fünf für Christen und je einer für Jesiden, Mandäer-Sabäer, Shabak und für Faili-Kurden aus dem Gouvernement Wassit (AA 22.1.2021, S.11; vgl. FH 2023, USDOS 12.4.2022). Die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25 % (USDOS 12.4.2022; vgl. FH 2023). Die Judikative wird vor allem durch den Bundesgerichtshof repräsentiert (KAS 2.5.2018, S.2).
Die Grenzen zwischen Exekutive, Legislative und Judikative sind jedoch häufig fließend (FH 2023). Die Gewaltenteilung wird durch parallele Rollen vieler Entscheidungsträger beeinträchtigt (BS 23.2.2022, S.12). In Artikel 19 der Verfassung heißt es beispielsweise, dass die Justiz unabhängig ist, und keine Macht über der Justiz steht, außer dem Gesetz selbst (BS 23.2.2022, S. 13). Die Justiz ist jedoch eine der schwächsten Institutionen des Staates, und ihre Unabhängigkeit wird häufig durch die Einmischung politischer Parteien über Patronage-Netzwerke und Klientelismus untergraben (BS 29.4.2020, S.11). [siehe dazu Kapitel „Rechtsschutz / Justizwesen“]
Das politische System des Iraks wird durch das sogenannte Muhasasa-System geprägt (BS 23.2.2022, S.33; vgl. DFAT 16.1.2023, S.9-10, BAMF 5.2020, S.2). Muhasasa im irakischen Kontext bedeutet die Vergabe von staatlichen Ämtern entlang ethnisch-konfessioneller (Muhasasa Ta’ifiyya) oder parteipolitischer (Muhasasa Hizbiyya) Linien. Der Aufteilung wird ein geschätzter Zensus zugrunde gelegt, sodass die drei größten Bevölkerungsgruppen (Kurden, Sunniten, Schiiten) ihren Bevölkerungsanteilen gemäß proportional repräsentiert werden. Einige Minderheiten wie Christen und Jesiden sind durch für sie reservierte Sitze repräsentiert. Mit der Vergabe staatlicher Ämter ergibt sich auch ein Zugang zu staatlichen Ressourcen, z. B. durch Zugang zu Budgets von Ministerien oder lokalen Behörden (BAMF 5.2020, S.2-3.). Das Muhasasa-System gilt auch für die Staatsführung. So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (FH 24.2.2022; vgl. DFAT 16.1.2023, S.9-10). Das konfessionelle Proporzsystem im Parlament festigt den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindert die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 2.3.2020, S.8). Das seit 2003 etablierte politische Muhasasa-System steht in weiten Teilen der Bevölkerung in der Kritik (BAMF 5.2020, S.30). Seit 2015 richten sich die Demonstrationen im Irak zunehmend auch gegen das etablierte Muhasasa-System als solches. Das Muhasasa-System wird für das Scheitern des Staates verantwortlich gemacht (BAMF 5.2020, S.1).
Für die Durchführung der Wahlen im Irak ist die Unabhängige Hohe Wahlkommission (IHEC) verantwortlich. Sie genießt generell das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft und laut manchen Umfragen auch der irakischen Bevölkerung. Der Irak hält regelmäßig kompetitive Wahlen ab. Die verschiedenen parteipolitischen, ethnischen und konfessionellen Gruppen des Landes sind im Allgemeinen im politischen System vertreten. Allerdings wird die demokratische Regierungsführung in der Praxis durch Korruption, die Schwäche formaler Institutionen und durch Milizen, die außerhalb des Gesetzesrahmens agieren, behindert (FH 2023).
Am 1.10.2019 begonnene, lang anhaltende Massenproteste, die sich gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten von Amerika richteten, führten zum Rücktritt des damaligen Premierministers Adel Abdul Mahdi Ende November 2019 (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020). Erst im Mai 2020 einigten sich die großen Blöcke im Parlament und ihre ausländischen Unterstützer auf den unabhängigen Mustafa al-Kadhimi als neuen Premierminister (FH 3.3.2021a).
Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderungen der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019, FH 2023). Das neue Wahlgesetz soll unabhängigen Kandidaten, die nicht von großen Parteien unterstützt werden, den Einzug ins Parlament erleichtern (FH 2023). Kandidaten können überschüssige Stimmen nicht mehr auf andere Kandidaten ihrer Partei übertragen (ICG 16.11.2021). Die achtzehn irakischen Gouvernements wurden in 83 Wahlbezirke unterteilt, auf die die 329 Parlamentssitze verteilt wurden (ICG 16.11.2021; vgl. FH 2023). Die Gouvernements werden hierzu in eine Reihe neuer Wahlbezirke unterteilt, in denen für jeweils etwa 100.000 Einwohner ein Abgeordneter gewählt wird (FH 3.3.2021a). Unklar ist für diese Einteilung jedoch, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (FH 3.3.2021a; vgl. NYT 24.12.2019). Die Distrikte haben je nach Größe zwischen drei und sechs Sitze (ICG 16.11.2021). Einige politische Parteien befürchteten Wahlbetrug und lehnten die Einteilung der Wahlbezirke ab. Besonders die traditionellen Parteienblöcke befürchteten einen Verlust an Einfluss durch die Aufteilung ihrer Wählerschaft in die neuen, kleineren Wahlbezirke (AlMon 2.11.2020).
Im Juli 2020 hat Premierminister al-Kadhimi ein Versprechen an die Protestbewegung erfüllt und die Vorverlegung der Parlamentswahlen auf den 6.6.2021 beschlossen (REU 31.7.2020; vgl. AlMon 9.12.2020). Auf Vorschlag der IHEC, die um mehr Zeit für die Umsetzung der rechtlichen und logistischen Maßnahmen bat, hat das Kabinett einstimmig entschieden, die Parlaments-wahlen auf den 10.10.2021 zu verschieben (AJ 19.1.2021).
Am 10.10.2021 fanden Parlamentswahlenstatt (HRW 12.1.2023; vgl. KAS 1.2022, S.1), die ersten nach dem neuen Wahlsystem (FH 2023). Die Wahlbeteiligung war die niedrigste in der Geschichte des Iraks nach 2003 und lag nach der großzügigsten Schätzung bei 43,54 % (KAS 1.2022, S.1). Die Bewegung des schiitischen Populistenführers Muqtada as-Sadr, eines Gegners des iranischen und US-amerikanischen Einflusses im Irak (AJ 27.12.2021), ging als Wahlsieger hervor und erhielt 73 der 329 Parlamentssitze (AJ 27.12.2021; vgl. ICG 16.11.2021, KAS 1.2022, S.3). Die Fatah- (Eroberungs-)Allianz, der politischeArm der pro-iranischen Volksmobilisierungskräfte (Popular Mobilization Forces) - PMF, ist von vormals 48 Sitzen auf 17 abgestürzt (Arabiya 27.12.2021; vgl. ICG 16.11.2021). Die Rechtsstaat-Koalition des ehemaligen Premierministers Nouri al-Maliki zählt ebenso zu den Gewinnern der Wahl. Sie hat 33 Parlamentssitze gewonnen (KAS 1.2022, S.3).
Von den sunnitischen Parteien errang die Taqaddum- (Fortschritt-) Koalition unter der Führung des scheidenden irakischen Parlamentspräsidenten Mohammed al-Halbousi 37 Sitze (Rudaw 30.11.2021; vgl. ICG 16.11.2021, KAS 1.2022, S.3). Die ebenfalls sunnitische Partei Azm unter Khamis al-Khanjar erreichte 14 Sitze (ICG 16.11.2021; vgl. KAS 1.2022, S.3).
Von den kurdischen Parteien erhielt die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) 31 Sitze, die Patriotische Union Kurdistans (PUK) 17 und die Bewegung „Neue Generation“ neun Sitze (Rudaw 30.11.2021; vgl. KAS 1.2022, S.3). Die Gorran-Bewegung, die bei dieser Wahl auf einer gemeinsamen Liste mit der PUK antrat, hat alle ihre Sitze verloren (ICG 16.11.2021).
Der Anführer der Emtidad- (Fortführungs-) Bewegung, Alaa Al-Rikabi, war einer der wenigen Aktivisten, die aus der Oktoberprotestbewegung als Anführer hervorgingen (KAS 1.2022, S.3). Nach dem Endergebnis haben 16 politische Parteien jeweils nur einen Sitz gewonnen (Rudaw 30.11.2021; vgl. KAS 1.2022, S.3). 43 Sitze gingen an unabhängige Kandidaten (KAS 1.2022, S.3).
Nach den Wahlen im Oktober 2021 haben sich die schiitischen politischen Kräfte in zwei Hauptgruppen gespalten: die Sadristen und der „Koordinationsrahmen“ (CF), der aus dem mehrheitlich schiitischen politischen Flügel der PMF und anderen iranfreundlichen Gruppen besteht (AlMon 30.9.2022). Die von Iran unterstützten Gruppierungen, darunter mächtige bewaffnete Gruppen, haben Unregelmäßigkeiten beanstandet (AJ 27.12.2021). Bei der IHEC gingen mehr als 1.300 Einsprüche ein, die vom CF eingereicht wurden, welcher bei den Wahlen schlecht abgeschnitten hat. Die meisten dieser Beschwerden wurden wegen fehlender Beweise abgewiesen (AJ 5.11.2021). Am 27.12.2021 hat der oberste Gerichtshof das Wahlergebnis ratifiziert (DW 27.12.2021; vgl. Arabiya 27.12.2021). Der CF forderte eine Beteiligung in einer Regierung der nationalen Einheit (AlMon 1.2.2022).
Proteste gegen das Wahlergebnis sind in Bagdad in Gewalt umgeschlagen. Unterstützer der pro-iranischen Gruppen, die Betrug anprangerten, stießen außerhalb der „Grünen Zone“ in Bagdad mit Sicherheitskräften zusammen (AJ 5.11.2021). Dabei wurde am 5.11.2021 während des Protests von Anhängern der Asa’ib Ahl- al-Haqq und Kata’ib Hisbollah ein Anhänger der Asa’ib Ahl- al-Haqq getötet, mehrere Hundert Sicherheitskräfte wurden verletzt. Der Anführer der Gruppe, Qais al-Khazali, machte Premierminister al-Kadhimi für den Toten verantwortlich und versprach, ihn vor Gericht zu stellen (ICG 16.11.2021).
Am 31.10.2021 schlugen drei Raketen in der Nähe des Hauptquartiers des Geheimdienstes in Bagdad ein, einer Einrichtung, die al-Kadhimi leitete und immer noch kontrolliert (ICG 16.11.2021). Bei einem Anschlag am 7.11.2021 versuchten ungenannte bewaffnete Akteure mit drei bewaffneten Drohnen, den Premierminister in seiner Residenz zu ermorden, scheiterten jedoch (HRW 13.1.2022; vgl. ICG 16.11.2021). Wegen des Einsatzes von Drohnen wird dieser Anschlag häufig pro-iranischen Gruppen zugeschrieben (ICG 16.11.2021). Am 25.1.2022 wurde auch die Residenz des irakischen Parlamentssprechers Mohammed al-Halbousi mit mindestens drei Raketen beschossen. Der Angriff ereignete sich wenige Stunden nachdem das Bundesgericht die Wiederwahl al-Halbousis als Parlamentssprecher bestätigt hatte. Al-Halbousi wurde wiederholt von mit Iran verbundenen Gruppierungen und solchen, die ihnen nahe stehen, bedroht (AlMon 26.1.2022).
Muqtada as-Sadr versuchte erstmals mit dem Prinzip der nationalen Einheitsregierung zu brechen (KAS 11.2022, S.1) und eine Zwei-Drittel-Mehrheitsregierung (220 Sitze) zu bilden (Soufan 23.6.2022; vgl. KAS 11.2022, S.1), unter Einbindung von sunnitisch-arabischen und kurdischen Fraktionen (Soufan 23.6.2022). Nach irakischem Recht ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit für die Wahl des Präsidenten erforderlich (AJ 15.6.2022). As-Sadr wollte die Post-Saddam-Regierungsstruktur, in der schiitische Fraktionen unter weitgehender Ausgrenzung nicht-schiitischer Gruppen regierten, beenden. Diese Regierungsstruktur habe laut as-Sadr die Voraussetzungen für die Tishreen-Massenproteste vom Oktober 2019 geschaffen und den von Iran unterstützten PMF zu viel Einfluss verliehen (Soufan 23.6.2022).
Obwohl die Sadristen den größten Block stellten, waren sie nicht in der Lage, eine Regierung im Bündnis mit der sunnitischen Taqaddum-Partei des Parlamentspräsidenten Muhammad Halbousi und der Demokratischen Partei Kurdistans unter Führung von Masoud Barzani zu bilden (AlMon 30.9.2022).
Bei der Eröffnungssitzung des neugewählten Parlaments am 9.1.2022 hat as-Sadrs ethno-konfessionelle Allianz mit kurdischen und sunnitischen Parteien ihren sunnitischen Kandidaten für das Amt des Parlamentspräsidenten, Mohammed al-Halbousi, mühelos gewählt. Des Weiteren konnten die Sadristen 17 bislang unabhängige Abgeordnete für ihren Block gewinnen und umfassten nun 90 Sitze (AlMon 1.2.2022).
Die Wahl des Präsidenten, die für den 7.2.2022 geplant war, kam nicht zustande, da das Parlament nicht beschlussfähig war. Wegen vielfacher Sitzungsboykotte waren nur 58 von 329 Abgeordneten anwesend und damit weniger als die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Zu dem Boykott kam es, da der Oberste Gerichtshof die Präsidentschaftskandidatur des Wunschkandidaten Hoshyar Zebari von der KDP wegen Bestechungsvorwürfen aus seiner Zeit als Finanzminister im Jahr 2016 ausgesetzt hatte (REU 7.2.2022). Der Prozess der Regierungsbildung ist zum Teil auch deshalb ins Stocken geraten, weil die beiden wichtigsten kurdischen Parteien, KDP und PUK, zu gegensätzlichen nationalen Koalitionen übergegangen sind, und ihr früheres Muster, gemeinsame Positionen im Umgang mit den arabischen Führern des Irak zu schmieden, aufgegeben haben. Die PUK, die jetzt mit den pro-iranischen Schiiten verbündet ist, hat Barham Salih, den Amtsinhaber, für eine weitere Amtszeit als Präsident nominiert (Soufan 14.4.2022). Die KDP hat mit Rebar Ahmed einen eigenen Kandidaten vorgeschlagen (Soufan 14.4.2022; vgl. AlMon 25.7.2022).
Nach fast acht Monaten vergeblicher Bemühungen um die Bildung einer Regierung räumte Moqtada as-Sadr am 12.6.2022 ein, dass es ihm nicht möglich ist, die von ihm angestrebte Regierung zu bilden (Soufan 23.6.2022; vgl. AJ 15.6.2022). Er hat daher die 73 Abgeordneten seines Blocks der Sadristischen Bewegung (Sairoon) im irakischen Parlament aufgefordert, geschlossen zurückzutreten (AJ 15.6.2022; vgl. KAS 11.2022, S.1, Soufan 23.6.2022), was diese auch befolgten (AJ 15.6.2022). Laut irakischem Recht rückt bei Freiwerden eines Parlamentssitzes der Kandidat mit den nächstmeisten Stimmen nach (AJ 15.6.2022; vgl. Soufan 23.6.2022). Die überwiegende Zahl der freigewordenen Mandate ist an Mitglieder der CF gegangen, der mit rund 130 Sitzen somit zum stärksten Bock des irakischen Parlaments wurde (Arabiya 26.3.2022). As-Sadr besteht auf vorgezogene Neuwahlen (AlMon 30.9.2022).
Am 25.9.2022 verlauteten Quellen des CF, dass es mit den wichtigsten sunnitischen und kurdischen Blöcken zu einer Vereinbarung zur Bildung einer neuen Koalition namens Idarat al-Dawla (Staatsverwaltungs-Koalition) gekommen sei. Eine offizielle Verlautbarung sei jedoch erst nach einer Einigung mit as-Sadr geplant, um weitere Zusammenstöße mit dessen Anhängern zu vermeiden (EPIC 29.9.2022). Mit monatelanger Verzögerung, aufgrund von sadristischen Protesten, wurde am 28.9.2022 al-Halbousi erneut zum Parlamentssprecher gewählt, diesmal von der um den CF neu gebildeten Allianz. Muhammad Mandalawi, der dem CF angehört, wurde zu seinem ersten Stellvertreter gewählt (AlMon 30.9.2022). Am 13.10.2022 wählte das irakische Parlament den Kurden Abdul Latif Rashid von der PUK zum neuen Präsidenten des Irak. Unmittelbar nach seiner Wahl ernannte Rashid Muhammad Shia as-Sudani zum Premierminister (AlMon 13.10.2022). Am 27.10.2022 hat das irakische Parlament as-Sudani das Vertrauen ausgesprochen (AlMon 27.10.2022; vgl. HRW 12.1.2023, KAS 11.2022, S.1). Die Mehrheit der 23 Ministerposten wird mit schiitischen Arabern besetzt, darunter ist erstmalig auch ein Vertreter des politischen Arms der Asa’ib Ahl al-Haqq-Miliz. Die sunnitischen Araber stellen sechs Minister, die irakischen Kurden vier (KAS 11.2022, S.2).
Rivalisierende Demonstrationen der konkurrierender schiitischen Fraktionen, die mit schwer bewaffneten Milizen verbunden sind, brachten Tausende ihrer Anhänger auf die Straßen der irakischen Hauptstadt (AJ 1.8.2022). Am 27.7.2022 drangen Hunderte von irakischen Demonstranten, die meisten von ihnen Anhänger as-Sadrs, in die hochgesicherte Grüne Zone Bagdads ein und stürmten das Parlamentsgebäude. Sie haben damit gegen die Nominierung von Mohammed Shia as-Sudani als Kandidaten für das Amt des Premierministers durch die von Iran unterstützen Parteien protestiert. Stunden, nachdem seine Anhänger das Parlament besetzt hatten, gab as-Sadr eine Erklärung ab, in der er seinen Anhängern mitteilte, dass ihre Botschaft angekommen sei und sie heimgehen sollten, was diese kurz darauf taten. Damit demonstrierte er das Ausmaß an Kontrolle über seine Anhängerschaft (AJ 27.7.2022). Die Ankündigung asSadrs, sich gänzlich aus dem politischen Leben zurückzuziehen, führte zu einem neuerlichen Sturm der Grünen Zone durch seine Anhänger (AJ 29.8.2022). Am 28. und 29.8.2022 kam es dabei in der Grünen Zone zu Zusammenstößen zwischen den PMF und den Sadristen, bei denen etwa 70 Menschen getötet und Hunderte verwundet wurden (AlMon 30.9.2022).
Die letzten Wahlen für die Provinzräte fanden 2013 statt (AlMon 28.3.2023; vgl. National 20.3.2023). Nach wiederholten Verzögerungen wurden die ursprünglich für 2017 geplanten Wahlen zu den Provinzräten im November 2019 auf unbestimmte Zeit verschoben (FH 3.3.2021a). Im Entgegenkommen auf eine Forderung derTishreen-Proteste wurden die Provinzräte, denen ein hohes Maß an Korruption vorgeworfen wurde, im Oktober 2019 vom irakischen Parlament aufgelöst (National 20.3.2023; vgl. AN 20.3.2023, Rudaw 2.6.2021), mit Ausnahme jener in der Kurdistan Region Irak (KRI)(Rudaw 2.6.2021). Das Parlament beschloss jedoch, die Gouverneure im Amt zu belassen, welche die Aufgaben der Räte übernahmen, dabei aber unter der Kontrolle der föderalen Regierung standen. Das irakische Bundesgericht bestätigte Anfang Juni 2021 nach einer vorausgegangenen Klage die Entscheidung des Parlaments von 2019 (Rudaw 2.6.2021). Am 2.11.2022 wurden die Gouverneure von Babil, Dhi-Qar, Najaf und Salah ad-Din von der neu gewählten Regierung as-Sudanis abgesetzt, ebenso wie der von der Übergangsregierung eingesetzte Bürgermeister von Baghdad (AlMon 2.11.2022).
Per Parlamentsbeschluss vom 20.3.2023 wurde der 6.11.2023 als Termin für neue Provinzratswahlen festgelegt (AN 20.3.2023). Die KRI-Gouvernements sind hierbei jedoch ausgenommen (AN 20.3.2023).
Der CF hat im März 2023 eine Änderung des irakischen Wahlgesetzes beschlossen. Das neue
Wahlgesetz hebt Änderungen auf, die 2020 als Reaktion auf die landesweiten Tishreen-Proteste im Vorfeld der Bundeswahlen 2021 beschlossen wurden (AlMon 28.3.2023; vgl. AJ 27.3.2023). Das neue System übernimmt ein System der proportionalen Vertretung auf Parteilisten, um Sitze in Provinzparlamenten zuzuweisen. Es erhöht auch die Größe der Wahlkreise und sieht nur einen Wahlkreis pro Gouvernement vor, im Gegensatz zum vorherigen System mit mehreren Wahlkreisen pro Gouvernement und der Stimmzuteilung an einzelne Kandidaten anstatt an Parteien (AlMon 28.3.2023). Es wird vermutet, dass die Änderung den größeren Parteien hilft, auf Kosten kleiner und unabhängiger politischer Akteure (AlMon 28.3.2023; vgl. AJ 27.3.2023).
Die Änderung des Wahlgesetzes hat Proteste in Bagdad und auch in Nasiriyah in Dhi Qar ausgelöst (AlMon 28.3.2023).
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage im Irak hat sich seit dem Ende der groß angelegten Kämpfe gegen den Islamischen Staat (IS) erheblich verbessert (FH 2023). Derzeit ist es jedoch staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Dies gilt insbesondere für den Zentralirak außerhalb der Hauptstadt (AA 28.10.2022, S. 7). Im Jahr 2022 blieb die Sicherheitslage in vielen Gebieten des Irak instabil. Die Gründe dafür liegen in sporadischen Angriffen durch den IS, in Kämpfen zwischen den irakischen Sicherheitskräften (ISF) und dem IS in abgelegenen Gebieten des Irak, die nicht vollständig unter der Kontrolle der Regierung einschließlich PMF stehen, sowie in ethno-konfessioneller und finanziell motivierter Gewalt (USDOS 20.3.2023). Auch die Spannungen zwischen Iran und den USA, die am 3.1.2020 in der gezielten Tötung von Qasem Soleimani, Kommandant des Korps der Islamischen Revolutionsgarden und der Quds
Force, und Abu Mahdi al-Muhandis, Gründer der Kata’ib Hisbollah und de facto-Anführer der Volksmobilisierungskräfte, bei einem Militärschlag am Internationalen Flughafen von Bagdad gipfelten, haben einen destabilisierenden Einfluss auf den Irak (DIIS 23.6.2021).
Im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen
Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 28.10.2022, S. 14).
Der IS ist zwar offiziell besiegt, stellt aber weiterhin eine Bedrohung dar. Es besteht die Sorge, dass die Gruppe wieder an Stärke gewinnt (DIIS 23.6.2021). Die Überreste des IS zählen zu den primären terroristischen Bedrohungen im Irak[siehe Kapitel: Islamischer Staat (IS)] (USDOS 27.2.2023a).
Die Regierungen in Bagdad und Erbil haben im Mai 2021 eine Vereinbarung über den gemeinsamen Einsatz ihrer Sicherheitskräfte (ISF und der Peshmerga) in den Sicherheitslücken zwischen den von ihnen kontrollierten Gebieten getroffen. Seitdem wurden mehrere „Gemeinsame Koordinationszentren“ eingerichtet (Rudaw 21.6.2021). In vier neuen Gemeinsamen Koordinationszentren, in Makhmur, in Diyala, in Kirkuks K1-Militärbasis und in Ninewa, arbeiten kurdische und irakische Kräfte zusammen und tauschen Informationen aus, um den IS in diesen Gebieten zu bekämpfen (Rudaw 25.5.2021). Es wurden zwei koordinierte Brigaden aufgestellt, die die Sicherheitslücken zwischen den ISF und den Peshmerga eindämmen sollen, die sich von Khanqin in Diyala bis zum Sahila-Gebiet nahe der syrischen Grenze erstrecken, wobei aufgrund der geringen Mannschaftsstärke Zweifel an ihrer Effektivität zur Eindämmung des IS in den betroffenen Gebieten erhoben werden (Shafaq 17.8.2023).
Zusätzlich agieren insbesondere schiitische Milizen (Volksmobilisierungskräfte, PMF), aber auch sunnitische Stammesmilizen eigenmächtig und weitgehend ohne Kontrolle (AA28.10.2022, S. 7-8). Die ursprünglich für den Kampf gegen den IS mobilisierten, mehrheitlich schiitischen und zum Teil von Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen je nach Einsatzort und gegebenen lokalen Strukturen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar (AA 28.10.2022, S. 14). Die PMF haben erheblichen Einfluss auf die wirtschaftliche, politische und sicherheitspolitische Lage im Irak und nutzen ihre Stellung zum Teil, um unter anderem ungestraft gegen Kritiker vorzugehen. Immer wieder werden Aktivisten ermordet, welche die von Iran unterstützten PMF öffentlich kritisiert haben (DIIS 23.6.2021). Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 28.10.2022, S. 14) [siehe Kapitel: Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha‘bi].
Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) mit Sitz in den Bergen des Nordiraks verübte ebenfalls mehrere Anschläge in der Kurdistan Region Irak (KRI), bei denen auch mehrere Angehörige der kurdischen Sicherheitskräfte (Peschmerga) getötet wurden (USDOS 27.2.2023a). Die PKK wird von der Türkei, sowie den USA und der Europäischen Union (EU) als terroristische Vereinigung eingestuft (ICG 18.2.2022)[Anm.: Die Vereinten Nationen und auch der Irak stufen die PKK nicht als Terrorgruppe ein]. Auch gewisse mit dem Iran verbündete Milizen stellen eine terroristische Bedrohung dar (USDOS 27.2.2023a).
Die ACLED-Datenbank registrierte von Juli bis Dezember 2022 780 Zwischenfälle unter Beteiligung der PKK sowie deren weibliche Kampfverbände (YJA STAR) (monatlicher Durchschnitt von 130). In 35 dieser Fälle kam es zu zivilen Todesopfern (monatlicher Durchschnitt von 5,83). Im Zeitraum von Jänner bis August 2023 waren es 337 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 42,13), wobei in elf Fällen Zivilpersonen zu Tode kamen (monatlicher Durchschnitt von 1,38). Hauptziel der PKK und YJA STAR sind die türkischen Streitkräfte. Bisweilen wurden auch irakische Sicherheitskräfte und kurdischeAsayish [Anm.: Geheim- und Sicherheitsdienst] angegriffen. Die Hauptmittel ihrer Angriffe sind bewaffneten Auseinandersetzungen, Bombardement durch Artillerie und Raketenbeschuss sowie der Einsatz von IEDs (ACLED 22.9.2023).
Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen
Im Juli 2022 wurden 47 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet mit 33 Toten und 54 Verletzten. Vier Angehörige der Volksmobilisierungskräfte (PMF), zwölf der irakischen Sicherheitskräfte (ISF) und 17 Zivilisten wurden getötet, elf weitere PMF, 18 ISF und 25 Zivilisten wurden verletzt. 37 dieser Vorfälle werden dem Islamischen Staat (IS) zugeschrieben, zehn weitere pro-iranischen Milizen (PMF). Die meisten Opfer gab es mit 41 (17 Tote, 24 Verletzte) in Diyala, gefolgt von 20 (acht Tote, zwölf Verletzte) in Salah ad-Din, zwölf (vier Tote, acht Verletzte) in Ninewa, neun (drei Tote, sechs Verletzte) in Bagdad, drei (1 Toter, zwei Verletzte) in Kirkuk, und zwei Verletzte in Babil (Wing 4.8.2022).
Im August 2022 wurden 57 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet mit 24 Toten und 54 Verletzten. Ein Asayish [kurdischer Geheim- und Sicherheitsdienst], ein Peshmerga, zwei PMF, neun Zivilisten und elf ISF wurden getötet, elf PMF, 17 Zivilisten und 26 ISF wurden verletzt. 49 dieser Vorfälle werden dem IS zugeschrieben, sieben gehen auf pro-iranische Milizen (PMF) zurück und einer auf Sadristen. Die meisten Opfer gab es in Kirkuk mit 28 (acht Tote, 20 Verletzte) und Diyala mit 22 (zehn Tote, zwölf Verletzte), gefolgt von zwölf (ein Toter, elf Verletzte) in Salah adDin, zehn (drei Tote und sieben Verletzte) in Bagdad, vier (zwei Tote, zwei Verletzte) in Ninewa und 2 Verletzte in Babil (Wing 7.9.2022).
Im September 2022 wurden 41 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet, mit neun Toten und 64 Verletzten. Ein PMF, drei ISF und fünf Zivilisten wurden getötet, 13 Zivilisten, 16 PMF und 35 ISF wurden verletzt. Dem IS werden 37 dieser Vorfälle zugeschrieben. Für einen werden pro-iranische Milizen (PMF) und für drei weitere werden Sadristen verantwortlich gemacht. Die meisten Opfer gab es in Diyala mit 19 (vier Tote, 15 Verletzte), gefolgt von 16 (zwei Tote, 14 Verletzte) in Ninewa, 15 (drei Tote, zwölf Verletzte) in Bagdad, neun Verletzte in Kirkuk, acht Verletzte in Sulaymaniyah, vier Verletzte in Salah ad-Din und zwei Verletzte in Babil (Wing 6.10.2022).
Im Oktober 2022 wurden 28 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet mit 17 Toten und 45 Verletzten. Ein PMF, zwei Peshmerga, sechs ISF und sechs Zivilisten wurden getötet, zwei Peshmerga, sieben Zivilisten, acht PMF und acht ISF wurden verletzt. Dem IS werden 23 Vorfälle zugeschrieben, zwei Vorfälle werden pro-iranischen Milizen (PMF) und drei weitere Sadristen zugeschrieben. Die meisten Opfer gab es in Bagdad mit 27 (sieben Tote, 20 Verletzte), gefolgt von zwölf (zwei Tote, zehn Verletzte) in Basra, vier (ein Toter, drei Verletzte) in Ninewa, vier in Sulaymaniyah (zwei Tote, zwei Verletzte), drei Verletzte in Anbar, drei (ein Toter, zwei Verletzte) in Babil, drei (ein Toter, zwei Verletzte) in Diyala, drei (zwei Tote, ein Verletzter) in Kirkuk und drei (ein Toter, zwei Verletzte) in Salah ad-Din (Wing 7.11.2022).
Im November 2022 wurden 23 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet, die allesamt dem IS zugeschrieben werden, mit zehn Toten und 28 Verletzten. Drei Zivilisten, drei PMF und vier ISF wurden getötet, weitere drei Zivilisten und 25 PMF wurden verletzt. Die meisten Opfer waren in Diyala zu beklagen (fünf Tote, 15 Verletzte), gefolgt von acht (ein Toter, sieben Verletzte) in Salah ad-Din, vier Todesopfer in Kirkuk, sowie je drei Verletzte in Babil und in Ninewa (Wing 5.12.2022).
Im Dezember 2022 wurden 33 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet, mit 42 Toten und 38 Verletzten. Fünf PMF, 15 Zivilisten und 22 ISF wurden getötet und neun PMF, 13 ISF und 16 Zivilisten wurden verletzt. 32 dieser Vorfälle werden dem IS zugeschrieben, einer der Vorfälle pro-iranischen Milizen (PMF). In Kirkuk gab es mit 24 (16 Tote, acht Verletzte) die meisten Opfer, gefolgt von 17 (zehn Tote, sieben Verletzte) in Diyala, 14 (fünf Tote, neun Verletzte) in Ninewa, zehn (sechs Tote, vier Verletzte) in Bagdad, sieben (zwei Tote, fünf Verletzte) in Babil, fünf (ein Toter, vier Verletzte) in Kerbala und drei (zwei Tote, ein Verletzter) in Salah ad-Din (Wing 4.1.2023).
Im Jänner 2023 wurden 29 sicherheitsrelevante Vorfälle mit zwölf Toten und 15 Verletzten verzeichnet. Zwei PMF, vier Zivilisten und sechs ISF wurden getötet, während zwei PMF, sechs Zivilisten und sieben ISF verwundet wurden. 25 dieser Vorfälle werden dem IS zugeschrieben, vier weitere pro-iranischen Milizen (PMF). Diyala hatte mit acht (vier Tote, vier Verletzte) die meisten Opfer zu beklagen, gefolgt von sieben (vier Tote, drei Verletzte) in Bagdad, vier Verletzte in Ninewa, vier (zwei Tote, zwei Verletzte) in Salah ad-Din, zwei Verletzte in Babil und zwei Tote in Kirkuk (Wing 7.2.2023).
Im Februar 2023 wurden 20 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, mit zwölf Toten und 18 Verletzten. Drei Zivilisten, vier ISF und fünf PMF wurden getötet, acht Zivilisten und zehn ISF wurden verletzt. 17 Vorfälle werden dem IS und drei pro-iranischen Milizen (PMF) zugeschrieben. Bagdad hatte mit 15 (vier Tote und elf Verletzte) die meisten Opfer zu beklagen, gefolgt von vier Toten in Anbar, vier (zwei Tote, zwei Verletzte) in Diyala, vier (ein Toter, drei Verletzte) in Ninewa und drei (ein Toter, zwei Verletzte) in Salah ad-Din (Wing 5.3.2023).
Im März 2023 wurden neun sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet, mit 18 Toten und acht Verletzten, die alle dem IS zugeschrieben werden. Ein Mitglied der ISF, zwei PMF und 15 Zivilisten wurden getötet, während ein ISF, drei Zivilisten und vier PMF verletzt wurden. In Diyala waren mit 16 (13 Tote, drei Verwundete) die meisten Opfer zu beklagen, gefolgt von vier (zwei Tote, zwei Verletzte) in Salah ad-Din, drei Verletzte in Kirkuk, zwei Tote in Ninewa und ein Toter in Bagdad (Wing 3.4.2023).
Im April 2023 wurden insgesamt 16 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet, mit sechs Toten und acht Verletzten. Ein Zivilist, ein PMF und vier ISF wurden getötet, während drei PMF und fünf Zivilisten verletzt wurden. Der IS wird beschuldigt, hinter allen dieser Vorfälle zu stehen. In Kirkuk gab es mit sechs Opfern (drei Tote, drei Verletzte) die meisten Opfer, gefolgt von drei Verletzten in Ninewa, zwei Verletzten in Diyala, zwei Verletzten in Salah ad-Din und einem Todesopfer in Erbil. Nur ein Vorfall, ein Sprengstoffangriff in Kirkuk, ereignete sich in einer Stadt. Es war der erste Angriff des IS in urbanem Gebiet im Jahr 2023 (Wing 2.5.2023).
Im Mai 2023 wurden 15 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet, mit acht Toten und 14 Verletzten. Ein ISF, drei Zivilisten und vier PMF kamen ums Leben, während zwei weitere ISF, fünf PMF und sieben Zivilisten verletzt wurden. Alle Vorfälle werden dem IS zugeschrieben. Die meisten Opfer gab es in Bagdad (drei Tote, vier Verletzte), gefolgt von Diyala (sechs Verletzte), Ninewa (zwei Tote, ein Verletzter), Anbar (je ein Toter und Verletzter), Kirkuk (zwei Verletzte) und Salah ad-Din (zwei Tote). Nur ein Vorfall ereignete sich in einer Stadt, in Kirkuk, während die übrigen Vorfälle sich in ländlichen Gebieten ereigneten (Wing 5.6.2023).
Im Juni 2023 wurden zehn sicherheitsrelevante Vorfälle mit je zehn Toten und Verletzten verzeichnet. Der IS wird beschuldigt, hinter allen Vorfällen zu stehen. Ein Zivilist und neun Mitglieder der ISF wurden getötet, zehn weitere ISF-Mitglieder wurden verletzt. In Kirkuk gab es mit 13 die meisten Opfer (sieben Tote und sechs Verletzte), gefolgt von fünf in Salah ad-Din (zwei Tote, drei Verletzte), einen Verletzten in Diyala und ein Todesopfer in Ninewa (Wing 3.7.2023).
Im Juli 2023 wurden elf sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet, mit zwei Toten und vier Verletzten. Die Todesfälle ereigneten sich in Babil und Kirkuk, während es in Anbar einen Verletzten und in Diyala derer drei gab. Neun dieser Vorfälle werden dem IS zugesprochen, zwei weitere Vorfälle werden pro-iranischen Gruppen zur Last gelegt. So wurden neuerlich zwei Versorgungskonvois für die USA in Diwanyah (Gouvernement Qadisiyah) mit Sprengfallen (IEDs) angegriffen. Davor hat es seit Februar 2023 keinen derartigen Vorfall mehr gegeben (Wing 2.8.2023).
August 2023 sah einen leichten Anstieg mit 13 verzeichneten sicherheitsrelevanten Vorfällen mit zwei Todesopfern und 23 Verletzten. Zwölf Vorfälle werden dem IS zugesprochen, einer der Vorfälle pro-iranischen Milizen. Bei den Toten handelte es sich um einen PMF und einen französischen Soldaten. Unter den Verletzten befanden sich ein Zivilist, zwei PMF, drei französische Soldaten und 17 ISF. Die meisten Opfer gab es in Salah ad-Din (zwei Tote, elf Verletzte), gefolgt von Kirkuk (neun Verwundete) Diyala (zwei Verletzte) und Ninewa (ein Verletzter). PMF werden für einen Raketenangriff auf das Gasfeld Khor Mor in Sulaymaniyah Ende August 2023 verantwortlich gemacht. Einen ähnlichen Vorfall gab es zuletzt im Jänner 2023 (Wing 4.9.2023).
Die ACLED-Datenbank registrierte von Juli 2022 bis Dezember 2022 291 Zwischenfälle, bei denen Zivilisten gezielt angegriffen wurden (Kategorie: „violence against civilians“) (der monatliche Durchschnitt liegt hierbei bei 48,5) (ACLED 22.9.2023). Diese Kategorie umfasst Vorfälle asymmetrischer Gewalt. Zu den Tätern solcher Handlungen gehören staatliche Streitkräfte und ihnen nahestehende Organisationen, Rebellen, Milizen und externe/andere Kräfte (ACLED o.D.). In 184 dieser Fälle kam mindestens ein Zivilist zu Tode (Fatalities) (ein monatlicher Durchschnitt von 30,67). Zwischen Jänner 2023 und August 2023 waren es 292 Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 36,5), wobei in 192 Fällen Zivilpersonen zu Tode kamen (monatlicher Durchschnitt von 24) (ACLED 22.9.2023).
Sicherheitslage Bagdad
Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel. Der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, das seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen (OFPRA 10.11.2017).
Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Gebiete (Latifiyah, Taji, al-Mushahada, at-Tarmiyah, Arab Jibor und al-Mada’in), die die Hauptstadt im Norden, Westen und Südwesten umschließen und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belt) bilden (AlMon 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 Kilometern um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, al-Tarmiyah, Ba’qubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).
[Anm.: Joel WIng bezieht sich in seinem Blog Musings on Iraq auf sicherheitsrelevante Vorfälle unter Beteiligung des Islamischen Staates (IS) und pro-iranischer Milizen (PMF), bisweilen auch anderer Konfliktparteien, wie Sadristen (Anhänger von Muqtada as-Sadrs)].
Im Juli 2022 wurden in Bagdad sieben sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet, die ein Todesopfer und zwei Verletzte forderten. Alle sieben Vorfälle werden dem IS zugeschrieben (Wing 4.8.2022).
Im August 2022 wurden in Bagdad sieben sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, mit drei Toten und sieben Verletzten. Vier dieser Vorfälle werden dem IS zugeschrieben, zwei pro-iranischen Gruppen (Volksmobilisierungskräfte, PMF) und einer den Sadristen [Anm.: Anhänger des schiitischen Führers Muqtada as-Sadr]. Bei einem der Angriffe, die pro-iranischen Gruppen zu Lasten gelegt wurden, handelte es sich um den Einsatz eines Sprengsatzes (IED), der gegen ein Einkaufszentrum in Bagdad gerichtet war, das einem türkischen Unternehmen gehört. Ein weiterer Sprengsatz traf einen australischen Diplomatenkonvoi außerhalb der Grünen Zone. Die Australier haben versucht, zwischen den verschiedenen Fraktionen, die versuchten, eine Regierung zu bilden, zu vermitteln. Der Bombenanschlag wird als potenzielle Warnung an sie angesehen. Außerdem feuerten die Sadristen während der Kämpfe mit den [pro-iranischen] PMF, die mit dem sog. „Koordinationsrahmen (CF)“ [Anm.: Bündnis pro-iranischer Parteien, welches hernach die gegenwärtige Regierung bildete] verbunden sind, am 30.8.2022 Raketen auf die Grüne Zone ab. Sie verfehlten ihr Ziel und trafen zwei Stadtviertel (Wing 7.9.2022).
Im September 2022 wurden in Bagdad neun sicherheitsrelevante Vorfälle mit drei Toten und zwölf Verletzten verzeichnet. Sechs dieser Vorfälle werden dem IS, drei weitere Sadristen zugeschrieben. Bei Letzteren handelte es sich um drei Mörser- und Raketenangriffe auf die Grüne Zone. Bei einem dieser Angriffe wurden sieben ISF verwundet. Zwei weitere Vorfälle ereigneten sich während der Stürmung der Grünen Zone durch Sadristen beim Versuch, das föderal-irakische Parlament daran zu hindern, seine Unterstützung für Parlamentspräsident Halbusi zu bekräftigen (Wing 6.10.2022).
Im Oktober 2022 wurden in Bagdad acht sicherheitsrelevante Vorfälle mit sieben Todesopfern und 20 Verwundeten registriert. Dem IS werden sechs dieser Vorfälle zugeschrieben, zwei weitere Sadristen. Drei der IS-Vorfälle in Bagdad werden als offensiv gewertet. Sadristen haben im Oktober zweimal Raketen auf die Grüne Zone abgefeuert, um gegen die Wahl des nächsten Premierministers durch den CF zu protestieren. Bei einem dieser Angriffe wurden zehn Zivilisten verwundet (Wing 7.11.2022).
Im November 2022 wurde in Bagdad ein sicherheitsrelevanter Vorfall ohne Opfer verzeichnet, der dem IS zugeschrieben wird (Wing 5.12.2022).
Im Dezember 2022 wurden in Bagdad drei sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, die sechs Tote und vier Verletzte forderten. Alle drei Vorfälle werden dem IS zugeschrieben (Wing 4.1.2023).
Im Jänner 2023 wurden in Bagdad sieben sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet mit vier Toten und drei Verletzten. Fünf dieser Vorfälle werden dem IS zugeschrieben, zwei pro-iranischen Milizen (PMF). Bei einem der IS-Angriffe wurden zwei Polizisten im Westen Bagdads erschossen, einem Gebiet, in dem der IS seit Wochen nicht mehr aktiv war. Pro-iranische Gruppen zündeten in Bagdad zwei IEDs, die gegen [zivile] Konvois gerichtet waren, die für die USA in Sadr al-Yusufiyah tätig waren (Wing 7.2.2023).
Im Februar 2023 wurden in Bagdad fünf sicherheitsrelevante Vorfälle mit vier Toten und und elf Verletzten verzeichnet, die alle dem IS zugeschrieben werden (Wing 5.3.2023).
Im März 2023 wurde in Bagdad ein sicherheitsrelevanter Vorfall registriert. Bei einer Schießerei zwischen dem IS und PMF im Distrikt al-Tarmiyah wurde ein PMF-Milizionär getötet (Wing
3.4.2023).
Im April 2023 wurde in Bagdad ein sicherheitsrelevanter Vorfall ohne Opfer verzeichnet, der dem IS zugeschrieben wird (Wing 2.5.2023).
Im Mai 2023 wurden in Bagdad zwei sicherheitsrelevante Vorfälle mit drei Todesopfern und vier Verletzten verzeichnet. Beide Vorfälle werden dem IS zugeschrieben (Wing 5.6.2023).
Die ACLED-Datenbank registrierte im Gouvernement Bagdad von Juli 2022 bis Dezember 2022 376 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 62,67) [Anm.: abzüglich der Strategic developments„event types“ „change to group/activity“ (63), „agreement“ (1) und „others“ (6), die hier herausgenommen wurden, da sie keine sicherheitsrelevanten Vorkommnisse umfassen. Andere „event types“ wie „arrests“, „disrupted weapons use“, „looting/property destruction“ sind enthalten]. Die Vorfälle umfassen unter anderem 138 bewaffnete Auseinandersetzungen, 54 Zwischenfälle mit Explosionen, darunter Granaten, IEDs und Raketenbeschuss, 40 Demonstrationen (29 friedlich verlaufende, neun mit Interventionen und zwei, bei denen exzessive Gewalt gegen Demonstranten angewandt wurde), acht Unruhen und anderes. Darüber hinaus registrierte die ACLED-Datenbank im Gouvernement Bagdad von Juli bis Dezember 2022 122 Zwischenfälle, bei denen Zivilisten gezielt angegriffen wurden (Kategorie „violence against civilians“ (der monatliche Durchschnitt liegt hierbei bei 20,33). In 90 dieser Fälle kamen Zivilisten zu Tode („fatalities“) (ein monatlicher Durchschnitt von 15) (ACLED 22.9.2023). Die Kategorie „violence against civilians“ umfasst Vorfälle asymmetrischer Gewalt. Zu den Tätern solcher Handlungen gehören staatliche Streitkräfte und ihnen nahestehende Organisationen, Rebellen, Milizen und externe/andere Kräfte (ACLED o.D.).
Zwischen Jänner und August 2023 waren es ebenfalls 376 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 47). Diese umfassten 139 bewaffnete Auseinandersetzungen, 51 Zwischenfälle mit Explosionen, darunter Granaten, IEDs, Raketenbeschuss und einen Luft-/Drohnenangriff, 52 Demonstrationen (50 friedlich verlaufende, zwei mit Interventionen), neun Unruhen, 36 Fälle von strategischen Entwicklungen und 89 Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 11,13), wobei in 65 Fällen Zivilpersonen zu Tode kamen (monatlicher Durchschnitt von 8,13) (ACLED 22.9.2023).
Im Distrikt Rusafah wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 sieben Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 1,67), darunter zwei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,33), jeweils mit Todesopfern. Es wurden fünf Demonstration verzeichnet, wovon je zwei friedlich, bzw. mit Intervention abliefen und eine gewalttätig wurde. Zwischen Jänner undAugust 2023 waren es 34 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 4,25). Darunter befanden sich fünf Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,63), wobei es in vier Fällen Todesopfer gab. Des Weiteren wurden 18 Demonstrationen verzeichnet, wovon 15 friedlich abliefen. Bei einer Demonstration gab es eine Intervention, zwei wurden gewalttätig. Die übrigen Zwischenfälle verteilen sich auf diverse staatliche und nichtstaatliche, teils nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen (ACLED 22.9.2023).
Im Distrikt Adhamiyah wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 43 Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 7,17), darunter 21 Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 3,5), wobei es in 14 Fällen zivile Todesopfer gab. Bei fünf Zwischenfällen handelte es sich um Demonstrationen, von denen drei friedlich verliefen, zwei jedoch gewalttätig waren. Die übrigen 17 verzeichneten sicherheitsrelevanten Vorfälle, zumeist bewaffnete Auseinandersetzungen und IEDs, involvierten nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen. Zwischen Jänner und August 2023 waren es 44 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 5,5), darunter sechs Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,75), bei denen es in drei Fällen Todesfälle gab. Die übrigen 38 Vorfälle, zumeist bewaffnete Auseinandersetzungen, aber auch IED- oder Granaten-Anschläge werden teils nicht identifizierten bewaffneten Gruppen und Stammesmilizen und Sicherheitskräften zugeschrieben (ACLED
22.9.2023).
Im Distrikt Sadr City (früher Thawra) wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 67 Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 11,17), darunter 17 Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 2,83) durch nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen, wobei es in 13 Fällen zivile Todesopfer gab. Bei den übrigen 50 registrierten, zumeist gewalttätigen Zwischenfällen sind überwiegend nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen involviert, bisweilen aber auch irakische Sicherheitskräfte. Zwischen Jänner und August 2023 waren es 49 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 6,13). Darunter befanden sich 13 Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 1,63), wobei es in sieben Fällen Todesopfer gab. Es wurden auch drei Demonstrationen verzeichnet, wovon zwei friedlich verliefen und bei einer Demonstration exzessive Gewalt gegen die Demonstranten angewandt wurde. Die übrigen Zwischenfälle verteilen sich auf diverse staatliche und nichtstaatliche, teils nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen (ACLED
22.9.2023).
Im Distrikt 9 Nissan (Neu Bagdad) wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 49 Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 8,17), darunter 16 Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 2,67) durch nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen, wobei es in acht Fällen zivile Todesopfer gab. Es wurde eine friedliche Demonstration verzeichnet. Bei den übrigen registrierten, gewalttätigen Zwischenfällen sind überwiegend nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen involviert. Zwischen Jänner und August 2023 waren es 43 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 5,38). Darunter befanden sich zehn Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 1,25), wobei es in sieben Fällen Todesopfer gab. Die übrigen Zwischenfälle verteilen sich auf diverse staatliche und nichtstaatliche, teils nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen (ACLED 22.9.2023).
Im Distrikt Karadah wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 25 Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 4,17), darunter neun Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 1,5), in einem Fall durch die Ashab al-Kahf-Miliz und ansonsten durch nicht identifizierte bewaffnete Gruppen, wobei es in acht Fällen zivile Todesopfer gab. Bei sieben Vorfällen handelte es sich um Proteste, vier davon friedlich, einer mit Intervention und zwei gewalttätig. Die übrigen neun, zumeist gewalttätigen Vorfälle involvierten nicht identifizierte bewaffnete Gruppen, Stammesmilizen und Sicherheitskräfte. Zwischen Jänner und August 2023 waren es 14 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 1,75). Darunter befanden sich fünf Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,63), wobei es in zwei Fällen Todesopfer gab, sowie vier friedlich verlaufende Demonstrationen. Bei den übrigen fünf, zumeist gewalttätigen Vorfällen, waren nicht identifizierte bewaffnete Gruppen, Stammesmilizen und Sicherheitskräfte beteiligt (ACLED 22.9.2023).
Im Distrikt Karkh wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 40 Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 6,67), darunter sieben Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 1,17), von denen es in vier Fällen zivile Todesopfer gab. Es wurden in dem Zeitraum auch 22 Demonstrationen verzeichnet, von denen 14 friedlich verliefen. Bei vier Weiteren kam es zu Interventionen und bei zwei zu exzessiver Gewaltanwendung gegen die Demonstranten. Zwei Demonstrationen waren gewalttätig. Die übrigen elf Zwischenfälle involvierten Sadristen, Sicherheitskräfte, PMF, sowie nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen. Zwischen Jänner und August 2023 wurden 22 Zwischenfälle registriert (monatlicher Durchschnitt von 2,75). Bei 18 handelte es ich um friedliche Proteste. Die übrigen vier involvierten überwiegend das Vorgehen irakischer Sicherheitskräfte sowie in einem Fall nicht identifizierte bewaffnete Gruppen (ACLED 22.9.2023).
Im Distrikt Kadhimiya wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 sechs Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 1), darunter drei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,5), von denen es in zwei Fällen zivile Todesopfer gab. Zwischen Jänner und August 2023 wurden zehn Zwischenfälle registriert (monatlicher Durchschnitt von 1,25), mit vier Fällen von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,5), wovon zwei tödlich endeten. Des Weiteren wurde eine friedliche Demonstration verzeichnet. Die übrigen fünf Zwischenfälle involvierten nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen (ACLED 22.9.2023).
Im Distrikt Mansour wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 24 Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 4), darunter 13 Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 2,17), von denen in neun Fällen Zivilpersonen ums Leben kamen. Auch ein friedlicher Protest wurde verzeichnet. Zwischen Jänner und August 2023 waren es 49 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 6,13). Darunter befanden sich 19 Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 2,38), wobei es in 16 Fällen Todesopfer gab. Des Weiteren wurden zwei friedliche Demonstrationen und ein Fall von Mobgewalt verzeichnet. Die übrigen Zwischenfälle verteilen sich auf diverse staatliche und nicht staatliche, teils nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen (ACLED 22.9.2023).
Im Distrikt ar-Rashid wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 13 Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 2,17), darunter zwei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,33) mit Todesopfern. Zwischen Jänner und August 2023 waren es 17 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 2,13). Darunter befanden sich fünf Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,63), wobei in vier Fällen Zivilpersonen ihr Leben verloren. Die übrigen Zwischenfälle verteilen sich auf diverse staatliche und nicht staatliche, teils nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen (ACLED 22.9.2023).
Im Distrikt Abu Ghraib wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 22 Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 3,67), wovon die Hälfte Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 1,83) durch nicht identifizierte bewaffnete Gruppen umfasst. In zehn dieser Fälle kamen Zivilisten ums Leben. Bei einem der Vorfälle handelte es sich um eine friedliche Demonstration. Zwischen Jänner und August 2023 waren es elf Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 1,38). Darunter drei Zwischenfälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,38) mit Todesopfern. In zwei Fällen sind Sicherheitskräfte gegen den IS vorgegangen. Die übrigen Vorfälle werden Stammesmilizen und nicht identifizierte bewaffnete Gruppen zugeschrieben (ACLED 22.9.2023).
Im Distrikt al-Mada’in wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 elf Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 1,83), darunter drei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,5) durch nicht identifizierte bewaffnete Gruppen, wobei es in allen Fällen zivile Todesopfer gab. Zwischen Jänner und August 2023 waren es 24 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 3). Darunter befanden sich neun Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 1,13), wobei es in allen neun Fällen Todesopfer gab. Die übrigen Zwischenfälle verteilen sich auf diverse staatliche und nichtstaatliche, teils nicht identifizierte bewaffnete Gruppen und Stammesmilizen (ACLED 22.9.2023).
Im Distrikt Mahmudiyah wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 zehn Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 1,67), wobei es sich bei sechs um Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 1) handelte, von denen es bei vier zivile Opfer gab. Auch zwischen Jänner und August 2023 wurden zehn Zwischenfälle registriert (monatlicher Durchschnitt von 1,25). Bei zwei davon handelt es sich um Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,25), wobei beide Todesopfer forderten. Die übrigen Vorfälle involvierten nicht identifizierte bewaffnete Gruppen, Stammesmilizen und Sicherheitskräfte (ACLED 22.9.2023).
Im Distrikt Taji wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 fünf Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 0,83). Bei zwei dieser Vorfälle handelte es ich um Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,33), jeweils mit Todesopfern, durch nicht identifizierte bewaffnete Gruppen. Die übrigen Vorfälle involvierten nicht identifizierte bewaffnete Gruppen, Stammesmilizen und Sicherheitskräfte (ACLED 22.9.2023).
Der Distrikt al-Tarmiyah in Bagdad ist seit Langem eine Basis für den IS und einer der Hauptanschlagsorte für die Aufständischen. Die Regierungstruppen waren bislang nicht in der Lage al-Tarmiyah zu sichern (Wing 5.3.2023). Im Distrikt al-Tarmiyah wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 32 Zwischenfälle verzeichnet (monatlicher Durchschnitt von 5,33), darunter fünf Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,83) mit zivilen Todesopfern, die alle dem IS zugeschrieben werden. Insgesamt werden dem IS 15 sicherheitsrelevante Vorfälle zugeschrieben. In drei Fällen wurde der IS hingegen von Sicherheitskräften attackiert. Zwischen Jänner und August 2023 waren es 17 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 2,13), darunter drei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten (monatlicher Durchschnitt von 0,38), mit Todesopfern. Alle drei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten werden dem IS zugeschrieben, ebenso wie drei weitere sicherheitsrelevante Vorfälle, zwei bewaffnete Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften bzw. Stammesmilizen und ein IED-Angriff, während er in zehn Fällen von Sicherheitskräften und PMF bekämpft wurde. Die übrigen Vorfälle involvierten nicht identifizierte bewaffnete Gruppen, Stammesmilizen und Sicherheitskräfte (ACLED 22.9.2023).
22 Vorfälle waren im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 nicht verortbar. Darunter sechs Fälle von Gewalt gegen Zivilisten, wobei es in drei Fällen Todesopfer gab. Weiters wurden sieben Proteste verzeichnet, wovon fünf friedlich abliefen, eine mit Intervention ablief und eine gewalttätig wurde. Zwischen Jänner und August 2023 waren es 23 Vorfälle, darunter drei Fälle von Gewalt gegen Zivilisten, wobei es in einem zumindest ein Todesopfer gab. Bei zehn Fällen handelte es sich um Proteste, wobei es sich in sieben Fällen um friedliche Demonstrationen handelte, drei waren gewalttätig. Es wurde in dem Zeitraum ein IS Angriff mittels IED verzeichnet. Bei den übrigen neun, meist gewalttätigen Vorfällen waren nicht identifizierte bewaffnete Gruppen, Stammesmilizen und Sicherheitskräfte involviert (ACLED 22.9.2023).
Türkische Operationen in irakischem Staatsgebiet
Der Irak ist nicht in der Lage, türkische und iranische Militäroperationen auf irakischem Boden zu verhindern, einschließlich der Verfolgung der PKK und iranischer kurdischer Oppositionsgruppen (BS 23.2.2022, S. 8). Die Türkei unterhält je nach Quelle um die 40 (ICG 18.2.2022) bis zu 87 Außenposten im Irak, hauptsächlich in einem Streifen des Grenzgebiets in der KRI von etwa 150 km Länge und 30 km Tiefe (EURA 31.1.2023). Darüber hinaus verfügt sie über eine Militärbasis in Bashiqa bei Mossul im föderalen Irak (BS 23.2.2022, S. 8; vgl. EURA 31.1.2023), wo die türkischen Truppen nach eigenen Angaben Teil einer internationalen Mission zur Ausbildung und Ausrüstung irakischer Streitkräfte im Kampf gegen den IS waren (EURA 31.1.2023).
Türkische Beamte bestreiten, dass es bei den türkischen Luftangriffen auf PKK-Stellungen in der KRI und im Nordirak Opfer unter der Zivilbevölkerung gegeben hat (ICG 18.2.2022). Ein im August 2022 veröffentlichter Bericht mehrerer NGOs besagt jedoch, dass zwischen 2015 und 2021 mindestens 98 Zivilisten getötet wurden (EURA 31.1.2023). Die International Crisis Group (ICG) hat 74 zivile Todesopfer registriert, mehr als die Hälfte davon seit 2019, als die Türkei ihre Luftangriffe in der KRI intensivierte (ICG 18.2.2022). Nach Angaben der Regionalregierung Kurdistans (KRG) hat der Konflikt seit 2015 Tausende Einwohner aus ihren Häusern vertrieben und mindestens 800 Dörfer verwüstet (EURA 31.1.2023). Einige Tausend Einwohner des Distrikts Amediya sowie Hunderte weitere Bewohner des Distrikts Duhok haben ihre Häuser verloren und sind in weiter südlich gelegene Dörfer oder Städte gezogen (ICG 18.2.2022).
Die föderale Regierung hat sich aber über Ankaras Übergriffe beschwert, aber weder sie noch die KRI können die türkische Präsenz eindämmen (EURA 31.1.2023). Die KDP unterstützt die Türkei im Kampf gegen die PKK, durch Informationen über PKK-Taktiken und -Bewegungen, und indem sie Gebiete sichert, aus denen die PKK durch türkische Operationen vertrieben wurde (ICG 18.2.2022).
Die PKK ist engere Allianzen mit von Iran unterstützten paramilitärischen Gruppen im Irak eingegangen, die mit Ankara verfeindet sind (ICG 18.2.2022). Einige pro-iranische Milzen, wie Liwa Ahrar al-Iraq (Brigade Freies Volk des Irak) und Ahrar Sinjar (Freies Volk von Sinjar) haben sich 2022 dem Widerstand gegen die türkische Präsenz verschrieben. Die Angriffe auf türkische Militäreinrichtungen im Irak sind von durchschnittlich 1,5 Angriffen pro Monat zu Beginn des Jahres 2022 auf sieben im April 2022 angestiegen (EURA 31.1.2023).
Die Türkei hat im Rahmen ihrer gemeinsamen Operationen Claw-Eagle und Claw-Tiger gegen die PKK im Qandil-Gebirge, in Sinjar und Makhmur (beide in Ninewa) irakischen Boden bombardiert. Auch Iran hat das Qandil-Gebirge bombardiert, ein Angriff, der vermutlich mit der Türkei koordiniert wurde (BS 23.2.2022, S. 8). Die Türkei befürchtet insbesondere, dass Sinjar [synonym: Shingal] zu einem zweiten Qandil, einer weiteren PKK-Hochburg werden könnte, weshalb sie seit 2020 zahlreiche Luftangriffe gegen die PKK und die jesidischen Widerstandseinheiten Shingal (Yekîneyên Berxwedana Şingal - YBŞ) in Sinjar durchgeführt hat (ICG 18.2.2022).
Die ACLED-Datenbank registrierte von Juli bis Dezember 2022 1.391 Zwischenfälle, bei denen die türkischen Streitkräfte im Staatsgebiet des Irak intervenierten. Dabei wurden 19 Fälle verzeichnet, bei denen Zivilisten zu Tode kamen (monatlicher Durchschnitt von 3,17). Die überwiegende Anzahl an Angriffen betraf das Gouvernement Dohuk mit 1.208 Angriffen (hauptsächlich der Distrikt Amediya mit 1.188 Vorfällen) betroffen war, gefolgt vom Distrikt Zakho. 110 Angriffe fanden in Erbil statt (hauptsächlich im Distrikt Rawanduz), 46 in Ninewa (hauptsächlich in den Distrikten Sinjar und Akre) und 27 in Sulaymaniyah (hauptsächlich im Distrikt Sharbazher, gefolgt von Penjwen und Ranya. Im Zeitraum von Jänner bis August 2023 waren es 1.700 Vorfälle (monatlicher Durchschnitt von 212,5), wobei in 35 Fällen Zivilpersonen zu Tode kamen (monatlicher Durchschnitt von 4,38). Auch in diesem Zeitraum betraf die überwiegende Anzahl der Angriffe das Gouvernement Dohuk mit 1.388 Angriffen (hauptsächlich der Distrikt Amediya mit 1.379 Vorfällen). 234 Angriffe fanden in Erbil statt (hauptsächlich im Distrikt Rawanduz), 56 in Ninewa (hauptsächlich in den Distrikten Sinjar und Akre), 27 in Sulaymaniyah (hauptsächlich in den Distrikten Sharbazher und Penjwen) und einer in Kirkuk. Es handelt sich bei den türkischen Angriffen überwiegend um Bombardement durch Artillerie, Raketenbeschuss, Luft- und Drohnenangriffe sowie bewaffneten Auseinandersetzungen. Zu den Zielen der türkischen Streitkräfte gehört primär die PKK, die YJA STAR, die Widerstandseinheiten Shingal (YBŞ) und die Verteidigungskräfte Ostkurdistans (YRK) (ACLED 22.9.2023).
Iranische Operationen in irakischem Staatsgebiet
Viele der iranisch-kurdischen Parteien, wie die Demokratische Partei Iranisch-Kurdistans (KDPI), die Komala-Parteien, die Freiheitspartei Kurdistans (PAK) und die Partei des Freien Lebens Kurdistans (Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê - PJAK) operieren von der KRI aus (K24 28.11.2022; vgl. Landinfo 18.12.2020). Der Status und Handlungsspielraum der kurdischen Oppositionsgruppen wie KDPI, KDP-I [Anm.: Splitterpartei der KDPI 2006-2022], Komala und PJAK waren und sind ein schwieriges Thema in den Beziehungen zwischen Iran und der KRI. Die KRI hat Vereinbarungen für eine formalisierte Präsenz mit mehreren iranisch-kurdischen Exilparteien wie der KDPI, KDP-I, den verschiedenen Komala-Fraktionen und der Kurdischen Freiheitspartei (PAK) getroffen, nicht jedoch mit der PJAK. Aufgrund der Notwendigkeit einer gutnachbarlichen Beziehung zu Iran hat die KRI gefordert, dass die iranisch-kurdischen Exilparteien alle militärischen Aktivitäten gegen Iran unterlassen. Dies war eine Bedingung dafür, dass die Exilparteien in Stützpunkten und Lagern im Nordirak operieren dürfen. Mit dieser formalisierten Präsenz gehen finanzielle Unterstützung, Zugang zu Schulen, Gesundheitsversorgung und anderen öffentlichen Dienstleistungen einher (Landinfo 18.12.2020). Ab September 2022 visierten die iranischen Sicherheitskräfte verstärkt Stellungen von iranischen kurdischen Gruppierungen in der KRI an (DW 13.11.2022; vgl. K24 28.11.2022, Rudaw 28.9.2022).
Bereits in der Vergangenheit attackierte Iran immer wieder mit Drohnen und Raketen Stellungen dieser iranisch-kurdischen Oppositionsparteien in der KRI (Zeit online 23.11.2022). Die iranischen Angriffe und der Druck auf diese Parteien verschärften sich nach dem Ausbruch massiver Proteste in Iran, die durch den Tod der jungen Kurdin Jina [Mahsa] Amini am 16.9.2022 in Gewahrsam der iranischen Sittenpolizei ausgelöst wurden (TWI 13.9.2023). Iran beschuldigt die iranisch-kurdischen Oppositionsparteien, die Unruhen zu schüren und mit Irans Erzfeind Israel zusammenzuarbeiten (TWI 13.9.2023; vgl. REU 19.3.2023). Entsprechend werden die bewaffneten iranisch-kurdischen Dissidenten als Bedrohung für die Sicherheit Irans angesehen (REU 19.3.2023).
Im Jahr 2022 hat Iran Stützpunkte iranisch-kurdischer Gruppen in der KRI mit Raketen beschossen (EURA 31.1.2023). Zwischen September und Oktober 2022 verübte Iran mehrere Angriffe mit ballistischen Raketen und Kamikaze-Drohnen auf drei iranisch-kurdische Oppositionsparteien (TWI 13.9.2023; vgl. REU 19.3.2023), darunter die KDPI in Koya und dem Subdistrikt Sidekan (Gouvernement Erbil), Komala in Zirgwez (Gouvernement Sulaymaniyah) und die PAK in Pirde (zwischen Erbil und Kirkuk). Mindestens 21 Mitglieder dieser Parteien wurden getötet, darunter zwei Frauen, ein einen Tag altes Kind und ein irakisch-kurdischer Zivilist aus Koya. Auch 2023 hat Iran weiterhin Angriffe auf iranisch-kurdische Oppositionelle in der KRI verübt, darunter im Juli auf zwei PDKI-Mitglieder (TWI 13.9.2023).
Im März 2023 hat der föderale Irak mit Iran ein Grenzschutzabkommen zur Koordinierung des "Schutzes der gemeinsamen Grenzen zwischen den beiden Ländern und die Konsolidierung der Zusammenarbeit in verschiedenen Sicherheitsbereichen" unterzeichnet (REU 19.3.2023; vgl. TWI 13.9.2023). Im Rahmen des unterzeichneten Sicherheitsabkommens verpflichtete sich der Irak, bewaffneten Gruppen nicht zu gestatten, sein Territorium in der Kurdistan Region Irak (KRI) für grenzüberschreitende Angriffe auf Iran zu nutzen. Dementsprechend betrifft das Abkommen in erster Linie die Grenze Irans zur KRI (REU 19.3.2023). Die nahe Erbil stationierte PAK hat bereits zuvor die Haltung der KRG berücksichtigt und weder Stützpunkte nahe der iranischen Grenze unterhalten noch militärischen Operationen gegen Iran durchgeführt (Alaraby 15.9.2023).
Gemäß der Vereinbarung verpflichtete sich der Irak dazu, bis zum 19.9.2023 die in der KRI ansässigen iranisch-kurdischen Oppositionsgruppen zu entwaffnen und von ihren grenznahen Stützpunkten zu verlegen (MEE 19.9.2023; vgl. Alaraby 15.9.2023). Der iranische Präsident betonte, dass "Iran die Anwesenheit terroristischer Gruppen an der gemeinsamen Grenze mit dem Irak nicht tolerieren kann", wie die iranische Nachrichtenagentur Tasnim berichtet (Alaraby 15.9.2023).
Die irakischen Behörden verkündeten am 19.9.2023, dass sie eine Reihe iranischer Kurdengruppen, ohne darauf einzugehen, welche Gruppen betroffen waren, erfolgreich entwaffnet und von der Grenze zum Iran entfernt hätten. Ihre Hauptquartiere nahe der iranischen Grenze seien endgültig geräumt worden. Sie seien weit weg von der Grenze verlegt worden und würden nun als Flüchtlinge gemäß den Bestimmungen der Flüchtlingskommission gelten (MEE 19.9.2023). Einer kurdischen Quelle zufolge hat die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) der PAK ihre mittleren und schweren Waffen abgenommen und die Gruppe soll in ein neues Lager in der Nähe von Makhmour verlegt werden. Ein Sprecher der PAK bestreitet jedoch, dass die PAK oder andere Gruppen ihre Waffen niedergelegt hätten, oder bereit wären, in neue Lager umzuziehen (Alaraby 15.9.2023).
Die ACLED-Datenbank registrierte von Juli bis Dezember 2022 74 Zwischenfälle, bei denen die Iranischen Revolutionsgarden im Staatsgebiet des Irak intervenierten. Davon betrafen 62 Vorfälle das Gouvernement Erbil (KRI), neun das Gouvernement Sulaymaniyah (KRI) und drei das Gouvernement Kirkuk (föderaler Irak). Es handelte sich dabei überwiegend um Bombardement durch Artillerie und Raketenbeschuss (53 Fälle) sowie Luft- und Drohnenangriffe (18). Zu den Zielen der iranischen Angriffe gehören die Demokratische Partei Kurdistan-Iran (KDP-I), die Komala-Partei des Iranischen Kurdistan (KSZK) und die PAK, aber auch iranische und irakische Zivilisten werden bisweilen getroffen. Es wurden in dem Zeitraum zehn Fälle verzeichnet, bei denen Zivilpersonen ums Leben kamen (ACLED 22.9.2023).
Rechtsschutz / Justizwesen
Die irakische Gerichtsbarkeit ist in drei Bereiche unterteilt:
1. Die ordentliche Gerichtsbarkeit, bestehend aus dem Obersten Justizrat, dem Kassationsgerichtshof, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Kassationsgerichtshofs, der Staatsanwaltschaft, der Justizaufsichtsbehörde und dem Berufungsgericht (BS 23.2.2022, S.13; vgl. Fanack 8.7.2020);
2. die Verfassungsgerichtsbarkeit, welche durch das oberste Bundesgericht erfüllt wird (BS 23.2.2022, S.13; vgl. AA 28.10.2022, S.6);
3. eine Verwaltungsgerichtsbarkeit, welche die Militärgerichtsbarkeit, Gerichte der inneren Sicherheitskräfte und die Gerichte des Obersten Justizrats umfasst (BS 23.2.2022, S.13).
Das irakische Rechtssystem basiert auf einer Mischung aus zivilem und islamischem Recht (Fanack 8.7.2020).
Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (SLS 2013, S.20; vgl. AA28.10.2022, S.6, USDOS 20.3.2023, BS 23.2.2022, S.13), jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein (USDOS 20.3.2023). Die Grenzen zwischen Exekutive, Legislative und Judikative sind häufig fließend, und die Einmischung der Exekutive in das Justizwesen ist weit verbreitet (FH 2023). Die Justiz wird von mächtigen politischen Eliten und Parteien politisiert (BS 23.2.2022, S.13). Sie ist von Korruption, politischem Druck, gewaltsamer Einschüchterung und gelegentlichen Tötungen, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Viele Iraker wenden sich an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 2023).
Der ehemalige Premierminister al-Kadhimi hat Maßnahmen zur Entpolitisierung der Justiz getroffen, indem er sich nicht in ihre Angelegenheiten eingemischt hat und es auch anderen politischen Parteien nicht erlaubt hat, dies zu tun (BS 23.2.2022, S.13).
Die Verfassung garantiert das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess für alle Bürger (USDOS 20.3.2023) und das Recht auf Rechtsbeistand für alle verhafteten Personen (HRW 13.1.2022). Wenngleich die irakische Justiz relativ professionell funktioniert (ÖB Bagdad 20.11.2022, S.4), entsprechen Verfahren nicht den internationalen Standards (USDOS 20.3.2023; vgl. ÖB Bagdad 20.11.2022, S.4). Häufig wirdder Zugang zu Anwälten verweigert, und wenn diese verfügbar sind, wird ihnen oft der Zugang zu wichtigen Dokumenten verwehrt (FH 2023). In zahlreichen Fällen dienen erzwungene Geständnisse als primäre Beweisquelle (USDOS 20.3.2023; vgl. ÖB Bagdad 20.11.2022, S.4).
Korruption und Einschüchterung beeinflussen Berichten zufolge einige Richter in Strafsachen auf der Prozessebene und bei der Berufung vor dem Kassationsgericht. Zahlreiche Drohungen und Morde durch konfessionelle, extremistische und kriminelle Elemente oder Stämme beeinträchtigten die Unabhängigkeit der Justiz. Richter, Anwälte und ihre Familienangehörigen sind häufig mit Morddrohungen und Angriffen konfrontiert (USDOS 20.3.2023).
Mangelhafte Strafverfahren: Eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt. Es mangelt an ausgebildeten, unbelasteten Richtern (AA 28.10.2022, S.10). Strafverfahren sind zutiefst mangelhaft. Willkürliche Verhaftungen, einschließlich Verhaftungen ohne Haftbefehl, sind üblich (FH 2023). Eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt (AA 28.10.2022, S.10). Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen erheblich ausgedehnt (AA28.10.2022, S.10; vgl. HRW 13.1.2022). Dennoch verabsäumen es Beamte routinemäßig, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren (USDOS 20.3.2023). Es gibt häufig Fälle überlanger Untersuchungshaft, ohne dass die Betroffenen, wie vom irakischen Gesetz vorgesehen, einem Richter oder Staatsanwalt vorgeführt werden (AA 28.10.2022, S.21). Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über „schiitische Siegerjustiz“ und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten (AA 28.10.2022, S.10). Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen (AA 28.10.2022, S.21).
Die Behörden verletzen systematisch die Verfahrensrechte von Personen, die verdächtigt werden, dem sogenannten Islamischen Staat (IS) anzugehören (FH 2023; vgl. HRW 13.1.2022). Menschenrechtsgruppen kritisieren, insbesondere in Terrorismusverfahren, die systematische Verweigerung des Zugangs der Angeklagten zu einem Rechtsbeistand und die kurzen, summarischen Gerichtsverfahren mit wenigen Beweismitteln für spezifische Verbrechen, abgesehen von vermeintlichen Verbindungen der Angeklagten zum IS (HRW 13.1.2022; vgl. FH 2023). Rechtsanwälte beklagen einen häufig unzureichenden Zugang zu ihren Mandanten, wodurch eine angemessene Beratung erschwert wird. Viele Angeklagte treffen ihre Anwälte zum ersten Mal während der ersten Anhörung und haben nur begrenzten Zugang zu Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft. Dies gilt insbesondere für die Anti-Terror-Gerichte, wo Justizbeamte Berichten zufolge versuchen, Schuldsprüche und Urteilsverkündungen für Tausende von mutmaßlichen IS-Mitgliedern in kurzer Zeit abzuschließen (USDOS 20.3.2023).
Bei Beteiligung an Kampfhandlungen oder nachgewiesener IS-Zugehörigkeit drohen hohe Strafen. Die Verurteilungsrate liegt bei 90 % und Prozesse enden meist mit lebenslangen Strafen oder der Todesstrafe (ÖB Bagdad 20.11.2022, S.4).
In den von Bagdad kontrollierten Gebieten können Kinder ab dem Alter von neun Jahren strafrechtlich verfolgt werden, was gegen internationale Standards verstößt (HRW 13.1.2022). Ein Komitee in Mossul verbesserte den Umgang mit der strafrechtlichen Verfolgung von Kindern, die verdächtigt werden, dem IS anzugehören (HRW 13.1.2021).
Nach Ansicht der Regierung gibt es im Irak keine politischen Gefangenen. Alle inhaftierten Personen haben demnach gegen Strafgesetze verstoßen. Politische Gegner der Regierung behaupten jedoch, dass Personen wegen politischer Aktivitäten oder Überzeugungen unter dem Vorwand strafrechtlicher Anschuldigungen von Korruption, Terrorismus und Mord inhaftiert werden. Eine Beurteilung ist kaum möglich, aufgrund mangelnder Transparenz seitens der Regierung, Korruption während der Verfahren und wegen des eingeschränkten Zugangs zu Gefangenen, insbesondere solchen, die in Einrichtungen der Terrorismusbekämpfung, der Geheimdienste und des Militärs inhaftiert sind (USDOS 20.3.2023).
Am 28.3.2018 kündigte das irakische Justizministerium die Bildung einer Gruppe von 47 Stammesführern an, genannt al-Awaref, die sich als Schiedsrichter mit der Schlichtung von Stammeskonflikten beschäftigen soll. Diese Stammesrichter, die alle direkt dem irakischen Justizministerium angehören, werden verschiedenen irakischen Gouvernements zugeteilt: vier in Bagdad (je zwei in Karkh und Rusafa), während den anderen Gouvernements je ein oder zwei Stammesrichter zugeteilt werden. Die Einrichtung dieses Stammesgerichts wird durch Personen der Zivilgesellschaft als ein Untergraben der staatlichen Institutionen angesehen (AlMon 12.4.2018; vgl. UKHO 2.2020, S.15). Es kommt häufig zu Überschneidungen zwischen dem informellen irakischen Stammesjustizsystem und dem formellen Justizsystem, die sich miteinander koordinieren, gelegentlich aber auch gegenseitig herausfordern (TCF 7.11.2019).
In Ermangelung von Recht und Ordnung - oder zumindest des Vertrauens in das Rechtssystem - greifen immer mehr Iraker auf die Stammesjustiz zurück (AW 29.6.2019; vgl. FH 2023, UKHO 3.2021, S.28). Stammesgerichte beschäftigen sich mit kommerziellen und kriminellen
Angelegenheiten, Diebstahl, bewaffneten Konflikten, Körperverletzung und Mord sowie deren Beilegung durch Entschädigungszahlungen (Blutgeld oder diya), den Austausch von Frauen und Mädchen, Heirat und Vergeltung (UKHO 3.2021, S28).
Im südirakischen Basra berichten Einwohner über sogenannte „degga ashairiya“ (Stammeswarnungen). Bei diesem alten Brauch zur Beilegung von Streitigkeiten versammeln sich bewaffnete Angehörige eines Stammes vor dem Haus eines Angehörigen eines gegnerischen Stammes und beschießen dieses, bis sich dieser bereit erklärt, herauszukommen und einen Streit durch Verhandlungen beizulegen. Wenn er sich weigert zu verhandeln oder keine Einigung erzielt wird, kann dies zu mehr Gewalt und manchmal auch zu Todesopfern führen (AW 29.6.2019).
Sicherheitskräfte und Milizen
Im Mai 2003, nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein, demontierte die Koalitions-Übergangsverwaltung das irakische Militär und schickte dessen Personal nach Hause. Statt des bisherigen warein politisch neutrales Militär vorgesehen. Das aufgelöste Militär bildete einen großen Pool für Aufständische (Fanack 8.7.2020).
Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS). Neben den staatlichen Sicherheitskräften gibt es das Volksmobilisierungskomitee, eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, der etwa 60 Milizen angehören, die als Volksmobilisierungskräfte (PMF) bekannt sind. PMF operieren im ganzen Land. Obwohl sie Teil der irakischen Sicherheitskräfte sind und Mittel aus dem Verteidigungshaushalt der Regierung erhalten, operieren sie oft außerhalb der Kontrolle der Regierung und in Opposition zur Regierungspolitik (USDOS 20.3.2023).
Militäreinheiten verschiedener Zweige der irakischen Sicherheitskräfte und der Volksmobilisierungskräfte (PMF), einschließlich Stammeseinheiten, aus mehreren Provinzen, nehmen gemeinsam an Sicherheitsoperationen gegen den sog. Islamischen Staat (IS) teil, unterstützt durch die Luftstreitkräfte der irakischen Armee und der internationalen Koalition (NI 18.5.2021). Seit Anfang 2021 gibt es ein Koordinationsabkommen zwischen den ISF und den Peschmerga der Kurdischen Regionalregierung (KRG). Die Zusammenarbeit soll sich auf die Koordinierung und das Sammeln von Informationen zur Bekämpfung des IS in den sogenannten „umstrittenen Gebieten“ beschränken und die Lücken zwischen den Sicherheitskräften schließen, die bisher vom IS ausgenutzt werden konnten. Es gibt auch Stimmen, die für die Bildung einer gemeinsamen Truppe einstehen (Rudaw 23.5.2021).
Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle, insbesondere über bestimmte, mit Iran verbündete Einheiten der Volksmobilisierungskräfte (PMF) und das Popular Mobilization Committee (USDOS 20.3.2023). Außerdem wird die staatliche Kontrolle über das gesamte irakische Territorium durch die Dominanz der PMF, durch verbliebene IS-Kämpfer, durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), eine Reihe von Stämmen, Clans und andere Milizen und schließlich durch die militärischen Interventionen regionaler Mächte, insbesondere Irans, Israels und der Türkei, beeinträchtigt (BS 23.2.2022).
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Einheiten, die vom Innen- und Verteidigungsministerium, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF), und dem Counter-Terrorism Service (CTS) verwaltet werden. Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig. Es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Erdöl-Infrastruktur verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der CTS ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 20.3.2023).
Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 150.000 bis 185.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Es gibt kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitreichend (AA 28.10.2022, S.7).
Straffreiheit für Angehörige der Sicherheitskräfte ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums sowie über extra-legale Tötungen (USDOS 20.3.2023). Den Sicherheitskräften werden zahlreiche Fälle von Verschwindenlassen zur Last gelegt: Im Zuge von Antiterror-Operationen, aber auch an Checkpoints, wurden nach 2014 junge, vorwiegend sunnitische Männer gefangen genommen (AA 28.10.2022, S.7).
Nach der Rückkehr der föderalen Regierung nach Kirkuk Ende 2017 klagten Turkmenen über Diskriminierung, Vertreibung und gelegentliche Gewalt auch durch Sicherheitskräfte der Regierung (DFAT 16.1.2023, S.17).
Die irakischen Sicherheitskräfte, Armee, Bundes- und lokale Polizei werden bei ihrer Professionalisierung durch internationale Militär-und Polizeiausbildung unterstützt (AA 28.10.2022, S.7).
Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha‘bi
Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (arab: al-Hashd ash-Sha‘bi, engl.: Popular Mobilization Forces - PMF oder auch Popular Mobilization Units - PMU) bezeichnet eine Dachorganisation, ein loses Bündnis von etwa 40 bis 70 Milizen (USDOS 20.3.2023; vgl. FPRI 19.8.2019, Clingendael 6.2018, S.1-2, Wilson 27.4.2018). Die PMF formierten sich 2014 infolge eines Rechtsgutachtens, einer sogenannten Fatwa, durch Ayatollah Ali as-Sistani, welcher darin zum Kampf gegen den vorrückenden Islamischen Staat (IS) aufrief (SWP 8.2016, S.4; vgl. TCF 5.3.2018, S.2, EPIC 5.2020). Die irakische Regierung bemühte sich hernach, die Kontrolle über diese zu bewahren, indem sie am 15.6.2014 eine Kommission (auch Komitee genannt) der Volksmobilisierung bildete, das formal dem Ministerpräsidenten untersteht (SWP 8.2016, S.4). Alle PMF sind offiziell dem Vorsitzenden des Ausschusses für Volksmobilisierung und somit letztlich dem Premierminister unterstellt (USDOS 20.3.2023; vgl. AA 28.10.2022, S.15). In der Praxis unterstehen mehrere Einheiten auch Iran und seinem Korps der Islamischen Revolutionsgarden (IRGC) (USDOS 20.3.2023).
Die Mannschaftsstärke der PMF wurde jahrelang absichtlich undurchsichtig gehalten. Ihre tatsächliche Größe war stets höher als die der registrierten PMF-Angehörigen (TWI 3.6.2023). Für das Jahr 2021 wird die Zahl der registrierten PMF auf 164.000 (NI 5.2021, S.8) bis 170.000 geschätzt (MEI 12.6.2023; vgl. TWI 3.6.2023). Etwa 25.000 bis 35.000 Mitglieder waren nicht registriert (TWI 3.6.2023). Hinsichtlich ihrer Zusammensetzung gehen grobe Schätzungen von rund 110.000 schiitischen PMF-Mitgliedern, 45.000 sunnitischen und rund 10.000 aus Minderheitsgemeinschaften aus. Etwa 70.000 der schiitischen PMF werden als Loyalisten der IRGC angesehen. Etwa 40.000 folgen anderen religiösen Autoritäten, darunter die Friedensbrigaden (Saraya as-Salam) von Muqtada as-Sadr (NI 5.2021, S.8). Laut dem Budget von 2023 wird ein Anstieg der gemeldeten PMF-Angehörigen (MEI 12.6.2023) auf 204.000 bis 238.000 angenommen (TWI 3.6.2023).
Die PMF sind keine einheitliche Organisation, sondern bestehen aus einer Reihe von Netzwerken, die sich in ihrer Struktur und ihren Verbindungen zueinander und zu anderen Akteuren im Staat unterscheiden (Chatham 2.2021, S.9). Sie haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat (Clingendael 6.2018, S.2). Die PMF weisen ein breites Spektrum auf, sowohl organisatorisch und ideologisch als auch in Bezug auf die religiöse Zusammensetzung der einzelnen Formationen. Die PMF bestehen aus Einheiten mit unterschiedlicher Geschichte, Zugehörigkeit und Loyalität (TCF 5.3.2018, S.3). Sie haben nach dem erfolgreichen Kampf gegen den IS, der israelisch-iranischen Eskalation und dem Rückzug der USA aus dem Gemeinsamen Umfassenden Aktionsplan (JCPOA, „Atomabkommen“) mit dem Iran im Jahr 2018 enorm an Einfluss gewonnen (BS 23.2.2022, S. 7).
Die PMF werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Erstens die pro-iranischen schiitischen Milizen und zweitens die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen. Letztere nehmen eine positivere Haltung gegenüber der irakischen Regierung ein und sprechen sich für die Auflösung der PMF und die Eingliederung ihrer Mitglieder in die irakische Armee bzw. Polizei aus. Und drittens gibt es die heterogene Gruppe der nicht-schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu Letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Sinjar Widerstandseinheiten“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien (Clingendael 6.2018, S.3-4). Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist somit schiitisch, was auch die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind im Allgemeinen in oder in der Nähe ihrer Heimatregionen tätig (USDOS 20.3.2023).
Die PMF wurden formell in die irakischen Streitkräfte integriert (FPRI 19.8.2019; vgl. AA 28.10.2022, S.15). Allerdings hat die gewählte offizielle Formulierung, welche die PMF als Teil der Sicherheitskräfte des Landes bezeichnet und sie gleichzeitig als „unabhängig“ definiert, viel Raum für Interpretationen gelassen (ICSR 1.11.2018, S.5). Seit 2017 unterstehen die PMF formell dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 28.10.2022, S.15; vgl. FPRI 19.8.2019). Am 8.3.2018 brachte der damalige irakische Ministerpräsident Haider al-Abadi eine Proklamation ein, mit der die Mitglieder der PMF in die irakischen Sicherheitskräfte eingegliedert wurden, wobei sie dasselbe Gehalt wie die Angehörigen des Militärs erhalten, denselben Gesetzen unterworfen werden und Zugang zu Militärschulen und Militärinstituten erhalten sollten (EPIC 5.2020). Am 1.7.2018 folgte ein dementsprechendes Dekret, wonach der Regierungschef als Oberkommandierender der PMF deren Vorsitzenden ernennt. Bewaffneten Gruppen, die offen oder verdeckt außerhalb der Bestimmungen des Dekrets arbeiten, gelten demnach als illegal und werden entsprechend verfolgt (1001TI 11.7.2019). Trotz dieser und weiterer Versuche der Regierung, die PMF zu regulieren und zu kontrollieren, operieren viele der mächtigsten Gruppierungen der PMF weiterhin außerhalb der formalen Befehlskette und führen illegale, politische, wirtschaftliche und sicherheitsrelevante Aktivitäten durch (EPIC 5.2020). Verschiedene PMF-Einheiten haben sogar Militärindustrien im Irak aufgebaut, von simpler Ausrüstung und Munition bis mutmaßlich zur Produktion von Artilleriegranaten (TWI 23.3.2020, S.70f). Die begrenzten Einflussmöglichkeiten des Premierministers haben es den PMF erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen (AA 28.10.2022, S.15).
Die PMF-Netzwerke stehen in einer symbiotischen Beziehung zu den irakischen Sicherheitsdiensten, den politischen Parteien und der Wirtschaft. Zu ihren Mitgliedern gehören nicht nur Kämpfer, sondern auch Parlamentarier, Kabinettsminister, lokale Gouverneure, Mitglieder von Provinzräten, Geschäftsleute in öffentlichen und privaten Unternehmen, hohe Beamte, humanitäre Organisationen und Zivilisten. Politische Entscheidungsträger, die die PMF reformieren oder einschränken wollen, haben sich auf eine Reihe von Optionen verlassen: die einzelnen Gruppen gegeneinander ausspielen, alternative Sicherheitsinstitutionen aufbauen, Sanktionen gegen Einzelpersonen verhängen oder mit militärischer Gewalt vorgehen. Diese Optionen haben jedoch weder zu einer Reform der PMF-Netzwerke noch zu einer Reform des irakischen Staates geführt (Chatham 2.2021, S.2).
Viele PMF-Brigaden nehmen Befehle von bestimmten Parteien oder konkurrierenden Regierungsbeamten entgegen (FPRI 19.8.2019). In diesem Zusammenhang kommt vor allem der Badr-Organisation eine große Bedeutung zu: Die Milizen werden zwar von der irakischen Regierung in großem Umfang mit finanziellen Mitteln und Waffen unterstützt, unterstehen aber formal dem von der Badr-Organisation dominierten Innenministerium, wodurch keine Rede von umfassender staatlicher Kontrolle sein kann (STDOK 21.8.2017, S.64). Die Kontrolle der Badr-Organisation über das Innenministerium verstärkte deren Einfluss auf die Zuteilung der staatlichen Mittel und deren Weitergabe an die einzelnen PMF-Milizen (Clingendael 6.2018, S.6). In der Praxis sind etliche Einheiten auch dem Iran und dessen Korps der Islamischen Revolutionsgarden unterstellt (USDOS 20.3.2023). Überdies haben einige bewaffnete Gruppen, wie die der pro-iranischen Asa’ib Ahl al-Haqq, Kata’ib Hezbollah und Harakat Hezbollah an-Nujaba sowohl Kämpfer innerhalb als auch außerhalb der PMF. Diejenigen, die sich außerhalb der Truppe befinden, beteiligen sich an Aktivitäten, wie zum Beispiel Kämpfen in Syrien, die nicht zum Auftrag der Volksmobilisierungskräfte gehören (WoR 11.11.2019), denn das Wirken der PMF ist laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teile der PMF sind (USDOS 13.3.2019). Die Präsenz pro-iranischer PMF-Milizen, namentlich der Kata’ib Hezbollah und der Kata’ib Sayyid ash-Shuhada, in Syrien nahe oder an der Grenze zum Irak belegen Berichte über Angriffe auf Einrichtungen der US-Armee und Vergeltungsmaßnahmen seitens der US-Streitkräfte im Verlauf des Jahres 2021 (RFE/RL 27.6.2021; vlg. BBC 28.6.2021).
Die PMF sind vor allem Sicherheitsakteure. Ihr Beitrag im Kampf gegen den IS und beim Halten von Gebieten nach der Vertreibung des IS sind wichtige Faktoren für ihren aktuellen, mächtigen Status. Als staatlich anerkannte Sicherheitskräfte kontrollieren ihre Mitglieder ein bedeutendes Territorium und strategische Gebiete im Irak, größtenteils in Zusammenarbeit mit anderen staatlichen Sicherheitsbehörden. Manchmal nützen die PMF jedoch ihre Position bei der Kontrolle lokaler Gebiete aus, um ihre eigenen Interessen, auch in finanzieller Hinsicht, durchzusetzen. Sie agieren als Lückenbüßer, wenn sich die staatlichen Stellen als unzureichend in ihrem Handeln im Bereich der Sicherheit erweisen. In einigen Gebieten sind die PMF der wichtigste Sicherheitsakteur, an den sich die Einheimischen wenden, wenn sie Schutz oder einen Fürsprecher bei Streitigkeiten oder bei der Strafverfolgung benötigen (Chatham 2.2021, S. 18-19).
Die wirtschaftliche/finanzielle Macht der einzelnen PMF-Gruppen setzt sich zusammen aus: ihrem Anteil an staatlich zugewiesenen Mitteln, autonomen einkommengenerierenden Aktivitäten und externer Finanzierung (vor allem durch Iran). Autonome einkommenschaffende Aktivitäten erfolgen in der Regel in Form von religiösen Steuern, Einnahmen aus Heiligtümern und Unterstützung durch religiöse Wohltätigkeitsorganisationen. Diese Mittel sind jedoch relativ bescheiden (Clingendael 6.2018, S.7-8). Den Löwenanteil machen die offiziellen Zuwendungen aus. 2020 betrugen die Budgetmittel der PMF-Kommission 2,6 Mrd. US-Dollar (Chatham 2.2021, S.19). Darüber hinaus akquirieren PMF-Milizen Einnahmen aus teils illegalen Quellen und in krimineller Weise (FPRI 19.8.2019). Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem groß angelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. Entführungen sind und waren ein wichtiges Geschäft aller Gruppen, dessen hauptsächliche Opfer zahlungsfähige Iraker sind (Posch 7.2017, S.9). Neben diesen illegalen Methoden erwerben die PMF beispielsweise im ganzen Land Grundstücke, was ihnen ermöglicht, Unternehmen anzusiedeln und von diesen dann Abgaben zu lukrieren. Einnahmen werden, auch in Kooperation mit anderen Sicherheitskräften, an Grenzübergängen und Checkpoints an wichtigen Verkehrsverbindungen generiert (Chatham 2.2021, S.29-30).
Menschenrechtsorganisationen berichteten darüber hinaus, dass PMF landesweit, insbesondere in ethnisch-konfessionell gemischten Regionen, Morde, Entführungen und Erpressungen verüben. Außergerichtliche Tötungen durch nicht identifizierte Bewaffnete und politisch motivierte Gewalt kommen im ganzen Land vor (USDOS 20.3.2023).
Trotz des Schutzes, den die PMF bieten, sind sie aufgrund ihrer strategischen Kontrolle und ihrer sich wandelnden Rolle weiterhin eine Quelle lokaler Auseinandersetzungen und Polarisierungen. Es wurden in den letzten Jahren mehrere Berichte von Anwohnern, Menschenrechtsbeobachtern und internationalen Organisationen über das Fehlverhalten der PMF laut (Clingendael 5.2021, S.17). Einige PMF gehen auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor (USDOS 20.3.2023). Medien berichteten etwa über Vorfälle, bei denen schiitische PMF in die Häuser ethnischer und religiöser Minderheiten im gesamten Gouvernement Kirkuk eindrangen, sie plünderten und niederbrannten (DFAT 16.1.2023, S.17). In Ninewa, beispielsweise, nahmen mit Iran verbündete PMF willkürlich bzw. unrechtmäßig Kurden, Turkmenen, Christen und Angehörige anderer Minderheiten fest. Es gab zahlreiche Berichte über die Beteiligung der 30. und 50. PMF-Brigaden an Erpressungen, illegalen Verhaftungen, Entführungen und Festnahmen von Personen ohne Haftbefehl (USDOS 20.3.2023). Die 30. PMF-Brigade, Hashd al-Shabak, wurde von der Shabak-Minderheit in der Ninewa-Ebene als Schutztruppe gegen das Vordringen kurdischer und christlicher Kräfte gegründet. Die 30. PMF-Brigade ist mit der Badr-Organisation verbündet, nähert sich aber zunehmend auch der Kata’ib Hizbollah und der Harakat an-Nujaba an. Ihre Aktivitäten richten sich hauptsächlich gegen türkische Stützpunkte im Irak (TWI 22.6.2022). Die 50. PMF-Brigade, Kata’ib Babiliyoun (KB), wurde 2017 von einem chaldäischen Milizionär als lokale christliche Truppe gegründet, rekrutiert aber seither in schiitischen südirakischen Gemeinden. Sie beinhaltet auch eine kleine Kaka’i-Einheit. Sie ist mit Asaib Ahl al-Haq (AAH) verbunden und richtet sich hauptsächlich gegen US-amerikanische, kurdische, türkische und christliche Ziele (TWI 16.3.2023).
Glaubwürdige Informationen der Strafverfolgungsbehörden wiesen darauf hin, dass die 30. PMF-Brigade an mehreren Orten in der Provinz Ninewa geheime Gefängnisse unterhielt, in denen 1.000 Gefangene untergebracht waren, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen aus konfessionellen Gründen festgenommen wurden. DieAnführer der 30. PMF-Brigade sollen die Familien der Inhaftierten gezwungen haben, im Gegenzug für die Freilassung ihrer Angehörigen hohe Geldbeträge zu zahlen (USDOS 20.3.2023). Jesiden und Christen sowie lokale und internationale NGOs berichteten von anhaltenden verbalen und körperlichen Übergriffen durch Mitglieder der PMF, welche auch für etliche Angriffe auf, und Vertreibungen von Sunniten, angeblich aus Rache für Verbrechen seitens des IS an Schiiten, verantwortlich gemacht werden (USDOS 15.5.2023).
Mehrere Quellen geben an, dass zu den PMF gehörende Kräfte, oft von Iran unterstützte Milizen, 2019 für viele der tödlichen Angriffe auf Demonstranten, auch durch Scharfschützen, verantwortlich waren (EASO 10.2020, S.31; vgl. TWI 23.3.2020, S.91), namentlich die pro-iranischenSaraya Talia al-Khorasani, Kata’ib Sayyid ash-Shuhada, Asa’ib Ahl al-Haqq und die Badr-Organisation. Die PMF wurden international auch für illegale Massenverhaftungen und Folter, Einschüchterungsversuche gegen Demonstranten und Journalisten, Attentate, Bombenanschläge und Plünderungen von Fernsehsendern kritisiert. Nach Angaben des irakischen Hochkommissariats für Menschenrechte wurden über 500 Menschen getötet und über 23.500 verwundet (Stand März 2020). Im Januar 2020 waren auch Kämpfer von Saraya as-Salam an Angriffen auf Demonstranten und an der Erstürmung von Proteststätten durch die Badr-Milizen beteiligt, die die Zeltlager der Demonstranten niederbrannten (TWI 23.3.2020, S.91). Im Laufe des Jahres 2020 haben Mitglieder der PMF Aktivisten ermordet oder entführt und mindestens 30 Menschen in Bagdad, Nasriyah und Basra getötet. Auf mehr als 30 weitere wurden Mordanschläge verübt, sie kamen mit Verletzungen davon. Bis zum Ende des Jahres 2020 wurden 56 Aktivisten gewaltsam zum Verschwinden gebracht. Diejenigen, die während der Proteste 2019 gewaltsam verschwunden sind, werden weiterhin vermisst (AI 7.4.2021). Anfang Jänner 2021 belegten die USA den Vorsitzenden der PMF-Kommission, Faleh al-Fayyadh, mit Sanktionen, da dieser für die Anordnung und Ausführung der Ermordung friedlicher Demonstranten und der Durchführung einer gewaltsamen Aktion gegen die irakische Demokratie verantwortlich sei (AlMon 8.1.2021).
Die PMF sollen, aufgrund guter nachrichtendienstlicher Möglichkeiten, die Fähigkeit haben, jede von ihnen gesuchte Person aufspüren zu können. Politische und wirtschaftliche Gegner werden unabhängig von ihrem konfessionellen oder ethnischen Hintergrund ins Visier genommen. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass die PMF über die Fähigkeit verfügen, in der Kurdistan Region Irak (KRI) zu operieren. Dementsprechend gehen sie nicht gegen Personen in der KRI vor (DIS/Landinfo 5.11.2018, S.23).
Präsident der PMF-Kommission ist - auf dem Papier - Faleh al-Fayyadh. Er hat jedoch keinen großen Mitarbeiterstab und unterliegt häufig den Anweisungen der Mittelsmänner im weiteren Netzwerk der PMF (Chatham 2.2021, S.7). Inoffizieller Spiritus Rector und strategische Kopf der Volksmobilisierung war Jamal Ebrahimi alias Abu Mahdi al-Muhandis, Vize-Kommandeur der PMF (Zenith 3.1.2020) und zugleich Begründer sowie Anführer der pro-iranischen Kata’ib Hizbollah, welche von den USA als Terrororganisation eingestuft ist (GD 3.1.2020; vgl. Wilson 27.4.2018). Abu Mahdi al-Muhandis galt als rechte Hand des iranischen Generalmajors der Revolutionsgarden, Qassem Soleimani. Beide wurden am 3.1.2020 bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet (AlMon 21.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahe stehen (MEE 16.2.2020). Der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannte Brigadegeneral Esmail Ghaani als Nachfolger von Soleimani (AlMon 21.2.2020). Am 20.2.2020 wurde Abu Fadak Al-Mohammedawi, Kommandeur der Kata’ib Hizbollah, zum neuen stellvertretenden Kommandeur der PMF ernannt (AlMon 21.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Die Ernennung erfolgte einseitig durch die Vertreter des inneren Zirkels der Hashd ash-Sha’bi, deren fünf (pro-iranische) Milizen dem sogenannten „Muhandis-Kern“ zugeordnet werden (Warsaw 9.7.2020). Die vier PMF-Fraktionen, die dem schiitischen Kleriker Ayatollah Ali as-Sistani nahe stehen, haben sich gegen die Ernennung Mohammadawis ausgesprochen und alle PMF-Fraktionen aufgefordert, sich in die irakischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Premierministers zu integrieren (AlMon 21.2.2020). Manche Milizen sehen den Tod von General Soleimani und al-Muhandis im Jahre 2020 noch nicht als gerächt und attackieren immer wieder ausländische Ziele (ÖB Bagdad 20.11.2022, S.2-3).
Formal wurde der Loslösungsprozess der vier Atabat- bzw. Schrein-Milizen mit einer Entscheidung des scheidenden Regierungschefs Mahdi am 22.4.2020 eingeleitet, wonach diese Einheiten vom PMF-Kommando getrennt werden und von nun an direkt dem Premierminister verantwortlich sind (Warsaw 9.7.2020; vgl. AAA 23.4.2020, AlMon 29.4.2020). Laut Aussagen aus dem Kreis der Schrein-Milizen auf einer Koordinierungskonferenz im Dezember 2020 wollten diese die irakische Regierung unterstützen, sich von Fraktionen und politische Parteien zu trennen, welche die Interessen eines anderen Staates, gemeint ist der Iran, verfolgen (AlMon 4.12.2020; vgl. DYRN 22.2.2021). Erklärtes Ziel der vier Schrein-Milizen sei auch die Eingrenzung und Isolation der pro-iranischen PMF (DYRN 22.2.2021).
Diese fortschreitende Zersplitterung der PMF lässt sich auf viele Faktoren zurückführen. Einer der Hauptgründe ist das Fehlen eines einheitlichen Ziels, das zuvor der Sieg über den IS darstellte. Ein weiterer Katalysator war der Tod von Abu Mahdi al-Muhandis, der in der Lage war, die unterschiedlichen Fraktionen zu einen (ATIIA 12.1.2021). Und obwohl der Nachfolger Muhandis, Abu Fadak al-Mohammedawi, enge Beziehungen zu Iran unterhält, gibt es eine breite Opposition gegen seine Führung in seiner eigenen Miliz, Kata’ib Hizbollah, die ihn als den unrechtmäßigen Chef der PMF betrachtet (Manara 10.3.2021). Die neueste Erscheinung, welche als Zeichen einer weiteren Aufsplitterung der PMF gewertet wird, ist das Auftreten mehrerer kleinerer Splittergruppen im Verlaufe des Jahres 2020, die mit größeren, von Iran unterstützten Gruppierungen verbunden sind, die sich sowohl durch Gewalt gegen Zivilisten als auch gegen Einrichtungen der US-geführten Militärallianz hervortun (ATIIA 12.1.2021).
Innerhalb der schiitischen PMF gibt es Formationen, die mit den religiösen Lehrstätten im Irak bzw. den schiitischen religiösen Autoritäten (Marji’iya) verbunden sind (TCF 5.3.2018, S.4), und deshalb auch gelegentlich als Hashd al-Marji’i bezeichnet werden (TCF 5.3.2018, S.4; vgl. ICSR 1.11.2018, S.24). Geläufiger sind die Termini „Schrein“-Milizen bzw. Saraya al-’Atabat (kurz: Atabat) (TWI 5.2.2021; vgl. ICSR 1.11.2018, S.24). Prominenter und umstrittener sind die mit dem Iran verbündeten Formationen, die oft als Hashd al-Wala’i bezeichnet werden - wala’ ist das arabische Wort für Loyalität - eine Anspielung auf die Loyalität dieser Formationen gegenüber dem iranischen Obersten Führer Ali Khamenei. Die erstgenannten Gruppen sind in der Regel kleiner und wurden nach dem Fall von Mossul im Jahr 2014 als direkte Reaktion auf Sistanis Aufruf zur Massenmobilisierung gegen die Bedrohung durch den IS gebildet. Bei den letztgenannten, stärker auf Iran ausgerichteten Formationen handelt es sich eher um erfahrenere Gruppen mit einer längeren Geschichte paramilitärischer Aktivitäten im Irak und in einigen Fällen auch in Syrien (TCF 5.3.2018, S.4).
Pro-iranische Milizen: al-Hashd al-Wala’i / al-Muqawama al-Islamiyya
Das Lager, welches u.a. als al-Hashd al-Wala’i bezeichnet wird, umfasst jene PMF-Formationen, die entweder mit Iran verbündet sind oder mit ihm zusammenarbeiten, und die innerhalb der PMF sowohl quantitativ als auch qualitativ die Oberhand haben (EUI 6.2020, S.3). Die von Iran unterstützten irakischen Milizen bezeichnen sich selbst auch als al-Muqawama al-Islamiyya - der islamische Widerstand - Widerstand vor allem gegen die US-geführten Koalitionstruppen, meist in Form von Raketen- und Sprengstoffangriffen (JS 12.4.2021). Jene PMF (bzw. deren Vertreter), welche im Februar 2020 das Wahlkomitee zur Bestimmung eines neuen stellvertretenden Vorsitzenden nach dem Tode Muhandis bildeten, gelten als die wichtigsten Iran-affinen Milizen. Diese sind: Kata’ib Hizbollah, die Badr-Organisation, Asa’ib Ahl al-Haqq, Kata’ib Sayyid ash-Shuhada und Kata’ib Jund al-Imam (TWI 23.3.2020, S.23; vgl. ICG 30.7.2018, S.3). Hinzu kommen noch Harakat Hizbollah an-Nujaba (Bewegung der Partei Gottes der Noblen) (ICG 30.7.2018, S.3), mit mindestens 1.500 Kämpfern, auch in Syrien aktiv (TWI 23.3.2020, S.110, 204) und eine der Milizen, die durch Iran besonders militärisch und finanziell unterstützt werden (MAITIC 8.1.2020, S.1), sowie die Kata’ib Imam Ali (Bataillone des Imam Ali), deren Anführer, Shibl al Zaydi, 2018 von den USA wegen seiner Verbindungen zu den Iranischen Revolutionsgarden als Terrorist eingestuft wurde (LWJ 15.12.2020). Zudem war Kata’ib Imam Ali auch 2021 in Syrien präsent (AAA 22.3.2021). Dazu gesellen sich noch die Saraya Talia al-Khorasani, die auch in Syrien aktiv waren (TWI 23.3.2020, S.110, 205; vgl. ICG 30.7.2018, S.27).
Die Badr-Organisation, die mächtigste schiitische Miliz, gilt als Irans ältester Stellvertreter im Irak. Sie wurde 1982 in Iran gegründet, um Saddam Hussein zu bekämpfen, und wurde zunächst vom Korps der IRGC finanziert, ausgebildet, ausgerüstet und geführt (Soufan 20.3.2019; vgl. Wilson 27.4.2018). Nach der US-Invasion im Jahr 2003 kehrte sie in den Irak zurück und wurde in die neue irakische Regierung integriert. Ihre Kräfte wurden zur größten Fraktion innerhalb der staatlichen Sicherheitskräfte, insbesondere der Polizei (Wilson 27.4.2018), die wiederum zu einem Instrument der Badr-Organisation erwuchs (SWP 2.7.2021, S.26). Sie nahm an Wahlen teil; ihre Führer wurden in die neue Regierung in Kabinettspositionen aufgenommen. Sie behielt jedoch ihre Miliz bei (Wilson 27.4.2018). Sie umfasst rund 20.000 Kämpfer (Soufan 20.3.2019) und unterhält mindestens zehn Brigaden der staatlich finanzierten PMF, möglicherweise sogar 17 (TWI 2.9.2021). Die Badr-Organisation wird von Hadi al-Amiri angeführt. Viele Badr-Mitglieder waren oder sind Teil der offiziellen Staatssicherheitsapparate, insbesondere des Innenministeriums und der Bundespolizei (FPRI 19.8.2019). So haben einige Mitglieder der PMF auch Doppelpositionen inne. Abu Dergham al-Maturi, beispielsweise, führte die 5. PMF-Brigade, eine Badr-Brigade, und fungierte gleichzeitig als stellvertretender Kommandeur der Bundespolizei im Innenministerium (Chatham 2.2021, S.19). Oder das Badr-Führungsmitglied Qassim al-Araji war Innenminister (2017-2018) und ist nun der nationale Sicherheitsberater. Die Badr ist eine große und komplexe Organisation, die sowohl einen militärischen als auch einen politischen Flügel und viele Unterfraktionen hat. Im Großen und Ganzen hat sich Badr durch seine Wahlerfolge, seine paramilitärische Macht und seine Patronagenetzwerke tief in den irakischen Staat eingebettet. Badr war die Quelle für viele jüngere und radikalere Gruppen, einschließlich Kata’ib Hizbollah. Zwar setzt sich die Badr-Organisation für den Abzug der US-Kampftruppen aus der Region ein, doch hat sie sich im Gegensatz zu den anderen pro-iranischen PMF von Angriffen auf die USA und deren Verbündete öffentlich distanziert. Innerhalb der Muqawama nimmt die Badr-Organisation weiterhin eine wichtige Rolle ein und bleibt gleichzeitig ihren Wurzeln als iranischer Stellvertreter treu, mit weiterhin engen institutionellen und personellen Beziehungen zu den IRGC (TWI 2.9.2021 ).
Die Kata’ib Hizbollah (Brigaden der Partei Gottes) umfassen etwa 3.000 bis 7.000 Kämpfer (Arabiya 31.5.2020), anderen Schätzungen zufolge sogar 20.000 (Soufan 20.3.2019). Die Kata’ib Hizbollah haben enge konfessionelle, ideologische und finanzielle Bindungen zu Iran (Arabiya 31.5.2020). Keine andere Miliz steht den IRGC näher (Soufan 20.3.2019). Sie sind für zahlreicheAngriffe auf die von den USAgeführte Militärallianz verantwortlich und riefen u.a. auch zu Terrorattacken gegen Saudi-Arabien auf. Menschenrechtsorganisationen werfen der Miliz schwere Menschenrechtsverletzungen vor, insbesondere gegen Sunniten (Arabiya 31.5.2020). Sie arbeiten intensiv mit der Badr-Organisation und der libanesischen Hisbollah zusammen. Die Miliz wird von den USA seit 2009 als Terrororganisation geführt (STDOK 21.8.2017, S.64).
Die Asa‘ib Ahl al-Haqq (AAH) (Liga der Rechtschaffenen) verfügt über etwa 15.000 Kämpfer (Soufan 20.3.2019). Die AAH ist eine mächtige schiitische Muslim-Miliz, die sich 2007 von Sadrs damaligen Mahdi-Armee abgespalten hat (Clingendael 6.2018, S.3; vgl. EPIC 5.2020). Die AAH wurde ursprünglich von den IRGC mit Unterstützung der libanesischen Hisbollah in iranischen Lagern ausgerüstet, finanziert und ausgebildet und war auch in Syrien präsent (Wilson 27.4.2018). Die militärische und finanzielle Unterstützung durch die Al-Quds-Einheit der IRGC hält weiterhin an (MAITIC 8.1.2020, S.1). Sie richtete politische Büros, religiöse Schulen und soziale Dienste ein, vor allem im Süden Iraks und in Bagdad (Wilson 27.4.2018). Ihr Anführer, Qais al-Khaz’ali, wurde von den US-Behörden im Irak wegen seiner Rolle bei tödlichen Angriffen auf US-Truppen im Jahr 2007 für fünf Jahre inhaftiert. Er gilt den USA als einer der Verantwortlichen für den Anschlag auf die US-Botschaft in Bagdad zu Silvester 2019. Am 3.1.2020 stufte das US-Außenministerium dieAAH als terroristische Organisation und Khaz’ali als „Specially Designated Global Terrorist“ ein (EPIC 5.2020). Innerhalb der Volksmobilisierung erwarb sich die Organisation den Ruf, politisch-weltanschauliche mit kriminellen Motiven zu verbinden und besonders gewalttätig zu sein. Sie wird für zahlreiche Verbrechen gegen sunnitische Zivilisten verantwortlich gemacht (SWP 2.7.2021, S.25).
Die seit 2020 vermehrt in Erscheinung tretenden pro-iranischen Splittergruppen haben ein zweifelhaftes Maß an Autonomie. Es ist nicht klar, ob es sich bei diesen um unabhängige Gruppen handelt, die von den größeren „Mutter“-Milizen unterstützt werden, oder ob sie lediglich eine Fassade für diese größeren Milizen bilden, um sich den US-Sanktionen durch die Einstufung als terroristische Organisation zu entziehen (ATIIA 12.1.2021; vgl. JS 10.3.2021). Sie werden diesbezüglich insbesondere Kata’ib Hizbollah, Asa’ib Ahl al-Haqq, Kata’ib Sayyid ash-Shuhada und der Harakat Hizbollah an-Nujaba zugeordnet (JS 10.3.2021). Ihre Anzahl ist vage und wird auf 10 bis 20 Gruppen geschätzt (Arabiya 18.11.2020). Die neuen Splittergruppen treten primär durch zwei unterschiedliche Handlungsweisen in Erscheinung: Zum einen bewaffnete Milizen, die in der Lage sind, Anschläge auf US-Einrichtungen im Irak zu verüben, und zum anderen Straßenbanden, die eine Art gesellschaftlichen Krieg auf den Straßen Bagdads führen. Zu den Ersteren gehören Usbat al-Tha’ireen (Liga der Revolutionäre) und Ashab al-Kahf (die Gefährten der Höhle), die sich regelmäßig zu Raketen- oder IED-Angriffen auf US-Ziele bekennen (ATIIA 12.1.2021). Usbat al-Tha’ireen übernahm beispielsweise die Verantwortung für den Angriff auf Camp Taji im März 2020, bei dem zwei amerikanische Soldaten und ein britischerSoldat getötet wurden (TWI 10.4.2020; vgl. Arabiya 18.11.2020), währendAshab al-Kahf zahlreicheAngriffe auf Konvois sowie einen Raketenangriff auf die US-Botschaft im November 2020 für sich reklamierte (JS 10.3.2021). Zur zweiten Gruppe gehören Raba Allah/Rab’Allah (das Volk Gottes), Jund Soleimani (die Soldaten Soleimanis) und Jabhat Abu Jadahah (eng. People of the Lighter’s Front), die, getragen von stark religiösen Anwandlungen, als Sittenpolizei agieren und das liberalere Leben Bagdads unterdrücken, indem sie beispielsweise Massagesalons angriffen oder Bombenanschläge auf Geschäfte verübten, die Alkohol verkauften (ATIIA 12.1.2021; vgl. TWI 9.4.2021). Rab’Allah gilt als wichtigste Gruppe. Im Oktober 2020 verübte sie Brandanschläge auf Büros von Fernsehsendern sowie der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP). Weiters führte sie Hetzkampagnen gegen Personen aus Politik und Medien durch und drohte ihnen mit Gewalt. Zudem organisierte sie Proteste vor ausländischen Vertretungen (TWI 9.4.2021).
Iran-kritische Milizen: Atabat / Schrein-Milizen / Hashd al-Marji‘i
Bei den „Schrein“- oder Atabat-Milizen (andere Bezeichnungen: Hashd al-Atabat/ Saraya al-
Atabat/ al-Atabat al-Muqadasa) oder auch Hashd al-Marji‘i handelt es sich um paramilitärische Gruppen, die mit den schiitischen Heiligtümern in Najaf und Kerbala verbunden sind, deshalb auch die Bezeichnung „Schrein-Milizen“ (ICSR 1.11.2018, S.24; vgl. TWI 28.5.2020, DYRN 1.3.2021). Liwa Ansar al-Marjaiya (44. Brigade), Liwa Ali al-Akbar (11. Brigade), Firqat al-Abbas al-Qitaliyah (26. Brigade), letztere bekannter unter der Bezeichnung Abbas Kampfdivision (Abbas Combat Division) und Firqat al-Imam Ali al-Qitaliyah (2. Brigade) haben keine Verbindungen zum Korps der Islamischen Revolutionsgarde (IRGC) Irans, sondern zu Ayatollah Ali as-Sistani, dem irakischen schiitischen Kleriker, densie als ihr Vorbild betrachten (TWI 28.5.2020; vgl. DYRN 15.10.2021). Insgesamt verfügen die Atabat über rund 18.000 aktive Soldaten und Zehntausende von Reservisten. DieAbbas Kampfdivision (Firqat al-Abbas) ist die militärisch fähigste der vier Gruppen, gestärkt durch die logistische Ausbildung und die Zusammenarbeit mit dem irakischen Verteidigungsministerium. Mehrere Merkmale unterscheiden die Atabat von den pro-iranischen Einheiten der PMF: Erstens arbeiten sie nur mit nationalen irakischen Institutionen zusammen und dürfen nicht mit IRGC-Kommandeuren oder anderen ausländischen Militärs in Verbindung treten. Zweitens halten sie sich aus der Politik heraus, während die iran-freundlichen Gruppen sogar ihre eigenen politischen Parteien gegründet haben. Drittens betrachten die Atabat-Einheiten die Vereinigten Staaten nicht als Feind, trotz anlassbezogener Verurteilungen von US-Aktionen. Viertens wurden die Atabat nicht der Verletzung von Menschenrechten beschuldigt. Tatsächlich haben sie kein Interesse daran, in den sunnitisch-arabischen Gebieten präsent zu sein, in denen viele solcher Verstöße begangen wurden. Ihr Hauptinteresse gilt den schiitischen heiligen Städten Kerbala und Najaf und dem Wüstengebiet, die diese Städte mit Anbar verbindet. Die Atabat wurden auch nicht der Erpressung beschuldigt, im Gegensatz zu den vielen PMF-Gruppen, die solche Taktiken anwenden, um sich selbst zu erhalten, und damitden Unmut der sunnitischen Bevölkerung verschärfen (TWI 28.5.2020). Die Schrein-Milizen spielten eine wichtige Rolle bei der Verteilung von Hilfsgütern im Rahmen einer Kampagne von Großayatollah as-Sistani mit dem Namen Maraji’yat al-Takaful (Solidarität der Marji’i) zur wirtschaftlichen Unterstützung der Menschen, die unter der von der Regierung verhängten Ausgangssperre während der COVID19-Krise litten (EUI 6.2020, S.3).
Saraya as-Salam / Friedenskompanien
Die Saraya as-Salam mobilisierten sich 2014 aus den Rängen der vormaligen Mahdi-Armee, die dem irakischen Kleriker Muqtada as-Sadr untersteht. Sie verfolgen eine nationalistische Ideologie und eigene politische Ziele (Clingendael 6.2018, S.3). Sadr und seine Anhänger lehnen die pro-iranischen, Khamenei-freundlichen paramilitärischen Führer und Gruppen entschieden ab. Dennoch bleiben sie Teil der Gesamtstruktur der PMF. Sie sind hinsichtlich einer Integration in die Sicherheitskräfte aufgeschlossen (ICG 30.7.2018, S.4; vgl. FPRI 19.8.2019). Quellen sprechen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann. Ihre Schlagkraft ist jedoch mangels ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung begrenzt. Dies liegt darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren will, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiert (STDOK 21.8.2017, S.65). Hinsichtlich der im Herbst 2019 aufflammenden Proteste vollzog Muqtada as-Sadr eine zwiespältige Politik. Schon in der Anfangsphase der Oktober-Demonstrationen 2019 waren Sadristen aktiv an den Demonstrationen beteiligt, und deren Paramilitärs verteidigten andere Demonstranten vor der Gewalt staatlicher und mit Iran verbündeter bewaffneter Kräfte. Im Frühjahr 2020 allerdings, nachdem Sadr die Demonstranten wegen ihres Auftretens gegenüber den religiösen Autoritäten tadelte, ihre „Abweichung“ vom „richtigen Weg“ kritisierte und parallel die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Saraya as-Salam und der pro-iranischen Asa’ib Ahl al-Haqq eingestellt wurden, gingen die Sadr-Miliz bzw. seine Anhänger in Bagdad und weiteren Städten im Südirak gewaltsam gegen Demonstranten vor und besetzten Protestlager (FPRI 3.2020, S.2, 17; vgl. BAMF 5.2020, S.9-10, 21-22).
Folter und unmenschliche Behandlung
Folter und unmenschliche Behandlung sind laut der irakischen Verfassung ausdrücklich verboten (AA 28.10.2022, S.19; vgl. USDOS 20.3.2023). Im Juli 2011 hat die irakische Regierung die UN-Anti-Folter-Konvention (CAT) unterzeichnet (AA 28.10.2022, S.19). Es ist jedoch gesetzlich nicht definiert, welche Handlungen als Folter gelten (USDOS 20.3.2023). Folter wird auch in der jüngsten Zeit von staatlichen Akteuren angewandt, etwa bei Befragungen durch irakische (einschließlich kurdische) Polizei- und andere Sicherheitskräfte (AA 28.10.2022, S.19; vgl. DFAT 16.1.2023, S.36), auch, um Geständnisse zu erzwingen (HRW 13.1.2022; vgl. USDOS 12.4.2022, FH 2023). Auch Minderjährige werden Folter zur Geständnisgewinnung ausgesetzt (FH 2023). Gerichte akzeptieren solche Geständnisse als Beweismittel (USDOS 20.3.2023; vgl. DFAT 16.1.2023, S.36, ÖB Bagdad 20.11.2022, S.4), auch für die Vollstreckung von Todesurteilen. Häftlinge berichten auch über Todesfälle aufgrund von Folter während Verhören (HRW 13.1.2021).
Weiterhin misshandeln und foltern Angehörige der Sicherheitskräfte, darunter Polizeibeamte, Angehörige des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS), der Volksmobilisierungskräfte (PMF) und der kurdischen Asayish, Personen, insbesondere sunnitische Araber, während der Verhaftung, Untersuchungshaft und nach einer Verurteilung (USDOS 20.3.2023; vgl. DFAT 16.1.2023, S.36). Internationale Menschenrechtsorganisationen dokumentierten Fälle von Folter und Misshandlung in Haftanstalten des Innen- und des Verteidigungsministeriums. Ehemalige Gefangene, Häftlinge und Menschenrechtsgruppen berichteten von einer Vielzahl von Folterungen und Misshandlungen. Straffreiheit für Angehörige der Sicherheitskräfte ist ein Problem, und erzwungene Geständnisse werden von Gerichten in zahlreichen Fällen, insbesondere mit IS- und Terror-Bezug als primäre Beweisquelle anerkannt (USDOS 20.3.2023).
Milizen werden beschuldigt, im Zuge der im Oktober 2019 begonnenen Massenproteste an Entführungen und Folter gegen die Demonstranten involviert gewesen zu sein (UNAMI 23.5.2020, S.3, 4). In mehreren südirakischen Gouvernements töteten bewaffnete Akteure, darunter auch Mitglieder der PMF, außergerichtlich Dutzende von Aktivisten (AI 29.3.2022).
Korruption
Korruption ist nach wie vor ein großes Problem im Irak (FH 2023; vgl. DFAT 16.1.2023, S.10). Das Gesetz sieht strafrechtliche Sanktionen für Korruption durch Staatsdiener vor, aber die Regierung setzt das Gesetz nicht immer wirksam um (USDOS 20.3.2023; vgl. FH 2023). Korruption besteht auf allen institutionellen Ebenen. Bestechung, Geldwäsche, Vetternwirtschaft und Veruntreuung öffentlicher Gelder sind auf allen Ebenen und in allen Zweigen der Regierung üblich. Familien-, Stammes- und ethno-konfessionelle Erwägungen beeinflussen die Entscheidungen der Regierung auf allen Ebenen und in allen Zweigen der Regierung erheblich (USDOS 20.3.2023).
Beamte sind häufig ungestraft in korrupte Praktiken verstrickt (USDOS 20.3.2023). Das Justizsystem, das selbst durch Politisierung und Korruption behindert wird, bearbeitet nur einen Bruchteil der Fälle, die von der Integritätskommission, einer von drei Antikorruptionsbehörden, untersucht werden (FH 2023). Im August 2020 hat der vormalige Premierminister al-Kadhimi per Verordnung einen ständigen Sonderausschuss zur Untersuchung und strafrechtlichen Verfolgung größerer Korruptionsfälle eingesetzt. Im September 2020 wurden aufgrund der Arbeit des Antikorruptionsausschusses 19 hochrangige Personen verhaftet. Im Oktober 2020 wurden rund
1.000 Beamte entlassen, nachdem sie wegen Vergehen gegen die öffentliche Ordnung, darunter
Verschwendung öffentlicher Gelder, Bestechung und Veruntreuung, verurteilt worden waren (USDOS 30.3.2021). Der von Premierminister al-Kadhimi eingesetzte „Ständige Sonderausschuss zur Untersuchung von Korruption und bedeutenden Straftaten“ hat seine Arbeit im Laufe des Jahres 2021 fortgesetzt. Da er von der Antiterroreinheit der Regierung unterstützt wird, welche Haftbefehle und gerichtliche Anordnungen umsetzen kann, werden korrupte Beamte Berichten zufolge unter Druck gesetzt (USDOS 12.4.2022).
Antikorruptions-, Strafverfolgungs- und Justizbeamte sowie Mitglieder der Zivilgesellschaft und der Medien werden wegen ihrer Bemühungen zur Bekämpfung korrupter Praktiken bedroht und eingeschüchtert(USDOS 20.3.2023; vgl. FH 2023, DFAT 16.1.2023, S.10). Sie sind sowohl im föderalen Irak, als auch in der Kurdistan Region Irak (KRI) mit Verhaftungen, Verleumdungsklagen und Gewalt konfrontiert (FH 2023). Korruption war einer der Auslöser für die sogenanntenTishreen-Proteste, die 2019 ausgebrochen sind (FH 2023; vgl. DFAT 16.1.2023, S.10).
Die KRI leidet unter ähnlichen Korruptionsproblemen (FH 24.2.2022). Berichten zufolge sind sie aber geringer als in anderen Teilen des Irak (DFAT 16.1.2023, S.10).
Auf dem Corruption Perceptions Index 2022 von Transparency International wird der Irak mit 23
(von 100) Punkten bewertet (0=highly corrupt, 100=very clean) und nimmt Rang 157 von 180 Staaten ein (TI 2023).
Allgemeine Menschenrechtslage
Die Verfassung vom 15.10.2005 garantiert demokratische Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten und Gleichberechtigung. Der Menschenrechtskatalog umfasst auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung (AA 28.10.2022, S.19).
Der Irak hat wichtige internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert (AA 28.10.2022, S.19), darunter das internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, den internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, den internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, das Übereinkommen über die Rechte des Kindes, sowie die Fakultativprotokolle betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten und betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie, das internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor gewaltsamem Verschwindenlassen und das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (OHCHR 2022).
Es kommt jedoch weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei und andere Sicherheitskräfte. Das Menschenrechtsministerium wurde 2015 abgeschafft, und das Mandat für die unabhängige Menschenrechtskommission ist am 4.8.2021 ausgelaufen, wobei unklar ist, ob es erneuert wird (AA 28.10.2022, S.19).
Zu den wesentlichsten Menschenrechtsfragen im Irak zählen unter anderem: Anschuldigungen bezüglich rechtswidriger Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen, willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen, willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre, Sippenhaft, konfliktbedingte Übergriffe, einschließlich Angriffen, die zum Tod oder zur Verletzung von Zivilisten führen, Einschränkungen der Meinungsfreiheit, einschließlich der Pressefreiheit, Gewalt gegen Journalisten, Eingriffe in die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen, erzwungene Rückkehr von Binnenvertriebenen (IDPs), Korruption, Gewalt gegen LGBTIQ+-Personen (USDOS 20.3.2023). Auch Menschenhandel ist ein Problem, manchmal unter dem Schutz korrupter Beamter. Besonders IDPs, Flüchtlinge, Wanderarbeiter und LGBTIQ+ Personen sind davon besonders gefährdet (FH 2023). Es fehlt an Rechenschaftspflicht für Gewalt gegen Frauen und Gewaltverbrechen, die sich gegen Angehörige ethnischer Minderheiten richten (USDOS 20.3.2023).
Internationale und lokale NGOs geben an, dass die Regierung das Anti-Terror-Gesetz weiterhin als Vorwand nutzt, um Personen ohne zeitgerechten Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren festzuhalten (USDOS 20.3.2023). Bewaffnete Akteure bedrohen weiterhin Aktivisten sowie Angehörige von toten oder verschwundenen Demonstranten und Aktivisten mit dem Tod, oder damit, sie verschwinden zu lassen (AI 27.3.2023).
Die Verfassung und das Gesetz verbieten Enteignungen, außer diese erfolgen im öffentlichen Interesse (was jedoch nie eindeutig definiert wurde) und gegen eine gerechte Entschädigung (BS 23.2.2022, S.24; vgl. USDOS 20.3.2023). Seit den Offensiven des IS im Sommer 2014 sind föderalstaatliche und kurdische Sicherheitskräfte sowie paramilitärische bewaffnete Gruppen (IS und schiitische Milizen) für Angriffe auf Zivilisten verantwortlich, einschließlich der Beschlagnahme und Zerstörung von Privateigentum (BS 23.2.2022, S.24). In den vergangenen Jahren wurden Häuser und Eigentum von mutmaßlichen IS-Angehörigen sowie Mitgliedern religiöser und konfessioneller Minderheiten durch Regierungstruppen und PMF-Milizen konfisziert und besetzt, ohne Kompensationen für die Besitzer (USDOS 20.3.2023).
Es herrscht weiterhin Straflosigkeit für verübte rechtswidrige Tötungen, für Folter und andere Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte (AI 28.3.2023). Im Zuge der im Oktober 2019 begonnenen Proteste kam es zu Hunderten rechtswidrigen Tötungen (AI 28.3.2023). Die unabhängige Menschenrechtskommission versucht, sich unabhängig ein Bild von der Lage zu machen und die Zahlen von Toten und Verletzten zu sammeln, zu verifizieren und zu veröffentlichen (AA 22.1.2021, S.20), da sich die Regierung einer Veröffentlichung der Erkenntnisse von Untersuchungsausschüssen verweigert (AA 22.1.2021, S.20; vgl. AI 28.3.2023). Viele hochrangige Regierungsbeamte und Angehörige der Sicherheitskräfte, einschließlich der irakischen Sicherheitskräfte, der Bundespolizei, der Volksmobilisierungskräfte (PMF) und auch Einheiten der kurdischen Asayish (interne Sicherheitsdienste der Kurdischen Regionalregierung), agieren ungestraft. Die Regierung, einschließlich des Büros des Premierministers, untersucht Vorwürfe über Missbräuche und Gräueltaten, die durch die Irakischen Sicherheitskräfte (ISF) begangen wurden, bestraft die Verantwortlichen jedoch selten (USDOS 20.3.2023). So sind Hunderte rechtswidrige Tötungen, die sich während der Proteste von 2019 ereigneten, nach wie vor ungestraft (AI 28.3.2023).
Der IS begeht weiterhin schwere Gräueltaten, darunter Tötungen durch Selbstmordattentate und improvisierte Sprengsätze (IEDs). Die Behörden untersuchen IS-Handlungen und verfolgen IS-Mitglieder nach dem Anti-Terrorgesetz (USDOS 20.3.2023).
Todesstrafe
Die Todesstrafe ist in Artikel 15 der Verfassung auf Grundlage einer von einer zuständigen Justizbehörde erlassenen Entscheidung erlaubt (DFAT 17.8.2020, S.52). Sie ist auch im irakischen Strafrecht vorgesehen, wird verhängt und vollstreckt (AA 28.10.2022, S.20). Der Irak ist eines der Länder mit der höchsten Zahl von verhängten Todesstrafen (HRW 13.1.2021). Die Todesstrafe kann bei 48 verschiedenen Delikten, darunter Mord, terroristische und staatsfeindliche Aktivitäten, Hochverrat, Einsatz von chemischen Waffen und Vergewaltigung verhängt werden (AA 28.10.2022, S.20). Im Mai 2022 wurde ein Gesetz erlassen, das jegliche Aktivitäten, die die Normalisierung der Beziehungen zu Israel fördern, unter Strafe stellt, wobei auch die Todesstrafe möglich ist (USDOS 20.3.2023).
Nach dem Antiterrorismusgesetz (2005) kann die Todesstrafe gegen jeden verhängt werden, der terroristische Handlungen begeht, dazu anstiftet, sie plant, finanziert oder unterstützt (DFAT 16.1.2023, S.33-34). Der Großteil der Hinrichtungen erfolgt wegen Terrorismusvorwürfen (AA 28.10.2022, S. 20; vgl. DFAT 16.1.2023, S.34). Die irakische Justiz stellt IS-Mitglieder unabhängig von ihrer Herkunft vor irakische Gerichte. Die angedrohten Strafen auf Beteiligung an Kampfhandlungen oder nachgewiesene Zugehörigkeit zum IS sind sehr hoch. Die Verurteilungsrate liegt bei 90 % und Prozesse enden meist mit lebenslangen Haftstrafen oder der Todesstrafe (ÖB Bagdad 20.11.2022, S.4). Bei der Bevölkerung stößt die Todesstrafe auf breite Akzeptanz (AA 28.10.2022, S.20).
Aktuelle Zahlen zu den vollstreckten Hinrichtungen liegen nicht vor (HRW 13.1.2021; vgl. AA 28.10.2022, S.20). Die Behörden berichten diese nicht mehr regelmäßig an die Vereinten Nationen und machen auch auf Nachfrage keine verlässlichen Angaben (AA 28.10.2022, S.20).
Amnesty International zufolge wurden 2022 mindestens elf Hinrichtungen vollzogen und 41 neue Todesurteile ausgesprochen. Über 7.900 Personen warteten 2022 auf ihre Hinrichtung (AI 5.2023, S.28). Laut Bericht des UN-Hochkommissars für Menschenrechte von August 2023 warten über 11.000 Personen auf ihre Hinrichtungen. Er fordert ein offizielles Moratorium über die Beendigung der Vollstreckung der Todesstrafe im Irak (OHCHR 9.8.2023). Vor allem gegen mutmaßliche IS-Kämpfer werden in fragwürdigen Prozessen zunehmend Todesurteile verhängt und vollstreckt (AA 28.10.2022, S.20). Laut einer Erklärung des Justizministeriums vom September 2021 halten die Behörden fast 50.000 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zum Terrorismus fest, von denen über die Hälfte zum Tode verurteilt wurde (HRW 13.1.2022; vgl. Bas 6.9.2021).
Das irakische Strafgesetzbuch verbietet das Verhängen der Todesstrafe gegen jugendliche Straftäter, d. h. Minderjährige und Personen im Alter von 18 bis 21 Jahren zum Zeitpunkt der Begehung der mutmaßlichen Straftat sowie gegen schwangere Frauen und Frauen bis zu vier Monaten nach einer Geburt. In diesem Fall wird die Todesstrafe in eine lebenslange Haft umgewandelt (UNHRC 5.6.2018, S.13).
Religionsfreiheit
Anmerkung: Aufgrund der komplexen Verflechtung religiöser und ethnischer Identitäten ist eine strikte Unterscheidung zwischen rein religiösen Minderheiten und rein ethnischen Minderheiten im Irak oft nur schwer möglich. Um eine willkürliche Trennung zu vermeiden, werden alle Minderheiten, einschließlich derer, bei denen das religiöse Element überwiegt, im Abschnitt „Minderheiten“ behandelt.
Die Verfassung erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an (AA 28.10.2022, S.9; vgl. FH 2023, DFAT 16.1.2023, S.17). Gemäß Artikel 2 Absatz 1 ist der Islam Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung (AA 28.10.2022, S.9; vgl. DFAT 16.1.2023, S.17). Es darf kein Gesetz erlassen werden, das den „erwiesenen Bestimmungen des Islams“ widerspricht (RIL 15.10.2005, S.2; vgl. USDOS 15.5.2023, DFAT 16.1.2023, S.17). In Absatz 2 wird das Recht einer jeden Person auf Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf deren Ausübung garantiert (AA 28.10.2022, S.9). Explizit erwähnt werden in diesem Zusammenhang Christen, Jesiden und Mandäer-Sabäer, jedoch nicht Anhänger anderer Religionen oder Atheisten (RIL 15.10.2005, S.2; vgl. USDOS 15.5.2023).
Artikel 3 der Verfassung legt ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung des Irak fest, betont aber auch den arabisch-islamischen Charakter des Landes (AA 28.10.2022, S.10; vgl. RIL 15.10.2005, S.2). Artikel 43 verpflichtet den Staat zum Schutz der religiösen Stätten (AA 28.10.2022, S.10; vgl. RIL 15.10.2005, S.13). Die meisten politischen Führer haben sich nach der Niederlage des Islamischen Staates (IS) für religiösen Pluralismus ausgesprochen, und Minderheiten, die in befreiten Gebieten leben, können ihre Religion seitdem weitgehend frei ausüben (FH 24.2.2022).
Etwa 97 % der Bevölkerung sind Muslime. Der Anteil der schiitischen Muslime an der Gesamtbevölkerung beträgt 55 bis 60 %, während die sunnitischen Muslime etwa 40 % ausmachen. Rund 60 % der Sunniten sind Araber, 37,5 % Kurden und der Rest Turkmenen (DFAT 16.1.2023,
S.17).
Die folgenden religiösen Gruppen werden durch das Personenstandsgesetz anerkannt: Muslime, chaldäische Christen, assyrische Christen, assyrisch-katholische Christen, syrisch-orthodoxe Christen, syrisch-katholische Christen, armenisch-apostolische Christen, armenisch-katholische
Christen, römisch-orthodoxe Christen, römisch-katholische Christen, lateinisch-dominikanische Christen, nationale Protestanten, Anglikaner, evangelisch-protestantische Assyrer, Adventisten, koptisch-orthodoxe Christen, Jesiden, Mandäer-Sabäer und Juden. Die staatliche Anerkennung ermöglicht es den Gruppen, Rechtsvertreter zu bestellen und Rechtsgeschäfte wie den Kauf und Verkauf von Immobilien durchzuführen. Alle anerkannten religiösen Gruppen haben ihre eigenen Personenstandsgerichte, die für die Behandlung von Ehe-, Scheidungs- und Erbschaftsfragen zuständig sind. Laut der Regierung gibt es jedoch kein Personenstandsgericht für Jesiden (USDOS 15.5.2023; vgl. DFAT 16.1.2023, S.17).
Das Gesetz verbietet die Ausübung des Baha’i-Glaubens (USDOS 15.5.2023; vgl. USCIRF 4.2021) und der wahhabitischen Strömung des sunnitischen Islams (USDOS 15.5.2023).
Mit Einführung eines neuen Personalausweises im Jahr 2015 wurde ein Eintrag, der die Religionszugehörigkeit des Passinhabers deklarierte, dauerhaft abgeschafft (AA 28.10.2022, S.10; vgl. USDOS 15.5.2023). Es wurde allerdings ein Passus in die Bestimmungen aufgenommen, der religiöse Minderheiten diskriminiert. Artikel 26 besagt, dass Kinder eines zum Islam konvertierenden Elternteils automatisch auch als zum Islam konvertiert geführt werden (AA 28.10.2022, S.10). Der Online-Antrag auf einen Personalausweis verlangt nach wie vor die Deklaration der Religionszugehörigkeit, wobei nur Muslim, Christ, Mandäer-Sabäer, Jeside und Jude zur Auswahl stehen. Dabei wird zwischen den verschiedenen Konfessionen des Islams (Shi‘a-Sunni) bzw. den unterschiedlichen Denominationen des Christentums nicht unterschieden. Personen, die anderen Glaubensrichtungen angehören, können nur dann einen Ausweis erhalten, wenn sie sich selbst als Muslim, Jeside, Mandäer-Sabäer, Jude oder Christ deklarieren. Ohne einen amtlichen Personalausweis kann man keine Eheschließung eintragen lassen, seine Kinder nicht in einer öffentlichen Schule anmelden, keinen Reisepass beantragen und auch einige staatliche Dienstleistungen nicht in Anspruch nehmen (USDOS 15.5.2023).
Die meisten religiös-ethnischen Minderheiten sind im irakischen Parlament vertreten. Grundlage dazu bildet ein Quotensystem bei der Verteilung der Sitze. Fünf Sitze sind für die christliche Minderheit sowie jeweils ein Sitz für Jesiden, Mandäer-Sabäer, Shabak und Faili-Kurden reserviert. Das kurdische Regionalparlament sieht jeweils fünf Sitze für Turkmenen, Chaldäer und assyrische Christen sowie einen für Armenier vor (AA 22.1.2021, S.11).
Einschränkungen der Religionsfreiheit sowie Gewalt gegen und Belästigung von Minderheitengruppen durch staatliche Sicherheitskräfte (ISF) sind nach Angaben von Religionsführern und NGOs außerhalb der Kurdistan Region Irak (KRI) nach wie vor weit verbreitet (USDOS 15.5.2023). Internationale und lokale NGOs geben an, dass die Regierung das Anti-Terror-Gesetz weiterhin als Vorwand nutzt, um Personen ohne zeitgerechten Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren festzuhalten (USDOS 15.5.2023).
Es gibt zahlreiche Berichte darüber, dass Regierungstruppen, einschließlich der ISF und der Volksmobilisierungskräfte (PMF), die Freizügigkeit innerhalb des Landes unter anderem aus ethnisch-konfessionellen Gründen selektiv einschränken, um z.B. die Einreise von Personengruppen in von ihnen kontrollierte Gebiete zu begrenzen (USDOS 20.3.2023).
Die Behörden der Kurdischen Regionalregierung (KRG) diskriminierten weiterhin Minderheiten, darunter Turkmenen, Araber, Jesiden, Shabak und Christen, in Gebieten, die sowohl von der KRG als auch von der föderalen Regierung im Norden des Landes beansprucht werden (USDOS 12.4.2022). Diskriminierung von Minderheiten durch Regierungstruppen, insbesondere durch manche PMF-Gruppen, und andere Milizen, sowie das Vorgehen verbliebener aktiver IS-Kämpfer, hat ethnisch-konfessionelle Spannungen in den umstrittenen Gebieten weiter verschärft. Es kommt weiterhin zu Vertreibungen wegen vermeintlicher IS-Zugehörigkeit. Kurden und Turkmenen, sowie Christen und andere Minderheiten im Westen Ninewas und in der Ninewa-Ebene berichten über willkürliche und unrechtmäßige Verhaftungen durch die PMF (USDOS 20.3.2023).
Vertreter religiöser Minderheiten berichten, dass die föderale Regierung im Allgemeinen nicht in die religiösen Bräuche der Mitglieder von Minderheitengruppen eingreift und sogar für die Sicherheit von Gotteshäusern und anderen religiösen Stätten, einschließlich Kirchen, Moscheen, Schreinen, religiösen Pilgerstätten und Pilgerrouten, sorgt. Manche Minderheitenvertreter berichten jedoch über Schikanen und Restriktionen durch lokale Behörden (USDOS 15.5.2023). Sie berichten über gesellschaftliche Gewalt durch bewaffnete Gruppen, wie mit Iran verbündete Milizgruppen, im ganzen Land, außer der KRI. Angehörige nicht-muslimischer Minderheiten berichteten von Entführungen, Drohungen, Druck und Schikanen, damit sie sich an islamische Bräuche halten. Schiitische religiöse Führer und Regierungsmitglieder fordern dazu auf, solche Übergriffe zu unterlassen. Da Religion und ethnische Zugehörigkeit oft eng miteinander verknüpft sind, war es schwierig, viele Vorfälle als ausschließlich auf die religiöse Identität bezogen zu kategorisieren (USDOS 15.5.2023).
In der KRI erhalten Religionsgemeinschaften ihre Anerkennung durch die Registrierung beim Ministerium für Stiftungen und religiöse Angelegenheiten (MERA) der KRG. Um sich registrieren zu können, muss eine Gemeinschaft mindestens 150 Anhänger haben, Unterlagen über die Quellen ihrer finanziellen Unterstützung vorlegen und nachweisen, dass sie nicht „anti-islamisch“ ist. Acht Glaubensrichtungen sind anerkannt und bei der KRG-MERA registriert: Islam, Christentum, Jesidentum, Judentum, Mandäer-Sabäismus, Zoroastrismus, Yarsanismus und der Baha’i-Glaube (USDOS 15.5.2023).
Es gibt keine Gesetze, die eine Heirat zwischen Schiiten und Sunniten verbieten (DFAT 16.1.2023, S.18).
Konversion und Apostasie
Das Strafgesetzbuch kennt keine aus dem islamischen Recht übernommenen Straftatbestände, wie z. B. den Abfall vom Islam [Anm.: und damit z. B. die Konversion vom Islam zu anderen Religionen] (AA 28.10.2022, S.10; vgl. UNHCR 5.2019, S.81). Auch spezielle, in anderen islamischen Ländern existierende Straftatbestände, wie z. B. die Beleidigung des Propheten, existieren nicht (AA 28.10.2022, S.10). Das irakische Strafgesetzbuch verbietet jedoch die Beleidigung von religiösen Ritualen, Symbolen oder heiligen Personen und Gegenständen. Laut Artikel 372 können Personen, die sich dessen schuldig machen, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe von bis zu 300 IQD bestraft werden (EBL 18.6.2020). Die irakische Regierung weigerte sich außerdem, die Blasphemie- und Apostasiegesetze abzuschaffen (USCIRF 4.2021, S.2).
Das Zivilgesetz sieht einen einfachen Prozess für die Konversion eines Nicht-Muslims zum Islam vor. Die Konversion eines Muslims zu einer anderen Religion ist jedoch laut Personenstandsgesetz nicht möglich (USDOS 15.5.2023; vgl. DFAT 16.1.2023, S.18, UKHO 7.2021, S.45). Infolgedessen würde der Personalausweis eines Konvertiten seinen Inhaber weiterhin als "Muslim" ausweisen. Das Strafgesetz verbietet den Übertritt vom Islam zu anderen Religionen nicht (UKHO 7.2021, S.45).
Minderjährige Kinder von Personen, die zum Islam konvertieren, oder von denen ein Elternteil als Muslim eingetragen ist, werden von den Behörden automatisch auch als Muslime ausgewiesen (USDOS 15.5.2023; vgl. DFAT 16.1.2023, S.18, FH 2023). Dies gilt sogar dann, wenn das Kind das Ergebnis einer Vergewaltigung ist (USDOS 15.5.2023; vgl. DFAT 16.1.2023, S.18). Personen, die vom Islam zu einer anderen Religion übertreten, können ihre Religionszugehörigkeit nicht in ihrem Personalausweis ändern. Sie bleiben weiterhin als Muslime registriert (UNHCR 5.2019, S.81; vgl. USDOS 15.5.2023). Auch ihre Kinder werden daher weiterhin als Muslime registriert (DIS/Landinfo 9.11.2018, S.59). Muslimische Männer dürfen eine nicht-muslimische Frau heiraten, muslimische Frauen dürfen jedoch keine Nicht-Muslime heiraten (USDOS 15.5.2023; vgl. DFAT 16.1.2023, S.18, RIL 30.12.1959, S.6).
Über offene Konversionen vom Islam zum Christentum wird im Irak nur selten berichtet. Es wird berichtet, dass Konvertiten ihren Glaubenswechsel geheim halten, da Feindseligkeit gegenüber Konvertiten aus dem Islam in der irakischen Gesellschaft verbreitet ist. Familien und Stämme können Konversion eines ihrer Mitglieder als Beleidigung der kollektiven "Ehre" auffassen, was potenziell zur Ächtung und/oder Gewalt durch die Gemeinschaft, den Stamm oder die Familie des Einzelnen sowie durch bewaffnete islamistische Gruppen führt (UNHCR 5.2019, S.81).
Wenngleich die Konversion von Muslimen zu anderen Religionen in der Kurdistan Region Irak (KRI) verboten ist, wird dieses Gesetz nur selten durchgesetzt. Personen dürfen im Allgemeinen ohne Einmischung der KRG zu anderen Religionen übertreten (USDOS 20.3.2023). Es gibt keine gemeldeten Fälle von Personen, die in der KRI wegen eines Religionswechsels vor Gericht gestellt wurden (UKHO 7.2021, 46). Eine unbekannte Anzahl von Personen, die vom Islam zum Christentum konvertiert sind, praktizieren ihren Glauben im Geheimen (USDOS 2.6.2022). Personen, die vom Islam zu Christentum konvertieren, sind in der KRI in Gefahr, Opfer von (auch tödlicher) Gewalt zu werden (DIS/Landinfo 9.11.2018, S.59).
Einige muslimische geistliche Führer sehen die Baha'i als Apostaten vom Islam an (DFAT 16.1.2023, S.18).
Atheismus, Agnostizismus, Kritik an konfessioneller Politik
Die irakische Verfassung sieht die Freiheit des Glaubens und der Religionsausübung für alle Menschen vor und nennt dabei Muslime, Christen, Jesiden und Mandäer/Sabäer. Atheisten, so wie auch andere Religionsgemeinschaften werden dabei nicht ausdrücklich erwähnt (USDOS 15.5.2023). Atheismus ist im Irak nicht illegal (UNHCR 5.2019, S.82). Das irakische Strafgesetzbuch enthält keine Artikel, die eine direkte Bestrafung für Atheismus vorsehen (AlMon 1.4.2018).
Da Atheismus im Irak nicht offiziell anerkannt ist, und Atheisten in ihren Ausweispapieren eine Religionszugehörigkeit (zumeist Islam) eingetragen haben, können sie dieselben Rechte und öffentlichen Dienstleistungen in Anspruch nehmen wie andere Iraker (DFAT 16.1.2023, S.23).
Wenngleich Atheismus im Irak per se nicht strafbar ist, wurden Atheisten wegen Blasphemie und anderer Anschuldigungen verfolgt (EUAA 6.2022, S.115). Atheisten wurden Berichten zufolge wegen "Schändung von Religionen" und damit zusammenhängenden Anklagen verfolgt (UNHCR 5.2019, S.82; vgl. AlMon 1.4.2018). Im März 2018 wurden in Dhi-Qar Haftbefehle gegen vier Iraker aufgrund von Atheismus-Vorwürfen erlassen (AlMon 1.4.2018; vgl. EUAA 6.2022, S.115). Ende 2018 wurde ein Buchhändler in der südirakischen Stadt Nasiriyah verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen, Atheismus verbreiten zu wollen (AW 20.7.2019; vgl. NBC 5.4.2019). Einwohner von Nasiriyah stellten sich jedoch hinter den Buchhändler (AW 20.7.2019).
Atheisten im Irak sind eine wachsende Minderheit (AW 20.7.2019; vgl. UNHCR 5.2019, S.82, USCIRF 3.2022, S.2). Berichten zufolge gibt es auch eine kleine, wachsende Bewegung von Agnostikern (NBC 5.4.2019; vgl. USCIRF 3.2022, S.2). Es gibt zu ihnen keine exakten Zahlen, da diese Personen ihre Überzeugungen aufgrund von gesellschaftlichen, familiären und rechtlichen Risiken verbergen (USCIRF 3.2022, S.2). Insbesondere junge Menschen wenden sich zunehmend vom konservativen Islam ab. Dies war bereits nach 2003 und insbesondere während und nach dem Krieg gegen den Islamischen Staat (IS) zu beobachten. Manche wenden sich dem Atheismus zu, andere entscheiden sich für eine liberale Auslegung des Islam, wieder andere konvertieren. Abweichung wird auch durch eine abweichende religiöse Praxis, wie das Ablegen des Kopftuchs gezeigt (DFAT 16.1.2023, S.23; vgl. AlMon 11.9.2020).
Atheismus wird von konservativen Irakern abgelehnt. Der ehemalige Premierminister Nouri al-Maliki bezeichnete den Atheismus als "gefährliche Verschwörung", und 2017 forderte ein prominenter schiitischer Geistlicher, Ammar al-Hakim, dass Atheisten im Irak mit "eiserner Faust" bekämpft werden sollten. Personen, die sich öffentlich zu ihrem Atheismus bekennen, können mit Schikanen und Gewalt durch Familienmitglieder, religiöse Gruppen und Milizen konfrontiert werden. Atheisten sind auch in "Ehrenmorden" von Familienmitgliedern getötet worden (DFAT 16.1.2023, S.23).
Personen, die gegen die strenge Auslegungen der islamischen Regeln in Bezug auf Kleidung, soziales Verhalten und Berufe verstoßen, einschließlich Atheisten und säkular gesinnte Personen, Frauen und Angehörige religiöser Minderheitsgruppen, sind Berichten zufolge mit Entführungen, Schikanen und körperlichen Angriffen durch verschiedene extremistische bewaffnete Gruppen und Milizen konfrontiert (UNHCR 5.2019, S.79-80). Milizen sollen Mittel haben, um die Personen hinter Social Media-Einträgen ausfindig zu machen. Angeblich werden Atheisten ins Visier genommen (NBC 5.4.2019).
Viele Geistliche, die islamischen politischen Parteien nahe stehen, haben missverständliche Vorstellungen zu dem Thema und stellen Säkularismus mit Atheismus gleich (AlMon 1.4.2018). An den Wahlen von 2021 nahm auch eine Reihe eher säkularer Parteien teil (FH 2023).
In der Kurdistan Region Irak (KRI) wird Atheismus negativ gesehen, jedoch eher akzeptiert als Apostasie. Kritik an religiösen Führern ist weit verbreitet. Auch Kritik am Islam in den sozialen Medien, insbesondere auf Facebook, war bis vor Kurzem noch inakzeptabel, ist in der KRI aber jüngst zu einer Art Trend geworden. Obwohl die kurdische Regierung säkular ist, ist die Gesellschaft im Allgemeinen, insbesondere in Erbil, konservativ, und es wird allgemein erwartet, dass die Menschen die islamischen Normen respektieren (EUAA 6.2022, S.115-116).
Ein öffentliches Bekenntnis als Atheist kann Probleme nach sich ziehen. Berichten zufolge hat es Fälle von körperlicher Bedrohung, Belästigungen und in einigen Fällen von Familienausschlüssen gegeben. Atheisten, die aufgrund ihres Glaubens belästigt werden, meiden es eher, sich an die Polizei zu wenden. In jüngster Zeit sind keine Vorfälle von Strafverfolgung von Atheisten in der KRI bekannt geworden (EUAA 6.2022, S.115).
Ethnische und konfessionelle Minderheiten
Die wichtigsten ethno-konfessionellen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60-65 % der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17-22 %) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak und die vor allem im Norden des Landes lebenden, überwiegend sunnitischen Kurden (15-20 %) (AA 28.10.2022, S.6; vgl. ÖB Bagdad 20.11.2022, S.6). Andere ethno-konfessionelle Gruppen sind zwar in der Verfassung anerkannt, haben aber nur marginalen Einfluss (ÖB Bagdad 20.11.2022, S.6).
Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung konfessioneller oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Konfessionelle Minderheiten können im Alltag jedoch gesellschaftliche Diskriminierung erfahren. Übergriffe werden selten strafrechtlich geahndet (AA 28.10.2022, S10). Offiziell anerkannte Minderheiten, wie chaldäische und assyrische Christen sowie Jesiden, genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte, sind jedoch im täglichen Leben, insbesondere außerhalb der Kurdistan Region Irak (KRI), oft benachteiligt. Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden konfessionelle Minderheiten im föderalen Irak faktisch unter weitreichender Diskriminierung. Der irakische Staat, unter der Verwaltung von Bagdad, kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen (AA 28.10.2022, S.5). Mitglieder bestimmter ethnischer oder konfessioneller Gruppen erleiden in Gebieten, in denen sie eine Minderheit darstellen, häufig Diskriminierung oder Verfolgung, was viele dazu veranlasst, Sicherheit in anderen Stadtteilen oder Gouvernements zu suchen (FH 2023). Es gibt Berichte über rechtswidrige Verhaftungen, Erpressung und Entführung von Angehörigen von Minderheiten, wie Kurden, Turkmenen, Christen und anderen, durch Volksmobilisierungskräfte (PMF) in den umstrittenen Gebieten, insbesondere im westlichen Ninewa und in der Ninewa-Ebene (USDOS 20.3.2023).
Die Hauptsiedlungsgebiete der meisten konfessionellen Minderheiten liegen im Nordirak in den Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter Kontrolle des Islamischen Staates (IS) standen. Hier kam es zu gezielten Verfolgungen von Jesiden, Mandäer/Sabäern, Kaka‘i, Shabak und Christen. Aus dieser Zeit liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonversionen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor. Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit unterschiedlicher Milizen zum Teil erheblich erschwert (AA 28.10.2022, S.10).
In der KRI sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Hier haben viele Angehörige von Minderheiten Zuflucht gefunden (AA 28.10.2022, S.10). Es gibt jedoch Berichte über die Diskriminierung von Minderheiten (Turkmenen, Arabern, Jesiden, Shabak und Christen) durch KRI-Behörden in den sogenannten „umstrittenen Gebieten“ (USDOS 2.6.2022). Darüber hinaus empfinden dort Angehörige von Minderheiten seit Oktober 2017 erneute Unsicherheit aufgrund der Präsenz der irakischen Streitkräfte, der Peschmerga und vor allem der schiitischen Milizen und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) sowie infolge von Angriffen durch die türkischen Streitkräfte (AA 28.10.2022, S.5).
Im Zusammenhang mit der Rückeroberung von Gebieten aus IS-Hand wurden besonders in den zwischen der föderalen Regierung und der KRI „umstrittenen Gebieten“ (Gouvernement Kirkuk, sowie Teile von Ninewa, Salah Ad-Din und Diyala) Tendenzen zur gewaltsamen ethnisch-konfessionellen Homogenisierung festgestellt. Die Mission der Vereinten Nationen für den Irak (UNAMI) und Amnesty International haben dokumentiert, wie angestammte Bevölkerungsgruppen vertrieben bzw. Binnenvertriebene an der Rückkehr gehindert wurden. Dabei handelte es sich oft um die sunnitische Bevölkerung, die häufig unter dem Generalverdacht einer Zusammenarbeit mit dem IS steht, aber auch um Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen. Beschuldigt werden sowohl kurdische Peshmerga als auch PMF-Milizen und in geringerem Ausmaß auch Armee und Polizei (AA 28.10.2022, S.16).
Bewegungsfreiheit
Die irakische Verfassung und andere nationale Rechtsinstrumente erkennen das Recht aller Bürger auf Freizügigkeit, Reise- und Aufenthaltsfreiheit im ganzen Land an. Die Regierung respektiert das Recht auf Bewegungsfreiheit jedoch nicht konsequent. In einigen Fällen beschränken die Behörden die Bewegungsfreiheit von Binnenvertriebenen (IDPs) und verbieten Bewohnern von IDP-Lagern, ohne eine Genehmigung das Lager zu verlassen. Das Gesetz erlaubt es den Sicherheitskräften, als Reaktion auf Sicherheitsbedrohungen und Angriffe, die Bewegungsfreiheit im Land einzuschränken, Ausgangssperren zu verhängen, Gebiete abzuriegeln und zu durchsuchen (USDOS 20.3.2023).
In vielen Teilen des Landes, die von der Kontrolle durch den Islamischen Staat (IS) befreit wurden, kam es zu Bewegungseinschränkungen für Zivilisten, darunter sunnitische Araber sowie ethnische und religiöse Minderheiten, aufgrund von Kontrollpunkten von Sicherheitskräften (ISF, PMF, Peshmerga) (USDOS 20.3.2023). Checkpoints unterliegen oft undurchschaubaren Regeln verschiedenster Gruppierungen (NYT 2.4.2018). Der IS richtet falsche Checkpoints an Straßen zur Hauptstadt ein, um Zivilisten zu entführen bzw. Angriffe auf Sicherheitskräfte und Zivilisten zu verüben (AI 26.2.2019, S.3; vgl. Zeidel/al-Hashimi 6.2019 6.2019, S.36).
Der offizielle Wohnort wird durch die Aufenthaltskarte ausgewiesen. Bei einem Umzug muss eine neue Aufenthaltskarte beschafft werden, ebenso bei einer Rückkehr in die Heimatregion, sollte die ursprüngliche Bescheinigung fehlen (FIS 17.6.2019, S.9). Es gab zahlreiche Berichte, dass Sicherheitskräfte (ISF, Peshmerga, PMF) aus ethno-konfessionellen Gründen Bestimmungen, welche Aufenthaltsgenehmigungen vorschreiben, selektiv umgesetzt haben, um die Einreise von Personen in befreite Gebiete unter ihrer Kontrolle zu beschränken (USDOS 20.3.2023).
Angesichts der massiven Vertreibung von Menschen aufgrund der IS-Expansion und der anschließenden Militäroperationen gegen den IS zwischen 2014 und 2017 führten viele lokale Behörden strenge Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen ein, darunter unter anderem Bürgschaftsanforderungen und in einigen Gebieten nahezu vollständige Einreiseverbote für Personen, die aus ehemals vom IS kontrollierten oder konfliktbehafteten Gebieten geflohen waren, insbesondere sunnitische Araber (UNHCR 11.2022, S.4), einschließlich Personen, die aus einem Drittland in den Irak zurückkehren (UNHCR 11.2022, S.6). Nach der Rückeroberung der vom IS besetzten Gebiete und dem erklärten Sieg der irakischen Regierung über die Gruppe im Dezember 2017 wurden die Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen schrittweise aufgehoben oder gelockert (UNHCR 11.2022, S.4). [Anm.: Zu diversen Einreise- und Zuzugsbestimmungen, siehe die Kapitel „Einreise und Einwanderung in den föderalen Irak“ und „Einreise und Einwanderung in die Kurdistan Region Irak (KRI)“].
Der Rechtsrahmen zur Regelung der Zugangs- und Aufenthaltsbedingungen im Irak ist komplex und von Rechtspluralismus geprägt. Außerdem steht die bestehende Praxis nicht immer im Einklang mit dem normativen Rahmen und variiert je nach Ort und Durchführungsbehörde. Bürgschaftsanforderungen sind in der Regel weder gesetzlich verankert, noch werden sie offiziell bekannt gegeben (UNHCR 11.2022, S.2). Die Bewegungsfreiheit verbesserte sich etwas, nachdem die vom sog. IS kontrollierten Gebiete wieder unter staatliche Kontrolle gebracht wurden (FH 2023).
Nach dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie im März 2020 führten die Behörden auf nationaler und regionaler Ebene eine Reihe von Beschränkungen ein, darunter auch für die interne Bewegungsfreiheit. Die Vorgehensweise der lokalen Behörden bei der Durchsetzung dieser Beschränkungen war in den einzelnen Gouvernements unterschiedlich. Die meisten Beschränkungen wurden ab August 2020 wieder aufgehoben (UNHCR 11.1.2021, S.4). Je nach Profil und Herkunftsort der Person, der Verfügbarkeit von Dokumenten und den Verbindungen im Umsiedlungsgebiet stellen die Zugangs- und Aufenthaltsanforderungen jedoch weiterhin Hindernisse für die Fähigkeit der Personen dar, umzuziehen und sich dauerhaft in einem Gebiet niederzulassen, auch was den Zugang zu Rechten und grundlegenden Dienstleistungen betrifft (UNHCR 11.2022, S.4).
Für die Ausreise aus dem Irak sind gültige Dokumente (in der Regel ein Reisepass) und eine entsprechende Genehmigung (z.B. ein Visum) für die Einreise in das beabsichtigte Zielland erforderlich. Die irreguläre Ausreise aus dem Irak (einschließlich der Verwendung gefälschter Dokumente) ist rechtswidrig (DFAT 16.1.2023, S.41). Bei der Ausreise findet eine Kontrolle der eigenen Staatsangehörigen statt, wobei Fälschungen nur selten erkannt werden. Es besteht für irakische Grenzbeamte bisher keine Möglichkeit, auf eine zentrale Datenbank für ausgestellte Reisepässe zurückzugreifen, sie können allenfalls das Vorstrafenregister einsehen. In Zweifelsfällen können sie jedoch das sogenannte „Operation Center“ einschalten, das Zugriff auf die zentrale Datenbank hat (AA 28.10.2022, S.26). Personen, die bei der illegalen Ausreise erwischt werden, können inhaftiert und angeklagt werden. Zu den Strafen gehören Geldstrafen zwischen rund 146.000 und 7.295.000 IQD und bis zu drei Jahren Haft (DFAT 16.1.2023, S.41).
Iraker mit gültigem Reisepass genießen Reisefreiheit und können die Landesgrenzen problemlos passieren (AA 28.10.2022, S.26). Die Regierung verlangt jedoch von Bürgern unter 18 Jahren, die das Land verlassen wollen, eine Ausreisegenehmigung. Diese Vorschrift wird jedoch nicht konsequent durchgesetzt (USDOS 20.3.2023). Eine Einreise in den Irak ist mit einem gültigen und von der irakischen Regierung anerkannten irakischen nationalen Reisepass möglich. Die irakische Botschaft stellt zudem Passersatzpapiere an irakische Staatsangehörige zur einmaligen Einreise in den Irak aus (AA 28.10.2022, S.24).
Der Irak hat sechs internationale Flughäfen: Bagdad, Basra, Kirkuk, Najaf, Erbil und Sulaymaniyah (DFAT 16.1.2023, S.40; vgl. IINA 23.11.2022). Der internationale Flughafen Kirkuk wurde erst im Oktober 2022 eröffnet (Shafaq 16.10.2022; vgl. IINA 23.11.2022). Der internationale Flughafen von Mossul ist seit 2014 geschlossen, nachdem der IS die Stadt im Juni 2014 eingenommen hatte. Der Flughafen ist beschädigt und muss noch renoviert werden (Kirkuk Now 4.2.2020). Die meisten Ein- und Ausreisen erfolgen über diese sechs Flughäfen (DFAT 16.1.2023, S.40).
Der Irak verfügt über offizielle Landverbindungen mit Syrien, Jordanien, Saudi-Arabien, Kuwait, der Türkei und Iran. Es gibt aber auch inoffizielle Grenzübergänge, insbesondere zwischen dem Irak und Iran sowie dem Irak und Syrien. Die internationalen Grenzen der KRI sind äußerst durchlässig, und ein großer Prozentsatz der Ein- und Ausreisen erfolgt über irreguläre Kontrollpunkte (DFAT 16.1.2023, S.40).
Der Irak verfügt über ein Straßennetz von etwa 45.000 km Länge. Etwa 80 % der Straßen sind asphaltiert. Allerdings ist es schwierig, den Zustand der Straßen zu ermitteln. Explosionen und der Verkehr großer Mengen gepanzerter Fahrzeuge kann diese in Mitleidenschaft gezogen haben (DAbr o.D.).
Die wichtigste Straße im Irak ist die Autobahn (Freeway) 1, die von Basra über Nasiriyah, Ad Diwaniyah, Al Hillah, Bagdad, Fallujah, Habbaniyah, Ramadi nach Ar Rutba in Anbar und weiter nach Syrien und Jordanien führt. Andere wichtige Straßen sind:
Fernstraße 1: von Bagdad über Taji, Samarra, Tikrit und Mossul nach Syrien
Fernstraße 2: von Bagdad über Baqubah, Al Khalis, Kirkuk, Erbil, Mossul, Dohuk und Zakhu in die Türkei
Fernstraße 3: von Bagdad über Baqubah und Erbil in den Iran
Fernstraße 4: von Kirkuk über Sulaymaniyah, Darbinadikhan und Jalaulah nach As Sa’Diyah
Fernstraße 5: von Baqubah über Muqdadiyah, As Sa’Diyah und Khanaqin in den Iran
Fernstraße 6: von Bagdad über Al Kut und Al Amarah nach Basra
Fernstraße 7: von Al Kut über Ash Shatrah nach Nasiriyah.
Fernstraße 8: von Bagdad über Al Hillah, Al-Qadisiyyah, As Samawah, Nasiriyah und Basra nach Kuwait.
Fernstraße 9: von Karbala über Al-Najaf nach Al-Qadisiyyah.
Fernstraße 10: von Ar Rutbah nach Jordanien.
Fernstraße 11: von Bagdad über Al Fallujah, Ar Ramadi und Ar Rutbah nach Syrien.
Fernstraße 12: von Ar Ramadi über Hit, Haditha und Al-Karābilah nach Syrien (DAbr o.D.).
Die Sicherheitslage auf allen Strecken ist unvorhersehbar und kann sich schnell ändern. In den von den Sicherheitskräften kontrollierten Gebieten gibt es zahlreiche Kontrollpunkte. Die Fahrt auf vielen Straßen zwischen den Städten erfordert eine strenge Sicherheitsüberprüfung. In den umstrittenen Gebieten, in denen die Sicherheit nicht gewährleistet ist, dürfen nur Fahrzeuge aus dem jeweiligen Gouvernement die Straßen befahren. Autos mit Nummernschildern aus einem anderen Gouvernement benötigen eine Sicherheitsgenehmigung (DAbr o.D.).
In der Kurdistan Region Irak (KRI) ist die Situation im Allgemeinen besser als im Rest des Landes. Im Norden der KRI gab es jedoch auch terroristische Zwischenfälle und Luftangriffe (DAbr o.D.). Die meisten Straßen in der KRI wurden nicht nach modernen Betriebs- und Sicherheitsstandards gebaut und befinden sich aufgrund unzureichender Sicherheitsmaßnahmen häufig in einem schlechten Zustand. Seit Anfang 2014 hat sich die Wirtschaftskrise in der Region auch negativ auf die Straßen ausgewirkt. Die Kurdische Regionalregierung (KRG) stoppte fast alle Straßenbau- und Instandhaltungsprojekte. Infolgedessen ist die Zahl der Unfälle gestiegen (Mohammed/Jaff/Schrock 9.2019).
Einreise und Einwanderung in den föderalen Irak
Die Regierung in Bagdad verlangt von Minderjährigen, die das Land verlassen, eine Ausreisegenehmigung. Diese Vorschrift wird jedoch nicht konsequent durchgesetzt (USDOS 20.3.2023). Eine Einreise in den Irak ist mit einem gültigen und von der irakischen Regierung anerkannten irakischen Reisepass möglich. Die irakische Botschaft stellt zudem Passersatzpapiere an irakische Staatsangehörige zur einmaligen Einreise in den Irak aus. Iraker mit gültigem Reisepass genießen Reisefreiheit und können die Landesgrenzen problemlos passieren (AA 28.10.2022, S.24, 26).
Sicherheitskontrollen an den Eingangskontrollstellen der Gouvernements, Distrikte und Städte bleiben bestehen. Damit eine Person Kontrollpunkte passieren und in ein Gebiet einreisen kann, muss sie im Besitz eines gültigen Ausweises (Civil Status ID Card (CSID), Unified ID Card (UNID), Staatsangehörigkeitsausweis oder Reisepass) sein (UNHCR 11.2022, S.4).
Es gibt keine Bürgschaftsanforderungen für die (zeitlich befristete) Einreise in die Gouvernements Anbar, Babil, Bagdad, Basra, Dhi-Qar (mit Ausnahmen), Diyala (mit Ausnahmen), Kerbala, Kirkuk, Missan, Muthanna, Najaf, Ninewa (mit Ausnahmen), Qadisiyah und Wassit (UNHCR
11.2022, S.4).
Die genannten Ausnahmen umfassen im Gouvernement Dhi-Qar Nasiriyah Stadt, im Gouvernement Diyala die Dörfer im Norden des Distrikts al-Muqdadiyah, den Subdistrikt Saadiyah im Distrikt Khanaqin sowie die Dörfer im Norden des Subdistrikts al-Udhim im Distrikt al-Khalis - hier wurde beobachtet, dass Personen aus anderen Teilen des Irak, die in diese Gebiete einreisen wollten, sowie ihre Sponsoren aufgefordert wurden, ihre Personalausweise an den Einreisekontrollpunkten abzugeben und sie bei der Ausreise wieder abzuholen - und im GouvernementNinewa die Gebiete mit gemischt ethno-konfessioneller Zusammensetzung, einschließlich der Distrikte Tal ’Afar, Hamdaniyah und Sinjar, wo nur Personen als Bürge auftreten können, die eine in dem betreffenden Gebiet ausgestellte Wohnkarte besitzen und dort leben(UNHCR 11.2022, S.4). Lokale Gruppen der Volksmobilisierungseinheiten (PMF) verhinderten in gewissen Gebieten die Rückkehr von Binnenvertriebenen (USDOS 20.3.2023), beispielsweise in das Gebiet von Baiji in Salah ad-Din oder von Christen in mehrere Städte in der Ninewa-Ebene, darunter Bartalla und Qaraqosh (USDOS 12.4.2022).
Es gibt für Personen, die sich in einem Gouvernement niederlassen wollen, aus dem sie nicht stammen (einschließlich Personen, die aus einem Drittland in den Irak zurückgekehrt sind), unterschiedliche Aufenthaltsbestimmungen:
Für eine Niederlassung im Gouvernement Bagdad benötigen Personen, die nicht aus Bagdad stammen, in der Regel zwei Bürgen und ein Unterstützungsschreiben der zuständigen Verwaltungseinheit (Mukhtar, Gemeinderat oder Bürgermeister) sowie eine Sicherheitsfreigabe der zuständigen Sicherheitsakteure. Für die Ausstellung des Unterstützungsschreibens wird eine geringe Gebühr erhoben, die je nach Mukhtar zwischen 2.000 und 5.000 irakischen Dinar liegt. Das Unterstützungsschreiben hat keine bestimmte Gültigkeitsdauer und muss nicht erneuert werden (UNHCR 11.2022, S.10).
Grundversorgung und Wirtschaft
Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten (AA 28.10.2022, S.22). Einige Städte und Siedlungen sind weitgehend zerstört (AA 25.10.2021, S.24). Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt (AA 28.10.2022, S.22).
Der Zugang zu vielen Rechten und grundlegenden Dienstleistungen ist mit der Registrierung des Wohnorts und der ausgestellten Wohnkarte verknüpft. Dazu gehören unter anderem der Erhalt bzw. die Erneuerung von Ausweispapieren, der Abschluss formeller Mietverträge, der Erwerb von Eigentum, der Zugang zu Beschäftigung und der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und Lebensmittelrationen über das Public Distribution System (PDS) (UNHCR 11.2022, S.6-7).
Haushaltsvorstände, die bereits eine Wohnungskarte auf ihren Namen für einen beliebigen Ort im Irak besitzen und ihren Wohnort wechseln möchten, müssen ihre Wohnungskarte auf den neuen Wohnort übertragen. Haushaltsvorstände, die keine Wohnungskarte auf ihren Namen haben, weil sie z.B. noch in den Unterlagen ihrer Familie aufgeführt sind, müssen eine neue Wohnungskarte für den Ort beantragen, an dem sie sich niederlassen möchten. Für beide Verfahren (Übertragung oder Ausstellung der Wohnungskarte) muss der Haushaltsvorstand eine Reihe von administrativen und dokumentarischen Anforderungen erfüllen. Diese sind in den Anweisungen des Innenministeriums zur Wohnungskarte (2018) dargelegt. In der Praxis kann die Umsetzung dieser Anweisungen variieren (UNHCR 11.2022, S.7). In manchen Fällen ist zwar eine Übertragung der Wohnkarte möglich, aber der Zugang zum PDS bleibt am Herkunftsort bestehen [siehe: Einreise und Einwanderung in die Kurdistan Region Irak (KRI)].
Nach Angaben der Weltbank (2018) leben 70 % der Iraker in Städten. Die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung ist prekär, ohne ausreichenden Zugang zu grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen. Die über Jahrzehnte durch internationale Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig (AA 28.10.2022, S.22).
Wirtschaftslage
Der Irak ist eines der am stärksten vom Öl abhängigen Länder der Welt. In den letzten zehn Jahren machten die Öleinnahmen mehr als 99 % der Ausfuhren, 85 % des Staatshaushalts (WB 1.6.2022; vgl. DFAT 16.1.2023, S.8) und 42 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus. Diese übermäßige Abhängigkeit vom Öl setzt das Land makro-ökonomischer Volatilität aus (WB 1.6.2022). Der Ölsektor erwirtschaftet rund 90 % der Staatseinnahmen. Abseits des Ölsektors besitzt der Irak kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat (AA 28.10.2022, S.22).
Im Jahr 2020 sinkende Ölpreise und die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie haben sich negativ auf die Wirtschaftsentwicklung niedergeschlagen, die wirtschaftlichen Probleme des Iraks verstärkt und zwei Jahre der stetigen Erholung zunichtegemacht (WB 5.4.2021; vgl. DFAT 16.1.2023, S.8). Inzwischen hat sich die irakische Wirtschaft, gestützt auf den Öl-Sektor, von der durch die COVID-19-Pandemie bedingten Rezession des Jahres 2020 erholt. Die übrigen Sektoren stagnieren jedoch nach wie vor. Reformen sind notwendig, um das Wachstum auch im Privatsektor anzukurbeln (WB 31.7.2023). Steigende Ölpreise im Jahr 2022 ließen die Öleinnahmen auf den höchsten Stand seit 50 Jahren steigen (DFAT 16.1.2023, S.8). Die Trendwende auf den Ölmärkten hat die mittelfristigen Wirtschaftsaussichten des Iraks verbessert (WB 1.6.2022). So ist das BIP des Jahres 2022 auf 7,0 % gestiegen, im ersten Quartal 2023 jedoch auf 2,6 % im Jahresvergleich gesunken (WB 31.7.2023).
Der kürzlich verabschiedete irakische Haushalt 2023-2025 signalisiert einen deutlich expansiven fiskalischen Kurs, der zu einer raschen Erschöpfung der Ölreserven und erneutem fiskalischen Druck führen könnte. Außerdem werden langjährige Strukturreformen, die für die Entwicklung einer dynamischen und nachhaltigen Wirtschaft erforderlich sind, aufgeschoben (WB 31.7.2023).
Etwa 18 % der Arbeitskräfte sind in der Landwirtschaft tätig (DFAT 16.1.2023, S.8). Ein wichtiger Faktor für die Landwirtschaft, vor allem im Süden des Iraks, sind die Umweltzerstörung und der Klimawandel (Altai 14.6.2021). Die geringe Niederschlagsmenge hat zu weitreichenden Problemen bei der Lebensmittel- und Wassersicherheit geführt. Die Produktion von wichtigen Feldfrüchten wie Weizen und Gerste ging bis 2021 um 70 bis 90 % zurück (DFAT 16.1.2023, S.8). Die abnehmenden Niederschlagsmengen, höheren Temperaturen sowie flussaufwärts gelegene Staudämme in der Türkei und in Iran haben den Wasserfluss im Euphrat- und Tigris-Becken verringert, in dem die Gouvernements Basra, Dhi Qar und Missan liegen. Die Verringerung des Wasserflusses hat Auswirkungen auf den Zugang zu Wasser, der für den Anbau von Pflanzen entscheidend ist (Altai 14.6.2021).
Die Arbeitslosigkeit im Irak ist hoch, und die Erwerbsbeteiligung gehört zu den niedrigsten der Welt (DFAT 16.1.2023, S.8). Die Arbeitslosenquote stieg von 12,76 % im Jahr 2019 auf 13,74 % im Jahr 2020 (TE 2021). Im Januar 2021 lag die Arbeitslosenquote im Irak kurzfristig um mehr als 10 % über dem Niveau von 12,7 % vor der COVID-19-Pandemie (WB 1.6.2022). Für das Jahr 2021 wird die Arbeitslosenquote auf 16,5 % geschätzt (ILO 5.7.2022; vgl. ILO/CSO/KRSO 2022, S.11). Dabei ist die Arbeitslosenquote in städtischen Gebieten mit 17,6 % höher als in ländlichen Gebieten mit 13,3 % (ILO 5.7.2022; vgl. ILO/CSO/KRSO 2022, S.12).
Frauen und junge Menschen sind besonders häufig arbeitslos (DFAT 16.1.2023, S.8). Die Arbeitslosenquote der Frauen ist mit 28,2 % (ILO 5.7.2022; vgl. ILO/CSO/KRSO 2022, S.12) bzw. 29,7 % (DFAT 17.8.2020, S.13) etwa doppelt so hoch wie die der Männer (14,7 %), und die Jugendarbeitslosenquote (35,8 %) ist mehr als dreimal so hoch wie die Arbeitslosenquote der Erwachsenen (11,2 %) (ILO 5.7.2022; vgl. ILO/CSO/KRSO 2022, S.12).
Die Arbeitslosigkeit unter Vertriebenen, Rückkehrern, arbeitssuchenden Frauen, Selbstständigen aus der Zeit vor der Pandemie und informell Beschäftigten ist weiterhin hoch (WB 1.6.2022). Besonders hoch ist die Arbeitslosigkeit bei IDPs, die in Lagern leben. 29 % der betroffenen Haushalte gaben an, dass mindestens ein Mitglied arbeitslos ist und aktiv nach Arbeit sucht. Bei IDPs, die außerhalb von Lagern leben, sind es 22 %, und 18 % bei Rückkehrern (UNOCHA 2.2021, S.28).
Die Arbeitsmarktbeteiligung im Irak war mit 48,7 % im Jahr 2019 bereits vor der Ausbreitung des COVID-19-Virus eine der niedrigsten der Welt (IOM 18.6.2021, S.5; vgl. ILO 2021). Der wirtschaftliche Abschwung im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie hat die Beschäftigungsmöglichkeiten deutlich reduziert und die Löhne gesenkt (IOM 18.6.2021, S.5).
Einer Umfrage von 2021 zufolge liegt die Erwerbsquote der Personen, die auf dem Arbeitsmarkt aktiv sind, also entweder beschäftigt oder arbeitslos [Anm.: und arbeitssuchend], im Jahr 2021 bei 39,5 % (ILO 5.7.2022). Die Erwerbsquote ist in städtischen Gebieten (40,3 %) höher als in ländlichen Gebieten (37,3 %) (ILO 5.7.2022; vgl. ILO/CSO/KRSO 2022, S.12). Etwa 30,2% der Gesamtbevölkerung im erwerbsfähigen Alter, größtenteils Frauen, sind nicht erwerbstätig (ILO 5.7.2022). So sind nur etwa 10,6 % der Frauen erwerbstätig, während die Erwerbsquote bei Männern 68 % beträgt (ILO 5.7.2022; vgl.ILO/CSO/KRSO 2022, S.11). Anderen Quellen zufolge liegt die Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen bei rund 13% (DFAT 16.1.2023, S.8). Die Erwerbsquote von Jungen (Alter 15-24) liegt bei 26,5%, während die von Erwachsenen (Alter 25+) 45,8% beträgt (ILO 5.7.2022; vgl. ILO/CSO/KRSO 2022, S.11).
Einer von der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen Umfrage von 2021 in Bagdad, Basra und Mossul zufolge sind etwa 34 % der Stadtbewohner ständig erwerbstätig, 38 % nur gelegentlich und 25 % sind arbeitslos. 12 % der Männer und 40 % der Frauen geben an, arbeitslos zu sein. Die Arbeitslosigkeit betrifft vor allem die 16- bis 18-Jährigen (48 %). 27 % der Einwohner im Alter von 19 bis 25 Jahren und 17 % im Alter von 26 bis 35 Jahren haben keine Arbeit. Während 30 % der Araber arbeitslos sind, sind es nur 10 % der Kurden. Was die Religionszugehörigkeit betrifft, so sind 19 % der Christen, 25 % der schiitischen und 30 % der sunnitischen Muslime arbeitslos. Während 75 % der kontinuierlich Beschäftigten mehr als 700.000 IQD [Anm.: 100.000 IQD entsprechen etwa 71 EUR, Stand August 2023] verdienen, verdienen 62 % der Befragten, die nur gelegentlich arbeiten, weniger als 700.000 IQD (STDOK/IRFAD 2021, S.24-26).
26 % der beschäftigten Befragten arbeiten Vollzeit, 30 % Teilzeit, 10 % haben mehrere Teilzeitstellen, 15 % sind Tagelöhner und 12 % Saisonarbeiter. Interessanterweise ist das Geschlechtergefälle bei der Vollzeitbeschäftigung (24 % der Frauen und 28 % der Männer) viel geringer als bei der Teilzeitbeschäftigung (35 % der Männer und 23 % der Frauen). Von den Kurden geben 29 % an, eine Vollzeitbeschäftigung zu haben, 43 % gehen einer Saison- oder Tagelohnarbeit nach. 22 % der Araber haben eine Vollzeitstelle und 45 % eine oder mehrere Teilzeitstellen. Was die Religionsgemeinschaften betrifft, so haben 20 % der sunnitischen Muslime eine Vollzeitstelle, während 50 % eine oder mehrere Teilzeitstellen haben. Von den schiitischen Muslimen geben 29 % an, eine Vollzeitbeschäftigung zu haben, und 20 % sind als Tagelöhner tätig. 33 % der Christen haben eine Vollzeitbeschäftigung, aber auch 20 % gehen einer Tagelöhnertätigkeit nach. 51 % derjenigen, die eine Teilzeitbeschäftigung oder Tagelohnarbeit ausüben, verdienen weniger als 700.000 IQD, während 57 % derjenigen, die Vollzeit arbeiten, mehr als 700.000 IQD verdienen (STDOK/IRFAD 2021, S.27-29).
Die Armutsrate ist infolge der Wirtschaftskrise bis Juli 2020 auf ca. 30 % angestiegen (AA 25.10.2021, S.12; vgl. ILO 2021). Anfang 2021 lag sie bei 22,5 % (WB 5.4.2021) und 2022 bei etwa 19 % (DFAT 16.1.2023, S.8). Dabei ist die Armutsrate in ländlichen Gebieten deutlich höher als in städtischen (ILO 2021). Internationale Beobachter rechnen damit, dass die COVID-19-Pandemie und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine eine Steigerung der Armutsrate mit sich brachten (AA 28.10.2022, S.22). Aufgrund der COVID-19-Pandemie hatte die irakische Regierung Schwierigkeiten, die Gehälter der sechs Millionen Staatsbediensteten zu zahlen, und Millionen von Menschen, die im privaten und informellen Sektor arbeiten, haben ihre Beschäftigung und ihre Lebensgrundlage verloren. Nach Schätzungen von UNICEF und der Weltbankgruppe fielen im Jahr 2020 rund 4,5 Millionen Iraker unter die Armutsgrenze von 1,90 US-Dollar pro Tag (IOM 18.6.2021, S.5). Einhergehend mit dem neuerlichen Ansteigen der Ölpreise wird auch eine Reduktion der Armutsrate um 7 bis 14 % erwartet (WB 5.4.2021).
Die Löhne liegen zwischen 200 und 2.500 USD [163,8 und 2.047,45 EUR] [Anm.: 100 USD entsprechen rund 131.000 IQD, bzw. 94 EUR], je nach Qualifikation und Ausbildung. Für ungelernte Arbeitskräfte liegt das Lohnniveau etwa zwischen 200 und 400 USD [163,8 und 327,59 EUR] pro Monat (IOM 18.6.2021, S.6). Der oben zitierten Befragung zufolge verdienen 56 % der Befragten weniger als 600.000 IQD [360 EUR] und nur 5 % zwischen 1.000.000 und 3.000.000 IQD [600 bis 1.800 EUR]. In der Einkommensgruppe unter IQD 600.000 sind 58 % Frauen und 55 % Männer, in der Gruppe mit einem Einkommen zwischen 1.000.000 und 3.000.000 IQD sind 7 % Männer und nur 2 % Frauen. Die regionalen Daten zeigen, dass in Bagdad 54 % weniger als 600.000 IQD verdienen und nur 1,5 % zwischen 1.000.000 und 3.000.000 IQD. In Basra haben 61 % ein Einkommen unter 600.000 IQD und 9 % verdienen zwischen 1.000.000 und 3.000.000 IQD. In Mossul verdienen 56 % weniger als 600.000 IQD, während 10 % zwischen 1.000.000 und 3.000.000 IQD liegen. 55 % der arabischen Befragten verdienen weniger als 600.000 IQD, während 5 % zwischen 1.000.000 und 3.000.000 IQD verdienen. Von den kurdischen Befragten verdienen 54 % unter 600.000 IQD und 3 % zwischen 1.000.000 und 3.000.000 IQD. Nach Religionszugehörigkeit verdienen 61 % der Christen, 50 % der schiitischen Muslime und 59 % der sunnitischen Muslime weniger als 600.000 IQD (STDOK/IRFAD 2021, S.29-30).
Nahrungsmittelversorgung
Der Irak ist in hohem Maße von Nahrungsmittelimporten (schätzungsweise 50 % des Nahrungsmittelbedarfs) abhängig (FAO 30.6.2020, S.9). Grundnahrungsmittel sind in allen Gouvernements verfügbar (IOM 18.6.2021, S.9).
Aufgrund von Panikkäufen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie kam es in den letzten beiden Märzwochen 2020 zu einem vorübergehenden Preisanstieg für Lebensmittel. Strenge Preiskontrollmaßnahmen der Regierung führten ab April 2020 zuerst zu einer Stabilisierung der Preise und ab Mai 2020 wieder zu einer Normalisierung (FAO 30.6.2020, S.17). Die lokalen Märkte haben sich in allen Gouvernements als widerstandsfähig angesichts der Pandemie bewährt (UNOCHA 2.2021, S.30).
Vor der COVID-19-Krise war eines von fünf Kindern unter fünf Jahren unterernährt. 3,3 Millionen Kinder sind laut UNICEF immer noch auf humanitäre Unterstützung angewiesen (AA25.10.2021, S.12). Im Jahr 2022 sind laut UNICEF 1,1 Mio. Kinder im Irak auf humanitäre Unterstützung angewiesen, ein deutlicher Rückgang im Vergleich zum Vorjahr (AA 28.10.2022, S.11). Etwa 4,1 Millionen Iraker benötigen humanitäre Hilfe (FAO 11.6.2021, S.2).
Alle Iraker, die als Familie registriert sind und über ein monatliches Einkommen von höchstens 1.000.000 IQD [Anm.: 100.000 IQD entsprechen etwa 71 EUR, Stand August 2023] verfügen, haben Anspruch auf Zugang zum Public Distribution System (PDS) (IOM 18.6.2021, S.9; vgl. USDOS 20.3.2023). Das PDS ist ein universelles Lebensmittelsubventionsprogramm der Regierung, das als Sozialschutzprogramm kostenlose Lebensmittel subventioniert oder verteilt (WB 2.2020). Formal erfordert die Registrierung für das PDS die irakische Staatsbürgerschaft sowie die Anerkennung als „Familie“, die durch einen rechtsgültigen Ehevertrag oder eine Verwandtschaft ersten Grades (Eltern, Kinder) erreicht wird. Alleinstehende Rückkehrer können sich bei ihren Verwandten ersten Grades registrieren lassen, z.B. bei ihrer Mutter oder ihrem Vater. Sollten alleinstehende Rückkehrer keine Familienangehörigen haben, bei denen sie sich anmelden können, erhalten sie keine PDS-Unterstützung (IOM 18.6.2021, S.9-10). Die angeschlagene finanzielle Lage des Irak wirkt sich auch auf das PDS aus (WB 5.4.2021). In den vorangegangenen Jahren hat die Regierung nur Mehl verteilt, aber keine anderen Waren wie Speiseöl oder Zucker. Ein Vorschlag der Regierung, die PDS-Nahrungsmittelverteilung durch Bargeldzahlungen (IQD 17.000, ca. 12 $ pro Person) zu ersetzen, wurde angesichts der anhaltenden Sicherheits- und wirtschaftlichen Instabilitäten noch nicht umgesetzt (BS 23.2.2022, S.26). Der Anteil der Haushalte, der im Rahmen des PDS-Systems Überweisungen erhalten hat, ist um etwa 8 % gesunken. Der Verlust von Haushaltseinkommen und Sozialhilfe hat die Anfälligkeit für Ernährungsunsicherheit erhöht (WB 5.4.2021). Das Programm wird von den Behörden jedoch nur sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den wiedereroberten Gebieten. Die Behörden verteilen nicht jeden Monat alle Waren, und nicht in jedem Gouvernement haben alle Binnenvertriebenen (IDPs) Zugang zum PDS. Es wird berichtet, dass IDPs den Zugang zum PDS verloren haben, aufgrund der Voraussetzung, dass Bürger nur an ihrem registrierten Wohnort PDS-Rationen und andere Dienstleistungen beantragen können (USDOS 20.3.2023).
62 % der Befragten sind einer Umfrage von 2021 zufolge in der Lage oder schaffen es gerade noch, sich und ihre Familie ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. 34 % schaffen dies kaum oder gar nicht. 55 % der Frauen geben an, dass sie in der Lage, oder gerade noch in der Lage sind, sich mit Lebensmitteln zu versorgen, im Gegensatz zu 70 % der Männer. Die regionalen Antwortmuster zeigen, dass in Bagdad 59 % in der Lage oder gerade noch in der Lage sind, für Nahrungsmittel zu sorgen, ebenso wie 63 % in Basra und 69 % in Mossul. Insbesondere die 16- bis 18-Jährigen (56 %) geben an, nicht oder kaum in der Lage zu sein, sich selbst mit Lebensmitteln zu versorgen. Die ethnische Zugehörigkeit zeigt, dass 62 % der Araber und 58 % der Kurden nicht oder kaum in der Lage sind, sich selbst oder ihre Familien zu versorgen. Die Religionszugehörigkeit zeigt, dass 63 % der Christen, 62 % der schiitischen Muslime und 66 % der sunnitischen Muslime in der Lage, oder gerade noch in der Lage sind, sich ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. Sogar 73 % derjenigen, die weniger als 700.000 IQD verdienen, sind in der Lage, sich selbst zu versorgen, oder schaffen es gerade noch (STDOK/IRFAD 2021, S.31-33).
54 % der Befragten sind in der Lage oder schaffen es gerade noch, sich mit grundlegenden Konsumgütern zu versorgen, wie z.B. Kleidung, Schuhe oder einem Mobiltelefon, während 42 % dies nicht tun. Während 61 % der Männer angeben, dass sie in der Lage sind, sich und ihre Familie zu versorgen, gelingt dies 49 % der Frauen kaum oder gar nicht. Regional ergibt sich ein unterschiedliches Bild: In Bagdad sind 53 % in der Lage, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, ebenso wie 60 % in Mossul, während 49 % in Basra kaum oder gar nicht dazu in der Lage sind (in Basra schaffen es 32 % überhaupt nicht). Vor allem Jugendliche (71 %) im Alter von 16 bis 18 Jahren geben an, dass sie nicht in der Lage sind, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, während die 19- bis 25-Jährigen (56 %) und die Gruppe der 26- bis 35-Jährigen (63 %) es schaffen bzw. gerade noch dazu in der Lage sind. 51 % der Araber geben an, dass sie in der Lage sind, sich mit grundlegenden Konsumgütern zu versorgen, oder es gerade so schaffen, ebenso wie 53 % der Kurden. Was die religiösen Gruppen betrifft, so geben 58 % der Christen, 53 % der schiitischen Muslime und 57 % der sunnitischen Muslime an, dass sie in der Lage sind, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, oder es gerade noch schaffen. Von denjenigen, die weniger als 700.000 IQD verdienen, sind 57 % in der Lage, sich mit grundlegenden Konsumgütern zu versorgen, bzw. gerade noch (STDOK/IRFAD 2021, S.33-35).
Aufgrund der Dürre kam es 2021 zu Ernteausfällen im Gouvernement Ninewa, sodass das Landwirtschaftsministerium (MoA) im April 2021 den Transport von Weizen und Gerste zwischen der KRI und dem Rest des Landes einschränkte, mit Ausnahme des Transfers in die Lagerhäuser des MoA, um Spekulanten und Schmuggler einzudämmen (FAO 11.6.2021).
Wasserversorgung
Weite Teile des Landes sind von einer Wasserknappheit betroffen (AA28.10.2022, S.23) und von Wüstenbildung bedroht (AlMon 13.4.2023). Die Hauptwasserquellen des Irak sind die beiden Flüsse Euphrat und Tigris (AGSIW 27.8.2021; vgl. IOM 17.11.2022), die 98 % des Oberflächenwassers des Landes liefern (AGSIW 27.8.2021). Etwa 70 % des irakischen Wassers haben ihren Ursprung in Gebieten außerhalb des Landes (GRI 24.11.2019; vgl. IPS 26.7.2023). Beide Flüsse entspringen in der Türkei, während der Euphrat durch Syrien fließt und einige Nebenflüsse durch Iran fließen (AGSIW 27.8.2021; vgl. IPS 26.7.2023). Der Wasserfluss aus diesen Ländern wurde durch Staudammprojekte stark, um etwa 80 %, reduziert (GRI 24.11.2019; vgl. AGSIW 27.8.2021), er geht aber auch aufgrund einer lang anhaltenden Dürre zurück (IOM 17.11.2022). Anstatt von etwa 1.350 Kubikmetern pro Sekunde zu Beginn des 20. Jahrhunderts beträgt der Wasserdurchfluss 2023 nur noch etwa 149 Kubikmeter pro Sekunde (IPS 26.7.2023). Die Wasserknappheit führt zu Spannungen zwischen der Türkei und dem Irak, welcher verlangt, dass die Türkei mehr Wasser aus ihren Staudämmen freigibt. Dem Ministerium für Wasserressourcen zufolge erhält der Irak aktuell nur 35 % des ihm zustehenden Wassers (Arabiya 18.7.2023).
Dieser verringerte Wasserdurchfluss ist in stärkerem Ausmaß von Verdunstung betroffen. Auch einige Gewässer wie das Hamrim-Reservoir und der Umm Al-Binni-See haben bereits mehr als 50 % ihres Volumens verloren und drohen zu verwüsten (IPS 26.7.2023). Das verbleibende Wasser wird zu einem großen Teil für die Landwirtschaft genutzt, die rund 13 der 38 Millionen Einwohner des Landes ernährt (GRI 24.11.2019). Schlechtes Wassermanagement und starke Verschmutzung der Flüsse sind weitere Faktoren, die die Wasserversorgung beeinträchtigen (REU 6.6.2023). Die irakische Landwirtschaft verschwendet Wasser durch ineffiziente Bewässerung und durch Überschwemmung von Feldern. Experten zufolge ist eine Modernisierung der Bewässerung angebracht (Arabiya 18.7.2023).
Im September 2022 hat die Internationale Organisation für Migration (IOM) angegeben, dass in den vergangenen vier Jahren über 62.000 Personen aufgrund der Dürre im Irak vertrieben wurden (REU 6.6.2023). 2022 haben mehr als 7.000 Bauern und ihre Familien die ländlichen Gebiete verlassen (IPS 26.7.2023). Spannungen zwischen den Stämmen um Wasser nehmen zu. Der Wassermangel in den südlichen Gouvernements wie Missan und Dhi-Qar und die immer wiederkehrenden Dürreperioden sind bereits die Hauptursache für lokale Konflikte (AGSIW 27.8.2021). Da die Niederschlagsperiode 2020/2021 die zweitniedrigste seit 40 Jahren war, kam es zu einer Verringerung der Wassermenge im Tigris und Euphrat um 29 % bzw. 73 % (UNICEF 29.8.2021).
Im März und April 2023 kam es im ganzen Land nach starken Regenfällen zu teils schweren Überschwemmungen, die auch Todesopfer forderten. Trotz ihrer Gefahren brachten die Regenfälle und Überschwemmungen auch Vorteile mit sich, wie etwa den Anstieg des Wasserstands im ostirakischen al-Azim-Stausee um 30% (AlMon 13.4.2023).
Trinkwasser ist in allen Gouvernements verfügbar (IOM 18.6.2021, S.9). Fast drei von fünf Kindern im Irak haben jedoch keinen Zugang zu einer sicheren Wasserversorgung, und weniger als die Hälfte aller Schulen im Land haben Zugang zu einer grundlegenden Wasserversorgung (UNICEF 29.8.2021). Die Wasserversorgung im Irak wird durch marode und teilweise im Krieg zerstörte Leitungen in Mitleidenschaft gezogen. Dies führt zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser. (Industrie)-Abfälle führen zusätzlich zu Verschmutzung (AA 28.10.2022, S.22-23). In den vergangenen fünf Jahren wurden rund 120 Abwassersysteme und 300 Wasseraufbereitungsanlagen saniert (UNDP 26.3.2023).
Einer Umfrage von 2021 in Bagdad, Basra und Mossul zufolge geben insgesamt 60 % der Befragten an, immer Zugang zu sauberem Trinkwasser zu haben, 27 % manchmal, 12 % selten oder nie. Frauen scheinen weniger Zugang zu haben als Männer: 16 % haben selten oder nie Zugang, im Gegensatz zu 9 % der Männer. Regional gesehen ist der Zugang am niedrigsten in Mossul, wo 23 % selten oder nie Zugang haben, während 12 % in Basra und 7 % in Bagdad Zugang haben. 70 % der Kurden geben an, manchmal oder immer Zugang zu sauberem Trinkwasser zu haben, ebenso wie 57 % der Araber. Was die Religionsgemeinschaften betrifft, so haben 54 % der Christen, 65 % der schiitischen Muslime und 62 % der sunnitischen Muslime immer Zugang zu sauberem Trinkwasser. Auch bei den Einkommensverhältnissen gibt es Unterschiede: 91 % derjenigen, die mehr als 700.000 IQD verdienen, haben immer Zugang zu sauberem Trinkwasser, aber nur 59 % derjenigen, die weniger verdienen (STDOK/IRFAD 2021, S.47-48). Einer Umfrage vom Sommer 2022 zufolge gaben 92 % der vertriebenen und vom Konflikt betroffenen Bevölkerung an, Zugang zu einer verbesserten Trinkwasserquelle zu haben. Nur 4 % der Haushalte gaben an, für den Zugang zu Trinkwasser auf (unverbesserte) Wassertransporte angewiesen zu sein (REACH 4.2023).
Stromversorgung
Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht (AA 25.10.2021, S.24). Die meisten irakischen Städte haben keine 24-Stunden-Stromversorgung (DW 8.7.2021). Besonders in den Sommermonaten wird die Versorgungslage strapaziert (DW 8.7.2021). Stromausfälle können bis zu zehn Stunden pro Tag dauern, wobei sich die Versorgung mit öffentlichem Strom bei höheren Temperaturen verschlechtert. Wer es sich leisten kann, schließt sein Haus an einen Generator in der Nachbarschaft an (Arabiya 18.7.2023). Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten häufig unterbrochen (AA 28.10.2022, S.22).
Der Energiesektor hat die letzten Jahrzehnte aufgrund diverser Faktoren stark gelitten, sodass die Kluft zwischen Angebot und Nachfrage zunehmend größer geworden ist (TWI 17.7.2023). Die heimische Stromproduktion liegt bei etwa 24.000 bis 26.000 Megawatt (MW) (TWI 17.7.2023; vgl. ENUT 11.8.2023), während der Bedarf bei etwa 34.000 MW liegt (TWI 17.7.2023) und ein Anstieg des Bedarfs auf etwa 40.000 MW geschätzt wird. Dieser Bedarf kann nicht durch Eigenproduktion gedeckt werden (ENUT 11.8.2023). Als Folge ist der Irak in hohem Maß von iranischen Gasimporten für die Stromerzeugung abhängig (REU 19.7.2023; vgl. ENUT 11.8.2023, Arabiya 18.7.2023).
Der Irak hat sich zum Ziel gesetzt, die eigene Stromerzeugung bis 2026 um 11.000 MW zu erhöhen. Dabei ist der Irak bestrebt, seine Energieproduktion zu diversifizieren und legt einen Schwerpunkt auf erneuerbare Energien, aber auch auf einen Netzzusammenschluss mit seinen Nachbarländern (ENUT 11.8.2023). Im Jahr 2020 unterzeichneten der Irak und Jordanien ein Abkommen zur Zusammenschaltung ihrer Stromnetze, um die chronische Stromknappheit des Irak zu beheben (National 6.10.2022; vgl. ENUT 11.8.2023). Die Städte Haditah und al-Qa’im in Anbar sowie Bagdad sollen mit jordanischem Strom versorgt werden. Dieses Projekt ist Teil eines größeren Plans zur Schaffung eines panarabischen Strommarktes durch die Verbindung des Golf-Kooperationsrats, dem Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate, Kuwait, SaudiArabien, Katar und Oman angehören, mit Ägypten, Jordanien und dem Irak. Im Oktober 2022 wurde der Grundstein für das Projekt gelegt. Laut dem Bürgermeister von Rutba in Anbar soll die erste Phase des Projekts Ende 2023 abgeschlossen sein und den Irak mit 400 Megawatt versorgen (National 6.10.2022).
Das irakische Stromnetz verliert bei der Stromübertragung zwischen 40 und 50 %. Dieser Verlust hat sowohl technische Gründe, z.B. beschädigte, unzureichend funktionierende oder veraltete Stromübertragungsanlagen, als auch nicht-technische Gründe wie Diebstahl oder Manipulation (DW 8.7.2021). So wird zum Beispiel dem IS vorgeworfen, Strommasten sabotiert zu haben (DW 8.7.2021; vgl. AA 28.10.2022, S.22). Manchmal sind die Verantwortlichen für Sabotageakte auf das Stromnetz jedoch nicht bekannt (Cradle 5.8.2023).
Das irakische Elektrizitätsministerium bestätigte mehrere Vorfälle, darunter Anschläge, technische Störungen und Brände auf Strommasten in mehreren Regionen, darunter Diyala, Saladin, Kirkuk, Wasit und Basra, die zu kompletten Stromleitungsunterbrechungen und anschließenden Abschaltungen des Stromnetzes geführt haben (Cradle 5.8.2023). Am 29.7.2023 kam es nach einem Brand im al-Bakr-Kraftwerk in Basra zu einer Unterbrechung der Stromleitungen zwischen den süd- und zentralirakischen Provinzen und damit zu einer vollständigen Abschaltung der Stromversorgung in der Region (Rudaw 30.7.2023; vgl. Cradle 5.8.2023). Bis zum Abend konnte die Stromversorgung, insbesondere aller Krankenhäuser, medizinischen Zentren, Wasser- und Abwasserstationen, jedoch wieder hergestellt werden (Rudaw 30.7.2023). Im Juli 2023 wurden mehrere Strommasten im Nordirak von improvisierten Sprengsätzen getroffen, wodurch die Stromversorgung vorübergehend unterbrochen wurde (AJ 30.7.2023; vgl. Cradle 5.8.2023).
Sabotageakte werden zunehmend an Umspannwerken in Städten verübt und zielen auch auf die Trinkwasserversorgung, die Wasseraufbereitung und auf den Krankenhausbetrieb ab (VOA 14.8.2021). Am 2.7.2021 kam es zu einem stundenlangen, landesweiten Stromausfall (AnA 2.7.2021; vgl. BBC 2.7.2021). Nur die KRI war davon nicht betroffen (BBC 2.7.2021). Häufige Stromausfälle führen zu Protesten (DW 8.7.2021).
Einer Umfrage von 2021 in Bagdad, Basra und Mossul zufolge haben 30 % der Befragten immer Strom zur Verfügung, 31 % manchmal, 34 % meistens und 5 % nie. Von denjenigen, die mehr als 700.000 IQD verdienen, haben 63 % immer Strom zur Verfügung, während dies nur für 22 % derjenigen gilt, die weniger als diese Summe verdienen (STDOK/IRFAD 2021, S.72,74).
Unterkunft
Die Bevölkerungswachstumsrate des Irak ist eine der höchsten der Welt. So wird die Bevölkerung des Landes im Jahr 2021 auf etwa 41 Millionen geschätzt, während sie zur Zeit der US-amerikanischen Invasion des Landes im Jahr 2003 auf nur 25 Millionen geschätzt wurde. Das Wohnraumangebot hat mit dem raschen demografischen Wandel nicht Schritt gehalten. Die Wohnungsknappheit hat einen sprunghaften Anstieg der Preise für bestehende Wohnungen zur Folge (Amwaj 1.3.2022). Die Immobilienpreise im Irak sind seit etwa 2020 stark gestiegen (Shafaq 20.10.2022), besonders auch in Bagdad (Rudaw 4.1.2023), wo etwa sieben Millionen Menschen leben (Amwaj 1.3.2022).
Die Stadtviertel Bayaa und Sadr City sind mit Quadratmeterkosten ab 600 USD [Anm.: 1.000 USD entsprechen rund 1.310.000 IQD, bzw. rund 938 EUR] rund am günstigsten. In den Vierteln Kadhimiya und Karrada liegen die Quadratmeterkosten bei über 1.500 USD, im Viertel Zayouna bei über 4.000 USD und in den Stadtvierteln Jadriya, Mansour und Yarmouk bei über 5.000 USD (Amwaj 1.3.2022). Eine weitere Quelle berichtet, dass der Quadratmeterpreis im Geschäftsviertel Karrada von etwa 1.200 bis 1.700 Dollar auf 3.000 bis manchmal sogar 5.000 Dollar gestiegen sei. Im benachbarten Jadriya sind die Quadratmeterpreise auf 4.000 bis 8.000 Dollar gestiegen (Rudaw 4.1.2023).
Etwa drei Millionen Iraker leben in Slums, von denen es über 1.000 in Bagdad gibt. Laut einem Sprecher des Planungsministeriums des Irak werden im Land etwa 2,5 Millionen zusätzliche Wohnungen benötigt (Amwaj 1.3.2022), laut Analysten sind es mehr als drei Millionen Wohneinheiten (Shafaq 20.10.2022). Allein in Bagdad wird der Bedarf auf etwa eine Million Wohneinheiten geschätzt (Amwaj 1.3.2022). Die Regierung kündigte den Bau preisgünstiger Wohnungen in Bagdad an, da etwa eine Million Einwohner Bagdads in informellen Siedlungen leben würden (Rudaw 4.1.2023).
Einer Umfrage von 2021 in Bagdad, Basra und Mossul zufolge leben 52 % aller Befragten bei ihren Eltern oder Schwiegereltern, während 43 % in einer eigenen Wohnung leben. In Bagdad leben 51 % in einer eigenen Wohnung, während in Basra 55 % und in Mossul 64 % bei ihren Eltern oder Schwiegereltern wohnen. Von den Kurden leben 50 % in einer eigenen Wohnung, während 53 % der Araber bei ihren Eltern oder Schwiegereltern leben. 58 % der Christen leben in einer eigenen Wohnung, während 55 % der schiitischen Muslime und 53 % der sunnitischen Muslime bei ihren Eltern oder Schwiegereltern leben. Interessanterweise hat das Einkommensniveau keinen Einfluss auf die Wohnsituation: Von denjenigen, die mehr als 700.000 IQD verdienen, leben 52 % in einer eigenen Wohnung, von denen, die weniger verdienen, 51 % (STDOK/IRFAD 2021, S.55-57).
Von den Befragten leben 66 % in einem Haus und 29 % in einer Wohnung. In Bagdad leben 67 % in einem Haus, in Basra 61 % und in Mossul 68 %. 65 % der Araber und 60 % der Kurden geben an, in einem Haus zu leben. Was die Religionszugehörigkeit betrifft, so leben 63 % der Christen, 67 % der schiitischen Muslime und 71 % der sunnitischen Muslime in einem Haus. Von denjenigen, die mehr als 700.000 IQD verdienen, leben 77 % in einem Haus, während 59 % derjenigen, die weniger verdienen, in einem Haus leben (STDOK/IRFAD 2021, S.57-59).
Von allen Befragten haben über 70 % ein Dach, Fenster, Türen und einen Fernseher in ihrer Wohnung; über 60 % geben an, fließendes Wasser, eine Toilette mit Wasserspülung und ein Bad/eine Dusche zu haben, und über 50 % verfügen über einen Herd und einen Internetanschluss. Nur 46 % haben einen Kühlschrank und 28 % eine Heizung. Das Einkommen (derjenigen, die mehr als und weniger als 700.000 IQD verdienen) ist ausschlaggebend für den Besitz eines Fernsehers (89 % vs. 71 %), eines Bades/einer Dusche (71 % vs. 61 %), eines Internetanschlusses (79 % vs. 47 %) und einer Heizung (43 % vs. 27 %). 52 % der Befragten gaben an, dass ihre Wohnung/ihr Haus ihnen gehört, während 38 % angaben, dass die Unterkunft gemietet ist. Etwa 59 % der Männer besitzen ihre Unterkunft, während dies nur für etwa 45 % der Frauen gilt. 34 % der Männer und 41 % der Frauen sind Mieter. Der Anteil der Hausbesitzer ist in Mossul mit 67 % am höchsten, gefolgt von 59 % in Basra und 42 % in Bagdad. 53 % der Kurden geben an, eine Wohnung oder ein Haus zu besitzen, ebenso wie 45 % der Araber. Was die Religionszugehörigkeit angeht, so besitzen 60 % der Christen, 54 % der schiitischen Muslime und 48 % der sunnitischen Muslime eine Wohnung oder ein Haus. Von denjenigen, die mehr als 700.000 IQD verdienen, besitzen 75 % eine Wohnung, während es bei denjenigen, die weniger verdienen, nur 43 % sind. Von allen Befragten zahlen 24 % weniger als 250.000 IQD pro Monat für ihre Wohnung, 25 % zwischen 250.001 und 500.000 IQD, 3 % zwischen 500.001 und 999.999 IQD und 1 % mehr als 1.000.000 IQD. 48 % der Befragten haben auf diese Frage nicht geantwortet. 50 % der Befragten leben in einer Wohnung mit mehr als 100 m², 43 % haben 60-100 m² zur Verfügung und 7 % 20-60 m². In der Einkommensgruppe über 700.000 IQD leben 66 % in einer Wohnung, die größer als 100 m² ist, während 47 % der Befragten, die weniger als diesen Betrag verdienen, in einer Wohnung leben. 56 % teilen ihre Wohnung mit 4-5 Mitbewohnern, während 16 % mit 1-3 Personen und 28 % mit 6-8 Personen zusammenleben (STDOK/IRFAD 2021, S.59-70).
Grundversorgung und Wirtschaft in Bagdad
Bagdad ist das Zentrum des irakischen Wirtschafts-, Handels-, Banken- und Finanzsektors. Bagdad ist ebenso ein wichtiges Zentrum für die Erdölindustrie (NCCI 12.2015, S.2; vgl. EASO 9.2020, S.38). Bis auf die Schwerindustrie ist ein großer Teil der irakischen Produktion in Bagdad angesiedelt. Die Regierung ist dabei der wichtigste Arbeitgeber in der Stadt (EASO 9.2020, S.38).
Einer Umfrage von 2021 zufolge gehen 40% der Befragten einer Vollbeschäftigung nach, während 37,3% gelegentlich arbeiten und 17,3 % angeben, arbeitslos zu sein (STDOK/IRFAD 2021, S.25). Einer Studie aus demselben Jahr zufolge wird die Erwerbstätigkeit auf 40,6% geschätzt und die Arbeitslosigkeit auf 13,5% (ILO/CSO/KRSO 2022, S.13).
Einer Studie zufolge sind etwa 1,1% der Bevölkerung des Gouvernements Bagdad von akuter Armut betroffen und 4% sind armutsgefährdet (OPHI 6.2023).
Etwa 4,57% der Bevölkerung Bagdads (rund 326.100 Personen) sind mit Stand September 2023 unzureichend ernährt. Für rund 5,02% (rund 358.700 Personen) ist die Deckung des Nahrungsmittelbedarfs kritisch (WFP o.D.). In einer Umfrage vom Mai 2020 zufolge gaben 5-10 % der befragten Personen unzureichende Nahrungsaufnahme an (WB/WFP/FAO/IFAD 2.7.2020, S.20). Bei der Verfügbarkeit von Lebensmitteln und anderen Waren hat Bagdad im Zuge einer Untersuchung vom Juli 2020 zehn von zehn möglichen Punkten erhalten [Anm.: Verfügbarkeit ist hier nicht gleichzusetzen mit Leistbarkeit] (WB/WFP/FAO/IFAD 9.2020, S.1819).
Im Jahr 2017 lag der Anteil der Bevölkerung mit Trinkwasserversorgung in Bagdad bei 86,9 % (CSO 2018a).2019 war für etwa 70 % der Einwohner Bagdads ständige Verfügbarkeit von Trinkwasser gegeben, während 30 % nur unregelmäßigen Zugang zu Trinkwasser hatten (WFP 2019, S.101). Mitte Juli 2021 wurde die Wasserversorgung in Karkh, im Westen Bagdads durch einen Sabotageakt an Strommasten in Tarmiya, die die Pumpstation versorgen, unterbrochen (SWI 17.7.2021). Auch Mitte August 2021 wurde durch einen Anschlag auf einen Strommast in Tarmiya, der die dortige Pumpstation mit Energie versorgte, die Trinkwasserversorgung für mehrere Millionen Einwohner im Westen Bagdads unterbrochen (ArN 14.8.2021). Auch ein Brand in einem Kraftwerk in Basra im Juli 2023 hatte Auswirkungen auf die Wasserversorgung in Bagdad. Die Stadtverwaltung setzte mit Generatoren betriebene Wasserpumpen ein, um die Auswirkungen auf die Bürger zu begrenzen (AJ 30.7.2023).
Die öffentliche Stromversorgung ist in Bagdad vor allem in den Sommermonaten häufig unterbrochen (AA 28.10.2022, S.22). Stromausfälle führen häufig zu Protesten. Mitte 2021 haben wütende Iraker Kraftwerke in Bagdad gestürmt (DW 8.7.2021). Seit Beginn des Sommers 2021 häufen sich Angriffe auf das irakische Stromnetz, das ohnehin bereits mit schweren Stromengpässen zu kämpfen hat. Diese Angriffe werden von den Behörden terroristischen Kräften oder dem Islamischen Staat (IS) zugeschrieben (ArN 14.8.2021). Im Sommer 2023 kam es in einem Elektrizitätswerk im Stadtteil Jamila in Sadr City zu einem Brand (Cradle 5.8.2023).
Einer Umfrage von 2021 zufolge gaben 21 % der Befragten Personen in Bagdad an, immer Strom zur Verfügung zu haben, 41 % manchmal, 34 % meistens und 4 % nie (STDOK/IRFAD 2021, S.73).
Im Juli 2023 protestierten Dutzende Iraker gegen Wasser- und Stromknappheit und gegen die Türkei wegen der Verringerung der Wassermenge in den Flüssen (Arabiya 18.7.2023).
Medizinische Versorgung
Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor (IOM 2019, S.4). Öffentliche Krankenhäuser berechnen niedrigere Kosten für Untersuchungen und Medikamente als der private Sektor. Allerdings sind nicht alle medizinischen Leistungen in öffentlichen Einrichtungen verfügbar und von geringerer Qualität als jene im privaten Sektor (IOM 18.6.2021, S.3). Vor allem in größeren Städten und für spezialisierte Behandlungen kann es zu langen Wartezeiten kommen (IOM 18.6.2021, S.3; vgl. DFAT 16.1.2023, S.8).
Medizinische Kosten und Gesundheitsleistungen werden im Irak nicht von einer Krankenversicherung übernommen (IOM 18.6.2021, S.3). Eine Umfrage deutet darauf hin, dass im Jahr 2020, infolge der COVID-19-Krise, die Zahl der Rückkehrerhaushalte, die mehr als 20 % ihrer monatlichen Gesamtausgaben für Gesundheit oder Medikamente ausgeben, stark auf 38 % gestiegen ist (gegenüber 7 % im Jahr 2019) (IOM 18.6.2021, S.3).
Die Qualität und Verfügbarkeit der Gesundheitsversorgung im Irak ist insgesamt niedrig (DFAT 16.1.2023, S.8). Sie hängt davon ab, ob die Gesundheitsinfrastruktur seit dem jüngsten bewaffneten Konflikt wiederhergestellt wurde, und ob Ärzte und Krankenschwestern zurückgekehrt sind (IOM 18.6.2021, S.3). Im ganzen Land herrscht ein Mangel an Ärzten und Krankenschwestern (DFAT 16.1.2023, S.8), eine Situation, die sich durch den anhaltenden Konflikt und die langfristige Abwanderung von medizinischen Fachkräften noch verschärft hat (DFAT 16.1.2023, S.8).
Verzögerungen bei der Erstellung eines Budgets 2020 wegen der COVID-19-Pandemie hatten einen Anstieg der Preise für Waren, insbesondere für Medikamente, zur Folge (BS 23.2.2022, S.19).
Insgesamt bleibt die medizinische Versorgungssituation angespannt. In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber das Land verlassen (AA 28.10.2022, S.23), aus Angst vor Entführung oder Repression (AA 25.10.2021, S.25). Korruption ist verbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen (AA 28.10.2022, S.24). Laut Weltgesundheitsorganisation ist die primäre Gesundheitsversorgung nicht in der Lage, effektiv und effizient auf die komplexen und wachsenden Gesundheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung zu reagieren (WHO o.D.).
Es gibt im Irak 1.146 primäre Gesundheitszentren, die von Mitarbeitern der mittleren Ebene geleitet werden und 1.185, die von Ärzten geleitet werden. Des Weiteren gibt es im Irak 229 allgemeine und spezialisierte Krankenhäuser, darunter 61 Lehrkrankenhäuser (WHO o.D.). Im Zuge der COVID-19-Krise hat die Regierung einen spürbaren Bedarf an medizinischer Ausrüstung festgestellt. Die Regierung hat Initiativen ergriffen, um die Verfügbarkeit von Gesichtsmasken und Handdesinfektionsmitteln zu erhöhen sowie Krankenhäuser mit mehr Sauerstofftanks und Notaufnahmen auszustatten. Im April 2021 hat die Regierung eine COVID-19-Unterstützung für abgelegene Gebiete initiiert, die Arztbesuche in abgelegenen Orten, die Verteilung von Medikamenten und die Bereitstellung kostenloser medizinischer Beratung umfasst. Daten über konkrete Initiativen und die Wirksamkeit der Maßnahmen sind jedoch nicht verfügbar (IOM 18.6.2021, S.4).
In einer Umfrage im Jahr 2021, in den Städten Bagdad, Basra und Mossul, geben 33 % der Befragten an, immer Zugang zu einem Arzt (Allgemeinmediziner) zu haben, während 58 % einen begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang haben. 53 % der Befragten in Mossul haben nur eingeschränkten oder stark eingeschränkten Zugang zu einem Allgemeinmediziner, ebenso wie 60 % in Basra und 59 % in Bagdad. 50 % der Kurden gegenüber 30 % der Araber geben an, immer Zugang zu einem Arzt zu haben. Was die Religionszugehörigkeit betrifft, so haben 46 % der schiitischen Muslime immer Zugang zu einem Arzt, während dies nur 28 % der sunnitischen Muslime und 25 % der Christen haben. Bei den Einkommensverhältnissen ist ein erheblicher Unterschied festzustellen: 91 % derjenigen, die mehr als 700.000 IQD verdienen, haben immer Zugang zu einem Allgemeinmediziner, während nur 20 % derjenigen, die weniger als 700.000 IQD verdienen, Zugang haben (STDOK/IRFAD 2021, S.52-5 4).
Von allen Befragten haben 32 % immer Zugang zu einem Zahnarzt, 52 % haben begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang und 14 % keinen Zugang. Auf regionaler Ebene haben 55 % in Mossul, 63 % in Basra und 43 % in Bagdad begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang zu einem Zahnarzt; 21 % in Bagdad haben keinen Zugang. 45 % der Kurden gegenüber 28 % der Araber geben an, immer Zugang zu einem Zahnarzt zu haben (25 % der Kurden haben keinen Zugang). 39 % der schiitischen Muslime, 27 % der sunnitischen Muslime und 39 % der Christen haben immer Zugang zu einem Zahnarzt (keinen Zugang haben 12 % der schiitischen Muslime, 15 % der sunnitischen Muslime und 19 % der Christen). Auch bei den Einkommensverhältnissen ist der Zugang unterschiedlich: 77 % derjenigen, die mehr als 700.000 IQD verdienen, haben immer Zugang zu einem Zahnarzt, während nur 22 % derjenigen, die weniger als 700.000 IQD verdienen, dies tun (STDOK/IRFAD 2021, S.52-54).
Insgesamt haben 29 % immer und 57 % eingeschränkt oder stark eingeschränkt Zugang zu einem Facharzt (z.B. Gynäkologe, Kinderarzt usw.), wenn dieser benötigt wird. 59 % der Frauen und 57 % der Männer haben einen begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang zu einem Facharzt. In Mossul geben 40 % an, immer Zugang zu einem Facharzt zu haben, während dies nur 20 % in Basra und 28 % in Bagdad tun. Von den Kurden haben 43 % immer Zugang zu einem Facharzt, gegenüber 26 % der Araber. Was die Religionszugehörigkeit betrifft, so geben 38 % der schiitischen Muslime an, immer Zugang zu einem Facharzt zu haben, während dies 27 % der sunnitischen Muslime und 25 % der Christen tun. 70 % derjenigen, die mehr als 700.000 IQD verdienen, haben immer Zugang zu einem Facharzt. Bei Wenigerverdiener sind es nur 20 % (STDOK/IRFAD 2021, S.52-54).
In allen drei untersuchten Städten haben 30 % der Befragten immer Zugang zu Krankenhäusern, um sich bei Bedarf behandeln oder operieren zu lassen, 54 % haben einen eingeschränkten oder stark eingeschränkten Zugang und 13 % keinen Zugang. Von den männlichen Befragten haben 32 % immer Zugang, während 17 % überhaupt keinen Zugang haben; von den weiblichen Befragten haben 27 % immer Zugang, während 10 % überhaupt keinen Zugang haben. 53 % der Einwohner von Mossul, 63 % von Basra und 49 % von Bagdad haben nur begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang zu Krankenhäusern. 45 % der Kurden haben immer Zugang zu Krankenhäusern, während 20 % überhaupt keinen Zugang haben. Von den Arabern haben 26 % immer Zugang, während 14 % keinen Zugang haben. Von den sunnitischen Muslimen geben 30 % an, immer Zugang zu Krankenhäusern zu haben (16 % haben keinen Zugang), ebenso wie 38 % der schiitischen Muslime (13 % haben keinen Zugang) und 21 % der Christen (16 % haben keinen Zugang). In der Einkommensgruppe über 700.000 IQD haben 68 % immer Zugang zu Krankenhäusern, während von denjenigen, die weniger verdienen, nur 20 % Zugang haben (und 16 % haben keinen Zugang) (STDOK/IRFAD 2021, S.52-54).
36 % aller Befragten haben alle, 36 % kaum die notwendigen Hygieneartikel, während 28 % kaum oder gar nicht über diese Artikel verfügen. Vor allem Frauen mangelt es an den notwendigen Hygieneartikeln, 34 % haben sie kaum oder gar nicht, gegenüber 23 % der Männer. Die Verfügbarkeit scheint in Bagdad am höchsten zu sein, wo 80 % angeben, kaum oder alle notwendigen Hygieneartikel zu besitzen, ebenso wie 67 % in Mossul und 60 % in Basra. 75 % der 26- bis 36-Jährigen geben an, kaum oder alle notwendigen Hygieneartikel zu besitzen, während 73 % der 19- bis 25-Jährigen und 58 % der 16- bis 18-Jährigen dies tun. 31 % der Araber, aber nur 15 % der Kurden geben an, dass sie kaum oder gar nicht über die notwendigen Hygieneartikel verfügen. Was die Religionszugehörigkeit betrifft, so verfügen 30 % der Christen, 31 % der schiitischen Muslime und 27 % der sunnitischen Muslime kaum oder gar nicht über die erforderlichen Hygieneartikel. 66 % derjenigen, die mehr als 700.000 IQD verdienen, haben alle notwendigen Hygieneartikel, während 32 % derjenigen, die weniger als 700.000 IQD verdienen, diese besitzen (STDOK/IRFAD 2021, S.49-51).
44 % der Befragten geben an, dass sie immer Zugang zu Impfungen haben, während 51 % nur begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang zu Impfungen im Allgemeinen haben. Zu den COVID-19-Impfungen haben 55 % der Befragten immer Zugang, während 40 % nur begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang haben. Auf regionaler Ebene haben 35 % der Befragten in Bagdad, 55 % in Basra und 52 % in Mossul immer Zugang zu Impfungen, während 59 % in Mossul, 61 % in Basra und 51 % in Bagdad angeben, vollen Zugang zu COVID-19-Impfungen zu haben. 50 % der Kurden und 43 % der Araber haben immer Zugang zu Impfungen, während 80 % der Kurden und 51 % der Araber immer Zugang zu COVID-19-Impfungen haben. Was die Religionszugehörigkeit betrifft, so haben 55 % der schiitischen Muslime, 37 % der sunnitischen Muslime und 39 % der Christen uneingeschränkten Zugang zu Impfungen; uneingeschränkter Zugang zu COVID-19-Impfungen wird von 70 % der schiitischen Muslime, 46 % der sunnitischen Muslime und 55 % der Christen angegeben. Das Einkommensniveau ist ausschlaggebend für den kontinuierlichen Zugang zu Impfungen: Von denjenigen, die mehr als 700.000 IQD verdienen, haben 86 % immer Zugang zu Impfungen und 91 % zu COVID-19-Impfungen, während von denjenigen, die weniger verdienen, nur 34 % immer Zugang zu Impfungen und 52 % zu COVID19-Impfungen haben (STDOK/IRFAD 2021, S.51-54).
Nachdem von Anfang 2020 bis September 2020 infolge der COVID-19-Pandemie die meisten Dienste der Gesundheitseinrichtungen eingestellt waren, und für den Rest des Jahres lange Wartezeiten und strenge Hygienemaßnahmen vorherrschten, boten im Jahr 2021 sowohl der öffentliche als auch der private Gesundheitssektor ihre Arbeit beinahe wieder normal an, jedoch mit hohen Vorsichtsmaßnahmen gegen die Ausbreitung von COVID-19, wie vom irakischen Gesundheitsministerium (MoH) angewiesen (IOM 18.6.2021, S.3). Das Gesundheitsministerium wandte sich angesichts der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf den öffentlichen Gesundheitssektor an private Einrichtungen, um die Regierung bei der Krisenbewältigung zu unterstützen. So nutzte die Regierung beispielsweise das Andalus Hospital and Specialized Cancer Treatment Center in Bagdad, das einem irakischen Pathologen gehört (BS 23.2.2022, S.25).
Aufgrund der COVID-19-Pandemie steht die Bereitstellung grundlegender Gesundheitsdienste unter Druck. Familien haben nicht im gleichen Maße wie 2019 Zugang zu grundlegenden Diensten, einschließlich Impfungen und Gesundheitsfürsorge für Mutter und Kind. Schätzungsweise 300.000 Kinder laufen Gefahr, nicht geimpft zu werden, was zu Masernausbrüchen oder der Rückkehr von Polio führen könnte (UNOCHA 2021).
Die große Zahl von Flüchtlingen und IDPs belastet das Gesundheitssystem zusätzlich (AA 28.10.2022, S.24).
Rückkehr
Österreich hat mit dem Irak ein Rückübernahmeabkommen unterzeichnet (BMEIA 12.9.2023; vgl. Presse 12.9.2023). Dieses soll zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Migrationsmanagement beigetragen (BMEIA 12.9.2023). Der Irak nimmt damit eigene Staatsbürger zurück, die in Österreich keine Möglichkeit für einen legalen Aufenthalt erhalten (Presse 12.9.2023). Darüber hinaus wurde im September 2023 die österreichische Botschaft in Bagdad durch den österreichischen Außenminister offiziell wiedereröffnet. Diese war 1991 aus Sicherheitsgründen ins jordanische Amman verlegt worden und hat bereits vor einigen Monaten ihre Tätigkeit im Irak wieder aufgenommen (Presse 12.9.2023).
Zurückkehrende Iraker, die nicht im Besitz eines irakischen Passes sind, müssen bei einer irakischen Botschaft oder einem Konsulat im Ausland einen Laissez-passer beantragen. Damit dieser ausgestellt wird, überprüft eine irakische diplomatische Vertretung die Identität und Staatsangehörigkeit des Rückkehrers anhand von Originaldokumenten im Irak, bestätigt, dass die Person freiwillig in den Irak zurückkehrt, und prüft anhand von Aufzeichnungen des Innenministeriums im Irak, ob ausstehende strafrechtliche Maßnahmen vorliegen. Bei der Ankunft im Irak überprüfen Grenzbeamte die Angaben des Ausreisepflichtigen und bestätigen erneut, dass die Person freiwillig einreist. Die Beamten nehmen die Daten des Ausweises zusammen mit dem Namen und dem Geburtsdatum des Inhabers auf. Das Laissez-passer erlaubt nicht die Weiterreise. Der Rückkehrer kann von den Grenzbeamten ein Schreiben erhalten, das seine Weiterreise an den Herkunftsort ermöglicht (DFAT 16.1.2023, S.41). Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig, unter anderem von ihrer ethnischen und konfessionellen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort (AA 28.10.2022, S.23).
Einer Studie von 2021 zufolge sind soziale Netzwerke wichtige fördernde oder hemmende Faktoren einer Wiedereingliederung. Die meisten Studienteilnehmer waren sich darin einig, dass ein starkes soziales Netz ein Schlüsselfaktor für eine erfolgreiche Wiedereingliederung ist und berichteten von einem positiven Einfluss der Netzwerke nach ihrer Rückkehr, es gab jedoch auch Berichte von eher negativen Auswirkungen (ERRIN 8.2021, S.8). Auch eine weitere Studie, die zwischen 2020 und 2021 durchgeführt wurde, hebt Unterstützungsnetze hervor, wobei ein Fünftel der befragten Personen angab, im Rückkehrgebiet über schlechte oder sehr schlechte Unterstützungsnetze zu verfügen (IOM 27.8.2023, S.27).
Rückkehrer berichten über psychosoziale Bedürfnisse vor, während und nach einer Rückkehr. Dabei stehen psychosoziale Dienste weitgehend nicht oder kaum zur Verfügung. Ein Faktor ist Angst vor einer Stigmatisierung durch die Familie, nicht jedoch die Stigmatisierung selbst. 90 % der Studienteilnehmer berichteten, dass sie von ihrer Familie und ihren Freunden freudig empfangen wurden (ERRIN 8.2021, S.6). Einer Studie zufolge, die zwischen 2020 und 2021 durchgeführt wurde, gab die Mehrheit der Befragten (68 %) an, von der Gemeinschaft nie oder nur selten anders behandelt zu werden, weil sie ins Ausland migriert sind und dass sie sich überwiegend (70 %) in der Gemeinschaft sicher fühlen würden. Weibliche Rückkehrer gaben an, sich einerseits weniger sicher zu fühlen und sich in geringerem Ausmaß auf die Rückkehrgemeinschaft verlassen zu können (IOM 27.8.2023, S.27). Die Praxis, Asyl zu beantragen und dann in den Irak zurückzukehren, sobald die Bedingungen es zulassen, wird von den Irakern gut akzeptiert, wie die große Zahl von Doppelstaatsangehörigen aus den USA, Westeuropa und Australien zeigt, die in den Irak zurückkehrt. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Iraker, denen von westlichen Ländern Schutz gewährt wird, häufig in den Irak zurückkehren, manchmal nur wenige Monate, nachdem sie sich im Ausland niedergelassen haben, um ihre Familien wieder zu vereinen, Unternehmen zu gründen und zu führen oder eine Beschäftigung aufzunehmen oder wieder aufzunehmen (DFAT 16.1.2023, S.41).
Während die Teilnehmer an der Studie nur wenige Probleme beim formalen Zugang zu Bildung und Gesundheitsfürsorge meldeten, beeinträchtigen Anpassungsschwierigkeiten und Qualitätsbarrieren ihre Fähigkeit, diese Dienste in Anspruch zu nehmen (ERRIN 8.2021, S.1). Neun von zehn Befragten einer zwischen 2002 und 2021 durchgeführten Studie gaben an, Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung zu haben. Ein weitaus geringerer Anteil (34 %) der Befragten gab an auch Zugang zur privaten Gesundheitsversorgung zu haben (IOM 27.8.2023, S.24).
Reintegration und Sicherheit werden durch Schutz, Stabilisierung, Rechtsstaatlichkeit und sozialen Zusammenhalt beeinflusst. An vielen Orten bleiben auch nach der Niederlage des sog. Islamischen Staates (IS) Quellen der Gewalt bestehen, die Rückkehrer betreffen können. In einigen Fällen kann Gewalt sogar durch die tatsächliche Rückkehr verschiedener Bevölkerungsgruppen an einen bestimmten Ort geschürt werden. Gewaltrisiken bleiben infolge anhaltender Angriffe des IS oder anderer bewaffneter Gruppen bestehen, aber auch aufgrund sozialer Konflikte in Form von ethnisch-konfessionellen oder stammesbedingten Spannungen und Gewalt, darunter auch Racheakte. Auch politische Konkurrenz spielt bei diesem Risiko eine Rolle, da verschiedene Sicherheitsakteure in der fragmentierten Sicherheitskonfiguration nach dem Konflikt im Irak um territoriale Vorherrschaft ringen (IOM 2021, S.13).
Eine Untersuchung von 2020, zu der fast 7.000 Binnenvertriebene und 2.700 Rückkehrer befragt wurden, hat ergeben, dass die Zahl der Rückkehrerhaushalte, die mehr als 20 % ihrer monatlichen Gesamtausgaben für Gesundheit oder Medikamente ausgeben, im Jahr 2020 stark, auf 38 % gestiegen ist (im Vergleich zu 7 % im Jahr 2019) (IOM 18.6.2021, S.3). Einer Studie von 2021 zufolge sehen sich Rückkehrer nach ihrer Rückkehr mit Barrieren für den Lebensunterhalt konfrontiert, die zwar nicht unbedingt ein Hindernis für die Wiedereingliederung darstellen, aber eine Ursache für eine erneute Abwanderung sind (ERRIN 8.2021, S.1).
Hinsichtlich der Beschäftigung berichteten etwa 12 % der befragten Rückkehrerhaushalte von vorübergehender und 1 % von dauerhafter COVID-19-bedingterArbeitslosigkeit. In der Kurdistan Region Irak (KRI) waren mehrere Distrikte im Gouvernement Erbil besonders von COVID-19-bedingter Arbeitslosigkeit betroffen. 71 % der IDP- und Rückkehrerhaushalte im Distrikt Rawanduz meldeten vorübergehende oder dauerhafte Arbeitslosigkeit aufgrund von COVID-19, im Distrikt Shaqlawa waren es 56 %. Im Gouvernement Sulaymaniyah war der Distrikt Dokan mit 52 % am stärksten betroffen. Im föderalen Irak war der Distrikt Al-Kut im Gouvernement Wassit am stärksten von COVID-19-bedingter Arbeitslosigkeit betroffen. 56 % seiner IDP- und Rückkehrerhaushalte meldeten vorübergehende oder dauerhafte Arbeitslosigkeit aufgrund von COVID-19 (IOM 18.6.2021, S.5).
Im Jahr 2020 hatten 59 % der Rückkehrer ein durchschnittliches Monatseinkommen von weniger als 480.000 Irakischen Dinar (IQD) (~267,90 EUR) (im Vergleich zu 55 % im Jahr 2019 und 71 % im Jahr 2018). Bei Rückkehrerhaushalten, die von alleinstehenden Frauen geführten wurden, lag der Anteil sogar bei 79 %. In der KRI waren die Haushaltseinkommen von Binnenvertriebenen- und Rückkehrerhaushalten im Jahr 2020 besonders niedrig: In den Distrikten Chamchamal, Halabcha, Rania und Dokan im Gouvernement Sulaymaniyah und im Distrikt Koysinjag im Gouvernement Erbil hatten im Berichtszeitraum der MCNA-VIII-Erhebung (Juli September 2021) zwischen 92 % und 93 % der Rückkehrerhaushalte ein Monatseinkommen von weniger als 480.000 IQD (IOM 18.6.2021, S.5). Einer weiteren Studie zufolge gaben acht von zehn Befragten an, nicht über ein ausreichendes monatliches Einkommen zu verfügen, um ihre Grundbedürfnisse zu decken. Über die Hälfte gab an, weniger als 250.000 irakische Dinar (IQD) [Anm.: 100.000 IQD entsprechen rund 71 EUR; Stand August 2023] zu verdienen oder kein Einkommen zu haben. Diesbezüglich ist der Anteil derer, die über ein ausreichendes Einkommen verfügen, von 15 % in 2020 auf 9 % in 2021 gesunken. Damit einhergehend ist der Anteil derer, die negativen Bewältigungsstrategien wie reduzierten Lebensmittelkonsum verfolgen von 27 % in 2020 auf 41 % in 2021 angestiegen. Rund 60 % der Befragten liehen sich Geld, um ihre monatlichen Ausgaben zu decken (IOM 27.8.2023, S.20-21).
Um die Rückkehr von Flüchtlingen in die Herkunftsgebiete zu erleichtern, finanziert das United Nations Development Programme (UNDP) die Umsetzung von Projekten zur Wiederherstellung der Infrastruktur, der Existenzgrundlagen und des sozialen Zusammenhalts in Anbar, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din. Darüber hinaus führte das Programm der Vereinten Nationen für Siedlungswesen (UN-Habitat) Schnellbewertungen von zerstörten Häusern in Gebieten von Ninewa durch und unterstützte 2.190 Familien, deren Häuser zerstört wurden, bei der Registrierung von Entschädigungsansprüchen. UN-Habitat stellte weiterhin Wohnberechtigungsscheine für jesidische Rückkehrer in Sinjar aus (UNSC 3.8.2021, S.12).
Einer Studie zufolge, die zwischen 2020 und 2021 durchgeführt wurde, gaben fast die Hälfte der Befragten Rückkehrer (45 %) an, einen schlechten bis sehr schlechten Zugang zu Wohnraum zu haben. 2020 gaben 36 % der Befragten an, eine eigene Wohnung zu besitzen, während 47 % zur Miete wohnten und 12 % bei einer anderen Familie untergebracht waren. Der Rest gab keine genauen Auskünfte. Die Anmietung einer Unterkunft stellt eine erhebliche Belastung dar. Fast 80 % der Befragten gaben an, dass ihr Einkommen nicht ausreiche, um die Grundbedürfnisse zu decken. 41 % würden Lebensmitteleinkäufe einschränken (IOM 27.8.2023, S.25).
Es gibt mehrere Organisationen, die Unterstützung bei der Wiedereingliederung anbieten, darunter ETTC (Europäisches Technologie- und Ausbildungszentrum), IOM (Internationale Organisation für Migration) und GMAC (Deutsche Zentrum für Jobs, Migration und Reintegration). Ebenso gibt es mehrere NGOs, die bedürftigen Menschen finanzielle und administrative Unterstützung bereitstellen sowie Institutionen, die Darlehen für Rückkehrer anbieten. Beispielsweise Bright Future Institution in Erbil, die Al-Thiqa Bank, CHF International/Vitas Iraq, die National Bank of Iraq, die Al-Rasheed Bank und die Byblos Bank (IOM 18.6.2021, S.12-13).
In der KRI gibt es mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Eine Fortführung dieser Tendenzen wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der KRI kurz- und mittelfristig verbessern wird (AA 28.10.2022, S.23).
1.4. Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Irak, Verfügbarkeit von Behandlungen und Medikamenten zu: Posttraumatischer Belastungsstörung (F43.1) und schwerer depressiven Episode ohne psychotische Symptome (F32.2)
Patient (männlich, 39 Jahre) leidet an Posttraumatischer Belastungsstörung (F43.1) und schwerer depressiven Episode ohne psychotische Symptome (F32.2). Es besteht eine Behandlung mit dem Wirkstoff „Trazodonhydrochlorid“.
Sind Behandlungsmöglichkeiten für die vorliegenden Diagnosen und der Wirkstoff „Trazodonhydrochlorid“ im Irak verfügbar?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
Aufgrund der medizinisch-spezifischen Art der Fragestellung wurden diese auf der Datenbank von MedCOI recherchiert. Informationen zu MedCOI finden sich auf dem Quellenblatt der Staatendokumentation auf www.staatendokumentation.at.
Zusammenfassung:
Auskünfte in Bezug auf Verfügbarkeit (und auch die damit verbundene Zugänglichkeit) bestimmter Behandlungen/Medikamente werden von lokalen Anbietern von MedCOI (z. B. lokalen Experten/Ärzten) zur Verfügung gestellt. Diese Verfügbarkeit hängt von vielen Faktoren ab, einschließlich der Folgen der COVID-19-Pandemie. Daher wird in den Auskünften von MedCOI, die seit Ausbruch der Pandemie zustande gekommen sind, dieser Umstand automatisch mit in Betracht gezogen.
Gemäß den nachfolgend zitierten Quellen sind im Irak folgende Behandlung verfügbar:
psychiatrische Behandlung von PTBS mittels kognitiver Verhaltenstherapie (AVA 16556);
psychiatrische Behandlung von PTBS mittels narrativer Expositionstherapie (AVA 16556);
psychiatrische Behandlung von PTBS mittels Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung (EMDR) (AVA 16976);
stationäre und ambulante Behandlung sowie Nachsorge durch einen Psychologen (AVA 17072);
stationäre und ambulante Behandlung sowie Nachsorge durch einen Psychiater (AVA 17072);
psychiatrische Krisenintervention bei Selbstmordversuchen (AVA 15802);
psychiatrische klinische Behandlung (Kurzzeit) durch einen Psychiater (AVA 17091);
psychiatrische Zwangseinweisung, falls erforderlich (AVA 17091).
Der angefragte Wirkstoff „Trazodonhydrochlorid“ ist nicht verfügbar. Gemäß AVA 15166 (datierend auf Sept. 2021) sind alternativ zum angefragten Wirkstoff die Wirkstoffe „Duloxetin“ und „Venlafaxin“ aus derselben Medikationsgruppe verfügbar (AVA 15166).
Die Originale folgender Anfragebeantwortungen von MedCOI werden als Anlage übermittelt bzw. liegen im Archiv der Staatendokumentation auf:
International SOS via EUAA MedCOI (19.7.2023): AVA 17072, Zugriff 28.9.2023
International SOS via EUAA MedCOI (19.7.2023): AVA 17071, Zugriff 28.9.2023
International SOS via EUAA MedCOI (26.6.2023): AVA 16976, Zugriff 28.9.2023
International SOS via EUAA MedCOI (16.2.2023): AVA 16556, Zugriff 28.9.2023
International SOS via EUAA MedCOI (20.5.2022): AVA 15802, Zugriff 28.9.2023
International SOS via EUAA MedCOI (25.9.2021): AVA 15166, Zugriff 28.9.2023
2. Beweiswürdigung:
2.1. Beweis erhoben wurde im gg. Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des Bundesamtes unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des BF im Rahmen der Erstbefragung zum Folgeantrag, des Mandatsbescheids vom 29.09.2023, der Vorstellung vom 05.10.2023, der schriftlichen Stellungnahme seiner Vertretung vom 04.01.2024, des bekämpften Bescheides sowie des Beschwerdeschriftsatzes, durch Einsichtnahme in die Vorentscheidungen des BVwG insbesondere vom 19.02.2019, 01.10.2020 und 12.05.2023, sowie die Einholung von Auskünften des Melderegisters, des Strafregisters, des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister und des Grundversorgungsdatensystems.
2.2. Zum festgestellten Verfahrensgang ist wie folgt festzuhalten:
Insofern im bekämpften Bescheid davon ausgegangen wurde, dass er am 26.06.2023 gemäß § 34 Abs. 3 Z. 1 oder 3 BFA-VG iVm § 40 Abs. 1 Z. 1 BFA-VG festgenommen worden sei und am 29.09.2023 einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe (AS 274), ist anzumerken, dass dem amtswegig eingeholten IZR-Auszug und dem im elektronischen Gerichtsakt XXXX einliegenden Auszug aus der Anhaltedatei-Vollzugsverwaltung des Bundesministeriums für Inneres entnommen werden konnte, dass er am 26.09.2023 festgenommen und ins PAZ verbracht wurde und am 28.09.2023 um 16:21 Uhr den Folgeantrag gestellt hat. Insofern war auch davon auszugehen, dass das in der Erstbefragung am 29.09.2023 festgehaltene Datum der Asylantragstellung mit „30.09.2023“ (AS 13) offensichtlich einen Irrtum darstellt. Dass ihm bereits am 26.09.2023 der Abschiebetermin mitgeteilt wurde, wurde nicht bestritten.
Dass er sich ab 29.09.2023, 16:00 Uhr in Schubhaft befand, war dem im elektronischen Gerichtsakt XXXX einliegenden Auszug aus der Anhaltedatei-Vollzugsverwaltung des Bundesministeriums für Inneres zu entnehmen.
Im Übrigen stellte sich der gg. Verfahrensgang im Lichte des vorliegenden Akteninhaltes als unstrittig dar.
2.3. Im Hinblick auf die Feststellung, dass der BF nicht glaubhaft machen konnte, dass er den Folgeantrag zu keinem früheren Zeitpunkt stellen konnte, war wie folgt zu erwägen:
Die zu § 12a Abs. 4 Z. 1 AsylG erwähnte Glaubhaftmachung ist zum einen dadurch gekennzeichnet, dass im Gegensatz zum Beweis der Nachweis der Wahrscheinlichkeit ausreicht. Es ist aber Pflicht der Partei, initiativ alles darzulegen, was für das Zutreffen der Voraussetzungen spricht. Allgemein gehaltene Aussagen reichen für eine Glaubhaftmachung in der Regel nicht aus. Unter diesem Blickwinkel hat die Partei darzulegen, warum sie den Folgeantrag zu keinem früheren Zeitpunkt als in § 12a Abs. 3 AsylG angeführt stellen konnte (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, § 12a AsylG, K20).
In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (330 BlgNR 24. GP, 15) wird zu § 12a Abs. 4 AsylG unter anderem Folgendes ausgeführt:
„Voraussetzung für die Zuerkennung ist, dass der Folgeantrag nicht zur ungerechtfertigten Verhinderung oder Verzögerung der Abschiebung gestellt wurde. Die Z 1 und 2 legen fest, in welchen Fällen davon auszugehen ist, dass diese Voraussetzung vorliegt. Demnach ist der Abschiebeschutz zuzuerkennen, wenn der Fremde bei der Befragung oder Einvernahme gemäß § 19 glaubhaft macht, dass er den Folgeantrag nicht früher stellen konnte (Z 1) oder sich seit der letzten Entscheidung – gemeint ist die Entscheidung über den vorigen Antrag auf internationalen Schutz – die objektive Situation im Herkunftsstaat entscheidungsrelevant geändert hat (Z 2). Die Z 1 umfasst damit den subjektiven Aspekt in jenen Fällen, in denen der wohlmeinende Antragsteller entgegen der allgemeinen Lebenserfahrung tatsächlich keine Möglichkeit hatte den Folgeantrag früher zu stellen. Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn das Bedrohungsbild erst aktuell entstanden ist oder der Fremde nicht früher davon Kenntnis erlangt hat.“
Der BF brachte bei der am 29.09.2023 stattgefundenen Erstbefragung vor, dass einerseits seine alten Antragsgründe nach wie vor aufrecht seien. Andererseits sei seine Familie 2022 in die Türkei geflüchtet. Die Bedrohung durch die Milizen betreffe nunmehr die ganze Familie. Er sei im Bundesgebiet integriert und verfüge über Deutschkenntnisse auf dem Sprachniveau B2. Er arbeite auch ehrenamtlich. Er könne nicht mehr in den Irak zurück, da er dort nichts mehr habe. Er könne beweisen, dass er bei einer Rückkehr mit Sanktionen zu rechnen habe, seine Familie habe nämlich einen Brief. Auf die Frage, seit wann ihm die Änderungen der Fluchtgründe bekannt seien, gab er ausdrücklich an: „Seit einem Jahr, seit meine Familie geflüchtet ist aus dem Irak“ (AS 17)
Folgt man seinen eigenen Angaben, so ist er bereits im September 2022 in Kenntnis der vermeintlichen neuen Antragsgründe gewesen. Warum er nicht bereits zum damaligen Zeitpunkt der Kenntniserlangung bzw. in weiterer Folge in der Lage gewesen sei, einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, legte er demgegenüber nicht dar. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass er mit Schriftsatz seiner Vertretung vom 29.03.2023 im Beschwerdeverfahren zu XXXX ausdrücklich angab, keinen neuen Antrag auf internationalen Schutz stellen zu wollen, da sich seit der letzten Entscheidung keine neuen Tatsachen in Hinblick auf sein Fluchtvorbringen ergeben hätten (OZ 9).
Weder der Stellungnahme seiner Vertretung vom 04.01.2024 noch dem Beschwerdeschriftsatz vom 06.02.2024 war zu entnehmen, warum es ihm nicht früher möglich gewesen sei einen Folgeantrag zu stellen. Insofern seine Vertretung seinen Gesundheitszustand hervorhob, wurde nicht konkret dargelegt, ob dieser es ihm verunmöglicht habe, seit September 2022 einen weiteren Folgeantrag zu stellen. So wurde zwar moniert, dass die belangte Behörde bei der Würdigung der verspäteten Antragstellung keine Abwägung aufgrund der psychischen Verfassung des BF durchgeführt habe (AS 482), eine substantiierte Bestreitung war aber dem Beschwerdeschriftsatz nicht zu entnehmen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass er an einer XXXX sowie einer XXXX leide, war es nicht ersichtlich, warum es ihm aufgrund dieses Gesundheitszustandes nicht möglich gewesen sein soll, ehestmöglich nach Kenntnis der neuen Antragsgründe einen Folgeantrag zu stellen. Dabei war auch zu berücksichtigen, dass er bereits im Jahr 2022 durch eine Rechtsberatungsorganisation und somit rechtskundig vertreten war (vgl. VwGH 17.03.2021, Ra 2021/14/0054). In einer Gesamtschau dieser Erwägungen teilt das BVwG die Schlussfolgerung der belangten Behörde, dass er nicht glaubhaft machen konnte, dass die Stellung des Folgeantrages zu einem früheren Zeitpunkt nicht möglich war.
2.4. Die Feststellungen unter 1.3. stützen sich auf die Feststellungen des BFA im angefochtenen Bescheid, denen weder ein gegenteiliges erstinstanzliches Vorbringen des BF noch ein solches in der Beschwerde entgegenstand.
Dem BFA war zuzustimmen, wenn es vor dem Hintergrund der getroffenen Länderfeststellungen im bekämpften Bescheides davon ausgeht, dass sich die objektive Situation im Irak seit der letzten Entscheidung über seinen Antrag auf internationalen Schutz (Erkenntnis des BVwG vom 19.02.2019) nicht entscheidungsrelevant verändert hat.
Bezogen auf den vorliegenden Fall hat bereits das BVwG in seiner im Vorverfahren ergangenen Entscheidung unter anderem die Aktivitäten von Asa’ib Ahl al-Haqq, die Lage von Atheisten, säkular orientierten Personen und Personen, die sich vom Islam abgewandt haben, die allgemeine Sicherheitslage im Irak, die Lage in Bezug auf Sicherheitskräfte und Milizen, die Rückkehrbedingungen im allgemeinen sowie die medizinische Versorgung im Irak festgestellt und berücksichtigt.
Bei einem Vergleich dieser Feststellungen mit der nunmehr festgestellten Lage im Irak ergaben sich keine Hinweise, dass sich seit dem rechtskräftigen Abschluss des vorangegangenen, bereits abgeschlossenen Erstverfahrens die maßgebliche allgemeine, objektive Lage im Irak geändert hätte. Das BVwG schließt sich daher der Ansicht des BFA an, dass die aktuelle objektive Situation im Irak im Wesentlichen jener im Zeitpunkt der letzten Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz entspricht.
In der Beschwerde wurde nicht vorgebracht, dass sich seit der zuletzt ergangenen Entscheidung die objektive Situation im Herkunftsstaat entscheidungswesentlich geändert hat. In der Beschwerdeschrift fand sich auch keine substantiierte Bestreitung der im bekämpften Bescheid getroffenen Länderfeststellungen.
3. Rechtliche Beurteilung:
Mit Art. 129 B-VG idF BGBl. I 51/2012 wurde ein als Bundesverwaltungsgericht (BVwG) zu bezeichnendes Verwaltungsgericht des Bundes eingerichtet.
Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z. 1 B-VG erkennt das BVwG über Beschwerden gegen einen Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.
Gemäß Art. 131 Abs. 2 B-VG erkennt das BVwG über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 in Rechtssachen in den Angelegenheiten der Vollziehung des Bundes, die unmittelbar von Bundesbehörden besorgt werden.
Gemäß Art. 132 Abs. 1 Z. 1 B-VG kann gegen einen Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit Beschwerde erheben, wer durch den Bescheid in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet.
Gemäß Art. 135 Abs. 1 B-VG iVm § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG) idF BGBl I 10/2013 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl I 122/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 59 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde als gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn 1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Gemäß § 28 Abs. 3 hat, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 leg. cit nicht vorliegen, das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z. 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückzuverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgeht.
Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.
Mit BFA-Einrichtungsgesetz (BFA-G) idF BGBl. I Nr. 68/2013, in Kraft getreten mit 1.1.2014, wurde das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) eingerichtet.
Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG idgF), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
Zu A)
1.1. §12a AsylG lautet:
(1) Hat der Fremde einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) nach einer zurückweisenden Entscheidung gemäß §§ 4a oder 5 oder nach jeder weiteren, einer zurückweisenden Entscheidung gemäß §§ 4a oder 5 folgenden, zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 Abs. 1 AVG gestellt, kommt ihm ein faktischer Abschiebeschutz nicht zu, wenn
1. gegen ihn eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG oder eine Ausweisung gemäß § 66 FPG erlassen wurde,
2. kein Fall des § 19 Abs. 2 BFA-VG vorliegt,
3. im Fall des § 5 eine Zuständigkeit des anderen Staates weiterhin besteht oder dieser die Zuständigkeit weiterhin oder neuerlich anerkennt und sich seit der Entscheidung gemäß § 5 die Umstände im zuständigen anderen Staat im Hinblick auf Art. 3 EMRK nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit maßgeblich verschlechtert haben., und
4. eine Abschiebung unter Berücksichtigung des Art. 8 EMRK (§ 9 Abs. 1 bis 2 BFA-VG) weiterhin zulässig ist.
(2) Hat der Fremde einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) gestellt und liegt kein Fall des Abs. 1 vor, kann das Bundesamt den faktischen Abschiebeschutz des Fremden aufheben, wenn
1. gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG besteht,
2. der Antrag voraussichtlich zurückzuweisen ist, weil keine entscheidungswesentliche Änderung des maßgeblichen Sachverhalts eingetreten ist, und
3. die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, 3 oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten und für ihn als Zivilperson keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(3) Hat der Fremde einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) gemäß Abs. 2 binnen achtzehn Tagen vor einem bereits festgelegten Abschiebetermin gestellt, kommt ihm ein faktischer Abschiebeschutz nicht zu, wenn zum Antragszeitpunkt
1. gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG besteht,
2. der Fremde über den Abschiebetermin zuvor nachweislich informiert worden ist und
3. darüber hinaus
a) sich der Fremde in Schub-, Straf- oder Untersuchungshaft befindet;
b) gegen den Fremden ein gelinderes Mittel (§ 77 FPG) angewandt wird, oder
c) der Fremde nach einer Festnahme gemäß § 34 Abs. 3 Z 1 oder 3 BFA-VG iVm § 40 Abs. 1 Z 1 BFA-VG angehalten wird.
Liegt eine der Voraussetzungen der Z 1 bis 3 nicht vor, ist gemäß Abs. 2 vorzugehen. Für die Berechnung der achtzehntägigen Frist gilt § 33 Abs. 2 AVG nicht.
(4) In den Fällen des Abs. 3 hat das Bundesamt dem Fremden den faktischen Abschiebeschutz in Ausnahmefällen zuzuerkennen, wenn der Folgeantrag nicht zur ungerechtfertigten Verhinderung oder Verzögerung der Abschiebung gestellt wurde. Dies ist dann der Fall, wenn
1. der Fremde anlässlich der Befragung oder Einvernahme (§ 19) glaubhaft macht, dass er den Folgeantrag zu keinem früheren Zeitpunkt stellen konnte oder
2. sich seit der letzten Entscheidung die objektive Situation im Herkunftsstaat entscheidungsrelevant geändert hat.
Über das Vorliegen der Voraussetzungen der Z 1 und 2 ist mit Mandatsbescheid (§ 57 AVG) zu entscheiden. Wurde der Folgeantrag binnen zwei Tagen vor dem bereits festgelegten Abschiebetermin gestellt, hat sich die Prüfung des faktischen Abschiebeschutzes auf das Vorliegen der Voraussetzung der Z 2 zu beschränken. Für die Berechnung der zweitägigen Frist gilt § 33 Abs. 2 AVG nicht. Die Zuerkennung des faktischen Abschiebeschutzes steht einer weiteren Verfahrensführung gemäß Abs. 2 nicht entgegen.
(5) Abweichend von §§ 17 Abs. 4 und 29 Abs. 1 beginnt das Zulassungsverfahren in den Fällen des Abs. 1 und 3 bereits mit der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz.
(6) Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 FPG bleiben 18 Monate ab der Ausreise des Fremden aufrecht, es sei denn es wurde ein darüber hinausgehender Zeitraum gemäß § 53 Abs. 2 und 3 FPG festgesetzt. Anordnungen zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, Ausweisungen gemäß § 66 FPG und Aufenthaltsverbote gemäß § 67 FPG bleiben 18 Monate ab der Ausreise des Fremden aufrecht. Dies gilt nicht für Aufenthaltsverbote gemäß § 67 FPG, die über einen darüber hinausgehenden Zeitraum festgesetzt wurden.
§ 2 Abs. 1 Z. 23 AsylG lautet:
ein Folgeantrag: jeder einem bereits rechtskräftig erledigten Antrag nachfolgender weiterer Antrag;
§57 AVG lautet:
(1) Wenn es sich um die Vorschreibung von Geldleistungen nach einem gesetzlich, statutarisch oder tarifmäßig feststehenden Maßstab oder bei Gefahr im Verzug um unaufschiebbare Maßnahmen handelt, ist die Behörde berechtigt, einen Bescheid auch ohne vorausgegangenes Ermittlungsverfahren zu erlassen.
(2) Gegen einen nach Abs. 1 erlassenen Bescheid kann bei der Behörde, die den Bescheid erlassen hat, binnen zwei Wochen Vorstellung erhoben werden. Die Vorstellung hat nur dann aufschiebende Wirkung, wenn sie gegen die Vorschreibung einer Geldleistung gerichtet ist.
(3) Die Behörde hat binnen zwei Wochen nach Einlangen der Vorstellung das Ermittlungsverfahren einzuleiten, widrigenfalls der angefochtene Bescheid von Gesetzes wegen außer Kraft tritt. Auf Verlangen der Partei ist das Außerkrafttreten des Bescheides schriftlich zu bestätigen.
1.2. In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (330 BlgNR 24. GP, 15) wird zu § 12a Abs. 3 AsylG Folgendes ausgeführt:
„Abs. 3 bestimmt, dass einem Fremden, der einen Folgeantrag im Sinne des Abs. 2, also nach zurück- oder abweisenden Entscheidungen, ausgenommen Dublin-Entscheidungen, stellt, unter bestimmten Voraussetzungen, die bereits zum Antragszeitpunkt vorliegen müssen, ein faktischer Abschiebeschutz ex lege nicht zukommt. Diesfalls geht Abs. 3 als Spezialnorm dem Abs. 2 vor. Für eine Aufhebung des Abschiebeschutzes ist in diesen Fällen daher naturgemäß kein Raum. Analog zu Abs. 2 muss auch in den Fällen des Abs. 3 eine aufrechte Ausweisung vorliegen (Z 1, siehe dazu auch oben zu Abs. 2 und im Hinblick auf asylrechtliche Ausweisungen § 10 Abs. 6). Eine weitere wesentliche Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Abs. 3 ist, dass der Abschiebetermin des Fremden bereits festgelegt ist, der Fremde nachweislich darüber informiert wurde (Z 2) und der Folgeantrag binnen achtzehn Tagen vor diesem Abschiebetermin gestellt wurde. Die Festlegung des Abschiebetermins und die diesbezügliche Information an den Fremden müssen seiner Antragstellung vorangehen. Der Fremde muss also zum Zeitpunkt seiner Antragstellung von der Tatsache seiner zeitnah bevorstehenden Abschiebung und dem geplanten Termin Kenntnis haben. Ebenso muss der Fremde zum Zeitpunkt der Antragstellung von einer fremdenpolizeilichen Amtshandlung im Sinne der Z 3 betroffen sein. Das heißt, er muss sich entweder in Schubhaft (lit. a) oder im gelinderen Mittel (lit. b) befinden, oder festgenommen sein (lit. c). Fristauslösendes Ereignis für die achtzehntägige Frist ist der Tag der Abschiebung. Von diesem Zeitpunkt sind daher 18 Tage zurückzurechnen. Der Tag der Abschiebung selbst bleibt dabei unberücksichtigt. Weiters wird normiert, dass § 33 Abs. 2 AVG nicht gilt, Samstag, Sonntag, gesetzlicher Feiertag oder der Karfreitag daher nicht den Ablauf der Frist hindern. Dies ist insofern konsequent, da die hier geregelten Amtshandlungen nicht an Arbeitstage und Amtsstunden gebunden sind und daher auch an diesen Tagen regulär abgewickelt werden.
Die Wendung „bereits festgelegter Abschiebetermin“ wird so zu verstehen sein, dass die Behörde gegen den Fremden eine Außerlandesbringung bereits fixiert hat und sich dies auch hinreichend konkret manifestiert hat und dokumentiert ist. Dabei ist insbesondere an eine bereits erfolgte Flugbuchung, die Anforderung exekutiver Begleitkräfte, die Aufnahme des Fremden in eine Liste für einen bereits organisierten Flug- oder Buscharter und ähnliches zu denken. Nicht notwendig ist allerdings, dass sämtliche formale Hindernisse, die einer Abschiebung entgegenstehen könnten, bereits ausgeräumt sind. So wird es beispielsweise nicht notwendig sein, dass der Fremde bereits erfolgreich einer Flugtauglichkeitsuntersuchung unterzogen wurde. In Ausnahmefällen wird auch das Fehlen eines Heimreisezertifikates nicht hinderlich sein, wenn dieses bereits beantragt wurde und damit zu rechnen ist, dass es noch vor dem Abschiebetermin ausgestellt wird.
Entsprechend der hier normierten Systematik bestimmt § 67 Abs. 4 FPG, dass die Fremdenpolizeibehörde einen Fremden, der über eine durchsetzbare asylrechtliche Ausweisung verfügt, ehestmöglich ab Vorliegen der dafür notwendigen Voraussetzungen nachweislich über einen festgelegten Abschiebetermin zu informieren hat. Diese Information wird insbesondere den Tag und das Zielland der Abschiebung umfassen müssen. Schriftlichkeit der Information ist nicht gefordert. Die Information wird beispielsweise auch in Einem mit dem Ausspruch der Festnahme gemäß Z 2 lit. c erfolgen können. Siehe dazu auch § 67 Abs. 4 und 5 FPG. Vgl. weiters die in § 67 Abs. 3 FPG bereits im Vorfeld dazu vorgesehene allgemeine Informationspflicht an Fremde mit asylrechtlicher Ausweisung. In Anwendung des Abs. 3 kann dem Asylwerber Abschiebeschutz nur mehr in taxativ aufgezählten Ausnahmesituationen vom Bundesasylamt zuerkannt werden (vgl. Abs. 4). Um dem Rechtsschutzgedanken ausreichend Rechnung zu tragen, ist es daher angebracht, die Rechtsfolgen des Abs. 3 nur dann eintreten zu lassen, wenn dem Fremden die bevorstehende Abschiebung bewusst ist und daher im Allgemeinen davon auszugehen ist, dass es sich bei einem erst dann gestellten Folgeantrag lediglich um eine Reaktion auf die drohende Außerlandesbringung zwecks ihrer ungerechtfertigten Verhinderung handelt. Die gleichen Überlegungen treffen auf die Voraussetzungen gemäß Z 3 (Vorliegen von Schubhaft, gelinderem Mittel oder Anhaltung) zu. Zu beachten ist dabei insbesondere der Umstand, dass der wohlmeinende Folgeantragsteller seinen Antrag natürlich sogleich bei Vorliegen einer (neuen) Verfolgungs- oder Bedrohungssituation und nicht als Reaktion auf fremdenpolizeiliche Tätigkeit stellen wird. Siehe dazu aber auch die Möglichkeit der Zuerkennung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß Abs. 4.
Liegt eine der Voraussetzungen gemäß den Z 1 bis 3 nicht vor, so genießt der Fremde nach den allgemeinen Bestimmungen des § 12 Abs. 1 Abschiebeschutz; es ist jedoch gemäß Abs. 2 zu prüfen, ob der Abschiebeschutz des Fremden aufzuheben ist.“
Den Gesetzeserläuterungen zu § 12a Abs. 4 AsylG ist zu entnehmen:
„Abs. 4 normiert, dass einem Fremden, der einen Folgeantrag gemäß Abs. 3 stellt, in Ausnahmefällen der faktische Abschiebeschutz zuzuerkennen ist. Voraussetzung für die Zuerkennung ist, dass der Folgeantrag nicht zur ungerechtfertigten Verhinderung oder Verzögerung der Abschiebung gestellt wurde. Die Z 1 und 2 legen fest, in welchen Fällen davon auszugehen ist, dass diese Voraussetzung vorliegt. Demnach ist der Abschiebeschutz zuzuerkennen, wenn der Fremde bei der Befragung oder Einvernahme gemäß § 19 glaubhaft macht, dass er den Folgeantrag nicht früher stellen konnte (Z 1) oder sich seit der letzten Entscheidung – gemeint ist die Entscheidung über den vorigen Antrag auf internationalen Schutz – die objektive Situation im Herkunftsstaat entscheidungsrelevant geändert hat (Z 2). Die Z 1 umfasst damit den subjektiven Aspekt in jenen Fällen, in denen der wohlmeinende Antragsteller entgegen der allgemeinen Lebenserfahrung tatsächlich keine Möglichkeit hatte den Folgeantrag früher zu stellen. Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn das Bedrohungsbild erst aktuell entstanden ist oder der Fremde nicht früher davon Kenntnis erlangt hat. Die Z 2 deckt die objektiven Gründe für einen gerechtfertigten Folgeantrag ab und meint damit vor allem im Herkunftsstaat spontan und kurzfristig ausgebrochene Gewalt, Bürgerkrieg uä.
Für den Zeitraum von zwei Tagen vor dem Abschiebetermin soll die Zuerkennung des Abschiebeaufschubes nur mehr bei Vorliegen der Voraussetzung der Z 2, also bei einer Änderung der objektiven Situation im Herkunftsstaat, möglich sein. Für diese letzte Phase vor der Außerlandesbringung kommt es daher nur mehr auf die objektive Gefahrensituation im Herkunftsstaat an. Diese Bestimmung folgt den Erfahrungen der Praxis, dass gerade bei Folgeanträgen, die in einem mehr oder weniger unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung (z.B. beim letzten Informationsgespräch, bei der flugärztlichen Untersuchung, am Weg zum Flughafen) gestellt werden, nur mehr Umstände gemäß Z 2 für den Abbruch der Außerlandesbringung relevant sein können. Zur Fristberechnung siehe oben zu Abs. 3.
Weiters normiert Abs. 4, dass über das Vorliegen der Voraussetzungen zur Zuerkennung des faktischen Abschiebeschutzes (Z 1 und 2) mit Mandatsbescheid (§ 57 AVG) zu entscheiden ist. Das Bundesasylamt hat demnach jedenfalls, auch wenn der ex lege nicht vorhandene Abschiebeschutz nicht zuerkannt wird, über die dabei geprüften Kriterien der Z 1 und 2 abzusprechen. Liegt eine der Voraussetzungen der Z 1 oder 2 vor, so ist in Einem auszusprechen, dass dem Fremden der faktische Abschiebeschutz zuerkannt wird. Bei einem Folgeantrag, der binnen zwei Tagen vor der Abschiebung gestellt wird, umfasst die Prüfung im Rahmen der Erlassung des Mandatsbescheides nur mehr die Voraussetzung der Z 2 (siehe oben).
In der hier normierten Verpflichtung des Bundesasylamts, über die Voraussetzungen für die Zuerkennung des faktischen Abschiebschutzes bescheidmäßig abzusprechen, manifestiert sich der subjektive Rechtsschutz des Fremden (vgl. Art. 13 EMRK) und soll die ohnehin von Gesetzes wegen bestehende Prüfverpflichtung auch in einem, vom Fremden bekämpfbaren, normativen Rechtsakt nach außen treten lassen. Für die hier vorliegenden Sachverhalte ist die Form des, spezifischen verfahrensrechtlichen Normen unterliegenden, Mandatsbescheides zu wählen. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass eine Abschiebung des Fremden zeitlich determiniert bevorsteht, insofern aus Sicht des Fremden „Gefahr im Verzug“ vorliegt und der Mandatsbescheid eine rasche und effiziente Erledigung der gesetzlich vorgesehenen Prüfung ermöglicht. Wiewohl Prüfung und Bescheiderlassung bereits ex lege zu erfolgen haben, ist nach allgemeinen Verwaltungsverfahrensvorschriften auch ein auf die bescheidmäßige Erledigung gerichteter Antrag zulässig. Diesem kommt naturgemäß keine aufschiebende Wirkung zu. Gleiches gilt für die gegen einen negativen Bescheid erhobene Vorstellung (§ 57 Abs. 2 AVG) und eine gegen einen darauf folgenden Bescheid erhobene Beschwerde. § 36 Abs. 2 ist darauf naturgemäß nicht anzuwenden. Dies auch deshalb, weil dem Verfahren kein aufzuschiebendes Recht zugrunde liegt. [...]
Wie schon dargelegt, betrifft auch das in den Abs. 3 und 4 dargelegte Prüfungssystem nur die Frage, ob dem Asylwerber während des Asylverfahrens faktischer Abschiebeschutz zukommen soll und nicht die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz selbst. Über den Antrag ist daher im Allgemeinen zu entscheiden, auch wenn sich der Asylwerber nicht mehr im Bundesgebiet befindet.“
1.3. Das BFA hat mit Mandatsbescheid vom 29.09.2023 festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 12a Abs. 4 Z. 1 und Z. 2 AsylG nicht vorliegen. Der faktische Abschiebeschutz wurde ihm folglich nicht zuerkannt.
Der Mandatsbescheid wurde ihm am 29.09.2023 zur Kenntnis gebracht, eine Annahme des Mandatsbescheides wurde von ihm verweigert.
Der Mandatsbescheid wurde seiner Vertretung am 04.10.2023 nachweislich zugestellt und erhob diese fristgerecht binnen zwei Wochen das Rechtsmittel der Vorstellung. Die Vorstellung langte am 05.10.2023 beim BFA ein.
Aus dem vorgelegten Behördenakt war nicht ersichtlich, dass binnen zwei Wochen nach Einlangen der Vorstellung ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Im bekämpften Bescheid wurde wie folgt festgehalten:
„Am 06.10.2023 erhoben Sie das Rechtsmittel der Vorstellung. Zusätzliche Ermittlungen wurden am 22.01.2024 vom Bundesamt getätigt.“ (AS 278)
„Ihre Vorstellung war rechtzeitig. Das Bundesamt hat daraufhin das Ermittlungsverfahren am 08.01.2024 eingeleitet, indem sowohl Ihr aktuelles Verfahren sowie Ihr Vorverfahren und die objektive Lage in Ihrem Heimatland einer neuerlichen Prüfung unterzogen wurden. Der Mandatsbescheid trat daher nicht außer Kraft, sodass die Sache nun neuerlich – nach Durchführung weiterer Ermittlungen – im ordentlichen Verfahren zu entscheiden war.“ (AS 468)
Das BVwG konnte sich der hier von der Behörde vertretenen Rechtsansicht nicht anschließen. Tatsächlich war dem vorgelegten Behördenakt zu entnehmen, dass nach Einlangen der Vorstellung mit 05.10.2023 (AS 181 bis 183) erst mit Mail des BFA vom 20.11.2023 Ermittlungsschritte gesetzt wurden. Mit Mail vom 20.11.2023 ersuchte das BFA seine Rechtsvertretung um Auskunft, ob das Vertretungsverhältnis nach wie vor aufrecht sei (AS 185). Zeitlich zuvor gesetzte Ermittlungsschritte waren dem vorgelegten Behördenakt nicht zu entnehmen. Es wird nicht übersehen, dass weder eine bestimmte Art von Ermittlungen noch eine bestimmte Form für die Einleitung des Ermittlungsverfahrens vorgeschrieben ist. Entscheidend ist, ob die Behörde eindeutig zu erkennen gibt, dass sie sich nach Erhebung der Vorstellung durch die Anordnung von Ermittlungen mit der den Gegenstand des Mandatsbescheids bildenden Angelegenheit befasst (vgl. VwGH 18.06.1991, 91/11/0014). Es war gegenständlich aber nicht zu erkennen, dass sich das Bundesamt fristgerecht mit dem Gegenstand des Mandatsbescheids befasst hat. Da sohin nicht binnen zwei Wochen nach Einlangen der Vorstellung das Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, trat der Mandatsbescheid nach § 57 Abs. 3 AVG mit Ablauf der für die Einleitung des Ermittlungsverfahrens offen gestandenen zweiwöchigen Frist (sohin ex nunc, vgl. VwGH 19.09.1990, 90/03/132) außer Kraft.
Aus dem ungenützten Verstreichen der Frist durch die Behörde resultiert aber nicht, dass die betreffende Verwaltungsangelegenheit zugunsten des Vorstellungswerbers – im Sinne einer res iudicata – abgeschlossen ist. Die Behörde ist also, da das Mandat weggefallen ist, keineswegs daran gehindert, nachträglich ein Ermittlungsverfahren – bei dem es sich aber nicht um ein Vorstellungsverfahren handelt – einzuleiten und sodann in der Sache neuerlich zu entscheiden. Dabei kann auch dieselbe Anordnung wie im Mandatsbescheid noch einmal getroffen werden. Eine Bindung an den außer Kraft getretenen Mandatsbescheid besteht jedenfalls nicht (vgl. Hengstschläger/Leeb, AVG § 57 Rz 44 mit Verweis auf die Judikatur des VwGH).
Verfahrensrechtlich war daher der bekämpfte Bescheid nicht als „Vorstellungsbescheid“ zu qualifizieren.
1.4. Das BVwG teilt jedoch die Rechtsansicht der belangten Behörde, dass dem BF nach § 12a Abs. 3 AsylG ex lege kein faktischer Abschiebeschutz zukam.
Da kein Fall des § 12a Abs. 1 AsylG vorlag und er den Folgeantrag binnen achtzehn Tagen vor seiner Abschiebung (siehe sogleich) stellte, war gegenständlich die Bestimmung des § 12a Abs. 3 AsylG anzuwenden.
Im Hinblick auf die Voraussetzungen nach § 12a Abs. 3 AsylG war zunächst festzuhalten, dass er am 28.09.2023 einen Folgeantrag im Sinne des § 2 Abs. 1 Z. 23 AsylG stellte, zumal das Verfahren aufgrund des ersten Antrages auf internationalen Schutz vom 04.10.2015 mit Erkenntnis des BVwG vom 19.02.2019 rechtskräftig abgeschlossen wurde.
Wie den Gesetzeserläuterungen zu entnehmen ist, ist fristauslösendes Ereignis für die achtzehntägige Frist der Tag der Abschiebung. Von diesem Zeitpunkt sind daher 18 Tage zurückzurechnen. Der Tag der Abschiebung selbst bleibt dabei unberücksichtigt. Er stellte den Folgeantrag am 28.09.2023 und somit fünf Tage vor der geplanten Abschiebung am 03.10.2023.
Im Zeitpunkt der Antragstellung (28.09.2023) bestand gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG (Erkenntnis des BVwG vom 19.02.2019; Erkenntnis des BVwG vom 01.10.2020), zumal nicht hervorkam, dass er nach dem Erlassen der Rückkehrentscheidungen Österreich verlassen hat. Das BFA ging daher zu Recht vom Bestehen einer aufrechten Rückkehrentscheidung aus (§ 12a Abs. 3 Z. 1 AsylG).
Er wurde am 26.09.2023 nachweislich – und somit vor seiner Antragstellung am 28.09.2023 – über die bevorstehende Abschiebung am 03.10.2023 in Kenntnis gesetzt (§ 12a Abs. 3 Z. 2 AsylG).
Zum Zeitpunkt der Antragstellung wurde er nach einer Festnahme gemäß § 34 Abs. 3 Z. 1 oder 3 BFA-VG iVm § 40 Abs. 1 Z. 1 BFA-VG angehalten. Er war daher jedenfalls zum Zeitpunkt der Antragstellung von einer fremdenpolizeilichen Amtshandlung im Sinne der Z 3 des § 12a Abs. 3 AsylG betroffen.
Es lagen damit alle Voraussetzungen nach § 12a Abs. 3 AsylG vor und kam ihm daher ex lege kein faktischer Abschiebeschutz zu.
1.5. Es galt als nächstes zu prüfen, ob das BFA im Lichte der Bestimmung des § 12a Abs. 4 AsylG zu Recht den faktischen Abschiebeschutz nicht zuerkannt hat.
Voraussetzung für die Zuerkennung ist, dass der Folgeantrag nicht zur ungerechtfertigten Verhinderung oder Verzögerung der Abschiebung gestellt wurde. Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt wurde, konnte er nicht glaubhaft machen, dass er den Folgeantrag zu keinem früheren Zeitpunkt stellen konnte (§ 12a Abs. 4 Z. 1 AsylG). Im Lichte seiner Ausführungen, dass er bereits vor einem Jahr über die vermeintlich neuen Antragsgründe in Kenntnis gewesen sei, erhellte nicht, warum er nicht bereits zum Zeitpunkt der Kenntniserlangung oder in zeitnaher Folge und nicht erst wenige Tage vor der geplanten Effektuierung der Rückkehrentscheidung einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Auch die Beschwerde enthielt kein entsprechendes nachvollziehbares Vorbringen. Es kam auch nicht hervor, dass sich seit der letzten Entscheidung die objektive Situation im Herkunftsstaat entscheidungsrelevant geändert hat (§ 12a Abs. 4 Z. 2 AsylG).
Es war folglich davon auszugehen, dass er den Folgeantrag zur ungerechtfertigten Verhinderung oder Verzögerung der Abschiebung gestellt hat.
Insoweit vorgebracht wurde, dass er im Zuge der Erstbefragung einen neuen Sachverhalt vorgebracht habe und bislang die psychische Erkrankung des BF im Hinblick auf eine Art. 2 und Art. 3 EMRK Verletzung nie berücksichtigt worden sei, wird übersehen, dass Gegenstand dieses Verfahrens nicht das Verfahren und die Sachentscheidung über den Folgeantrag selbst war, sondern die Frage, ob es zu einem ex lege Wegfall des faktischen Abschiebeschutzes nach § 12a Abs. 3 AsylG kam bzw. ob ihm nach § 12a Abs. 4 AsylG der faktische Abschiebeschutz zuzuerkennen war. Auf die relevierte Gesundheitsgefährdung war nach dem eindeutigen Wortlaut des § 12a Abs. 4 AsylG daher nicht einzugehen.
Das BFA hat dem BF somit zu Recht keinen faktischen Abschiebeschutz aufgrund seines Folgeantrages vom 28.09.2023 zuerkannt.
Da im gg. Fall alle Voraussetzungen für die Nichtzuerkennung des faktischen Abschiebeschutzes vorgelegen sind, war die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
2. Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG, BGBl I Nr. 68/2013 idgF, kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.
Die Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben, da der Sachverhalt auf Grund der Aktenlage und des Inhaltes der Beschwerde geklärt war.
3. Es war sohin spruchgemäß zu entscheiden.
Zu B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.