Spruch
W247 2275231-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. HOFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch RA Mag. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.06.2023, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.09.2023, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 1 und 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013, idgF., iVm §§ 7 Abs. 1 Z 2 und Abs. 4, 8 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl Nr. 100/2005, idgF., als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunk III. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und dieser gemäß § 28 Abs. 1 und Abs. 2 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Die Beschwerdeführerin (BF) ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, der kumykischen Volksgruppe und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam zugehörig.
I. Verfahrensgang:
1. Die BF reiste zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt, spätestens am 21.10.2002, als Minderjährige gemeinsam mit ihrer Mutter, unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte die Mutter der BF für diese als deren gesetzliche Vertreterin an ebendiesem Tag einen Asylerstreckungsantrag.
2. Mit Bescheid des ehemaligen Bundesasylamtes vom 06.09.2007, Zl. XXXX , wurde dem Asylerstreckungsantrag der BF gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 1997 stattgegeben, dieser in Österreich durch Erstreckung Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass ihr kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
3. Mit Urteil des BG XXXX vom 17.06.2015, rk. am 23.06.2015, wurde die BF wegen § 15 StGB § 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 3 Wochen bedingt verurteilt.
4. Mit Urteil des BG XXXX vom 07.01.2016, rk. am 12.01.2016, wurde die BF wegen § 127 StGB, § 229 Abs. 1 StGB und § 146 StGB zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen à EUR 9,- im NEF 50 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.
5. Mit Urteil des LG XXXX vom 15.01.2016, rk. am 15.01.2016, wurde die BF wegen §§ 27 Abs. 1 Z 1 1. Und 2. Fall, 27 Abs. 2 SMG und §§ 28a Abs. 1 2. Und 3. Fall, 28a Abs. 3 SMG zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten bedingt und einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen à EUR 9,- im NEF 25 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.
6. Mit Urteil des LG XXXX vom 25.05.2016, rk. am 25.05.2016, wurde die BF wegen § 229 Abs. 1 StGB, § 15 StGB; § 297 Abs. 1 2. Fall; § 288 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten bedingt und einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen à EUR 5,- im NEF 90 Tage Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt.
7. Mit Mitteilung vom 21.01.2019 wurde die BF über die Einleitung eines Asylaberkennungsverfahrens in Kenntnis gesetzt und wurde diese aufgefordert zu näher formulierten Fragen Stellung zu nehmen. Dazu gab die BF an, in Dagestan geboren und in Österreich an einer näher genannten Adresse in XXXX alleine zu wohnen. Die BF habe keine Kinder, sei gesund und nehme derzeit keine Medikamente. Sie spreche, abgesehen von Russisch und Deutsch, noch Tschechisch und Bosnisch bzw. Serbo-Kroatisch. Die BF gehöre der dagestanischen Volksgruppe an, sei ohne Bekenntnis und lebe noch ihre Mutter, welche mittlerweile österreichische Staatsbürgerin sei, im Bundesgebiet. Über weitere Familienangehörige in der EU verfüge die BF nicht und habe sie nie um eine andere Aufenthaltsberechtigung nach dem NAG im Bundesgebiet angesucht. Die BF habe von 2005-2008 die Berufsschule in XXXX besucht. Sie bestreite ihren Lebensunterhalt durch eine Angestelltentätigkeit, verfüge über eine aufrechte Kranken- sowie Unfallversicherung in Österreich und habe keinen Besitz im Bundesgebiet. Die BF habe einen Freundeskreis in Österreich und befänden sich alle ihre noch lebenden Verwandten im Bundesgebiet. Dem entgegen verfüge die BF über keine persönlichen Bindungen zur Russischen Föderation und verfüge sie über keine Wohnanschrift im Herkunftsstaat. Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation würde die BF Krieg und Gefahr erwarten. Für sie sei das ein fremdes Land. In den Herkunftsstaat zurückzukehren sei für die BF ein unvorstellbarer Albtraum. Ihr Heimatland sei Österreich.
8. Mit Aktenvermerk vom 27.02.2019 wurde das gegen die BF eingeleitete Asylaberkennungsverfahren eingestellt.
9. Mit Urteil des BG XXXX vom 08.03.2019, rk am 12.03.2019, wurde die BF wegen § 50 Abs. 1 Z 2 WaffG zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen à EUR 6,- im NEF 50 Tage Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt.
10. Mit Aktenvermerk vom 20.02.2020 wurde neuerlich ein Asylaberkennungsverfahren gegen die BF eingeleitet, wobei von der Erfüllung des Tatbestandes nach § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG ausgegangen wurde.
11. Am 25.02.2020 wurde die BF in Untersuchungshaft genommen.
12. Mit Urteil des LG XXXX vom 15.05.2020, rk. am 15.05.2020, wurde die BF wegen §§ 146, 147 Abs. 1 Z 1 2. Fall, 148 2. Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten, davon 12 Monate bedingt, verurteilt.
13. Mit Parteiengehör vom 18.05.2020 wurde der BF mitgeteilt, dass geprüft werde, ob die Voraussetzungen der Asylberechtigung noch vorliegen würden. Die BF wurde gebeten eine Reihe an Fragen binnen einer Woche zu beantworten und wurde ihr darüber hinaus die Möglichkeit gegeben zu den übermittelten Länderfeststellungen ebenfalls binnen einer Woche Stellung zu nehmen. Von dieser Möglichkeit machte die Beschwerdeseite keinen Gebrauch.
14. Mit Parteiengehör vom 04.12.2020 wurde selbiges Schreiben vom 18.05.2020 neuerlich übermittelt und der BF erneut die Möglichkeit zur Stellungnahme gewährt. Dazu gab die BF an, dass sie der kumykischen Volksgruppe und dem islamischen Glauben angehöre. Die BF sei ledig und habe keine Kinder. Ihre Freizeit verbringe die BF mit Sport, Lesen, Freunden, sowie Familie und außerdem gehe sie gerne wandern. Derzeit beziehe die BF Arbeitslosengeld und arbeite geringfügig. Sie lebe in XXXX alleine mit ihrem Hund. Der Bruder der BF und ihre Mutter würden im Bundesgebiet leben. Die BF verfüge noch über Verwandte und Bekannte im Herkunftsstaat, habe mit diesen aber keinen Kontakt. Eine Wohnanschrift im Herkunftsstaat verfüge die BF nicht und verfüge sie zur Russischen Föderation über keine persönlichen Bindungen. Die BF verfüge über keine Reisedokumente ihres Heimatlandes. Die im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen der BF seien österreichische Staatsbürger. Ein Abhängigkeitsverhältnis in Österreich bestehe nicht und sei die BF seit ihrer Asylantragstellung nicht im Herkunftsstaat gewesen. Die Mutter der BF sei seit der Asylantragstellung jedoch in den Herkunftsstaat gereist. Die BF sei gesund und verfüge über soziale Bindungen in Österreich. Sie sei Mitglied im Sportverein XXXX , habe beim Marathon in XXXX teilgenommen und verfüge über viele Freunde, sowie Bekannte (österreichische und ausländische). Die BF spreche Deutsch, sie habe einen Deutschkurs beim BFI besucht und sei 3 Jahre lang in die Berufsschule gegangen. Ihr sei im Jahr 2007 aus politischen und religiösen Gründen Asyl gewährt worden. Eine Rückkehr komme für die BF nicht in Frage. Ihre Heimat sei in Österreich, wo ihre Familie sei. Freiwillig würde die BF in den Herkunftsstaat nicht zurückkehren, für sie sei ihr zu Hause in XXXX . In der Vergangenheit sei die BF leider durch falsche Partner mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Sie sei ein gutmütiger, netter und hilfsbereiter Mensch.
15. Am 06.05.2021 wurde die BF im Beisein eines ihr einwandfrei verständlichen Dolmetschers für die Sprache RUSSISCH niederschriftlich vor dem BFA einvernommen. Dort gab sie im Wesentlichen an, ihre Einvernahme jedoch auf Deutsch führen zu wollen. Die BF spreche Russisch, Deutsch und Türkisch. Außerdem könne sie Tschechisch und verstehe alle slawischen Sprachen. Der BF gehe es gut, sie laufe jeden Tag morgens 5-6 Kilometer. Sie habe keine Erkrankungen und nehme keine Medikamente, abgesehen von Aspirin in der Früh. Von ihrer Geburt XXXX bis zu ihrer Ausreise im Jahr 2000 habe sich die BF im Herkunftsstaat in XXXX in Dagestan aufgehalten. Die BF gehöre dem islamischen Glauben und der kumykischen Volksgruppe an. In Österreich lebe die BF an einer näher genannten Adresse in XXXX alleine mit ihrem Hund. Sie sei ledig, habe keine Kinder und würden ihre Mutter, sowie ihr Bruder im Bundesgebiet leben, diese seien österreichische Staatsbürger. Weitere Familienangehörige in der EU habe die BF nicht. Im Herkunftsstaat würden noch Tanten und Onkel der BF leben, zu welchen sie jedoch so gut wie keinen Kontakt habe. Die BF habe die Hauptschule bis zur 8. Klasse in der Russischen Föderation besucht. Dann sei sie in einer Musikschule gewesen und habe folglich „in der Tschechei“ zwei Jahre lang die Hauptschule besucht. In Österreich sei die BF in der polytechnischen Schule gewesen, habe anschließend Deutschkurse gemacht und die Berufsschule zur Einzelhandelskauffrau absolviert. Die BF sei dann in verschiedenen Kursen gewesen, sie habe eine Nageldesignausbildung beim Wifi gemacht und ein paar Seminare. Nun wolle die BF eine Ausbildung in der Altenpflege machen. Deswegen habe sie am Montag einen Termin. Die BF habe im Kundenservice 10 Jahre Erfahrung im Verkauf und habe sie 2017 ein Geschäft übernommen. Leider sei das nicht gut gegangen, sie hätten schließen müssen. Die BF habe demnach auch Führungserfahrung und sei im Einzelhandel im Lebensmittelbereich tätig gewesen. Momentan habe die BF aufgrund von Corona geringfügig gearbeitet, derzeit sei sie ohne Job, fange am Montag jedoch mit ihrer Ausbildung an. Die BF bekomme Geld vom AMS und habe zusätzlich geringfügig gearbeitet. Ab und zu würden der BF ihr Bruder und ihre Mutter helfen. Derzeit habe sie keinen gültigen Pass, das sei ein neuerliches Hindernis, um einen Job zu bekommen. In ihrer Freizeit gehe die BF sehr viel spazieren und sei sehr oft bei ihrer Mutter, sowie ihrem Bruder. Die BF sei oft mit ihrem Hund beschäftigt, schaue, dass sie „raus komme“ und mache Sport. Sie mache kleine Ausflüge mit ihrer Familie, gehe gern in Museen und lese gerne. Durch den Sport und die Arbeit habe die BF ein paar Bekannte. Jeder habe aber seinen eigenen Alltag, deswegen würden sie sich nicht so oft treffen. Die BF besitze ein Auto, welches sie auf Kredit gekauft habe. Sie versuche sich ehrenamtlich zu engagieren, deshalb wolle sie jetzt auch im Pflegebereich arbeiten. Die BF sei in einem Sportverein gewesen und habe selbst einen mit ihren Freundinnen wegen des Marathons gründen wollen, daraus sei jedoch nichts geworden. In einem Verein sei die BF nicht so richtig. Leider sei die BF in der Vergangenheit mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Sie habe Beziehungen gehabt, die „mit dem Gesetz nicht so okay waren“. Sie habe leider mitgemacht, das sei dumm gewesen. Die BF versuche jedoch sich - so gut wie möglich - an die Gesetze zu halten. Dokumente aus ihrem Herkunftsstaat habe die BF nicht. Seit ihrer Asylantragstellung sei sie nicht mehr im Herkunftsstaat gewesen, ihre Mutter sei einmal im Jahr 2018 für einen Monat dort gewesen. Sie hätten - so gut wie - keinen Kontakt mehr zur Heimat. Was die BF im Herkunftsstaat erwarten würde, könne sie sich nicht vorstellen. Ihre Heimat sei Österreich, in der Russischen Föderation habe sie gar nichts. Im Falle einer Rückkehr könnte die BF keine Unterstützung von ihrer Familie erhalten, weil sie keinen Kontakt habe und seit dem Jahr 2000 weg sei. Die Mutter der BF habe in Österreich Asyl erhalten, weil der Vater der BF politisch tätig gewesen sei. Aufgrund ihrer Religion hätten sie auch Probleme gehabt, es sei um den Islam gegangen. Sie seien in Gefahr gewesen. Der Bruder der BF sei einmal entführt worden. Es seien Fluchtgründe der Familie gewesen, „sie“ (Anm.: die BF und ihr Bruder) seien mit ihrer Mutter als Kinder nach Österreich gekommen. Die Mutter der BF habe sie alleine großgezogen, das mache eine Frau nicht einfach so. Sie hätten viel durchgemacht und könne es sich die BF nicht vorstellen zurückzukehren. Es gäbe Terroranschläge und werde die Religion überall auf der Welt ein Problem sein. Es sei im Herkunftsstaat auch nicht ruhig, wobei es für die BF dort kein Problem gäbe. Für sie gäbe es wegen ihres Vaters Probleme, aber wisse die BF nicht, wie es heute wäre. Aktuell sei die Situation in ihrem Herkunftsstaat unruhig. Mit den Terroristen und Wahabiten habe es nie aufgehört. Diese würden alle Frauen verschleiern und seien fanatisch. Die BF könne sich nicht vorstellen sich zu verschleiern und dort zu leben. Sie wäre lieber staatenlos und sei die Russische Föderation nicht ihre Heimat. Österreich sei das Heimatland der BF. Wenn es eine Möglichkeit geben würde sie straflos zu machen, wäre das „super“. Die BF habe eine tolle Wohnung, ein gutes Leben und wolle dieses nicht aufgeben.
16. Am 12.05.2022 wurde die BF neuerlich niederschriftlich vor dem BFA auf Deutsch einvernommen. Auf Vorhalt, dass die BF zur belangten Behörde gekommen sei, um einen Antrag auf Ausstellung eines Konventionsreisepasses zu stellen, wobei sie einen alten Konventionsreisepass vorgelegt habe, welcher von 05.12.2013 bis 04.12.2015 gültig gewesen sei und eindeutige Verfälschungszeichen aufweise – die Jahreszahl sei von 2015 auf 2025 korrigiert worden, vermeinte die BF einen Kugelschreiber mit Tinte zu haben, welche dorthin getropft sei. Die BF habe es nicht wegwischen können. Sie stelle jetzt einen Antrag auf Ausstellung eines Konventionsreisepasses, weil sie überall Probleme habe, da sie sich nicht ausweisen könne. Die BF gebe zu, dass sie versucht habe wegen eines Handyvertrags einen 2er daraus (Anm.: aus der Jahreszahl) zu machen. Auf Vorhalt, dass die BF nicht unbescholten sei, gab sie an, eine „blöde Beziehung“ gehabt zu haben, der Mann habe die BF „runtergezogen“ und habe sie auch „Blödsinn gemacht“. Jetzt wolle die BF neu anfangen. Die BF habe keine Therapie gemacht und wolle das auch nicht. Sie gehe laufen und sei abstinent. Die BF finanziere ihren Lebensunterhalt durch das AMS. Sie sei arbeitslos, habe geringfügige Jobs und kellnere. Jetzt bekomme die BF einen festen Job beim Parkbad, sie müsse den Vertrag noch unterschreiben. Am 15.05.2022 solle sie anfangen. Die BF habe sich beim Samariterbund gemeldet und habe in einem näher genannten Altenheim während der Corona-Zeit geholfen. Sie habe noch eine Ausbildung machen wollen. In die Russische Föderation sei sie seit ihrer Ausreise nicht gereist. Die BF sei in Österreich zu Hause. Nachgefragt bei ihrer Mutter brachte die BF vor, dass ihr letzter russischer Reisepass bis 2011 gültig gewesen sei und dieser nie verlängert worden sei. Die BF habe zu niemandem in der Russischen Föderation Kontakt. Ihre Mutter erzähle ihr manchmal von der Familie ebendort, aber die BF interessiere das nicht.
17.1. Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde (BFA) vom 15.06.2023 wurde der BF der zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass ihr die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Der Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), kein Aufenthaltstitel nach § 57 erteilt (Spruchpunkt III.) und ausgesprochen, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach § 52 FPG gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist. Der BF wurde gemäß § 58 Abs. 2 und 3 AsylG iVm § 55 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt (Spruchpunkt IV.)
17.2. In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person der BF, zu den Gründen für die Aberkennung des Status der Asylberechtigten, zu den Gründen der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten und der Situation im Falle ihrer Rückkehr, zu ihrem Privat- und Familienleben im Bundesgebiet, sowie zur Lage in ihrem Herkunftsstaat. Rechtlich wurde ausgeführt, dass eine Aberkennung des Asylstatus der BF aufgrund der „Wegfall der Umstände“-Klausel möglich sei, da der BF der Asylstatus im Wege der Erstreckung von ihrer Mutter zuerkannt worden sei. Es sei nicht ersichtlich, dass die Familie der BF wegen des in der Russischen Föderation verbliebenen Vaters der BF einer Verfolgung ausgesetzt wäre, zumal die Familienangehörigen keinen Kontakt mehr mit dem Vater der BF hätten und der zweite Tschetschenienkrieg seit 2009 beendet sei. Die BF sei keiner auf ihre Person bezogenen Verfolgung ausgesetzt gewesen und habe keine eigenen Verfolgungsgründe gehabt. Es gäbe keine Anhaltspunkte für eine Gefährdung nach Art. 2 oder Art. 3 EMRK. Es lägen auch keine individuellen Umstände vor, wonach die BF bei einer Rückkehr in die Russische Föderation in eine extreme Notlage geraten würde. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung sei in casu nicht zulässig, weil die BF seit ihrer Asylantragstellung in Österreich lebe. Die BF sei ledig, lebe mit ihrem Bruder zusammen und spreche fließend Deutsch. Sie habe mehrere Prüfungen gemacht und den Schulabschluss in Österreich nachgeholt. Außerdem habe die BF eine Lehre in Österreich absolviert und sei seit Jänner 2023 wieder erwerbstätig. Der Bruder und die Mutter der BF würden im Übrigen die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Die BF sei nicht unbescholten, doch würde ihre letzte Verurteilung 6 Jahre zurückliegen. Insgesamt sei die Erlassung einer Rückkehrentscheidung daher nicht zulässig und der BF eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen.
18. Mit Information zur Rechtsberatung vom 19.06.2023 wurde der BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.
19. Mit am 06.07.2023 eingelangten Schriftsatz vom 04.07.2023 wurde durch den rechtsfreundlichen Vertreter der BF Beschwerde gegen Spruchpunkt I. bis III. des angefochtenen Bescheides des BFA, zugestellt am 20.06.2023, wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Vorliegen von Verfahrensmängeln, erhoben. Begründend wurde beschwerdeseitig im Wesentlichen zunächst der Sachverhalt neuerlich dargestellt, wobei zusammenfassend ausgeführt wurde, dass die BF um den 21.10.2002 unrechtmäßig als Minderjährige in das Bundesgebiet eingereist sei. Die BF habe am 06.09.2007 Asyl erstreckt von ihrer Mutter erhalten. Seitdem halte sich die BF rechtmäßig in Österreich auf. Die Mutter der BF sei mittlerweile österreichische Staatsbürgerin. Die BF sei russische Staatsangehörige und gehöre dem islamischen Glauben an. Eine Abschiebung der BF sei mit Kostenrestrektionen und der Gefahr für Leib und Leben verbunden, da in Dagestan Angehörige des Islam verfolgt würden. Der Bruder dr BF sei aus diesem Grund einmal entführt worden. Die Mutter der BF habe nach ihrer Einreise fälschlicherweise angegeben, dass sie und ihre Tochter nicht verfolgt seien, weshalb lediglich ein Asylerstreckungsantrag gestellt worden sei. Tatsächlich seien die BF und ihre Familie in ihrer Heimat Gefahren ausgesetzt gewesen, weil der Vater der BF politisch tätig gewesen sei. Es sei zu Verfolgungen aufgrund ihres Religionsbekenntnisses gekommen. Die BF habe seit ihrer Einreise ihren Lebensmittelpunkt in Österreich und sei seit ihrer Ausreise nicht mehr im Herkunftsstaat gewesen. Die BF habe in Österreich die Schulbildung abgeschlossen und eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau begonnen. Die BF habe auch nicht vor wieder in ihr Heimatland zu reisen, da sie so gut wie keinen Kontakt mit Bekannten ebendort habe. Seit ihrer Einreise sei die BF durchgehend in Österreich gemeldet und habe ihren Hauptwohnsitz im Bundesgebiet.
Die gegen die BF geführten Strafverfahren seien im Zusammenhang mit ihrem Ex-Freund gestanden, von welchem sie sich getrennt habe. Das geführte Verfahren wegen Suchtgift sei eingestellt worden. Seit ihrem ersten Gefängnisaufenthalt während des ersten Lockdowns pflege die BF einen ordentlichen Lebensstil. Sie habe eine neue Arbeitsstelle und ein Schuldenregulierungsverfahren laufe. Seit Juni 2020 gäbe es keine Übertretungen mehr und habe die BF kürzlich einen neuen Reisepass erhalten, welcher bis 2028 gültig sei. Dies sei als Anerkenntnis ihres Asylstatus zu sehen. Hinsichtlich ihres Lebensmittelpunktes habe die belangte Behörde keine Erhebungen vorgenommen.
Folglich wurde die Rechtslage zu § 7 AsylG dargestellt und ausgeführt, dass die BF lediglich wegen Vergehen, nie wegen eines Verbrechens verurteilt worden sei. Daher liege kein Asylausschlussgrund vor. Die BF stellte keine Gefahr für die Republik Österreich dar, zumal zwischen ihrer letzten Verurteilung und der Erlassung des Bescheides knapp 3 Jahre liegen würden. Die BF habe sich von ihrem damaligen Freund getrennt. Dieser habe die BF auch in das problematische Umfeld hineingezogen. Die BF habe nunmehr Arbeit gefunden, wobei sie ein relativ hohes Einkommen erziele und ein Schuldenregulierungsverfahren abgewickelt worden sei. Der Zahlungsplan sei angenommen worden und lebe die BF in geordneten persönlichen und finanziellen Verhältnissen.
Anlässlich ihrer letzten Einvernahme sei der Konventionsreisepass der BF von der belangten Behörde verlängert worden und sei der BF signalisiert worden, dass das gegenständliche Verfahren eingestellt werde. Die BF habe – sehe man von weit entfernten Verwandten ab – keine Bindungen mehr zu ihrem Herkunftsstaat. Ihre engsten Familienangehörigen, nämlich ihre Mutter und ihr Bruder, seien bereits österreichische Staatsbürger. Die BF spreche sehr gut Deutsch und sei sehr gut integriert.
In der Beschwerde wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge 1.) den angefochtenen Bescheid aufheben und das Verwaltungsverfahren einstellen; 2.) in eventu der BF den Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen bzw. eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 AsylG erteilen; und 3.) eine mündliche Verhandlung anberaumen.
20. Die Beschwerdevorlage vom 10.07.2023 und der Verwaltungsakt langten beim Bundesverwaltungsbericht (BVwG) am 18.07.2023 ein.
21. Mit Ladung vom 18.08.2023 übermittelte das BVwG der BF die Beweismittelliste zur Lage in der Russischen Föderation und das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, letzte Änderung 04.07.2023, Version 12, mit der Information, dass es beabsichtige seiner Entscheidung diese Feststellungen zu Grunde zu legen. Der Beschwerdeseite wurde Gelegenheit eingeräumt, dazu binnen 10 Tagen einlangend schriftlich Stellung zu nehmen, wovon die Beschwerdeseite keinen Gebrauch machte.
22. Am 01.09.2023 fand unter der Beiziehung einer der BF einwandfrei verständlichen Dolmetscherin für die Sprache RUSSISCH vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt.
Die Niederschrift lautet auszugsweise:
„[…]
RI: Nennen Sie mir bitte wahrheitsgemäß Ihren vollen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihren Geburtsort, Ihre Staatsbürgerschaft, sowie Ihren Wohnort in der Russischen Föderation (RF) an dem Sie sich vor Ihrer Ausreise zuletzt aufgehalten haben.
BF: XXXX , geb. XXXX in der Stadt XXXX in Dagestan; StA. Russische Föderation; letzter Wohnort war in XXXX in Dagestan.
RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volksgruppe- oder Sprachgruppe gehören Sie an?
BF: Kumykische Volksgruppe.
RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an? Und wenn ja, welcher?
BF: Ich bin sunnitische Muslima.
RI: VORHALTUNG: Im Zuerkennungsverfahren haben Sie angegeben, muslimischen Glaubens zu sein, im Aberkennungsverfahren haben Sie im Rahmen der beschwerdeseitigen Stellungnahme vom 04.03.2019 die Frage nach einer Religionszugehörigkeit jedoch klar verneint und angegeben, ohne Bekenntnis zu sein. Im Rahmen der beschwerdeseitigen Stellungnahme vom Dezember 2020 gaben Sie wiederum an, dem Islam anzugehören. Vor dem BFA am 06.05.2021 gaben Sie auf Seite 4 an wegen Ihres Glaubens im Herkunftsland Probleme gehabt zu haben. Warum vermochten Sie in den bisherigen Verfahren im Bundesgebiet keine gleichbleibenden Angaben zu Ihrer Religionszugehörigkeit zu tätigen?
BF: Ich bin Muslima. Die Fragen habe ich wahrscheinlich falsch verstanden. Ich habe es so verstanden, ob ich zu irgendwelchen Gruppen gehöre oder in einer religiösen Gemeinschaft bin und das bin ich nicht.
RI: Haben Sie Dokumente oder Unterlagen aus der Russischen Föderation, welche Ihre Identität zweifelsfrei beweisen?
BF: Nein, ich habe keine.
RI: Besaßen Sie jemals einen russischen Reisepass?
BF: Nein, jetzt habe ich keinen russischen Reisepass. Ich habe nur den Konventionspass den ich jetzt habe. Ich hatte natürlich einen russischen Reisepass, der ist aber schon lange abgelaufen. Ich habe diesen mit 14 Jahren bekommen und mit dem bin ich aus Dagestan ausgereist.
RI: Besitzen Sie derzeit einen gültigen russischen Reisepass?
BF: Nein, brauche ich auch nicht.
RI: Besitzen Sie einen gültigen österreichischen Konventionspass? Wenn ja, legen Sie den bitte vor.
BF: Ja, den vorgelegten Konventionspass mit dem ich mich ausgewiesen habe.
RI: Welche Sprachen sprechen Sie?
BF: Ich spreche Russisch, meine Muttersprache Kumykisch, Tschechisch und alle slawischen Sprachen, wie zum Beispiel Serbo-Kroatisch, Bosnisch und slowenisch etc.
RI: Vor dem BFA haben Sie auch erwähnt, dass Sie Türkisch sprechen.
BF: Ja, meine Muttersprache gehört zu den turkmensichen Gruppen und die türkische Sprache gehört ebenfalls zu der turkmensichen Gruppe. 50% der türkischen Sprache verstehe ich.
RI: Bitte schildern Sie Ihren Lebenslauf. Wo und wie lange waren Sie in Österreich in der Schule. Welche Schulausbildung haben Sie in Österreich begonnen und welche Schulausbildung haben Sie bisher abgeschlossen? Haben Sie eine Berufsausbildung in Österreich begonnen und abgeschlossen oder in Ihrem Herkunftsstaat? Nennen Sie mir bitte die entsprechenden Schulen.
BF: In Russland war ich in der Volksschule ein Jahr lang, dann in der Hauptschule acht Jahre lang und während dieser acht Jahre habe ich nebenbei auch eine Musikschule besucht. Dann bin ich ausgereist, war in der Tschechei zweieinhalb Jahre von 2002 bis Anfang 2003, bevor wir nach Österreich gekommen sind und dort war ich auch in einer Hauptschule. Dann sind wir nach Österreich gekommen, ich bin in eine Polytechnische Schule gegangen in XXXX bei XXXX , wo wir in der Asylunterkunft waren. Das war eher wegen der Sprachkenntnisse. Dann bin ich in XXXX in eine Hauptschule für ca. zwei Jahre gegangen und zwar von 2004 bis 2005, dann habe ich eine Berufsschule angefangen, welche ich von 2005 bis 2008 besucht habe. Ich habe Einzelhandelskauffrau gelernt, aber zu den Prüfungen bin ich nicht angetreten. Das heißt, ich habe die Berufsschule nicht abgeschlossen. Dann bin ich arbeiten gegangen, habe gekellnert und war auch im Verkauf, auch im Fitnessbereich habe ich gearbeitet. Ich habe auch über WIFI Kurse besucht wie zum Beispiel Nageldesigner Kurse, dann bin ich auch noch vom AMS auf etliche Kurse geschickt worden. Ich war bei mehreren Seminaren dabei, zum Beispiel vom XXXX , das habe ich auch gemacht.
RV verweist auf die vorgelegten Zeugnisse und Urkunden bezüglich Schulbesuche und Ausbildungen/Kurse.
RV legt vor: Drei Teilnahmebescheinigungen des BFI zum Thema Deutsch Sprachtraining und Perfektion. Diese Unterlagen werden in Kopie zum Akt genommen.
RI: Haben Sie einen gültigen Pflichtschulabschluss in Österreich?
BF: Einen Hauptschulabschluss habe ich nicht.
RI: Haben Sie sonst eine Berufsausbildung, abgesehen von der Genannten, in Österreich begonnen bzw. auch abgeschlossen? Wenn ja, welche und wann haben Sie damit begonnen?
BF: Nein.
RI: Wann sind Sie das erste Mal nach Österreich gereist und seit wann befinden Sie sich durchgehend in Österreich?
BF: Seit 2003 bis heute durchgehend.
RI: Mit welchen Verwandten sind Sie zeitgleich nach Österreich gekommen?
BF: Nur mit meiner Mutter XXXX und meinem Bruder XXXX .
RI: Welche Verwandten von Ihnen leben zur Zeit in der RF und in welcher Stadt? Bitte zählen Sie diese mit Namen, Geburtsdatum und Wohnort auf?
BF: Ich kenne sie nicht einmal, es sind Geschwister von meiner Mutter. Ich habe mit ihnen keinen Kontakt. Nachgefragt: Ihre ältere Schwester XXXX wohnt in XXXX , sie ist ca. XXXX Jahre alt. XXXX ist die mittlere Schwester lebt in der Hauptstadt von Dagestan, sie ist ca. XXXX Jahre alt und ein Bruder namens XXXX lebt in XXXX in Dagestan mit seiner Frau und der Familie, er ist um die XXXX . Ich bin mir aber nicht ganz sicher. Meine Mutter ist die jüngste Schwester. Nachgefragt: Weiters gibt es in Russland noch einen Cousin und eine Cousine in XXXX . Es gibt noch weitere Verwandten, Tanten, Cousinen und Cousins, sie sind über ganz Russland verstreut.
RI: Haben Sie noch Kontakt zu Ihren im Herkunftsstaat lebenden Verwandten? Wenn ja, wie oft?
BF: Ich habe mit gar keinem Kontakt.
RI: Hat Ihre Mutter noch Kontakt zu diesen im Herkunftsstaat lebenden Verwandten? Wenn ja, wie oft?
BF: Sie telefoniert vielleicht ein oder zwei Mal im Jahr zum Anlass irgendwelcher Feiertage. Sie hat Kontakt ab und zu.
RI: Wovon leben Ihre im Herkunftsstaat aufhältigen Verwandten?
BF: Das weiß ich wirklich nicht. Jeder hat sein eigenes Leben.
RI: Verfügen Ihre im Herkunftsstaat aufhältigen Verwandten über Vermögenswerte im Herkunftsstaat (Auto, Haus, Eigentumswohnung, Grundstück, …)?
BF: Nein, nicht wirklich. Jeder geht arbeiten. Es gibt Mietwohnungen, sie zahlen Miete. Es gibt aber kein Vermögen.
RI: Leben diese im Herkunftsstaat aufhältigen Verwandten noch immer am gleichen Wohnort, wie zu der Zeit, als Sie ausgereist sind?
BF: Nein. Ich weiß, dass sie umziehen und einmal hier oder da leben. Wo genau, dass weiß ich ehrlich gesagt nicht.
RI: Sind diese im Herkunftsstaat lebenden Verwandten seit Ihrer Ausreise von den Behörden des Herkunftsstaates jemals behelligt worden?
BF: Sicherlich hat jeder eigene Probleme, ich habe mein eigenes Leben hier und ich weiß es nicht. Jeder schaut auf sich.
RI wiederholt die Frage.
BF (mit Übersetzung): Ich habe davon nichts gehört, vielleicht meine Mutter weiß es.
RI: Verfügen Sie über Bekannte oder Freunde im Herkunftsstaat mit denen Sie in Kontakt stehen?
BF: Gar keine. Ich habe wirklich mit gar keinem Kontakt.
RI: Verfügen Sie über Verwandte, welche außerhalb der Russischen Föderation leben? Nennen Sie mir bitte Namen, Geburtsdaten und den Wohnort dieser Verwandten?
BF: Naja, egal um welche Verwandte es sich handelt, ich habe mit niemanden Kontakt. Es gibt natürlich Verwandte, aber wir haben keinen Kontakt.
RI: Verfügen Sie über Verwandte im Bundesgebiet? Wenn ja, welche? Bitte zählen Sie alle mit Namen, Geburtsdatum und Wohnort auf.
BF: Nur meine Mutter XXXX , geb. XXXX und mein Bruder XXXX , geb. XXXX . Das sind meine einzigen Verwandten im Bundesgebiet.
RI: Wie ist der Aufenthaltsstatus Ihrer im Bundesgebiet lebenden Verwandten?
BF: Beide haben die österreichische StA.
RI: Mit welchen Ihrer in Österreich aufhältigen Verwandten leben Sie zur Zeit in einem gemeinsamen Haushalt und seit wann bzw. seit wann nicht mehr?
BF: Meine Mutter und mein Bruder leben zusammen. Ich lebe alleine.
RI: Wovon leben Ihre in Österreich aufhältigen Verwandten?
BF: Meine Mutter ist bereits in Pension, mein Bruder hat Karosseriebautechniker gelernt und ist seit zehn Jahren bei einer Firma beschäftigt.
RI: Verfügen Sie noch über Vermögenswerte im Herkunftsstaat, z.B. Eigentumswohnung, Haus, Grundstücke, Auto, etc.?
BF: Gar nichts.
RI: Wovon leben Sie im Bundesgebiet?
BF: Ich arbeite Vollzeit bei XXXX und verdiene Netto € 1.800,- plus Provision.
RV legt vor: Eine Meldebestätigung, welche nachweist, dass die BF seit 2015 in einer eigenen Wohnung lebt; Dienstvertrag mit der Firma XXXX , das Dienstverhältnis begann am 21.01.2023, ist inzwischen unbefristet und aufrecht; Lohnzettel der Monate Jänner bis einschließlich August 2023. Im Rahmen ihrer Beschäftigung erfolgen Fortbildungen, vorgelegt wird ein Diplom über eine Schulung vom März 2023 im Original. Diese Unterlagen werden in Kopie zum Akt genommen.
RV: Was wir mit den Urkundenvorlagen bezwecken ist das Bild der BF, wie es sich bei der BFA Befragung gestellt hat, anders darzustellen. Es haben sich seit diesem Zeitpunkt viele positive Veränderungen ergeben bezüglich der im Bescheid aufgelisteten Berührungen mit dem Strafgesetzbuch werden entsprechende Korrekturen noch vorgebracht. Die Voraussetzungen für die Aberkennung des Asylstatuses sind aus unserer Sicht nicht gegeben (mit Stand 01.09.2023).
RI: Wie sind Ihre Familienverhältnisse im Bundesgebiet? Sind Sie zur Zeit verheiratet oder in einer Partnerschaft?
BF: Nein, ich bin ledig.
RI: Haben Sie eigene Kinder?
BF: Nein.
RI: Haben Sie seit Ihrer erstmaligen Einreise in Österreich im Jahr 2003 auch in einem anderen Land gelebt bzw. in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union bzw. dort einen Asylantrag gestellt?
BF: Nein, nur in Österreich. Ich bin durchgehend in Österreich.
RI: Wissen Sie noch, warum Sie mit Ihrer Familie im Jahr 2000 aus Dagestan geflohen ist?
BF: Ja, wegen der Kriegssituation. Mein Vater ist umgebracht worden und mein Bruder ist entführt worden. Unsere Familie war einfach in Gefahr.
RI: Aus welchen Gründen sind Ihr Vater umgebracht worden und Ihr Bruder entführt worden?
BF: Aus religiösen Gründen, sie wollten unsere Republik islamisieren. Sie wollten, dass alle Frauen verschleiert sind und mein Vater war dageggen. Er war in der Position, dass seine Stimme eine starke Auswirkung gehabt hätte. Er hat gewisse Unterlagen einfach nicht unterschrieben und deswegen hat es nicht stattgefunden.
RI: In welcher Position war Ihr Vater?
BF: Er war in der Politik.
RI: Welche Position hatte er inne?
BF: Ich weiß nicht, was er genau getan hat. Er hat mehrere Entscheidungen treffen können und hat sozusagen eine Stimme gehabt. Er war gegen die Islamisierung.
RI: Welche Religion hatte Ihr Vater?
BF: Er war auch Moslem, aber für ihn war das irgendwie zu extrem geworden.
RI: Wann hat die Gefährdungslage für Ihre Familie begonnen und was war das fluchtauslösende Ereignis?
BF: Weil er umgebracht worden ist.
RI: Wann ist er umgebracht worden?
BF: Ich weiß es nicht genau, welches Jahr es war. Es war ein Jahr oder weniger bevor wir ausgereist sind. Ich glaube, es war sogar weniger als ein Jahr vor der Ausreise. Wir haben geschaut, dass wir einfach wegkommen.
RI: Wann ist Ihr Bruder entführt worden?
BF: Das war kurz bevor mein Vater umgebracht worden ist.
RI: Wie ist Ihr Bruder wieder freigekommen?
BF: Polizisten haben ihn gefunden. Es war wie eine Vorwarnung für meinen Vater, weil sie ihn für die Islamisierung gebraucht haben. Es war schon der Tschetschenien Krieg und aus Tschetschenien sind die Wahabiten marschiert. Die erste Dorfgeiselnahme war und dann ist alles eskaliert.
RI: Wissen Sie grob, welche Person oder Personengruppe, welche Mitglieder Ihrer Familie, wann bedroht haben und was damals vorgefallen ist?
BF: Das waren meine Brüder, meine Mutter und ich, weil wir seine Familie sind. Ich weiß nicht, ob auch seine Verwandten bedroht waren, aber vor allem seine Familie.
RI: Stand die Gefährdungslage für Ihre Familie mit den zwei Tschetschenienkriegen in einem direkten Zusammenhang? Wenn ja, wie war der Zusammenhang?
BF: Ja. Es hat immer wieder Terroranschläge gegeben bevor wir ausgereist sind und es ist sogar ein neunstöckiges Haus gesprengt worden.
RI: War Ihre Familie im Herkunftsstaat jemals politisch aktiv?
BF: Ja, mein Vater war in der Politik, aber wir waren nicht in der Politik aktiv. Meine Mutter war Klavierlehrerin und wir sind in die Schule gegangen.
RI: Sind Sie oder Ihre hier lebenden Verwandten seit der Ausreise aus dem Herkunftsstaat politisch aktiv gewesen? Wenn ja, wann sind Sie das erste Mal politisch im Bundesgebiet in Erscheinung getreten?
BF: Gar nicht, nein. Wir leben hier und wollen nur unsere Ruhe haben.
RI: Was befürchten Sie konkret im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation?
BF: Alles. Ich kann es mir gar nicht vorstellen, dass ich dort lebe. Nachgefragt: Ich kenne dieses Land nicht und bin hier aufgewachsen. Für mich ist es ein fremdes Land.
RI: Warum sollten Sie heute – 23 Jahre – nach Ihrer Ausreise aus der Russischen Föderation – noch von irgendjemanden gesucht werden?
BF: Ich weiß nicht, wie die Lage dort ist, aber was ich damals erlebt habe, habe ich noch immer vor meinen Augen. Wenn ich über die Heimat rede, dann kommt genau dieses Bild. Was ich durchgemacht habe war die Hölle auf Erden.
RI: Haben Sie irgendeinen Nachweis, dass Sie als Person bei Rückkehr nach Dagestan einer Verfolgung ausgesetzt wären (Haftbefehl, Ladungen, …)?
BF: Kriminell habe ich mich nicht gemacht, ich war 13 Jahre alt. Nein, sowas habe ich nicht.
RI: Könnten Sie in einem anderen Teil der Russischen Föderation leben?
BF: Ich war in Dagestan, habe dort gelebt, bin dann in die Tschechei und nach Österreich gekommen. Das sind die einzigen Länder die ich kenne. Ich habe Furcht vor Verfolgung, mein Bruder hat bis jetzt psychische Probleme durch das, was ihm damals passiert ist.
RI: Sie wurden im Bundesgebiet bereits straffällig und sind strafrechtlich verurteilt worden. Wissen Sie noch welche Straftaten Ihren strafgerichtlichen Verurteilungen zu Grunde gelegt wurden?
BF: Ja, es war wegen Suchtmittel, dann Ladendiebstahl, was habe ich noch gemacht… (BF denkt nach) Betrug.
RI: Womit hat Ihre kriminelle Laufbahn begonnen und was war der Grund für die ersten Straftaten? Etwa Langeweile, finanzielle Not, zerrüttete Familienverhältnisse, schlechter Umgang oder anderes? Können Sie mir erklären, wie es bei Ihnen soweit gekommen ist?
BF: Schlechter Umgang, schlechter Freundeskreis oder auch schlechte Partner.
RI: Meinen Sie damit jemand konkretes?
BF: Meinen Ex-Partner XXXX .
RI: VORHALTUNG: Aus dem Strafregister der Republik Österreich geht hervor, dass 6 strafgerichtliche Verurteilung zu Ihrer Person eingetragen sind wegen Delikten, die vor allem gegen das Eigentum Dritter gerichtet sind, aber wegen des Deliktes der Urkundenunterdrückung, der Verleumdung und falschen Beweisaussage, sowie nach dem Suchtmittel- und dem Waffengesetz und Sie haben bereits das Haftübel verspürt. Bereuen Sie Ihre Taten und wie gedenken Sie künftig nicht mehr in dieses kriminelle Verhaltensmuster im Bundesgebiet zurückzufallen?
BF: Wenn ich das höre kommt es mir so vor, als wäre es nicht über mich. Ich habe meine Ansichten komplett geändert, auch meinen Lebensstil, Lebenskreise und den Tages- und Lebensablauf. Ich habe mich wirklich darum gesorgt, dass ich meinen inneren Frieden finde, mich auch mental Stärke und Stabilität im Leben finde. Das waren bestimmt die Punkte, die mich aus der Bahn geworfen habe und wegen diesen ich in Probleme oder falschen Kreise hineingeraten bin.
RI: Sie verfügen im Bundesgebiet über familiäre Anknüpfungspunkte in den Personen der Mutter, sowie eines Bruders? Sind Sie die Einzige in der Familie, die bislang mit dem Gesetz im Bundesgebiet in Konflikt geraten ist oder sind auch andere Mitglieder Ihrer Familie bereits im Bundesgebiet strafrechtlich verurteilt worden?
BF: Ich bin die einzige.
RI: Was sagen Ihre Verwandten im Herkunftsstaat und Ihre im Bundesgebiet aufhältigen Verwandten zu Ihrem kriminellen Verhalten im Bundesgebiet?
BF: Meine Mutter hat sehr gelitten. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weswegen ich mich um 180 Grad geändert habe. Ich möchte diese Frau einfach nicht traurig sehen. Sie hat das nicht verdient, ist mit zwei Kindern hergekommen; hat alles auf die Füße gestellt und alles gegeben.
RI: VORHALTUNG: Sie sind zwischen Juni 2015 und Mai 2020, also binnen weniger als fünf Jahren, in Österreich insgesamt sechsmal strafrechtlich verurteilt worden und haben von 24.02.2020 bis 22.05.2020 im Bundesgebiet das Haftübel verspürt. Begründen Sie mir bitte glaubhaft und nachvollziehbar, wieso Sie im Bundesgebiet nicht wieder in das bisherige kriminelle Verhaltensmuster zurückfallen werden?
BF: Weil ich komplett anders denke jetzt. Vielleicht auch durch das was ich durchgemacht habe, bin ich der Mensch der ich heute bin. Natürlich hat mir der Sport, das Laufen, sehr geholfen. Jeden Tag arbeite ich Vollzeit, stehe früh auf und stehe um fünf Uhr auf. Ich habe meinen Ernährungsplan umgestellt und mache Sport. Ich koche jeden Tag vor und halte mich daran. Dann arbeite ich von neun bis 18 Uhr und komme nach Hause. Dann gehe ich mit meinem Hund ca. eine halbe Stunde spazieren und danach laufe ich im Fitnessstudio eine Stunde. Dann komme ich nach Hause und mein Tag ist vorbei.
RI: Aus einem aktuellen KPA-Auszug geht hervor, dass für Ihre Person das Delikt des Ladendiebstahles im Dezember 2019, sowie wiederholt das Delikt des unerlaubten Umganges mit Suchtmitteldelikten, zuletzt am 01.09.2022, eingetragen ist. Was können Sie mir dazu genau sagen?
BF: Das war einfach schwach von mir. Wenn in meinem Leben etwas nicht gepasst hat, dann habe ich in den Drogen die Lösung gesucht. Dann bin ich natürlich selbstdestruktiv geworden und habe zu den Drogen gegriffen. Der Auslöser könnte ein Beziehungsproblem oder anderes gewesen sein. Ich konnte mit Problemen nicht umgehen. Ich bin den falschen Weg gegangen.
RI: Sie haben in der Vergangenheit immer wieder Suchtmittel konsumiert. Um welche Suchtmittel hat es sich gehandelt?
BF: Cristal Meth.
RI: Wann haben Sie das letzte Mal Drogen konsumiert?
BF: Über ein Jahr ist das her.
RI: Würden Sie sich als drogenabhängig bezeichnen?
BF: Nein. Auf keinen Fall heute, auf keinen Fall.
RI: Haben Sie jemals eine Art von Drogentherapie und/oder –Entzug absolviert bzw. haben Sie solches vor? Wenn ja, was planen Sie?
BF: Nein, ich habe sowas nicht gehabt, aber ich war bei XXXX (Drogenberatungsstelle in XXXX ) bei einer Beratung.
RV: Dort wurde vom BG XXXX in der Einvernahme des Magistrats XXXX eine Therapie verordnet, die positiv abgeschlossen wurde, sodass dann wie auf Seite 8 des angefochtenen Bescheids aufgeführt die angegebene Übertretung nach dem Suchtmittelgesetz eingestellt wurde.
RI an RV: Sie werden aufgefordert binnen 14 Tagen hier gerichtlich einlangend Unterlagen vorzulegen, aus denen einerseits die Anordnung der Therapie, wie auch andererseits der erfolgreiche Abschluss der Therapie hervorgeht.
RI: Wann haben Sie die Therapie abgeschlossen?
BF: Ich habe dort drei oder vier Gespräche gehabt, den Abschluss hatte ich ungefähr im März oder April 2023.
RI: Haben Sie seither, also seit Abschluss der Drogentherapie, noch irgendeine Art von Droge, das heißt nicht nur Cristal Meth, zu sich genommen?
BF: Nein. Ich mache alles, dass ich mich körperlich wieder reinige. Ich mache Sport und schätze alles raus. Ich möchte nie wieder diesen „Dreck“ in meinem Körper haben, egal in welcher Form. Ich gehe nicht einmal fort und trinke keinen Alkohol. Es ist für mich nur Energieverschwendung, welche ich für andere Sachen brauche.
RI: Wie nehmen Sie am sozialen Leben in Österreich teil (Mitgliedschaften bei Vereinen, Clubs, …)?
BF: Momentan bin ich den ganzen Tag in der Arbeit, dort treffe ich viele Leute. Ich gehe auch jeden Tag ins Fitnessstudio.
RI: Haben Sie österreichische Freunde?
BF: Ja sicher, meine Arbeitskolleginnen sind alle meine Freundinnen. Im Fitnessstudio kenne ich auch einige Leute, sie sind auch Österreicher.
RI: Waren Sie in Österreich bislang ehrenamtlich tätig?
BF: Ehrenamtlich war ich nicht tätig.
RI: Wie geht es Ihnen gesundheitlich? Sind Sie gesund?
BF: Mir geht es sehr gut.
RI: Nehmen Sie Medikamente?
BF: Gar nichts.
RI: Sind Sie in ärztlicher oder therapeutischer Behandlung?
BF: Nein.
RI: Sind Sie arbeitsfähig?
BF: Ja.
RI: Welche Sprache sprechen Sie mit Ihrer Mutter und Ihrem Bruder in Österreich?
BF: Ich spreche schon fast immer Deutsch mit ihnen. Denken und sprechen tue ich auf Deutsch, ich tue mir so leichter.
RI: Hatten Sie heute die Gelegenheit sich umfassend zu Ihren Rückkehrbefürchtungen und Ihren Fluchtgründen zu äußern?
BF: Ich habe alles gesagt und Sie haben alles gesehen. Ich könnte noch viel über meinen seelischen Zustand, wie ich mich fühle, erzählen. Ich hatte die Gelegenheit über alles zu sprechen was ich wollte.
RI an RV: Haben Sie Fragen an die BF?
RV: Ganz am Anfang war das Thema Islam. Mit heutigen Datum hast Du islamischer Religionsbekenntnis aber übst es aktiv nicht aus, stimmt das?
BF: Genau, so habe ich es auch bei der Befragung vor dem BFA gemeint. Ich habe mir gedacht, sie meinen Gruppen. So habe ich es irgendwie verstanden.
RV: Du hast ausgesagt, dass Du keinen Hauptanschluss hättest. Voraussetzung für den Beginn der Lehre ist jedoch der positive Hauptschulabschluss.
BF: Ach ja, ohne den kann ich keine Lehre anfangen. Ich habe keine Unterlagen dafür. Es tut mir leid, dass ich falsch geantwortet habe. Dann habe ich einen Hauptschulabschluss.
RI an RV: Sie werden aufgefordert binnen 14 Tagen hier gerichtlich einlangend den Nachweis eines Hauptschulabschlusses vorzulegen.
RV: Du bist während des ersten Lockdowns im Mai 2020 in Haft gewesen und welche Änderungen gab es nach dieser Haftentlassung in deinem Leben?
BF: Ich habe mit der Kriminalität einfach nichts mehr zu tun gehabt. Ich werde es auch nicht mehr haben.
RV: Hast Du dich auch von deinem Freund getrennt?
BF: Genau. Das war das Hauptproblem, dass ich mich immer manipulieren habe lassen. Ich habe auch öfter mit den Drogen aufgehört, weil ich gesehen habe, dass es mich kaputt macht und mein Ex hat es gesehen. Heute weiß ich, dass es ihm nicht gepasst hat, dass ich aufgehört habe, weil er mir immer wieder etwas gebracht hat. Nachgefragt: Er hat Cristal Meth gebracht. Ich bin dann immer wieder reingerutscht. Durch die Drogen wird man charakterlich schwach. Ich habe zum Glück die Trennung geschafft. Ich habe Stabilität erreicht und erreicht, dass ich auf diesem Weg bleibe und mich nichts von diesem Weg bringt.
RV: Zu Deinem Vater als Politiker: Ist es möglich, dass Du als Tochter eines Politikers bei einer allfälligen Rückkehr verfolgt wirst?
BF: Natürlich ist das möglich. Ich weiß allerdings nicht, wie die Lage im Herkunftsstaat ist, aber von den Menschen kann man alles erwarten.
RV: Keine weiteren Fragen, aber ich möchte eine Stellungnahme abgeben auch im Hinblick auf die strafgerichtlichen Verurteilungen bzw. auf die Feststellungen im angefochtenen Bescheid auf Seite 8.
RI an RV: Sie werden aufgefordert binnen 14 Tagen hier gerichtlich einlangend, zusammen mit den noch beizubringenden Unterlagen diese Stellungnahem einzubringen.
Auf Wunsch der Beschwerdeseite wird im Protokoll festgehalten, dass die überwiegende Fragebeantwortung im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung durch die BF auf Deutsch erfolgt ist.
[…]“
23. Mit beschwerdeseitiger Stellungnahme vom 13.09.2023 wurde ein Konvolut an Unterlagen hinsichtlich der Absolvierung einer Therapie beim Beratungszentrum „ XXXX “ vorgelegt und ausgeführt, dass das Strafverfahren gegen die BF nach den Bestimmungen des SMG eingestellt worden sei. Entgegen der Annahme des Rechtsvertreters sei ein Hauptschulabschluss zum Beginn einer Lehre nicht notwendig und verfüge die BF über keinen Hauptschulabschluss. Die BF stelle keine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit der Republik Österreich dar. Sie habe sich zum Positiven verändert und sei seit Jänner 2023 in einem aufrechten Beschäftigungsverhältnis. Die BF habe nunmehr die Möglichkeit zur Abteilungsleiterin aufzusteigen und verdiene sie zwischen EUR 1.700,- und 1.800,- netto monatlich. Durch Provisionen könne die BF ihr Gehalt verbessern. Sie lebe in geordneten finanziellen Verhältnissen, habe erfolgreich eine Drogentherapie abgeschlossen, sich von ihrem damaligen Lebensgefährten getrennt und betreibe Sport. Es sei nicht zu erwarten, dass die BF neuerlich straffällig werden. Die BF habe von März bis Mai 2020 das Haftübel verspürt und sei das Strafverfahren gegen die BF nach dem SMG und wegen Körperverletzung entgegen der Ausführungen der belangten Behörde eingestellt worden. Hinsichtlich der Feststellungen bezüglich des Strafverfahrens auf S. 7 des angefochtenen Bescheides im Zeitraum Jänner bis März 2020 sei auszuführen, dass es sich nicht um 3 Übertretungen, sondern um eine Übertretung gehandelt habe, welche im Mai 2020 mit einer Verurteilung geendet habe.
In der Anlage wurde ein Zeitungsartikel vom 02.09.2023 übermittelt. Die Russische Föderation gehöre zu einer der unruhigsten Regionen der Welt. Es gäbe laufend Regimewechsel und Repressalien der Behörden und des Militärs. Wenn die BF zurückgeführt werde, würde sie bei ihrer Einreise sicherlich nach einem Grund befragt warum sie 20 Jahre lang nicht in der Russischen Föderation gewesen sei. Die Gefahr von Repressalien gegen ihre Person sei gegeben. Seit Februar 2022 befinde sich die Russische Föderation in einem rechtswidrigen Angriffskrieg gegenüber der Ukraine, weshalb es Sanktionen westlicher Staaten gäbe. Es handle sich um einen Krieg, wobei de facto das Kriegsrecht verhängt worden sei. Außerdem gäbe es eine Zensur der Medien, des Internets, der Versammlungsfreiheit und der Meinungsfreiheit. Es würden willkürliche Verfolgungen von Personen wegen politischer Meinungen, Religionen und Herkunft stattfinden. Sämtliche Regimegegner würden verfolgt oder liquidiert. Seitens der BF würden erhebliche Bedenken bestehen, dass der Flugzeugabsturz von XXXX ein Anschlag gewesen sei. Russland sei Kriegsgebiet und gäbe es sämtliche negative Begleiterscheinungen. Von Grund- und Menschenrechten könne keine Rede sein. Eine Abschiebung der BF sei daher rechtswidrig. Jedenfalls sei der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
Die BF habe ihren Lebensmittelpunkt in Österreich, sie habe hier die Schule abgeschlossen, sei voll integriert und arbeite Vollzeit. Zusammenfassend sei das Verfahren einzustellen bzw. der BF der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen bzw. eine Aufenthaltsberechtigung nach § 57 AsylG zu erteilen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des Antrages der BF auf internationalen Schutz vom 21.10.2002, des Zuerkennungsbescheides des ehemaligen Bundesasylamtes vom 06.09.2007 Zl. XXXX , der für die BF am 06.07.2023 eingebrachten Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 15.06.2023, sowie der Einsichtnahme in den Verwaltungsakt, der Auszüge aus dem Zentralen Melderegister, dem Fremden- und Grundversorgungs-Informationssystem, dem Strafregister der Republik Österreich, dem AJ-Web und nach mündlicher Verhandlung vor dem BVwG am 01.09.2023 werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:
Die BF ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, der Volksgruppe der Kumyken und dem muslimischen Glauben zugehörig. Ihre Identität steht fest. Sie spricht muttersprachlich Kumykisch, sehr gut Russisch und Tschechisch. Sie versteht sämtliche slawischen Sprachen und Türkisch. Die BF ist ledig und kinderlos.
Die BF wurde in XXXX (auch XXXX ) in Dagestan geboren, wo sie bis zu ihrer Ausreise im Jahr 2000 lebte. Vor ihrer Einreise nach Österreich lebte die BF zunächst in Tschechien, wobei sie als Minderjährige gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem ebenfalls mj. Bruder spätestens am 21.10.2002 in das österreichische Bundesgebiet einreiste und die Mutter der BF für sich und ihre Kinder an ebendiesem Tag Anträge auf internationalen Schutz stellte. Der BF wurde mit Bescheid vom 06.09.2007, Zl. XXXX der Status einer Asylberechtigten durch Erstreckung von ihrer Mutter gewährt.
In der Russischen Föderation hat die BF bereits 9 Jahre lang die Schule besucht, wobei sie nebenbei die Musikschule besucht hat. Die BF verfügt in der Russischen Föderation noch über mehrere Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen, welche an verschiedenen Orten im Herkunftsstaat leben. Eine Tante der BF ms. lebt in XXXX , eine weitere in der dagestanischen Hauptstadt und ein Onkel der BF ms. lebt noch in XXXX . Die BF hat keinen Kontakt zu ihren in der Russischen Föderation lebenden Verwandten. Ihre Mutter hat jedoch 1-2 Mal im Jahr zu Anlässen oder Feiertagen Kontakt mit ihren Familienangehörigen im Herkunftsstaat.
Die BF verfügt im Bundesgebiet über ihre Mutter, XXXX , geb. am XXXX , und ihren Bruder XXXX , geb. am XXXX , welche beide österreichische Staatsbürger sind. Die Mutter der BF ist in Pension und der Bruder der BF arbeitet als Karosseriebautechniker.
In Österreich hat die BF ein Jahr das Polytechnikum besucht und anschließend eine Berufsausbildung zur Einzelhandelskauffrau begonnen. Die BF hat 3 Jahre lang (Schuljahr 2005/06, 2006/07, 2007/08) die Berufsschule besucht, die Lehrabschlussprüfung dann jedoch nicht absolviert, weshalb sie über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügt. Im Jahr 2016 hat die BF einen 10-tägigen Kurs des WIFI zur Nageldesignerin abgeschlossen. Die BF hat mehrere Deutschkurse besucht und ein Sprachzertifikat auf Sprachniveau B1 abgelegt. Sie spricht sehr gut Deutsch. Im Jahr 2006 hat die BF an einer Unterweisung in „lebensrettenden Sofortmaßnahmen am Ort des Verkehrsunfalls“ des XXXX teilgenommen. Während ihrer Angestelltenzeit bei XXXX hat die BF das „Frischfleisch-Basis-Seminar“ erfolgreich absolviert. Seit 23.01.2023 arbeitet die BF als Verkäuferin bei XXXX und verdient monatlich etwa EUR 1.700,- bis 1.800,-, wobei sie im März 2023 auch schon an einer Schulung teilgenommen hat. Die BF hat nunmehr die Möglichkeit zur Abteilungsleiterin aufzusteigen. Bereits zuvor hat die BF in den letzten 6 Jahren von 16.05.2022 bis 05.09.2023, von 01.03.2022 bis 11.03.2022, von 16.05.2021 bis 30.05.2021, von 28.01.2019 bis 25.02.2019, von 01.08.2017 bis 07.09.2018 und von 01.01.2017 bis 31.07.2017 als Arbeiterin bzw. Angestellte gearbeitet. Zwischenzeitig hat sie immer wieder Arbeitslosengeld bezogen.
Die BF ist gesund und arbeitsfähig. Sie war in der Vergangenheit drogenabhängig.
Die BF wurde im Bundesgebiet straffällig und insgesamt 6 Mal strafgerichtlich verurteilt, wovon es sich bei einer Verurteilung um eine Zusatzstrafe handelt. Im Strafregister der Republik Österreich sind folgende Verurteilungen ersichtlich:
01) BG XXXX vom 17.06.2015 RK 23.06.2015
§ 15 StGB § 127 StGB
Datum der (letzten) Tat 09.05.2015
Freiheitsstrafe 3 Wochen, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Vollzugsdatum 24.05.2020
zu BG XXXX RK 23.06.2015
Probezeit verlängert auf insgesamt 5 Jahre
BG XXXX vom 07.01.2016
zu BG XXXX RK 23.06.2015
Bedingte Nachsicht der Strafe wird widerrufen
LG XXXX vom 15.05.2020
02) BG XXXX vom 07.01.2016 RK 12.01.2016
§ 127 StGB
§ 229 (1) StGB
§ 146 StGB
Datum der (letzten) Tat 17.10.2015
Geldstrafe von 100 Tags zu je 9,00 EUR (900,00 EUR) im NEF 50 Tage Ersatzfreiheitsstrafe
Vollzugsdatum 07.10.2016
03) LG XXXX vom 15.01.2016 RK 15.01.2016
§§ 27 (1) Z 1 1.2. Fall, 27 (2) SMG
§§ 28a (1) 2.3. Fall, 28a (3) SMG
Datum der (letzten) Tat 11.08.2015
Freiheitsstrafe 10 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Geldstrafe von 50 Tags zu je 9,00 EUR (450,00 EUR) im NEF 25 Tage Ersatzfreiheitsstrafe
Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf BG XXXX RK 12.01.2016
Vollzugsdatum 19.08.2016
zu LG XXXX RK 15.01.2016
Probezeit des bedingten Strafteils verlängert auf insgesamt 5 Jahre
LG XXXX vom 25.05.2016
zu LG XXXX RK 15.01.2016
Unbedingter Teil der Geldstrafe vollzogen am 19.08.2016
LG XXXX vom 23.08.2016
zu LG XXXX RK 15.01.2016
(Teil der) Freiheitsstrafe nachgesehen, endgültig
Vollzugsdatum 19.08.2016
LG XXXX vom 27.07.2021
04) LG XXXX vom 25.05.2016 RK 25.05.2016
§ 299 (1) StGB § 15 StGB
§ 297 (1) 2. Fall StGB
§ 288 (1) StGB
Datum der (letzten) Tat 04.02.2016
Freiheitsstrafe 8 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Geldstrafe von 180 Tags zu je 5,00 EUR (900,00 EUR) im NEF 90 Tage Ersatzfreiheitsstrafe
Vollzugsdatum 10.11.2017
zu LG XXXX RK 25.05.2016
Unbedingter Teil der Geldstrafe vollzogen am 10.11.2017
LG XXXX vom 13.11.2017
zu LG XXXX RK 25.05.2016
(Teil der) Freiheitsstrafe nachgesehen, endgültig
Vollzugsdatum 10.11.2017
LG XXXX vom 24.06.2019
05) BG XXXX vom 08.03.2019 RK 12.03.2019
§ 50 (1) Z 2 WaffG
Datum der (letzten) Tat 31.12.2016
Geldstrafe von 100 Tags zu je 6,00 EUR (600,00 EUR) im NEF 50 Tage Ersatzfreiheitsstrafe
Vollzugsdatum 01.08.2019
06) LG XXXX vom 15.05.2020 RK 15.05.2020
§§ 146, 147 (1) Z 1 2. Fall, 148 2. Fall StGB
Datum der (letzten) Tat 02.09.2019
Freiheitsstrafe 15 Monate, davon Freiheitsstrafe 12 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Vollzugsdatum 24.05.2020
zu LG XXXX RK 15.05.2020
zu BG XXXX RK 23.06.2015
Aus der Freiheitsstrafe entlassen am 24.05.2020, bedingt, Probezeit 3 Jahre
LG XXXX vom 20.05.2020
zu LG XXXX RK 15.05.2020
zu BG XXXX RK 23.06.2015
Aus der Freiheitsstrafe entlassen, endgültig
Vollzugsdatum 24.05.2020
LG XXXX vom 31.05.2023
Mit Beschluss des BG XXXX vom 21.03.2022 wurde das gegen die BF mit Strafantrag vom 15.06.2021 wegen § 27 Abs. 1 Z 1 1. Und 2. Fall, Abs. 2 SMG eingeleitete gerichtliche Strafverfahren gemäß § 37 in Verbindung mit § 35 SMG unter Bestimmung einer Probezeit von 2 Jahren vorläufig eingestellt. Der BF wurde die Auflage erteilt sich einer psychosozialen Beratung und Betreuung zu unterziehen und dies dem Gericht unaufgefordert alle 3 Monate nachzuweisen. Die BF hat in der Folge mehrmals psychosoziale Beratung in Anspruch genommen und diese am 06.06.2023 abgeschlossen.
1.2. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführerin in den Herkunftsstaat:
Die Lage im Herkunftsstaat der BF hat sich seit Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten maßgeblich und nachhaltig geändert. Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF nach einer Rückkehr in die Russische Föderation mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit noch asylrelevanten Übergriffen ausgesetzt ist. Die BF war vor der Ausreise aus der Russischen Föderation keiner gegen sie gerichteten Verfolgung ausgesetzt, bei ihrer Ausreise war die BF erst 14 Jahre alt. Der Vater der BF sei im Herkunftsstaat umgebracht worden, weil er für eine gemächlichere Richtung des Islam eingetreten und Politiker gewesen sei. Kurz vor der Ermordung des Vaters der BF sei der Bruder der BF entführt worden, wobei Polizisten den Bruder der BF wiedergefunden hätten. Die Gefährdungslage der BF und ihrer Familie stand in der Vergangenheit mit dem zweiten Tschetschenienkrieg in Verbindung.
Der Mutter der BF droht keine asylrelevante Verfolgungsgefahr mehr im Herkunftsstaat. Die Mutter der BF ist mittlerweile seit 2013 österreichische Staatsbürgerin und im Jahr 2018 für etwa einen Monat in den Herkunftsstaat gereist.
Die BF konnte nicht glaubwürdig dartun, dass ihr noch im gesamten Herkunftsland mit hinreichender Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung wegen Rasse, Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten, seitens der Behörden oder privater Personen, drohen würde.
Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass die BF bei Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefe, im Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF im Falle ihrer Rückkehr in die Russische Föderation in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihr die notwendige Lebensgrundlage entzogen wäre.
Im Falle einer Verbringung der BF in ihren Herkunftsstaat droht dieser kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in Folge EMRK), oder der Prot. Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.
1.3. Zur entscheidungsrelevanten Situation in der Russischen Föderation
1.3.1. Auszug aus dem Informationsblatt der Staatendokumentation aus dem COI-CMS vom 04.07.2023, Version 12:
„COVID-19-Situation
Letzte Änderung: 03.07.2023
In Teilen der Russischen Föderation bestehen aufgrund der Regionalisierung von COVID-19-Schutzmaßnahmen teilweise noch Einschränkungen, welche Maskenpflicht in öffentlich zugänglichen Räumen oder Zugangsbeschränkungen zu Hotels und Restaurants (QR-Code) beinhalten können (AA 26.6.2023). Die Hygienemaßnahmen wurden großteils zurückgenommen. Es müssen keine verpflichtenden Temperaturmessungen oder COVID-Tests am Arbeitsplatz mehr durchgeführt werden. Auch die teilweise Fernarbeitspflicht ist beendet (WKO 25.7.2022).
Zu den Impfstoffen, welche in der Russischen Föderation entwickelt wurden und dort eingesetzt werden, zählen: Gam-COVID-Vac (Sputnik V), EpiVacCorona, Sputnik Light, EpiVacCorona-N, Covivac, Salnavac, Konwasel und Ad5-nCoV (CWRR o.D.b). COVID-Impfungen sind ab einem Alter von 12 Jahren möglich (RFE/RL 9.2.2022; vgl. CWRR o.D.a) und für russische Staatsbürger kostenlos (Iswestija 1.7.2022; vgl. ÖB 30.6.2022).
Die Einreise in die Russische Föderation ist ohne PCR-Test möglich. Bei der Einreise ist das Ausfüllen eines Gesundheitsfragebogens erforderlich, anhand dessen ein PCR-Test angeordnet werden kann (BMEIA 24.6.2023). Der europäische Impfnachweis wird nicht anerkannt (AA 26.6.2023).
Moskau
In der Hauptstadt Moskau sowie im Moskauer Gebiet wurden die Pflicht zum Tragen einer medizinischen Maske auf öffentlichen Plätzen sowie die Abstandsregelungen abgeschafft (Russland-Analysen 11.4.2022).
Tschetschenien
In Tschetschenien wurden alle COVID-Beschränkungen aufgehoben (RN 11.3.2022).
Dagestan
Das Tragen einer Maske wird empfohlen. An öffentlichen Orten gilt Maskenpflicht für Personen über 60 Jahren, chronisch Kranke und Ungeimpfte. Es wird empfohlen, die Teilnehmeranzahl bei Veranstaltungen in geschlossenen Räumen auf 500 Personen zu beschränken (KU 13.8.2022). Die Verpflichtung zur Durchführung einer Desinfektion besteht weiterhin (KU 7.6.2022).
Politische Lage
Letzte Änderung: 29.06.2023
Russland ist eine Präsidialrepublik mit föderativem Staatsaufbau (AA 22.2.2023a). Das Regierungssystem Russlands wird als undemokratisch (autokratisch) bzw. autoritär eingestuft (BS 2022; vgl. EIU 2.2.2023, UG 3.2023, FH 24.5.2023, Russland-Analysen 20.6.2022). Die im Verfassungsartikel 10 vorgesehene Gewaltenteilung (Duma 6.10.2022; vgl. AA 22.2.2023b) ist de facto stark eingeschränkt (AA 22.2.2023b). Das politische System ist zentral auf den Präsidenten ausgerichtet (AA 28.9.2022; vgl. FH 2023, Russland-Analysen 20.6.2022), was durch den Begriff der Machtvertikale ausgedrückt wird (SWP 19.4.2022). Gemäß Artikel 83 der Verfassung der Russischen Föderation ernennt der Staatspräsident (nach Bestätigung durch die Staatsduma) den Regierungsvorsitzenden und entlässt ihn. Der Präsident leitet den Sicherheitsrat der Russischen Föderation und schlägt dem Föderationsrat die neuen Mitglieder der Höchstgerichte vor. Laut Verfassungsartikel 129 werden der Generalstaatsanwalt sowie die Staatsanwälte der Subjekte der Russischen Föderation nach Beratungen mit dem Föderationsrat vom russischen Präsidenten ernannt und von diesem entlassen. Darüber hinaus ernennt und entlässt der Präsident die Vertreter im Föderationsrat, bringt Gesetzesentwürfe ein, löst die Staatsduma auf und ruft den Kriegszustand aus (Artikel 83-84, 87). Der Präsident bestimmt die grundlegende Ausrichtung der Innen- und Außenpolitik (Verfassungsartikel 80) (Duma 6.10.2022). Seit dem Jahr 2000 wird das Präsidentenamt (mit einer Unterbrechung von 2008 bis 2012) von Wladimir Putin bekleidet (BS 2022). Der Präsident der Russischen Föderation wird laut Verfassungsartikel 81 für eine Amtszeit von sechs Jahren von den Bürgern direkt gewählt (Duma 6.10.2022). Die letzte Präsidentschaftswahl fand am 18.3.2018 statt. Ein echter Wettbewerb fehlte. Auf kritische Stimmen wurde Druck ausgeübt (OSCE 6.6.2018). Putins einflussreicher Rivale Alexej Nawalnyj durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Nawalnyj war zuvor in einem als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden (FH 2023). Es wurden Transparenzmängel bei der Präsidentenwahl 2018 festgestellt (OSCE 6.6.2018). Die Geldquellen für Putins Wahlkampagne waren undurchsichtig (FH 2023). Auch kam es zu Unregelmäßigkeiten hinsichtlich der Einhaltung des Wahlgeheimnisses. Die Wahlbeteiligung lag laut der Zentralen Wahlkommission bei 67,47 %. Als Sieger der Präsidentenwahl 2018 ging Putin mit 76,69 % der abgegebenen Stimmen hervor (OSCE 6.6.2018). Regierungsvorsitzender ist Michail Mischustin (PM o.D.).
Die Verfassung der Russischen Föderation wurde per Referendum am 12.12.1993 angenommen. Am 1.7.2020 fand eine Volksabstimmung über eine Verfassungsreform statt (RI 4.7.2020). Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65 % der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78 % für und mehr als 21 % gegen die Verfassungsänderungen (KAS 7.2020; vgl. BPB 2.7.2020). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Putin, für zwei weitere Amtsperioden als Präsident zu kandidieren. Diese Regelung gilt nur für Putin und nicht für andere zukünftige Präsidenten (FH 2023). Unter anderem erhält durch die Verfassungsreform (2020) das russische Recht Vorrang vor internationalem Recht. Weitere Verfassungsänderungen betreffen beispielsweise die Betonung traditioneller Familienwerte sowie die Definition Russlands als Sozialstaat. Dies verleiht der Verfassung einen sozial-konservativen Anstrich. Die Verfassungsreform und der Verlauf der Volksabstimmung sorgten für Kritik (KAS 7.2020; vgl. BPB 2.7.2020, RI 4.7.2020).
Das Parlament (Föderalversammlung) besteht gemäß Verfassungsartikel 94 und 95 aus zwei Kammern, dem Föderationsrat und der Staatsduma (Duma 6.10.2022). Dem Parlament fehlt es an Unabhängigkeit von der Exekutive (USDOS 20.3.2023). Gemäß Verfassungsartikel 95 werden die Mitglieder des Föderationsrates für eine Amtszeit von sechs Jahren ernannt (mit Ausnahme der auf Lebenszeit ernannten Mitglieder). Zu den Kompetenzen des Föderationsrats gehören laut Verfassungsartikel 102: Bestätigung des präsidentiellen Erlasses über die Verhängung des Ausnahme- und Kriegszustands; sowie Amtsenthebung des Präsidenten. Gemäß Verfassungsartikel 95 und 96 werden die 450 Duma-Abgeordneten für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt (Duma 6.10.2022). Es gibt eine Fünfprozenthürde (OSCE 25.6.2021; vgl. RN 6.10.2021). Die Hälfte der Duma-Mitglieder wird durch Verhältniswahlsystem (Parteilisten), die andere Hälfte durch Einerwahlkreise (Direktmandat) gewählt (FH 2023; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021, KAS 21.9.2021). Die letzten Dumawahlen fanden im September 2021 statt und waren laut Wahlbeobachtern und unabhängigen Medien von beträchtlichen Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet, darunter Stimmenkauf, Fälschung von Wahlprotokollen und Druck auf Wähler (FH 28.2.2022; vgl. SWP 14.10.2021, Russland-Analysen 1.10.2021, KAS 21.9.2021). Im Allgemeinen ist Wahlbetrug weitverbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BS 2022). Die Wahlbeteiligung bei der letzten Dumawahl betrug 52 % (FH 2023; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021, RN 6.10.2021). Mit großem Vorsprung gewann die Regierungspartei Einiges Russland die Wahl, so das offizielle Wahlergebnis (FH 28.2.2022). Die Partei Einiges Russland verfügt über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, welche erforderlich ist, um Verfassungsänderungen durchzusetzen. Vier weiteren Parteien gelang der Einzug ins Parlament, welche allesamt als kremltreue 'System-Opposition' bezeichnet werden (SWP 14.10.2021). Viele regimekritische Kandidaten waren von der Wahl ausgeschlossen worden (SWP 14.10.2021; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021). Anti-System-Oppositionsbewegungen wurden verboten bzw. zur Selbstauflösung gezwungen (KAS 21.9.2021). Neue politische Parteien können in der Regel nur dann registriert werden, wenn sie die Unterstützung der Machthaber im Kreml genießen (AA 28.9.2022). Aktuell sieht die Sitzverteilung der Parteien in der Staatsduma folgendermaßen aus (Duma o.D.):
Einiges Russland (Edinaja Rossija): 322 Sitze (Parteivorsitzender Wladimir Wasilew)
Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF): 57 Sitze (Parteivorsitzender Gennadij Sjuganow)
sozialistische Partei 'Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit' (Sprawedliwaja Rossija - Patrioty - Sa Prawdu): 28 Sitze (Parteivorsitzender Sergej Mironow)
Liberal-Demokratische Partei Russlands (LDPR): 23 Sitze (Parteivorsitzender Leonid Sluzkij)
Neue Leute (Nowye Ljudi): 15 Sitze (Parteivorsitzender Aleksej Netschaew)
Zwei Duma-Abgeordnete gehören keiner Fraktion an.
Drei Abgeordnetenmandate sind derzeit unbesetzt (Duma o.D.).
Die LDPR ist antiliberal-nationalistisch-rechtspopulistisch ausgerichtet (SWP 14.10.2021; vgl. KAS 21.9.2021). Die Partei Neue Leute wurde im Jahr 2020 gegründet und ist eine liberale Mitte-Rechts-Partei. Die Partei 'Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit' vertritt sozialpatriotische Inhalte (KAS 21.9.2021).
Die föderale Struktur der Russischen Föderation ist in der Verfassung festgeschrieben. Laut Verfassungsartikel 66 kann der Status von Föderationssubjekten in beiderseitigem Einvernehmen zwischen der Russischen Föderation und dem betreffenden Föderationssubjekt im Einklang mit dem föderalen Verfassungsgesetz geändert werden (Duma 6.10.2022). Russland besteht aus 83 Föderationssubjekten. Föderationssubjekte verfügen über eine eigene Legislative und Exekutive, sind aber weitgehend vom föderalen Zentrum abhängig (AA 22.2.2023b). Es besteht ein Trend der zunehmenden Zentralisierung des russischen Staates (ZOIS 3.11.2021; vgl. FH 24.5.2023). Moskau sichert sich die Unterstützung der regionalen Eliten durch gezielte Zugeständnisse (ZOIS 3.11.2021).
Die 2014 von Russland vorgenommene Annexion der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol ist international nicht anerkannt (AA 22.2.2023b). Am 21.2.2022 wurden die nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete der ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk von Putin als unabhängig anerkannt. Am 24.2.2022 startete Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine (Eur-Rat 16.8.2022). Im September 2022 fanden in den beiden ukrainischen 'Volksrepubliken' Donezk und Luhansk sowie in den ukrainischen Regionen Cherson und Saporischschja 'Referenden' über den Beitritt zur Russischen Föderation statt. Laut den offiziellen Wahlergebnissen stimmten in der 'Volksrepublik' Donezk 99,23 % der Wähler für einen Beitritt, in der 'Volksrepublik' Luhansk 98,42 %, in Cherson 87,05 % und in Saporischschja 93,11 % (Lenta 27.9.2022). Die 'Referenden' in den vier von Russland besetzten ukrainischen Gebieten werden von den Vereinten Nationen als völkerrechtswidrig bezeichnet und international nicht anerkannt (UN 27.9.2022; vgl. Standard 30.9.2022). Die Abstimmung fand nicht nur in Wahllokalen statt, sondern prorussische De-facto-Behörden gingen außerdem mit den Wahlurnen und in Begleitung von Soldaten von Tür zu Tür (UN 27.9.2022). Die 'Stimmabgaben' erfolgten unter Zwang und Zeitdruck (Rat der EU 28.9.2022). Demokratische Mindeststandards wurden nicht eingehalten (Standard 30.9.2022). Die 'Referenden' missachteten die ukrainische Verfassung sowie Gesetze und spiegeln nicht den Willen der Bevölkerung wider (UN 27.9.2022). Nach dem Ende der Scheinreferenden baten die Anführer der prorussischen Separatisten in den ukrainischen Regionen Luhansk und Cherson den russischen Präsidenten Putin um Annexion dieser Regionen (NDR/T 28.9.2022). Am 29.9.2022 wurde die 'staatliche Souveränität' und 'Unabhängigkeit' der Regionen Cherson und Saporischschja von Putin per Erlass anerkannt (RI 30.9.2022a; vgl. RI 30.9.2022b). Im Kreml in Moskau fand am 30.9.2022 die Unterzeichnung der Verträge zum Russland-Beitritt der 'Volksrepubliken' Donezk und Luhansk sowie der Regionen Saporischschja und Cherson statt (Kreml 30.9.2022). Am 3. und 4.10.2022 stimmten die beiden russischen Parlamentskammern der Annexion zu (Tass 4.10.2022). International wird die Annexion dieser vier ukrainischen Gebiete nicht anerkannt (Standard 30.9.2022).
Russland begeht im Krieg gegen die Ukraine schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung (UN-OHCHR 16.3.2023; vgl. HRW 21.4.2022). Als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die rechtswidrige Annexion einiger ukrainischer Regionen hat die EU mehrere Sanktionspakete angenommen, nämlich: Wirtschaftssanktionen; individuelle Sanktionen gegen unter anderem Wladimir Putin, den Außenminister Sergej Lawrow und Mitglieder der Staatsduma sowie des Nationalen Sicherheitsrats. Außerdem wurde das Visaerleichterungsabkommen zwischen der EU und Russland vollständig ausgesetzt (Eur-Rat 12.5.2023). Auch die USA, das Vereinigte Königreich, Kanada, Japan, die Schweiz und die restliche westliche Welt haben umfassende Sanktionen gegen Russland eingeführt (WKO 3.2023).
[…]
Tschetschenien
Letzte Änderung: 29.06.2023
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen (FR o.D.). Laut Aussage des Republikoberhaupts Ramsan Kadyrow leben rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland (ÖB 30.6.2021). Kadyrow ist seit dem Jahr 2007 in Tschetschenien an der Macht. Er kämpfte im ersten Tschetschenienkrieg (1994-1996) aufseiten der Unabhängigkeitsbefürworter. Im zweiten Tschetschenienkrieg (1999-2009) wechselte Kadyrow die Seite (ORF 30.3.2022). In Tschetschenien gilt Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB 30.6.2022; vgl. RFE/RL 3.2.2022, HRW 9.2.2022). Fraglich bleibt die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt (ÖB 30.6.2022). Kadyrow bekundet jedoch immer wieder seine absolute Treue gegenüber dem Kreml (ÖB 30.6.2022; vgl. SZ 3.3.2022). Beobachter stufen Tschetschenien zunehmend als Staat im Staat ein, in welchem das Moskauer Gewaltmonopol vielfach unwirksam ist (Dekoder 10.2.2022). Kadyrow besetzt hohe Posten in Tschetschenien mit Familienmitgliedern (KU 17.1.2023; vgl. KU 25.4.2023, KR 5.10.2022). Das Republiksoberhaupt ist für die Regierungsbildung zuständig. Die Regierung ist dem Republikoberhaupt gegenüber rechenschaftspflichtig (FR o.D.b). Regierungsvorsitzender Tschetscheniens ist Muslim Chutschiew (RN 13.1.2023). Tschetschenien ist von Moskau finanziell abhängig. Mehr als 80 % des Budgets stammen aus Zuwendungen (ORF 30.3.2022).
Die Gesetzgebung wird vom Parlament Tschetscheniens ausgeübt. Das Parlament besteht aus 41 Abgeordneten, welche mittels Verhältniswahl für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt werden (FR o.D.b). Bei der Dumawahl im September 2021 gewann die Partei Einiges Russland in Tschetschenien 96,13 % der Stimmen (Russland-Analysen 1.10.2021; vgl. RN 6.10.2021). Die Partei 'Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit' errang 0,93 %, die Kommunistische Partei (KPRF) 0,75 %, Neue Leute 0,24 %, und die Liberal-Demokratische Partei (LDPR) gewann 0,11 % der Stimmen. Die Wahlbeteiligung betrug 94,42 % (RN 6.10.2021). Zeitgleich fand in Tschetschenien die Direktwahl des Republikoberhaupts statt (RN 21.9.2021). Dessen reguläre Amtszeit beträgt fünf Jahre (FR o.D.b). Kadyrow, welcher die Partei Einiges Russland repräsentierte, gewann 99,7 % der Stimmen. Der Kandidat der Kommunistischen Partei errang 0,12 % und der Kandidat der Partei Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit 0,15 % (RN 21.9.2021). Vor allem im Nordkaukasus ist Wahlbetrug weitverbreitet (BS 2022).
Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Gewaltformen an, darunter Entführung, Folter und außergerichtliche Tötung (FH 2023; vgl. COE 3.6.2022). Regimekritiker müssen mit Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten sowie physischen Übergriffen bis hin zu Mord rechnen (AA 28.9.2022). Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von Gegnern innerhalb und außerhalb Russlands angeordnet zu haben (FH 2023). Das Republiksoberhaupt Tschetscheniens wurde von der Schweiz, Kanada, der EU und den USA mit Sanktionen belegt (KU 17.1.2023; vgl. OFAC 8.6.2023, EUR-Lex 25.7.2014).
[…]
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 04.07.2023
Aufgrund der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine ist die Lage in Russland zunehmend unberechenbar. Am 23. und 24.6.2023 kam es im Südwesten Russlands zu einer bewaffneten Auseinandersetzung (EDA 27.6.2023). Am Morgen des 24.6.2023 übernahmen Angehörige der privaten paramilitärischen Organisation 'Gruppe Wagner' unter der Führung von Ewgenij Prigoschin die Kontrolle über zentrale Einrichtungen der russischen Streitkräfte in der Stadt Rostow am Don (BAMF 26.6.2023). Vorausgegangen waren ein seit Monaten andauernder Machtkampf zwischen dem Chef des Militärunternehmens und Verteidigungsminister Schojgu (BAMF 26.6.2023; vgl. FA 12.5.2023, ISW 12.3.2023). Auch erfolgten unbestätigten Angaben zufolge Angriffe der regulären Streitkräfte auf ein Feldlager der Söldnertruppe. Im Tagesverlauf besetzte die Wagner-Gruppe weitere Militäreinrichtungen in den Regionen Rostow und Woronesch und rückte weitgehend ungehindert mit mehreren Tausend Kämpfern in Richtung Moskau vor - mit dem erklärten Ziel, die Militärführung um Verteidigungsminister Schojgu und Generalstabschef Gerasimow zu stürzen. Als Reaktion wurden in der Hauptstadt Truppen zusammengezogen, Kontrollpunkte eingerichtet und das Anti-Terror-Regime ausgerufen, welches den Sicherheitskräften eine weitreichende Kommunikationsüberwachung, Personenkontrollen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit erlaubt. Auf Vermittlung des belarussischen Präsidenten Lukaschenko erklärte sich Prigoschin am Abend des 24.6.23, mutmaßlich aufgrund des Ausbleibens erwarteter Unterstützung von Militär und Machteliten, zum Rückzug seiner Truppen bereit. Dieser ist weitgehend vollzogen. Im Gegenzug sicherte die Regierung den am Aufstand beteiligten Söldnern Straffreiheit und Prigoschin persönlich darüber hinaus einen freien Abzug nach Belarus zu (BAMF 26.6.2023). Gemäß Berichten schoss die Wagner-Gruppe am 24.6. Militärhubschrauber sowie ein Flugzeug ab (MOD 29.6.2023). Mittlerweile hat sich die Sicherheitslage vordergründig beruhigt, bleibt aber angespannt (EDA 27.6.2023). Das Anti-Terror-Regime wurde in Moskau und Woronesch mittlerweile wieder aufgehoben (NAK 26.6.2023).
Aufgrund des Angriffskriegs gegen die Ukraine kommt es vermehrt zu Sicherheitsvorfällen in russischen Grenzregionen. Vor allem die Grenzregionen Belgorod, Rostow, Brjansk und Kursk sind mit täglichem Beschuss und Drohnenangriffen konfrontiert. Im Mai 2023 sind zwei bewaffnete Verbände in die Region Belgorod eingedrungen, was zu Kämpfen und der Evakuierung der Bevölkerung führte. Angeblich bestanden die zwei Verbände aus russischen Staatsangehörigen, welche auf der Seite der Ukraine kämpfen (ACLED 8.6.2023). In mehreren russischen Regionen nahe der Ukraine wurde der Notstand ausgerufen (AA 26.6.2023). Das Kriegsrecht wurde in Russland bislang nicht ausgerufen (Interfax 31.5.2023). Stattdessen spricht Russland nur von einer 'militärischen Spezialoperation' in der Ukraine (Kreml 9.6.2023).
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern gezeigt haben, kann es in Russland (auch außerhalb der Kaukasus-Region) zu Anschlägen kommen. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf. Im Gebiet der Russischen Föderation ist es in jüngster Zeit wiederholt zu Drohnenangriffen gekommen, auch in Moskau. Mehrere russische Regionen, darunter Moskau, wurden in einem abgestuften System in erhöhte Alarmbereitschaft gesetzt. Diese Anordnungen geben den dortigen lokalen Behörden und Sicherheitskräften Befugnisse zu eingreifenden Sicherheitsmaßnahmen, Kontrollen, Durchsuchungen und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit (AA 26.6.2023). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 27.6.2023).
Nach der Machtergreifung der Taliban in Afghanistan haben Russland und Tadschikistan ihr Militärbündnis gestärkt und gemeinsame Übungen an der tadschikisch-afghanischen Grenze abgehalten, um die Grenzsicherheit zu erhöhen (USDOS 27.2.2023). Gemäß dem aktuellen Globalen Terrorismus-Index (2023), welcher die Einwirkung von Terrorismus je nach Land misst, belegt Russland den 45. von insgesamt 93 Rängen. Dies bedeutet, Russland befindet sich auf niedrigem Niveau, was den Einfluss von Terrorismus betrifft (IEP 3.2023).
Die folgende Karte stellt sicherheitsrelevante Ereignisse innerhalb Russlands im Zeitraum 1.1.-23.6.2023 dar, wobei hier zwei Kategorien angezeigt werden: Kampfhandlungen (gelb) und Explosionen/'remote violence' (rot). Die dunkelgrauen Punkte beinhalten sowohl Kämpfe als auch Explosionen/'remote violence'. Wie auf der Karte zu sehen ist, konzentrieren sich die sicherheitsrelevanten Ereignisse auf westliche Teile Russlands (ACLED o.D.):
Sicherheitsrelevante Ereignisse innerhalb Russlands im Zeitraum 1.1.-23.6.2023
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Nordkaukasus
Letzte Änderung: 04.07.2023
Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert. Die Zahl der Opfer gewalttätiger Zusammenstöße hat in den letzten Jahren abgenommen. Es ist nicht mehr von einer breiten islamistischen Bewegung im Nordkaukasus auszugehen, wenngleich es vereinzelt zu Anschlägen kommt, die von den Behörden auch mit dem 'Islamischen Staat' (IS) in Verbindung gebracht werden. Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat bisher keinen Einfluss auf die Sicherheitssituation im Nordkaukasus gehabt (ÖB 30.6.2022). Niederschwellige militante terroristische Aktivitäten sowie vermehrte Anti-Terror-Aktivitäten und Bemühungen um eine politische Konsolidierung sind feststellbar (OSAC 8.2.2021). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus deutlich zurückgegangen ist (ÖB 30.6.2021). Gemäß dem Online-Medienportal 'Kaukasischer Knoten' fielen zwischen Jänner 2022 und Mai 2023 insgesamt 19 Personen dem bewaffneten Konflikt im Nordkaukasus zum Opfer. Jeweils vier dieser Personen wurden in Dagestan, Tschetschenien, Inguschetien und der Region Stawropol getötet, zwei in Kabardino-Balkarien und eine Person in Nordossetien (KU 5.6.2023; vgl. KU 9.5.2023, KU 5.4.2023, KU 5.1.2023, KU 4.10.2022, KU 6.7.2022, KU 5.4.2022). Terroranschläge ziehen staatlicherseits unter anderem kollektive Bestrafungsformen nach sich. Dies bedeutet, Familienangehörige werden für die Taten ihrer Verwandten zur Verantwortung gezogen (RUSI 30.7.2021) und müssen gemäß gesetzlichen Vorgaben Schadenersatz leisten (USDOS 20.3.2023).
Tschetschenien
Die tschetschenischen Sicherheitskräfte handeln außerhalb der russischen Verfassung und Gesetzgebung (Dekoder 10.2.2022). Tschetschenische Strafverfolgungsorgane werfen vermeintlichen Salafisten und Wahhabiten unbegründet terroristische Machenschaften vor und erzwingen Geständnisse durch Folter (USCIRF 10.2021). Regelmäßig wird aus Tschetschenien über Sabotage- und Terrorakte gegen Militär und Ordnungskräfte, über Feuergefechte mit Mitgliedern bewaffneter Gruppen, Entführungen sowie Druck auf Familienangehörige von Mitgliedern illegaler bewaffneter Formationen berichtet. In verschiedenen Teilen der Republik Tschetschenien werden in regelmäßigen Abständen Antiterroroperationen durchgeführt (KU 29.3.2023b). Tschetschenische Behörden wenden regelmäßig kollektive Bestrafungsformen bei Familienangehörigen vermeintlicher Terroristen an, beispielsweise indem Familienangehörige dazu gezwungen werden, die Republik zu verlassen (USDOS 20.3.2023). In Tschetschenien gibt es eine Anti-Terrorismus-Kommission, deren Vorsitzender das Republikoberhaupt Kadyrow ist (NAK o.D.a). Im September 2018 wurde ein Grenzziehungsabkommen zwischen Tschetschenien und der Nachbarrepublik Inguschetien unterzeichnet, was in Inguschetien zu Massenprotesten der Bevölkerung führte und in der Gegenwart noch für gewisse Spannungen zwischen den beiden Republiken sorgt (KU 15.11.2021).
Dagestan
Von offizieller Seite wurde im Jänner 2019 die praktisch vollständige Liquidierung des bewaffneten Widerstands in Dagestan verkündet, vereinzelt kommt es dennoch zu bewaffneten Zwischenfällen. Im Fokus der Sicherheitsbehörden stehen mutmaßliche Terroristen bzw. Anhänger extremistischer Überzeugungen (dazu zählen auch in Dagestan die Zeugen Jehovas) (ÖB 30.6.2022). In Dagestan nimmt der Widerstand immer mehr die Form von Sabotageakten und von Partisanen-Aktivitäten an (KU 12.5.2023). Es gibt in Dagestan eine Anti-Terrorismus-Kommission, welche vom Republikoberhaupt Melikow geleitet wird (NAK o.D.b).
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Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 29.06.2023
Gemäß der Verfassung ist die Russische Föderation ein Rechtsstaat, Richter sind unabhängig, und Gerichtsverhandlungen sind mit Ausnahme gesetzlich geregelter Fälle öffentlich (Verfassungsartikel 1, 120 und 123). Die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes und des Obersten Gerichtshofes werden vom Föderationsrat auf Vorschlag des russischen Präsidenten ernannt. Mitglieder der anderen Gerichtshöfe auf föderaler Ebene werden vom russischen Präsidenten ernannt (Art. 128). Der Präsident der Russischen Föderation initiiert die Entlassung der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes und des Obersten Gerichtshofes (Art. 83). Der Generalstaatsanwalt und sein Stellvertreter sowie die Staatsanwälte der Subjekte der Russischen Föderation werden nach Beratungen mit dem Föderationsrat vom russischen Präsidenten ernannt und von diesem entlassen (Art. 129). Föderale Gesetze gelten für das gesamte Territorium der Russischen Föderation. Gesetze und andere rechtliche Bestimmungen der Subjekte der Russischen Föderation dürfen föderalen Gesetzen nicht widersprechen. Im Falle eines Widerspruchs gilt das föderale Gesetz. Republiken haben ihre eigene Rechtsordnung, solange dadurch die Kompetenzen der Russischen Föderation unberührt bleiben (Verfassungsartikel 76) (Duma 6.10.2022). Gemäß dem Verfassungsartikel 79 werden Entscheidungen internationaler Institutionen, welche der Verfassung der Russischen Föderation widersprechen, in der Russischen Föderation nicht vollstreckt (Duma 6.10.2022; vgl. BPB 2.7.2020, KAS 7.2020).
Die Rechtsstaatlichkeit wird von Russlands politischer Führung oft untergraben, um die Stabilität des politischen Systems aufrechtzuerhalten (BS 2022). Gemäß dem Rechtsstaatlichkeitsindex des World Justice Project nimmt Russland aktuell den 107. Rang von insgesamt 140 Ländern ein und befindet sich zwischen den Ländern Libanon und Côte d'Ivoire (WJP o.D.). Das Justizwesen in Russland ist nicht unabhängig (SWP 19.4.2022; vgl. UN-HRC 1.12.2022, FH 2023). In der Praxis wird die Justiz von der Exekutive kontrolliert (BS 2022; vgl. FH 19.4.2022). Politisch wichtige Fälle werden vom Kreml überwacht, und Richter haben nicht genügend Autonomie, um den Ausgang zu bestimmen (ÖB 30.6.2022). Richter des Verfassungsgerichtshofes dürfen ihre abweichenden Meinungen nicht öffentlich machen (UN-HRC 1.12.2022).
Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet grundsätzlich nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 28.9.2022). Das Justizwesen ist von Korruption befallen (BS 2022). Gemäß Berichten geraten seit Russlands Ukraine-Invasion Rechtsanwälte immer mehr ins Visier. Beispielsweise wird ihnen der Zugang zu Mandanten auf Polizeistationen und die Vertretung ihrer Mandanten bei Gerichtsverhandlungen verwehrt (EUAA 16.12.2022b). Es kommt vor, dass Rechtsanwälte ungerechtfertigten Disziplinarverfahren und strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt sind, insbesondere wenn sie Teilnehmer an Anti-Kriegsprotesten verteidigen (UN-HRC 1.12.2022). Es gibt Berichte über Anwälte, welche verhaftet wurden, weil sie Opfer politischer Repressionen unterstützt haben (EUAA 16.12.2022b).
Schutzmaßnahmen gegen willkürliche Verhaftung und andere Garantien zur Durchführung ordnungsgemäßer Verfahren werden regelmäßig verletzt (FH 2023). Gemäß den gesetzlichen Vorgaben dürfen Inhaftierte die Gesetzmäßigkeit ihrer Inhaftierung gerichtlich überprüfen lassen. Wegen der mangelnden Unabhängigkeit des Justizsystems schließen sich Richter für gewöhnlich der Ansicht des Ermittlers an und weisen Beschwerden Angeklagter ab. Angeklagte und ihre Rechtsvertreter müssen bei Gerichtsverhandlungen persönlich oder über Video anwesend sein. Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung sowie das Recht auf ein faires und öffentliches Gerichtsverfahren. Diese Rechte werden nicht immer respektiert (USDOS 20.3.2023). Vertreter der Opposition und der kritischen Zivilgesellschaft können in Ermittlungsverfahren und vor Gericht nicht auf eine faire Behandlung bzw. einen fairen Prozess vertrauen (AA 28.9.2022). Gerichtsverfahren enden sehr selten mit Freisprüchen (USDOS 20.3.2023). Das öffentliche Vertrauen in die Justiz ist gering (UN-HRC 1.12.2022; vgl. LZ 20.9.2022).
Es ist gesetzlich vorgesehen, dass Personen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen klagen können. Jedoch sind diese Mechanismen oft nicht effektiv (USDOS 20.3.2023). Am 16.3.2022 wurde Russland aus dem Europarat ausgeschlossen (Europarat 16.3.2022). Zunächst hatte der Europarat wegen des bewaffneten russischen Angriffs auf die Ukraine die Mitgliedschaftsrechte Russlands im Europarat suspendiert (Europarat 25.2.2022). Russland war dem Europarat 1996 beigetreten (Europarat 16.3.2022). Seit 16.9.2022 ist Russland keine Vertragspartei der vom Europarat geschaffenen Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) mehr (Europarat 16.9.2022; vgl. Europarat o.D.b). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellt die Einhaltung der EMRK sicher. Bürger können sich, nachdem die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft sind, mit Beschwerden direkt an ihn wenden (Europarat o.D.). Seit 16.9.2022 haben russische Bürger kein Recht mehr, den EGMR anzurufen (SWP 19.4.2022). Der EGMR ist weiterhin für die Bearbeitung von Beschwerden gegen Russland zuständig, welche bis 16.9.2022 eingereicht wurden. Das Ministerkomitee des Europarats überwacht weiterhin die Umsetzung der Urteile (Europarat 16.9.2022). Gemäß einer von der Russischen Föderation verabschiedeten Gesetzesänderung vom Juni 2022 unterliegen Beschlüsse des EGMR, welche nach dem 15.3.2022 in Kraft traten, aber nicht mehr der Vollstreckung in der Russischen Föderation (RF 11.6.2022). Vor dem EGMR waren mit Stand 30.4.2023 15.700 Beschwerden gegen Russland anhängig (ECHR 30.4.2023).
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Tschetschenien und Dagestan
Letzte Änderung: 29.06.2023
Föderale Gesetze gelten für das gesamte Territorium der Russischen Föderation. Republiken haben ihre eigene Rechtsordnung, solange dadurch die Kompetenzen der Russischen Föderation unberührt bleiben (Verfassungsartikel 76) (Duma 6.10.2022). Die Situation in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit in Tschetschenien und Dagestan ist problematisch. Vor allem bleiben schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, begangen von Vertretern der föderalen und regionalen Behörden, straffrei. Es kommt vor, dass Rechtsanwälte, welche ihre Mandanten verteidigen, Angriffen durch Strafverfolgungsbehörden im Nordkaukasus ausgesetzt sind (COE 3.6.2022).
Tschetschenien
Tschetschenien verwaltet sich im Rechtsbereich weitgehend selbst (KAS 12.12.2022). Gemäß Artikel 96 der tschetschenischen Verfassung gibt es in Tschetschenien föderale Gerichte, den Verfassungsgerichtshof und Friedensrichter. Friedensrichter sind als Gericht erster Instanz für die Überprüfung von Zivil-, Verwaltungs- und strafrechtlichen Fällen zuständig (Artikel 101 der tschetschenischen Verfassung) (RT 23.3.2003). Behörden verletzen das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren. Das Justizsystem dient als Vergeltungsmaßnahme gegen Personen, welche Fehlverhalten des tschetschenischen Republikoberhaupts Kadyrow aufdecken (USDOS 20.3.2023). Tendenzen zur Einführung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Es herrscht ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellem Gewohnheitsrecht (Adat; einschließlich der Tradition der Blutrache) und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 28.9.2022). Gemäß Aussage von Einwohnern Tschetscheniens lautet das grundlegende Gesetz in Tschetschenien 'Ramsan sagte'. Dies bedeutet, Kadyrows mündliche Aussagen sind einflussreicher als die Rechtssysteme und widersprechen diesen möglicherweise (CSIS 24.1.2020).
Das Gewohnheitsrecht (Adat) umfasst zwischenmenschliche Beziehungen wie beispielsweise Vermögensverhältnisse, persönliche und verwandtschaftliche Beziehungen. Es variiert regional und von Sippe zu Sippe und beruht auf dem Prinzip der Wiedergutmachung von Unrecht anstatt Bestrafung (Gumppenberg/Steinbach 2018). Im Gegensatz zum islamischen Recht liegt dem Gewohnheitsrecht (Adat) die kollektive Verantwortung für Rechtsverletzungen zugrunde (RAPSI 4.4.2022). Da es im Rahmen des Gewohnheitsrechts keine individuelle Verantwortung gibt, steht nicht der Täter im Mittelpunkt, sondern dessen Familienclan. Dieser trägt die Verantwortung. Um Stammeskriege und die Ausrottung ganzer Gemeinschaften zu vermeiden, sieht das Gewohnheitsrecht bestimmte Verfahren vor, um die Sippe des Opfers zu versöhnen und Verletzung sowie Verlust auszugleichen (Gumppenberg/Steinbach 2018). In Tschetschenien ist die Praxis der kollektiven Verantwortung weitverbreitet (KR 2.3.2023). Zum Adat gehört beispielsweise der alte Brauch der Blutrache (RAPSI 4.4.2022; vgl. Gumppenberg/Steinbach 2018). Die Blutrache entstand zum Schutz der Ehre und des Vermögens im Rahmen der Sippenstruktur und verpflichtet die Angehörigen eines Ermordeten, sich an dem Mörder oder dessen Angehörigen zu rächen. Blutrache hat keine Verjährungsfrist. Es gab Fälle, in welchen die Blutrache nach 50 oder 100 Jahren vollzogen wurde, als der Mörder und dessen nahe Verwandte bereits verstorben waren. Aus Gründen der Selbsterhaltung wurde eine Reihe von Methoden ausgearbeitet, um dem Morden ein Ende zu setzen und stattdessen Geldstrafen einzuführen. 2010 gründete Kadyrow die 'Kommission für nationale Versöhnung', welche darauf abzielte, Blutfehdekonflikte zu lösen. In Tschetschenien existieren Versöhnungskommissionen zur Lösung von Konflikten (KU 1.2.2023). Nach wie vor gibt es Clans, die Blutrache praktizieren (AA 28.9.2022; vgl. KU 1.2.2023). Die Einstellung der tschetschenischen Führung zur Blutrache ist oft situationsabhängig (KR 27.2.2023). Gemäß § 105 des russischen Strafgesetzbuches zieht Mord mit dem Motiv der Blutrache eine Freiheitsstrafe von 8-20 Jahren, eine lebenslange Freiheitsstrafe oder die Todesstrafe nach sich (RF 28.4.2023). Seit 1996, als Russland Mitglied des Europarats wurde, ist die Todesstrafe aufgrund eines Moratoriums ausgesetzt (AI 5.2023; vgl. CCDPW 27.3.2012, OSCE 7.10.2022).
Im islamischen Rechtssystem (Scharia) trägt nur der Einzelne die Schuld für begangene Taten. Traditionelle Hauptanwendungsgebiete für die Scharia sind Familien-, Erbrecht und teilweise Vermögensrecht (Gumppenberg/Steinbach 2018).
Bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz. Hierzu gehören Menschenrechtsaktivisten, sexuelle Minderheiten, Oppositionelle, Regimekritiker, Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, sowie Personen, die sich gegen Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. dessen Clan aufgelehnt haben. Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen auf Instagram veröffentlicht. Teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie angeblich Feinde des tschetschenischen Volkes sind, oder er ruft offen dazu auf, sie umzubringen (AA 28.9.2022).
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Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 29.06.2023
Das Innenministerium, der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee, die Generalstaatsanwaltschaft und die Nationalgarde sind für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Staatssicherheit, Spionageabwehr, Terrorismusbekämpfung, Korruptionsbekämpfung sowie Bekämpfung des organisierten Verbrechens befasst. Die Nationalpolizei untersteht dem Innenministerium und ist für Verbrechensbekämpfung zuständig. Die Nationalgarde unterstützt den Grenzwachdienst des FSB bei der Grenzsicherung, ist für Waffenkontrolle sowie den Schutz der öffentlichen Ordnung verantwortlich, bekämpft Terrorismus und das organisierte Verbrechen und bewacht wichtige staatliche Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes in Koordination mit dem Verteidigungsministerium teil (USDOS 20.3.2023). Maßnahmen im Bereich Terrorismusbekämpfung werden vom Nationalen Anti-Terrorismus-Komitee koordiniert (USDOS 27.2.2023). Zivilbehörden halten im Allgemeinen eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Gegen Beamte, die missbräuchliche Handlungen setzen und in Korruption verwickelt sind, werden selten strafrechtliche Schritte unternommen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führt (USDOS 20.3.2023). Ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt (AA 28.9.2022). Die Polizei wendet häufig übermäßige Gewalt an (FH 2023). Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen 'fremdländischen' Aussehens oft Opfer von Misshandlungen durch Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden (AA 28.9.2022).
Laut gesetzlichen Vorgaben dürfen Verdächtige für eine Dauer von maximal 48 Stunden ohne gerichtliche Genehmigung inhaftiert werden - vorausgesetzt, es gibt Beweise oder Zeugen. Anderenfalls ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete werden von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Inhaftierten muss die Möglichkeit gegeben werden, Angehörige telefonisch zu benachrichtigen, es sei denn, ein Staatsanwalt ordnet die Geheimhaltung der Inhaftierung an. Verhaftete müssen von der Polizei innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor haben sie das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu sehen. Spätestens 12 Stunden nach der Festnahme muss die Polizei den Staatsanwalt benachrichtigen. Die Polizei muss Festgenommene nach 48 Stunden gegen Kaution freilassen - es sei denn, ein Gericht beschließt in einer Anhörung, die Inhaftierungsdauer auszudehnen. Zuvor (mindestens acht Stunden vor Ablauf der 48-Stunden-Haftdauer) muss die Polizei einen diesbezüglichen Antrag eingereicht haben. Im Allgemeinen werden von den Behörden die rechtlichen Beschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (USDOS 20.3.2023).
Tschetschenien
Die tschetschenischen Sicherheitskräfte bestehen aus (ORYX 23.11.2022):
dem 141. motorisierten Spezialregiment 'A. Ch. Kadyrow'
dem 249. motorisierten Spezialbataillon 'Süden'
der Schnellen Sondereingriffseinheit 'Achmat' (SOBR)
der Mobilen Einheit für Sonderaufgaben 'Achmat-Grosnyj' (OMON)
dem Polizeiregiment für Sonderaufgaben 'A. A. Kadyrow' (PPSN) und
uniformierten Polizeitruppen.
Im Juni 2022 verkündete das Republikoberhaupt Kadyrow die Gründung von vier zusätzlichen Bataillonen zur Unterstützung der russischen Kämpfer in der Ukraine (ORYX 23.11.2022). Die Zivilbehörden auf nationaler Ebene üben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien aus. Diese sind nur Kadyrow gegenüber rechenschaftspflichtig (USDOS 20.3.2023; vgl. ÖB 30.6.2022). Mit den sogenannten Kadyrowzy verfügt Kadyrow über eine persönliche Armee (FPRI 15.6.2022). Bei den Kadyrowzy handelt es sich formal um Einheiten der tschetschenischen Nationalgarde, deren zahlenmäßige Stärke geheim ist. Russische Quellen nennen Zahlen zwischen 10.000 und 18.000 Soldaten (TELEPOLIS 9.7.2022). Theoretisch übt die russische Nationalgarde die Kontrolle über die Kadyrowzy aus, welche allerdings faktisch von Kadyrow kontrolliert werden (ORYX 23.11.2022). Die Kadyrowzy werden für zahlreiche Missbrauchshandlungen verantwortlich gemacht, darunter willkürliche Festnahmen, Folter und außergerichtliche Tötungen. Strafrechtliche Konsequenzen haben die Handlungen der Kadyrowzy nicht (EUAA 16.12.2022a). Die Kadyrowzy kommen im Ukraine-Krieg zum Einsatz (KU 7.4.2023).
Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor dem langen Arm des Regimes von Republikoberhaupt Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind nach Aussagen von NGOs auch in Moskau präsent. Es wird von Einzelfällen berichtet, in denen entweder die Familien der Betroffenen oder tschetschenische Behörden (welche Zugriff auf russlandweite Informationssysteme haben) Flüchtende in andere Landesteile verfolgen, sowie von Angehörigen sexueller Minderheiten, die gegen ihren Willen von anderen russischen Regionen nach Tschetschenien zurückgeholt wurden (AA 28.9.2022).
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Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 29.06.2023
Folter, Gewalt sowie unmenschliche bzw. grausame oder erniedrigende Behandlung und Strafen sind in Russland auf Basis des Art. 21 der Verfassung verboten (Duma 6.10.2022). Die Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe wurde von Russland 1987 ratifiziert. Das Zusatzprotokoll hat Russland nicht unterzeichnet (UN-OHCHR o.D.). Die Zufügung körperlicher oder seelischer Schmerzen durch systematische Gewaltanwendung wird gemäß § 117 Strafgesetzbuch mit Freiheitsbeschränkung von bis zu drei Jahren, Zwangsarbeit von bis zu drei Jahren oder Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren bestraft. Wird dieselbe Tat beispielsweise von mehreren Personen oder mit besonderer Grausamkeit begangen, ist das Opfer eine minderjährige Person oder wird die Tat zum Beispiel aus politischen, ideologischen oder religiösen Motiven begangen, hat dies Freiheitsentzug von 3 - 7 Jahren zur Folge. Gemäß § 286 Strafgesetzbuch führt die Anwendung von Folter im Rahmen der Überschreitung von Amtsbefugnissen zu Freiheitsentzug von 4 - 12 Jahren (RF 28.4.2023).
Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut (ÖB 30.6.2022). Die Polizei nutzt Folter, um Andersdenkende unter Druck zu setzen. Im März 2022 berichteten mehrere Demonstranten und Demonstrantinnen, die bei Antikriegskundgebungen festgenommen worden waren, auf Polizeiwachen gefoltert oder anderweitig misshandelt worden zu sein (AI 28.3.2023). In den Haftanstalten sind Folter und andere Misshandlungen an der Tagesordnung (AI 28.3.2023) und die dafür Verantwortlichen werden selten strafrechtlich verfolgt (AI 28.3.2023; vgl. ÖB 30.6.2022). Foltervorwürfe werden nicht effektiv untersucht (UN-HRC 1.12.2022). Gemäß Berichten kommt es vor, dass Journalisten und Aktivisten, welche über Folterfälle in Gefängnissen berichten, von Behörden strafrechtlich verfolgt werden (USDOS 20.3.2023). Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für zum Teil schwere Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein (ÖB 30.6.2022). Gemäß zahlreichen Berichten erzwingen Strafverfolgungsbehörden Geständnisse gewaltsam, durch Folter und Missbrauchshandlungen. Es kommt zu Todesfällen aufgrund von Folter (USDOS 20.3.2023). Das Problem der Folter und Erniedrigungen hat systemischen Charakter (Gulagu.net o.D.). Betroffene, welche vor Gericht Foltervorwürfe erheben, werden zunehmend unter Druck gesetzt, beispielsweise durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist kürzer geworden (früher fünf bis sechs Jahre), Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 28.9.2022). Es existieren keine verlässlichen Statistiken zu Folter und Misshandlungen (UN-HRC 1.12.2022).
Nordkaukasus/Tschetschenien
Im Nordkaukasus kommt es zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, darunter Folter und Misshandlungen (UN-HRC 1.12.2022). Gemäß weitverbreiteten Berichten begehen Sicherheitskräfte in nordkaukasischen Haftanstalten Missbrauchshandlungen und wenden Folter an (USDOS 20.3.2023). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet das tschetschenische Republikoberhaupt Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie beispielsweise Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 2023). Die Bekämpfung von Extremisten geht mit Folter zur Erlangung von Geständnissen einher (AA 28.9.2022). Es herrscht in Tschetschenien diesbezüglich Straflosigkeit (ÖB 30.6.2022).
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NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Letzte Änderung: 21.04.2022
Letzte Änderung: 29.06.2023
Vertreter der kritischen Zivilgesellschaft sehen sich unter massivem Druck durch die Behörden (AA 28.9.2022; vgl. SWP 19.4.2022, BS 2022), einschließlich Strafverfolgung mit drohenden Haftstrafen. In Ermittlungsverfahren und vor Gericht können sie nicht auf eine faire Behandlung bzw. einen fairen Prozess vertrauen (AA 28.9.2022). Nach Russlands Invasion in der Ukraine spitzte sich die Unterdrückung von Menschenrechtsverteidigern, zivilgesellschaftlichen Gruppen sowie von Aktivisten noch weiter zu. Vermehrt kommt es zu Polizeirazzien, Todesdrohungen und Verhaftungen (EUAA 16.12.2022b; vgl. COE 31.8.2022). Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen wurden aufgelöst oder werden in ihren Tätigkeiten beträchtlich behindert (UN-HRC 1.12.2022). Kritische NGOs geraten in Russland seit längerer Zeit unter Druck (ÖB 30.6.2022). Die Regierung fördert die Schaffung sogenannter GONGOs, um so das bürgerliche Engagement zu kontrollieren. Als GONGOs werden NGOs bezeichnet, welche von der Regierung organisiert werden. Außerdem zähmt die Regierung zivilgesellschaftliche Organisationen durch staatliche/präsidentielle Subventionen (FH 19.4.2022). Seit 2017 werden gemeinnützige NGOs staatlich vom 'Fonds für präsidentielle Subventionen' unterstützt (FPG o.D.).
Personen oder Vereinigungen, welche ausländische Unterstützung erhalten oder in irgendeiner anderen Form unter ausländischem Einfluss stehen, werden als 'ausländische Agenten' eingestuft (§ 1 des Gesetzes 'Über die Überwachung der Tätigkeit von Personen, die unter ausländischem Einfluss stehen') (RF 28.12.2022). Die Kriterien sind im Gesetz bewusst vage gehalten, um den Behörden einen weiten Zugriff auf alle Organisationen zu ermöglichen, die in den Bereichen Medien, Bildung, Kultur, Ökologie und Menschenrechte tätig sind (BAMF 27.3.2023). 'Ausländische Agenten' müssen sich laut § 7 des oben genannten Gesetzes in ein Register eintragen lassen. Die Entscheidung der Behörde über die Aufnahme ins Register kann gerichtlich angefochten werden (RF 28.12.2022). Mit der Eintragung als 'ausländischer Agent' gehen umfassende Kennzeichnungs‐ und Berichtspflichten sowie zahlreiche Einschränkungen einher (ÖB 30.6.2022). Gemäß § 330.1 des Strafgesetzbuches drohen bei Verstößen gegen diese Verpflichtungen u. a. Geld- oder Haftstrafen von bis zu fünf Jahren (RF 28.4.2023; vgl. EUAA 16.12.2022b). Die Gesetzgebung über 'unerwünschte Organisationen' erlaubt dem Generalstaatsanwalt, ausländische oder internationale Organisationen als 'unerwünscht' zu verbieten, wenn sie die Verfassungsordnung, Verteidigungsfähigkeit oder Staatssicherheit Russlands bedrohen. Das Strafmaß reicht von Geldstrafen bis hin zu sechsjährigen Haftstrafen. Auch ausländische oder internationale NGOs sowie im Ausland lebende russische Bürger werden als 'unerwünscht' eingestuft, wenn sie mit 'unerwünschten' Organisationen im Zusammenhang stehen (EUAA 16.12.2022b). Die Gesetzgebung zu 'ausländischen Agenten' und 'unerwünschten Organisationen' wird immer extensiver angewendet (AA 28.9.2022).
Im Jänner 2023 wurde die 1976 gegründete Menschenrechtsorganisation 'Moskauer Helsinki-Gruppe' per Gerichtsbeschluss aufgelöst (AI 26.1.2023; vgl. MCG 25.1.2023). 2022 wurde Memorial, eine der ältesten russischen Menschenrechtsorganisationen, auf Grundlage einer Gerichtsentscheidung aufgelöst (ÖB 30.6.2022; vgl. Memorial o.D.). Unter anderem wurden Memorial Verstöße gegen die Gesetzgebung zu 'ausländischen Agenten' vorgeworfen (ÖB 30.6.2022). Betroffen von der Zwangsauflösung waren der internationale Dachverband und das Menschenrechtszentrum. Viele regionale Verbände blieben bisher einigermaßen unbehelligt. Deren finanzielle Mittel sind sehr begrenzt (Russland-Analysen 8.12.2022). Im April 2022 wurde die NGO Sfera, welche sich für Rechte von Angehörigen sexueller Minderheiten eingesetzt hat, gerichtlich aufgelöst (EUAA 16.12.2022b). Im selben Monat verweigerten Behörden die Registrierung mehrerer ausländischer NGOs, darunter Amnesty International und Human Rights Watch (HRW 12.1.2023).
Nordkaukasus
Menschenrechtsverteidiger sind im Nordkaukasus Schikanierungen ausgesetzt (UN-HRC 1.12.2022). Internationale NGOs im Menschenrechtsbereich sind dort kaum präsent. Es existieren ein paar örtliche NGOs, welche Menschenrechtsprobleme ansprechen. Sie erörtern selten politisch sensible Themen, um Vergeltungsmaßnahmen lokaler Behörden zu vermeiden (USDOS 20.3.2023). Viele örtliche NGOs wurden geschlossen oder gezwungen, ihre Tätigkeiten auszusetzen (COE 3.6.2022).
Tschetschenien
Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Menschenrechtsaktivisten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppe auf Instagram veröffentlicht. Teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie angeblich Feinde des tschetschenischen Volkes sind, oder er ruft offen dazu auf, sie umzubringen (AA 28.9.2022). Menschenrechtsaktivisten sind schweren Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane ausgesetzt, darunter Folter, Verschwindenlassen von Personen, rechtswidrige Festnahmen und Fälschung von Straftatbeständen (ÖB 30.6.2022; vgl. EEAS 19.4.2022). Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen Straflosigkeit (ÖB 30.6.2022). Die Arbeit unabhängiger NGOs vor Ort ist praktisch unmöglich (AA 28.9.2022).
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Wehrdienst und Rekrutierungen
Letzte Änderung: 29.06.2023
Gemäß § 22 des föderalen Gesetzes 'Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst' unterliegen männliche russische Staatsbürger im Alter zwischen 18 und 27 Jahren der Einberufung zum Wehrdienst (RF 13.6.2023). Die Pflichtdienstzeit beträgt ein Jahr. Der Staatspräsident legt jährlich fest, wie viele der Stellungspflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden. In der Regel liegt die Quote bei etwa einem Drittel der jährlich ins wehrdienstpflichtige Alter kommenden jungen Männer. Über die regionale Aufteilung der Wehrpflichtigen entscheidet das Verteidigungsministerium (ÖB 30.6.2022). Es gibt in Russland zweimal jährlich eine Stellung (Spiegel 31.3.2022). Für Herbst 2022 wurden 120.000 Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen (Kreml 30.9.2022) und für das Frühjahr 2023 147.000 (Präsident 30.3.2023). Die Anzahl der aus Tschetschenien Einberufenen ist relativ gering, im Durchschnitt 500 Einberufene pro Einberufungsperiode (ÖB 25.1.2023). Einberufungsbefehle werden Einzuberufenden in schriftlicher Form und zusätzlich elektronisch übermittelt. Die Einberufungsbefehle werden vom Militärkommissariat per eingeschriebenem Brief verschickt. Möglich ist unter anderem auch die persönliche Aushändigung des Einberufungsbefehls durch Mitarbeiter des Militärkommissariats (§ 31 des Gesetzes 'Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst') (RF 13.6.2023). Wer zum Wehrdienst einberufen wurde, darf das Land bis zur Beendigung des Wehrdiensts nicht verlassen (§ 15 des Gesetzes ’Über den Ablauf der Aus- und Einreise in die Russische Föderation') (RF 14.4.2023).
Staatsangehörige, die aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Wehrdienst geeignet sind, werden als 'untauglich' von der Dienstpflicht befreit. Darüber hinaus kann ein Antrag auf Aufschub des Wehrdienstes gestellt werden, etwa durch Personen, welche ein Studium absolvieren oder einen nahen Verwandten pflegen müssen, oder durch Väter mehrerer Kinder. Auch Angehörige bestimmter Berufsgruppen können einen Aufschub des Wehrdienstes beantragen. Die Ableistung des Grundwehrdienstes ist Voraussetzung für bestimmte (vor allem staatliche) berufliche Laufbahnen (ÖB 30.6.2022). Ab einem Alter von 16 Jahren ist der freiwillige Besuch einer Militärschule möglich (EBCO 12.5.2023). Frauen dürfen freiwillig Militärdienst leisten (CIA 15.6.2023). Nach dem Grundwehrdienst gibt es die Möglichkeit, freiwillig auf Basis eines Vertrags in der Armee zu dienen (ÖB 30.6.2022). Bislang kamen als Vertragssoldaten russische Staatsbürger im Alter von 18-40 Jahren sowie Ausländer zwischen 18 und 30 Jahren infrage. Im Mai 2022 wurden diese Altersgrenzen bis zum Pensionsalter angehoben (Duma 25.5.2022; vgl. NZZ 25.5.2022). Seit mehreren Jahren sind Bemühungen im Gang, die Armee in Richtung eines Berufsheeres umzugestalten (ISW 5.3.2022; vgl. SWP 7.12.2022, GS o.D.).
Im Militärbereich ist Korruption weitverbreitet (USDOS 20.3.2023; vgl. SWP 7.12.2022). 2015 wurden die Aufgaben der Militärpolizei erheblich erweitert. Seitdem zählt hierzu ausdrücklich die Bekämpfung der Misshandlungen von Soldaten durch Vorgesetzte aller Dienstgrade sowie von Diebstählen innerhalb der Streitkräfte. Auch die sogenannte Dedowschtschina ('Herrschaft der Großväter') – ein System der Erniedrigung bis hin zur Vergewaltigung von sich ausgeliefert fühlenden Rekruten durch dienstältere Mannschaften in Verbindung mit abgelegenen Standorten und kein Ausgang bzw. kaum Urlaub - dürfte eine maßgebliche Ursache sein. Es ist zu vermuten, dass es nach wie vor zu Delikten kommt, jedoch nicht mehr in dem Ausmaß wie in der Vergangenheit (AA 28.9.2022). NGOs gehen von Hunderten Gewaltverbrechen pro Jahr im Heer aus. Laut Menschenrechtsvertretern existiert Gewalt in den Kasernen zumindest in bestimmten Militäreinheiten als System und wird von den Befehlshabenden unterstützt bzw. geduldet (ÖB 30.6.2022). Die Diskreditierung der Armee ist gemäß § 280.3 des Strafgesetzbuches strafbar (RF 28.4.2023). Für Strafverfahren gegen Militärangehörige sind Militärgerichte zuständig, welche in die zivile Gerichtsbarkeit eingegliedert sind. Freiheitsstrafen wegen Militärvergehen sind ebenso wie übliche Freiheitsstrafen in Haftanstalten oder Arbeitskolonien zu verbüßen. Militärangehörige können jedoch bis zu zwei Jahre in Strafbataillone, die in der Regel zu Schwerstarbeit eingesetzt werden, abkommandiert werden (AA 28.9.2022).
Gemäß einem präsidentiellen Erlass vom 25.8.2022 ist mit 1.1.2023 die russische Armee auf einen Personalstand von 2.039.758 Bediensteten aufgestockt worden, davon 1.150.628 Militärbedienstete und der Rest Zivilpersonal wie Verwaltungsangestellte usw. (RI 25.8.2022; vgl. ORF 25.8.2022). Für den Zeitraum 2023-2026 ist eine Erhöhung der Anzahl der Militärbediensteten auf 1,5 Millionen geplant (Iswestija 17.1.2023). Im Jahr 2022 betrugen die Militärausgaben 4,1 % des Bruttoinlandsprodukts (SIPRI o.D.). Gemäß Verfassungsartikel 87 ist der Präsident der Russischen Föderation Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Duma 6.10.2022).
Mobilmachung / Ukraine-Krieg
Gemäß rechtlicher Vorgaben müssen Wehrpflichtige eine mindestens viermonatige Ausbildung absolviert haben, um zu Kampfeinsätzen im Ausland entsandt werden zu können. Jedoch zu Kriegszeiten oder im Falle der Ausrufung des Kriegsrechts ist es möglich, Wehrpflichtige früher heranzuziehen. Innerhalb Russlands dürfen Wehrpflichtige sofort (auch unausgebildet) herangezogen werden (ISW 30.10.2022). Aktuell gibt es keine Hinweise auf eine Teilnahme Wehrpflichtiger an Kampfhandlungen in der Ukraine (EUAA 16.12.2022a; vgl. ÖB 8.11.2022, ÖB 25.1.2023). Wehrpflichtige werden allerdings in Grenzregionen stationiert (EUAA 16.12.2022a; vgl. ISW 13.6.2023) (beispielsweise in Belgorod, Kursk, Brjansk, Rostow und Krasnodar) sowie auf der von Russland besetzten Krim (EUAA 16.12.2022a). Es gab Berichte über Wehrpflichtige, welche unter Druck gesetzt wurden, ihre Dienstzeit durch Freiwilligenverträge zu verlängern (RFE/RL 14.7.2022). Alle russischen Regionen wurden angewiesen, Freiwilligenbataillone für den Einsatz in der Ukraine zusammenzustellen (ÖB 30.6.2022). Mit der Rekrutierung Freiwilliger wurde im Juli/August 2022 begonnen (EUAA 16.12.2022a). Bis spätestens 1.7.2023 haben die Freiwilligenformationen einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abzuschließen (VM 10.6.2023). Das Verteidigungsministerium rekrutiert seit September 2022 Strafgefangene, welchen als Gegenleistung für einen Kampfeinsatz Geld und frühzeitige Entlassung aus dem Gefängnis angeboten wird (EUAA 16.12.2022a). Eine gesetzliche Neuregelung vom November 2022 ermöglicht die Mobilisierung von Schwerverbrechern. Davon ausgenommen sind unter anderem Terroristen, Spione sowie Personen, die Minderjährige sexuell missbrauchten (RN 4.11.2022; vgl. RF 4.11.2022).
Gemäß dem präsidentiellen Erlass (Ukas) vom 21.9.2022 werden mobilisierte Staatsbürger Vertragssoldaten gleichgestellt, auch hinsichtlich der Besoldung. Die Verträge der Vertragssoldaten laufen erst mit dem Ende der Teilmobilmachung aus. Der Erlass enthält keine Angaben zur Anzahl der einzuberufenden Staatsbürger. [Anzumerken ist auch, dass der Punkt 7 des Erlasses nicht veröffentlicht wurde und dem 'Dienstgebrauch' dient. Sein Inhalt ist unbekannt. - Anm. der Staatendokumentation] Die Umsetzung der Mobilmachung obliegt den Regionen. Ausgenommen von der Mobilmachung sind gemäß dem Erlass ältere Personen, Personen, die wegen ihres Gesundheitszustands als untauglich eingestuft werden (RI 21.9.2022), außerdem Mitarbeiter im Banken- und Mobilfunksektor, IT-Bereich sowie Mitarbeiter von Massenmedien (Kommersant 23.9.2022). Ein Einberufungsaufschub gilt für Staatsbürger, welche im Verteidigungsindustriesektor arbeiten (RI 21.9.2022). Folgende Personengruppen sind ebenfalls von der Mobilmachung ausgenommen: pflegende Angehörige; Betreuer von Personen mit Behinderungen; kinderreiche Familien; Personen, deren Mütter alleinerziehend sind und mindestens vier Kinder unter acht Jahren haben; Veteranen im Ruhestand, welche nicht mehr im Militärregister aufscheinen; sowie Personen, welche nicht in Russland leben und nicht im Militärregister aufscheinen (Meduza 22.9.2022). Der Kreml räumte Fehler bei der Umsetzung der Teilmobilmachung ein. So wurden Personen einberufen, welche eigentlich von der Mobilmachung ausgenommen sind, beispielsweise Krebskranke (Kommersant 26.9.2022). Die Teilmobilmachung führte in Russland zu Protesten, Festnahmen (OWD-Info o.D.a; vgl. Standard 22.9.2022) sowie zu einer Ausreisebewegung (WP 28.9.2022). Es wird berichtet, dass seit Verkündung der Teilmobilmachung Hunderttausende Männer Russland verließen (DW 6.10.2022). Manche Personen, welche während der Mobilisierung die Flucht versuchten, trafen an der Grenze auf Sicherheitspersonal, welches ihnen Einberufungsbefehle ausgehändigt hat (FH 2023). Bürger, welche im Militärregister aufscheinen, dürfen ab Verkündung einer Mobilmachung ihren Wohnort nur mit behördlicher Erlaubnis verlassen (§ 21 des Gesetzes 'Über die Mobilisierungsvorbereitung und die Mobilisierung') (RF 4.11.2022). Seit Kriegsbeginn bieten NGOs juristische Beratung für Grundwehrdiener und Soldaten an (ÖB 30.6.2022).
Am 28.10.2022 vermeldete der Verteidigungsminister an Präsident Putin den Abschluss der oben beschriebenen Teilmobilmachung (Tass 28.10.2022). Am 31.10.2022 bestätigte Putin mündlich das Ende der Teilmobilmachung (Kreml 31.10.2022). Gemäß einer schriftlichen Mitteilung der russischen Präsidialverwaltung vom Jänner 2023 ist der präsidentielle Erlass zur Einleitung der Teilmobilmachung (21.9.2022) nach wie vor in Kraft (ISW 20.1.2023; vgl. ÖB 25.1.2023). Im Rahmen der Teilmobilmachung wurden nach offiziellen Angaben 300.000 Reservisten einberufen (RG 21.9.2022). Als Reservist gilt jede männliche und weibliche Person, die ein Militärbuch besitzt (ÖB 19.10.2022). Prinzipiell erhalten alle Personen, welche den Wehrdienst abgeleistet haben, ein Militärbuch. Es häufen sich aber Aussagen, dass immer mehr Männer, die nie gedient haben, mit Vollendung des 25. Lebensjahres ein Militärbuch erhalten. Dieses besagt dann jedoch, dass sie nie dienten und daher auch nicht zur Reserve zählen (ÖB 25.1.2023). Ethnische Minderheiten aus ärmeren Regionen waren überproportional von der Mobilisierungswelle betroffen (Standard 28.9.2022; vgl. ISW 17.10.2022). Derzeit wird vom Kreml eine verdeckte Mobilisierung durchgeführt. Dies bedeutet, es werden beispielsweise finanzielle Anreize geschaffen und auch Zwangsmaßnahmen gesetzt, um Menschen für den Militärdienst zu gewinnen (ISW 8.6.2023).
Zu den Kämpfern in der Ukraine zählt die russische Wagner-Gruppe (RBK 13.6.2023; vgl. DW 26.6.2023). Private Militärfirmen wie 'Wagner' sind formal illegal (SWP 7.12.2022) [Informationen zum Wagner-Aufstand vom 24.6.2023 finden sich im Kapitel Sicherheitslage.]. Zur Unterstützung Russlands wurden auch syrische Söldner für den Kampf in der Ukraine rekrutiert (Rat der EU 22.7.2022). Russland begeht im Krieg gegen die Ukraine schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung (UN-OHCHR 16.3.2023; vgl. HRW 21.4.2022) [siehe dazu auch das Kapitel Politische Lage].
Tschetschenien
Tschetschenische Gruppierungen kämpfen in der Ukraine seit Beginn des Kriegs im Februar 2022 (EUAA 16.12.2022a). Die von Präsident Putin am 21.9.2022 verkündete Teilmobilmachung (RI 21.9.2022) wurde in Tschetschenien nicht durchgeführt. Das tschetschenische Republiksoberhaupt, Ramsan Kadyrow, begründete dies damit, dass Tschetschenien bereits überproportional viele Kämpfer in die Ukraine entsandt hatte und somit die Quote übererfüllt war (KU 23.9.2022). In Tschetschenien wurden Freiwilligenbataillone gebildet (EUAA 16.12.2022a). Nach wie vor entsendet Tschetschenien Gruppen Freiwilliger als Kämpfer in den Ukraine-Krieg (KU 20.6.2023). Der rechtliche Status der Freiwilligen ist unklar. Ab Juni 2022 wurden Freiwillige mittels kurzfristiger Verträge an Militäreinheiten angegliedert, an private Militärunternehmen wie Wagner oder an die Nationalgarde. Am 26.6.2022 verkündete Kadyrow die Gründung von vier tschetschenischen (an das Verteidigungsministerium angegliederten) Freiwilligenbataillonen mit den Bezeichnungen Süd-Achmat, Nord-Achmat, West-Achmat sowie Ost-Achmat. Wegen des Personalmangels stammen Mitglieder dieser Einheiten hauptsächlich aus tschetschenischen Polizeieinheiten und der Nationalgarde. Zur selben Zeit begann Kadyrow mit Rekrutierungen im Kreis der tschetschenischen Sicherheitskräfte (EUAA 16.12.2022a). Am 11.6.2023 verkündete Kadyrow die Gründung von zwei tschetschenischen Regimentern des Verteidigungsministeriums: 'Achmat-Russland' und 'Achmat-Tschetschenien' (KU 20.6.2023). Zu den Kämpfern in der Ukraine zählen auch die sogenannten Kadyrowzy. Diese stellen eine Art Privatarmee des tschetschenischen Machthabers Kadyrow dar. Formal sind die Kadyrowzy der Nationalgarde unterstellt (SWP 7.12.2022). [zu den Kadyrowzy siehe auch das Kapitel Sicherheitsbehörden]
Nach Aussage von Republikoberhaupt Kadyrow sind alle in der Ukraine kämpfenden Tschetschenen, darunter auch die Sicherheitskräfte, Freiwillige (KU 1.1.2023). Tatsächlich finden in Tschetschenien Rekrutierungen von Kämpfern in einer allgemeinen Atmosphäre des Zwanges und unter Verletzung von Menschenrechtsstandards statt. In vielen Fällen erfolgen Zwangsrekrutierungen (EUAA 16.12.2022a; vgl. KR 8.6.2023, ISW 10.6.2023), wobei Methoden wie Drohungen und Entführungen angewandt werden (EUAA 16.12.2022a). Behörden in Tschetschenien betreiben eine aggressive Anwerbungskampagne, um Einheimische als 'freiwillige' Kämpfer für die Ukraine zu gewinnen (RFE/RL 10.11.2022; vgl. ÖB 25.1.2023). Kadyrow drohte Kampfunwilligen mit der 'Hölle' (KU 17.7.2022) und ordnete die Streichung von Sozialleistungen für Familien von Kriegsdienstverweigerern an (KU 25.8.2022). In Tschetschenien gibt es keine NGOs, welche eingezogene Personen unterstützen (EUAA 16.12.2022a).
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Wehrersatzdienst
Letzte Änderung: 29.06.2023
Das Recht auf einen zivilen Ersatzdienst (Zivildienst) aus Gewissens-, religiösen oder anderen Gründen wird durch Artikel 59 der Verfassung garantiert (Duma 6.10.2022). Eine gesetzliche Grundlage stellt das föderale Gesetz 'Über den alternativen Zivildienst' dar (RF 13.6.2023a). Ein alternativer Zivildienst kann abgeleistet werden, falls der Wehrdienst gegen die persönliche (politische, pazifistische) Überzeugung bzw. Glaubensvorschriften einer Person spricht, oder falls diese Person zu einem indigenen Volk gehört, dessen traditionelle Lebensweise dem Wehrdienst widerspricht (ÖB 30.6.2022). Die Zivildienstzeit beträgt 18 Monate als ziviles Personal bei den russischen Streitkräften bzw. 21 Monate in anderen staatlichen Einrichtungen, wie beispielsweise Kliniken oder Feuerwehr (ÖB 30.6.2022; vgl. AA 28.9.2022, RF 13.6.2023a). Jährlich wird eine Liste an Tätigkeiten, Berufen und Organisationen erstellt, in welchen die Ableistung eines alternativen Zivildiensts möglich ist (FAAB o.D.).
Anträge auf Ableistung des alternativen Zivildiensts sind beim Militärkommissariat spätestens sechs Monate vor den jährlichen Einberufungsterminen zu stellen und müssen eine Begründung enthalten (§ 11 des Gesetzes 'Über den alternativen Zivildienst'). Die Anträge werden laut § 10 von der Einberufungskommission geprüft (RF 13.6.2023a). Wer bereits den Wehrdienst ableistet, darf keinen Antrag mehr auf Ableistung eines Wehrersatzdienstes stellen. Jährlich werden in etwa 2.000 Anträge auf Wehrersatzdienst gestellt, wovon geschätzt die Hälfte positiv beschieden wird (EUAA 16.12.2022a). Zeugen Jehovas sind von Verletzungen des Rechts auf Wehrdienstverweigerung betroffen (EBCO 12.5.2023; vgl. WHJW 21.3.2022). Lehnt die Einberufungskommission den Antrag einer Person auf Ableistung des Zivildiensts ab, kann diese Entscheidung gerichtlich angefochten werden (§ 15 des Gesetzes 'Über den alternativen Zivildienst') (RF 13.6.2023a). Mit Stand Februar 2023 absolvierten laut Angaben des Föderalen Amts für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) 1.140 russische Staatsbürger einen alternativen Zivildienst. In Tschetschenien und Dagestan absolvierte gemäß dieser Statistik niemand den alternativen Zivildienst (FAAB 1.2.2023). Die Verweigerung der Ableistung des Zivildiensts zieht gemäß § 328 des Strafgesetzbuches folgende Strafen nach sich: Geldstrafen von bis zu RUB 80.000 [ca. EUR 868] oder in der Höhe von bis zu sechs Monatseinkommen, bis zu 480 Stunden Pflichtarbeiten oder Arrest von bis zu sechs Monaten (RF 28.4.2023).
Bei Verkündung einer Mobilmachung ist die Fortsetzung des zivilen Ersatzdienstes in Einrichtungen der russischen Streitkräfte sowie in anderen militärischen Einrichtungen gestattet. Staatsbürger, welche zu Zeiten einer Mobilmachung den zivilen Ersatzdienst in nichtmilitärischen Einrichtungen absolvieren, können als ziviles Personal in Einrichtungen der russischen Streitkräfte sowie in anderen militärischen Einrichtungen zum Einsatz kommen (§ 17.1 des Gesetzes 'Über die Mobilisierungsvorbereitung und die Mobilisierung') (RF 4.11.2022). Die Militärkommissariate und Gerichte lehnen Anträge von Personen, die für einen Einsatz in der Ukraine eingezogen worden waren und stattdessen Zivildienst leisten wollten, routinemäßig ab (AI 28.3.2023; vgl. EUAA 16.12.2022a). Zur Begründung heißt es, dass es keine spezifischen gesetzlichen Regelungen bezüglich des Zivildiensts in Zeiten einer Teilmobilmachung gibt (AI 28.3.2023).
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Desertion/Wehrdienstverweigerung
Letzte Änderung: 29.06.2023
Desertion
Gemäß § 338 StGB (Strafgesetzbuch) bedeutet Desertion das eigenmächtige Verlassen der Militäreinheit oder des Dienstorts mit dem Ziel, dem Wehrdienst zu entgehen. Desertion wird laut § 338 mit einer Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren geahndet. Ersttäter können sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn die Desertion Folge schwieriger Umstände war. Desertion mit einer Waffe sowie Desertion in einer Personengruppe werden mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren geahndet. Desertion während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen zieht eine Freiheitsstrafe von fünf bis fünfzehn Jahren nach sich (RF 28.4.2023). In Bezug auf den Ukraine-Krieg vermeidet Russland den Begriff Krieg und spricht stattdessen von einer 'militärischen Spezialoperation' (RFE/RL 22.8.2022; vgl. Tass 21.6.2023). Je länger eine Desertion zurückliegt, desto unwahrscheinlicher scheint eine Bestrafung. Deserteure während des Zweiten Weltkriegs, welche sich zwischen 1962 und 1995 stellten, gingen in bestimmten Fällen straffrei aus. Hingegen wurden beispielsweise Soldaten, die 1995 bzw. 2008 desertierten, später von Gerichten gemäß § 338 StGB zu Haftstrafen von zwei bzw. drei Jahren verurteilt. Um als Desertion im Sinne des Strafgesetzbuches gelten zu können, ist Vorsatz erforderlich. Begangen werden kann das Delikt der Desertion von Wehrdienstleistenden, Zeitsoldaten sowie von Reservisten. Reservisten können von Militärkommissariaten zu militärischen Übungen einberufen werden. Die bloße Ausreise eines Reservisten ohne Einberufungsbefehl stellt keine Desertion im Sinne des § 338 StGB dar (ÖB 17.3.2022). Gemäß § 10 des föderalen Gesetzes 'Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst' sind russische Staatsbürger jedoch zu einer Meldung an die Behörden verpflichtet, so sie für mehr als sechs Monate aus der Russischen Föderation ausreisen oder in die Russische Föderation einreisen (RF 13.6.2023). Gemäß dem Kodex über Verwaltungsübertretungen (§ 21.5) stellt die Nichterfüllung dieser Verpflichtungen eine Verwaltungsübertretung dar und zieht eine Verwarnung oder Geldstrafe von RUB 500 bis 3.000 [ca. EUR 5 bis 33] nach sich (RF 17.5.2023). Laut dem föderalen Gesetz 'Über den Ablauf der Aus- und Einreise in die Russische Föderation' (§ 15) kann das Ausreiserecht russischer Staatsbürger vorübergehend eingeschränkt werden, falls sie zum Wehr- oder Zivildienst einberufen wurden (bis zur Beendigung des Wehr- oder Zivildienstes) (RF 14.4.2023).
Bei einberufenen Reservisten ist Folgendes zu unterscheiden: Haben einberufene Reservisten an einer militärischen Übung noch nicht teilgenommen und erscheinen sie (ohne gerechtfertigten Grund) nicht zur Übung, so liegt keine Desertion vor, sondern eine Verwaltungsübertretung. Haben hingegen einberufene Reservisten an der militärischen Übung bereits teilgenommen und erscheinen sie nicht zum weiteren Dienst mit dem Vorsatz, sich auf Dauer dem Militär zu entziehen, liegt Desertion gemäß § 338 StGB vor (ÖB 17.3.2022).
Wehrdienstverweigerung
Die Verweigerung der Einberufung zum Wehrdienst zieht folgende Strafen nach sich (§ 328 StGB): Geldstrafen von bis zu RUB 200.000 [ca. EUR 2.171] oder in der Höhe von bis zu 18 Monatseinkommen, Zwangsarbeit von bis zu zwei Jahren, Arrest von bis zu sechs Monaten oder Freiheitsentzug von bis zu zwei Jahren. § 337 StGB sieht unter anderem Folgendes vor: Wehrpflichtige oder Vertragssoldaten, welche während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen die militärische Einheit oder den Dienstort eigenmächtig verlassen und für eine Dauer von mehr als zwei Tagen bis max. zehn Tagen ungerechtfertigt nicht zum Dienst erscheinen, werden mit Freiheitsentzug von bis zu fünf Jahren bestraft. Wehrpflichtige oder Vertragssoldaten, welche während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen die militärische Einheit oder den Dienstort eigenmächtig verlassen und für eine Dauer von mehr als einem Monat ungerechtfertigt nicht zum Dienst erscheinen, werden mit Freiheitsentzug von fünf bis zehn Jahren bestraft. Ersttäter können sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn die Tat Folge schwieriger Umstände war. Reservisten sind während Militärübungen strafrechtlich für Taten gemäß diesem Paragrafen (§ 337) verantwortlich (RF 28.4.2023).
Wer während des Kriegsrechts, zu Kriegszeiten, im Rahmen von Kampfhandlungen oder bewaffneten Konflikten den Befehl eines Vorgesetzten nicht befolgt und die Teilnahme an Kriegs- oder Kampfhandlungen verweigert, wird mit Freiheitsentzug von zwei bis drei Jahren bestraft (§ 332 StGB). Wenn diese Taten mit schwerwiegenden Folgen verbunden waren, zieht dies eine Freiheitsstrafe von drei bis zehn Jahren nach sich. Gemäß § 339 StGB wird die Verweigerung des Wehrdiensts durch Betrug (Vortäuschung einer Krankheit, Selbstverletzung, Selbstverstümmelung, Fälschung von Dokumenten usw.) folgendermaßen geahndet: Wehrdienstbeschränkung von bis zu einem Jahr, Arrest von bis zu sechs Monaten oder Disziplinarhaft (Inhaftierung in einer militärischen Disziplinareinheit) von bis zu einem Jahr. Dieselbe Tat (mit dem Ziel, sich gänzlich den militärischen Pflichten zu entziehen) zieht eine Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren nach sich. Taten gemäß § 339 StGB, die während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen begangen wurden, ziehen eine Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren nach sich. Gemäß § 51 des Strafgesetzbuches bedeutet Wehrdienstbeschränkung eine verminderte Besoldung sowie das Aussetzen dienstlicher Beförderungen (RF 28.4.2023). Neu eingeführt wurde ins Strafgesetzbuch am 24.9.2022 ein Paragraf mit dem Titel 'Sich freiwillig in Kriegsgefangenschaft begeben' (RG 24.9.2022). Gemäß diesem § 352.1 wird eine solche Tat mit Freiheitsentzug von drei bis zehn Jahren bestraft. Ersttäter können sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn sie Maßnahmen für ihre Befreiung ergriffen haben, zu ihrer Truppe oder Dienstort zurückgekehrt sind und wenn sie während der Kriegsgefangenschaft nicht andere Straftaten begangen haben (RF 28.4.2023).
Internationale und unabhängige russische Medien berichten über viele Fälle von Vertragssoldaten, welche die Entsendung in die Ukraine verweigern oder die Ukraine verlassen haben, um zu ihren Militäreinheiten in Russland zurückzukehren (EUAA 16.12.2022a). In einigen Fällen desertieren Mobilgemachte während des Kampfeinsatzes in der Ukraine (ÖB 25.1.2023). Die genaue Anzahl von Soldaten, welche den Kampf in der Ukraine verweigern, ist unklar (Connection 2.10.2022). Die Regierung veröffentlicht keine Zahlen (AA 28.9.2022). Seit Beginn der Teilmobilmachung in Russland im September 2022 gab es mehr als 1.000 Anklagen wegen Fahnenflucht, unerlaubter Entfernung von der Truppe oder Befehlsverweigerung (Länder-Analysen o.D.). Die meisten Rekruten werden zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und können so nach kurzer Zeit wieder an die Front versetzt werden (Länder-Analysen o.D.; vgl. MOD 24.5.2023).
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Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 29.06.2023
Artikel 19 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert gleiche Rechte und Freiheiten für alle Personen, unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Nationalität, Sprache, Herkunft, sozialem Status, Wohnort, Religionszugehörigkeit usw. Gemäß Verfassungsartikel 55 dürfen die Rechte und Freiheiten der Menschen durch die föderale Gesetzgebung nur insoweit eingeschränkt werden, als dies aus folgenden Gründen notwendig ist: zum Schutz der Verfassung, der Moral, Gesundheit, der Rechte und gesetzlichen Interessen anderer Personen, zur Gewährleistung der Landesverteidigung sowie der nationalen Sicherheit (Duma 6.10.2022). Die Grundrechte werden in Russland zwar in der Verfassung garantiert, es besteht jedoch ein deutlicher Widerspruch zwischen verfassungsrechtlichen Normen und der Rechtswirklichkeit (AA 28.9.2022). Russland hat unter anderem folgende internationale Menschenrechtsverträge ratifiziert (UN-OHCHR o.D.):
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau
Internationales Übereinkommen über die Beseitigung aller Formen von Rassendiskriminierung
Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe
Kinderrechtskonvention
Behindertenrechtskonvention
Aufgrund von Russlands Angriffskrieg in der Ukraine stimmte die UN-Generalversammlung im April 2022 für den Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat (UN 7.4.2022). Die Menschenrechtssituation in Russland hat sich im Laufe der vergangenen Jahre sukzessive verschlechtert (EEAS 19.4.2022). Russland wird von der NGO Freedom House als unfrei in Bezug auf politische Rechte und bürgerliche Freiheiten eingestuft (FH 2023). Freiheitsrechte wurden durch die russische Regierung immer weiter eingeschränkt (SWP 19.4.2022). Um die politische Macht und Stabilität zu stärken, untergräbt Russlands politische Führung oft Bürger- und Menschenrechte sowie die Rechtsstaatlichkeit (BS 2022). Die Regierung geht unerbittlich gegen Menschenrechtsorganisationen vor (FH 2023). Zahlreiche davon wurden aufgelöst oder werden in ihren Tätigkeiten beträchtlich behindert (UN-HRC 1.12.2022). 2022 wurde Memorial, eine der ältesten russischen Menschenrechtsorganisationen, auf Grundlage einer Gerichtsentscheidung aufgelöst (ÖB 30.6.2022; vgl. Memorial o.D.). Die Behörden nutzen neben der Gesetzgebung über 'ausländische Agenten' und 'unerwünschte Organisationen' verschiedene weitere Maßnahmen, um Menschenrechtsverteidiger unter Druck zu setzen. Im November 2022 schloss Präsident Putin mehrere prominente Menschenrechtsverteidiger aus dem Menschenrechtsrat des Präsidenten aus und ersetzte sie durch regierungsfreundliche Personen (AI 28.3.2023). Menschenrechtsanwälte geraten zunehmend unter Druck (ÖB 30.6.2022). Mehreren Menschenrechtsanwälten wurde die Anwaltslizenz entzogen, ohne ihnen ein Beschwerderecht einzuräumen (EUAA 16.12.2022b).
Es ist gesetzlich vorgesehen, dass Personen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen klagen können. Jedoch sind diese Mechanismen oft nicht effektiv (USDOS 20.3.2023). Am 16.3.2022 wurde Russland aus dem Europarat ausgeschlossen (Europarat 16.3.2022). Seit 16.9.2022 ist Russland keine Vertragspartei der vom Europarat geschaffenen Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) mehr (Europarat 16.9.2022; vgl. Europarat o.D.b). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt die Einhaltung der EMRK sicher. Bürger können sich, nachdem die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft sind, mit Beschwerden direkt an ihn wenden (Europarat o.D.). Seit 16.9.2022 haben russische Bürger kein Recht mehr, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen (SWP 19.4.2022).
Ombudsperson
Die Ombudsperson für Menschenrechte wird laut Artikel 103 der Verfassung der Russischen Föderation vom Parlament (Duma) ernannt und entlassen (Duma 6.10.2022). Zu den Aufgaben der Ombudsperson für Menschenrechte gehören die Kontrolle der Tätigkeiten staatlicher Organe sowie die Bearbeitung von Beschwerden, welche von Bürgern der Russischen Föderation, Staatenlosen oder anderen Personen eingereicht werden (OPMR o.D.a). Jährlich erstellt die Ombudsperson einen Tätigkeitsbericht (OPMR o.D.b). Die Befugnisse der Ombudsperson für Menschenrechte gelten als begrenzt (USDOS 20.3.2023; vgl. OSCE 22.9.2022). In allen Regionen gibt es außerdem regionale Ombudspersonen, deren Wirksamkeit sehr variiert. Örtliche Behörden untergraben oft die Unabhängigkeit der Ombudspersonen (USDOS 20.3.2023).
Menschenhandel
Gemäß § 127.1 des Strafgesetzbuches zieht Menschenhandel eine Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren nach sich (RF 28.4.2023). Das Strafgesetzbuch definiert den Begriff Menschenhandelsopfer nicht. Die meisten der an Behörden gemeldeten Menschenhandelsfälle werden von der Regierung nicht als Menschenhandel anerkannt, sondern anderen Gesetzesparagrafen zugeschrieben. Dadurch wird das Ausmaß des Problems verschleiert. Regierungsbeamte und die Polizei lassen sich regelmäßig bestechen, um Menschenhandelsfälle zu vertuschen. Die Regierung zeigt kaum Bemühungen zur Unterstützung von Menschenhandelsopfern. Auch existieren keine nationale Strategie und kein nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung von Menschenhandel. Die Regierung hat Aktivitäten mehrerer zivilgesellschaftlicher Gruppen, die gegen Menschenhandel ankämpfen, unterbunden (USDOS 29.7.2022). Menschenhandelsopfer werden regelmäßig inhaftiert, abgeschoben und gerichtlich verfolgt (FH 2023). Die am weitesten verbreitete Form von Menschenhandel in Russland ist der Handel mit Arbeitskräften. Sexhandel kommt vor (USDOS 29.7.2022). Gesetze, die sich gegen Zwangsarbeit richten, werden von der Regierung nicht wirksam umgesetzt (USDOS 20.3.2023). In der Russischen Föderation gibt es Schutzunterkünfte für Opfer von Menschenhandel. Für gewöhnlich werden diese Unterkünfte von örtlichen NGOs verwaltet (IOM 12.2022).
Flüchtlinge
Gesetzlich ist Asylgewährung vorgesehen. Personen, welche nicht als Flüchtlinge anerkannt werden, wird von der Regierung das Recht auf temporären Schutz eingeräumt. In der Praxis wird dieses Prinzip von Behörden nicht konsequent umgesetzt (USDOS 20.3.2023). Für ausländische Flüchtlinge ist es de facto schwierig, einen endgültigen oder zeitlich begrenzten Flüchtlingsschutz zu erlangen (AA 28.9.2022). Die Anerkennungsrate von Asylwerbern, die nicht aus der Ukraine stammen, ist niedrig (UN-HRC 1.12.2022). Mit Stand Oktober 2022 besaßen ca. 93.700 Personen einen temporären Schutzstatus. Es mangelt an klaren Verfahrensregeln. Der Non-Refoulement-Begriff ist gesetzlich nicht ausdrücklich festgeschrieben (USDOS 20.3.2023). Für Personen mit besonderen Bedürfnissen sind keine besonderen Verfahrensmaßnahmen vorgesehen. Personen, welchen Asyl gewährt wurde, sind mit Integrationsschwierigkeiten konfrontiert (UN-HRC 1.12.2022).
Gemäß Berichten sind viele Flüchtlinge aus der Ukraine in Russland in sogenannten Filtrationslagern interniert oder sonstigen Bewegungseinschränkungen ausgesetzt. Es wird über Fälle von Folter, geschlechtsspezifischer Gewalt und Erniedrigung ukrainischer Staatsangehöriger sowie über Zwangsverschleppung ukrainischer Kinder nach Russland berichtet (AA 28.9.2022). Die russischen Behörden legen ukrainischen Flüchtlingen die Annahme der russischen Staatsbürgerschaft nahe bzw. setzen sie diesbezüglich teilweise auch unter Druck (AI 28.3.2023). Mit Stand 3.10.2022 waren in der Russischen Föderation 2.852.395 Flüchtlinge aus der Ukraine registriert (UNHCR o.D.).
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Tschetschenien, Kritiker, Tschetschenienkrieg-Kämpfer
Letzte Änderung: 29.06.2023
In Tschetschenien stellt sich die Menschenrechtssituation als äußerst beunruhigend dar (FCDO 12.2022). Die weitverbreiteten Menschenrechtsverletzungen sind staatlichen Akteuren zuzuschreiben (EUAA 16.12.2022b). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet das Republiksoberhaupt Kadyrow unterschiedliche Gewaltformen an, beispielsweise Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 2023; vgl. Europarat 3.6.2022). Es kommt zu Massenrazzien und Massenentführungen (KR 27.3.2023). Einige der Entführten werden von den Behörden unter Druck gesetzt, in der Ukraine zu kämpfen (AI 28.3.2023). Auch kollektive Bestrafungen kommen zur Anwendung (EUAA 16.12.2022b). Die Stabilisierung der Sicherheitslage erfolgt um den Preis gravierender Menschenrechtsverletzungen, darunter menschen- und rechtsstaatswidriges Vorgehen der Behörden gegen Extremismusverdächtige. Die Bekämpfung von Extremisten geht mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, Verschwindenlassen, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in welchen gefoltert wird, einher (AA 28.9.2022). Kadyrow billigt, beruhend auf seinen religiösen Ansichten, schwerwiegende Menschenrechtsverstöße gegen Frauen, sexuelle Minderheiten usw. (USCIRF 4.2022). Frauen werden Opfer von Ehrenmorden (USDOS 20.3.2023). Es gibt Clans, die Blutrache praktizieren (AA 28.9.2022; vgl. KU 1.2.2023). Mit der Unterstützung Moskaus wird gewaltsam gegen religiöse Minderheiten vorgegangen (USCIRF 10.2021). Zwischen 2019 und 2021 verschwanden in Tschetschenien 4.984 Personen spurlos. Tschetschenien gehört zu denjenigen Regionen, in welchen Verschwundene am seltensten wiedergefunden werden (KR 28.3.2023). Russland ist dem Internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen nicht beigetreten (UN-OHCHR o.D.).
Schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, begangen von Vertretern der föderalen und regionalen Behörden, bleiben straffrei (Europarat 3.6.2022). Bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz. Hierzu gehören Menschenrechtsaktivisten, sexuelle Minderheiten sowie Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich. Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Menschenrechtsaktivisten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppe auf Instagram veröffentlicht. Teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie angeblich Feinde des tschetschenischen Volkes sind, oder er ruft offen dazu auf, sie umzubringen (AA 28.9.2022). Menschenrechtsaktivisten sind schweren Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane ausgesetzt, darunter Folter, Verschwindenlassen, rechtswidrige Festnahmen und Fälschung von Straftatbeständen (ÖB 30.6.2022; vgl. EEAS 19.4.2022). Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht (ÖB 30.6.2022). In Tschetschenien gibt es eine regionale Ombudsperson für Menschenrechte. Dieses Amt bekleidet derzeit Mansur Soltaew (OMRT o.D.).
Kritiker
Tschetschenische Behörden unterdrücken alle Formen abweichender Meinungen (HRW 12.1.2023). Kadyrow droht denjenigen Personen öffentlich, welche ihn und seine Familie kritisieren (UK-VI 17.11.2022). Mit der Unterstützung Moskaus wird gewaltsam gegen Kritiker des Kadyrow-Regimes vorgegangen (USCIRF 10.2021). Regimekritiker müssen mit Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten sowie physischen Übergriffen bis hin zu Mord rechnen (AA 28.9.2022). In mehreren Fällen kam es zu Folterungen (KR 27.3.2023). Auch kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen (AA 28.9.2022). Bürger, welche sich über örtliche Angelegenheiten beschweren (beispielsweise Krankenhausschließung), sind Belästigungen oder Demütigungen ausgesetzt (UK-VI 17.11.2022). Kritiker des Kadyrow-Regimes werden systematisch zu Entschuldigungen gezwungen (KU 29.3.2023).
Oppositionelle, Regimekritiker und Personen, die sich gegen Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. dessen Clan aufgelehnt haben, genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 28.9.2022). Wer aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt wird, kann nicht mit einem fairen Gerichtsverfahren rechnen (UK-VI 17.11.2022). Die Opposition hat sich wegen der Unmöglichkeit von Straßenprotesten in Tschetschenien in soziale Netze und Messenger verlagert. Einer der bekanntesten Oppositionskanäle ist der Telegram-Kanal 1ADAT. Die Inhalte von 1ADAT wurden gerichtlich als extremistisch eingestuft (KU 13.2.2022). 1ADAT steht dem tschetschenischen Republiksoberhaupt Kadyrow äußerst kritisch gegenüber (USDOS 20.3.2023) und lässt regelmäßig Stimmen tschetschenischer Dissidenten zu Wort kommen (HRW 12.1.2023). Der Kanal sammelt Informationen über Verbrechen in Tschetschenien und führt eine Entführungsstatistik (KU 13.2.2022). Mitarbeiter von 1ADAT sind Festnahmen und Folter durch die 'Kadyrowzy' ausgesetzt (KU 13.2.2022; vgl. KR 23.8.2022). Die Kadyrowzy stellen die persönliche Armee von Kadyrow dar (FPRI 15.6.2022). Sie werden für zahlreiche Missbrauchshandlungen verantwortlich gemacht, darunter willkürliche Festnahmen, Folter und außergerichtliche Tötungen. Strafrechtliche Konsequenzen haben die Handlungen der Kadyrowzy keine (EUAA 16.12.2022a). [zum Begriff Kadyrowzy Näheres im Kapitel Sicherheitsbehörden]
Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor dem Regime Kadyrows nicht sicher. Sicherheitskräfte, welche Kadyrow zuzurechnen sind, sind nach Aussagen von NGOs auch in Moskau präsent. Jedenfalls stehen Tschetschenen in größeren russischen Städten unter Beobachtung ihrer Landsleute, und 'falsches' Verhalten kann ebenfalls das Interesse der tschetschenischen Sicherheitsstrukturen wecken (ÖB 30.6.2022). Gemäß Berichten verfolgen in Einzelfällen die Familien der Betroffenen oder tschetschenische Behörden (welche Zugriff auf russlandweite Informationssysteme haben) Flüchtende in andere Landesteile. Auch wird von verschiedenen Personengruppen berichtet, die gegen ihren Willen von einem innerstaatlichen Zufluchtsort nach Tschetschenien zurückgeholt und dort Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden sind. Zu den Betroffenen gehören Oppositionelle und Regimekritiker, darunter ehemalige Kämpfer und Anhänger der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung (AA 28.9.2022; vgl. KU 22.2.2023, Meduza 23.8.2022). In mehreren Fällen wurden Kritiker Kadyrows, welche außerhalb Russlands lebten, Opfer von Attentaten (KR 31.1.2023; vgl. FH 6.2022). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien für diejenigen Personen ergeben, welche bereits vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB 30.6.2022). Im Dezember 2022 wurden einige Familienmitglieder von fünf tschetschenischen Bloggern und Aktivisten, welche im Ausland leben und Kadyrow online kritisiert haben, durch tschetschenische Sicherheitskräfte misshandelt und in Isolationshaft gehalten. Die Familien wurden gezwungen, sich zu entschuldigen und sich öffentlich von ihren Verwandten im Exil loszusagen (HRW 12.1.2023).
Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen (auf der Grundlage in ihrer Heimatregion erlassener Rechtsakte) in anderen Gebieten Russlands in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, können Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig gemacht werden (AA 28.9.2022). Die russischen Behörden setzen Kameras mit Gesichtserkennungssoftware ein, um Personen festzunehmen. Solche Kameras sind beispielsweise in der Moskauer U-Bahn installiert (FH 18.10.2022). Unter dem Vorwand der Pandemie-Bekämpfung wird die Gesichtserkennungssoftware in Großstädten flächendeckend eingesetzt (AA 28.9.2022). Bei polizeilichen Personenkontrollen ist Racial Profiling verbreitet (AA 28.9.2022; vgl. UN-HRC 1.12.2022). Racial Profiling steigerte sich gemäß Berichten während der COVID-Pandemie und wird durch die Nutzung neuer Technologien intensiviert (UN-HRC 1.12.2022). Seit langer Zeit missbraucht Russland die von Interpol betriebenen 'red notices' ('rote Ausschreibungen'), um Regimekritiker ausfindig zu machen (Politico 27.7.2022). 'Red notices' informieren weltweit die Polizei über international gesuchte Personen und fordern Gesetzesvollzugsorgane dazu auf, die betreffenden Personen ausfindig zu machen und vorübergehend (bis zu einer Auslieferung usw.) festzunehmen (Interpol o.D.).
Tschetschenienkrieg-Kämpfer
Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen. Prominentes Beispiel dafür ist der Kadyrow‐Clan selbst, welcher im Zuge der Tschetschenienkriege vom Rebellen‐ zum Vasallentum wechselte (ÖB 30.6.2022).
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Meinungs- und Pressefreiheit, Internet
Letzte Änderung: 29.06.2023
Artikel 29 der Verfassung garantiert Meinungsfreiheit und verbietet Zensur (Duma 6.10.2022). Derzeit herrscht eine Kriegszensur (SWP 19.4.2022). Presse- und Meinungsfreiheit sind eingeschränkt (BS 2022; vgl. UN-HRC 1.12.2022), insbesondere in Bezug auf kriegskritische Aussagen (UN-HRC 1.12.2022). Wer sich offen gegen den Krieg in der Ukraine ausspricht, muss mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen (AI 28.3.2023). Journalisten dürfen gemäß einer Entscheidung der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor ausschließlich Informationen der russischen Regierung verwenden, wenn sie über den Ukraine-Krieg berichten. Ansonsten drohen Geldstrafen und Blockierung von Webseiten (UN-HRC 1.12.2022). Die Verwendung der Begriffe Krieg, Angriff und Invasion im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg ist verboten. Stattdessen ist der Begriff der 'militärischen Spezialoperation' zu benutzen (SWP 19.4.2022). Die Diskreditierung der Armee kann gemäß § 280.3 des Strafgesetzbuches zu einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren führen. Bei öffentlicher Verbreitung von Falschinformationen über die Armee droht eine Haftstrafe von bis zu 15 Jahren (§ 207.3 des Strafgesetzbuches) (RF 28.4.2023). Die Maßnahmen haben zur Folge, dass jegliche abweichende Meinung und alternative Informationen über den bewaffneten Konflikt in der Ukraine unterdrückt werden (FNSF 11.2022).
Die Situation unabhängiger Medien und Journalisten hat sich beträchtlich verschlechtert (EEAS 19.4.2022). Immer weniger Medien in Russland sind tatsächlich unabhängig von staatlicher Kontrolle tätig (FNSF 11.2022). Die Regierung subventioniert staatliche Medien mit mehreren Milliarden Rubel jährlich, was den Wettbewerb für unabhängige Medien erschwert (FH 18.10.2022). Laut Berichten betreiben unabhängige Medien in großem Stil Selbstzensur (USDOS 20.3.2023). Es gibt Berichte über Schikanierung von Journalisten, darunter strafrechtliche Verfolgung, Hausdurchsuchungen, Festnahmen, physische Angriffe und Drohungen, auch gegen Familienangehörige von Journalisten (UN-HRC 1.12.2022). Es herrscht diesbezüglich Straflosigkeit (AI 4.2023). Seit Kriegsbeginn wurde gegen Journalisten und Medienmitarbeiter, darunter Blogger, eine beträchtliche Anzahl strafrechtlicher Anklagen erhoben. Beinahe alle führenden unabhängigen Medien haben mittlerweile ihren Sitz ins Ausland verlegt. Nach Entziehung der Drucklizenz entzog der Oberste Gerichtshof im September 2022 der unabhängigen Nowaja Gaseta ['Neue Zeitung'] die Online-Medienlizenz. Die Nowaja Gaseta hatte alle ihre Aktivitäten in Russland bereits im März 2022 ausgesetzt. Mehrere Journalisten der Nowaja Gaseta gründeten einen Online-Vertrieb in Europa, welcher in Russland ebenfalls blockiert ist (EUAA 16.12.2022b). Mit Echo Moskwy wurde der einzig verbliebene landesweite und vom Kreml unabhängige Rundfunksender, mit TV Doschd der letzte unabhängige Fernsehkanal gesperrt (AA 28.9.2022).
Zahlreiche Journalisten und unabhängige Medien wurden als 'ausländische Agenten' und 'unerwünscht' eingestuft, darunter Meduza, Bellingcat und Kaukasischer Knoten (FCDO 12.2022) [zur Gesetzgebung über 'unerwünschte Organisationen' siehe Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten]. Als 'ausländische Agenten' werden laut den gesetzlichen Vorgaben Personen oder Vereinigungen eingestuft, welche ausländische Unterstützung erhalten oder in irgendeiner anderen Form unter ausländischem Einfluss stehen (§ 1 des Gesetzes 'Über die Überwachung der Tätigkeit von Personen, die unter ausländischem Einfluss stehen'). 'Ausländische Agenten' müssen sich laut § 7 des oben genannten Gesetzes in ein Register eintragen lassen. Die Entscheidung der Behörde über die Aufnahme ins Register kann gerichtlich angefochten werden (RF 28.12.2022). Mit der Eintragung als 'ausländischer Agent' gehen umfassende Kennzeichnungs‐ und Berichtspflichten sowie zahlreiche Einschränkungen einher (ÖB 30.6.2022). Gemäß § 330.1 des Strafgesetzbuches drohen bei Verstößen gegen diese Verpflichtungen u. a. Geld- oder Haftstrafen von bis zu fünf Jahren (RF 28.4.2023; vgl. EUAA 16.12.2022b). Die Gesetzgebung zu 'ausländischen Agenten' wird immer extensiver angewendet (AA 28.9.2022) und trägt zur Selbstzensur bei (FH 18.10.2022).
Die gesamte Internet-Kommunikation wird von der Regierung überwacht (USDOS 20.3.2023). Ende Februar 2022 sperrten die Behörden viele Nachrichtenwebseiten, darunter BBC, Deutsche Welle, Bellingcat, Meduza, Mediazona und Radio Free Europe/Radio Liberty (FH 18.10.2022). Soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram und Twitter wurden ebenfalls gesperrt. Der Facebook-Konzern Meta wurde als extremistische Organisation eingestuft (SWP 19.4.2022). Die Anti-Extremismus-Gesetzgebung wird häufig dazu verwendet, die Meinungsfreiheit zu beschränken (UN-HRC 1.12.2022). Über verschiedene Online-Plattformen, welche sich beispielsweise weigerten, bestimmte Inhalte zu entfernen, verhängte die russische Regierung sehr hohe Geldstrafen. Webseiteneigentümer sind berechtigt, Entscheidungen gerichtlich anzufechten. Dafür sind aber oft nur kurze Zeiträume vorgesehen (FH 18.10.2022).
Auf der Rangliste der Pressefreiheit 2023 von Reporter ohne Grenzen rangiert Russland gegenwärtig auf Platz 164 von 180 Staaten/Gebietseinheiten. Russland befindet sich zwischen Bangladesch und der Türkei und verschlechterte sich um neun Plätze gegenüber der Reihung des Vorjahres (RWB o.D.).
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Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition
Letzte Änderung: 29.06.2023
Versammlungsfreiheit
Gemäß Artikel 31 der Verfassung haben Bürger der Russischen Föderation das Recht, friedliche Versammlungen, Demonstrationen und Mahnwachen abzuhalten (Duma 6.10.2022). Öffentliche Kundgebungen müssen genehmigt werden (SWP 19.4.2022). Es existieren zahlreiche Berichte über Einschränkungen der Versammlungsfreiheit (UN-HRC 1.12.2022; vgl. BS 2022, AI 28.3.2023, USDOS 20.3.2023). Die russischen Behörden nehmen COVID als Vorwand, um öffentliche Aktivistenversammlungen pauschal zu verbieten. Regierungsfreundliche Massenveranstaltungen sind von diesem Verbot nicht betroffen (HRW 12.1.2023). Behörden weigern sich, friedliche Proteste zu erlauben, vor allem Anti-Kriegsproteste. Strafverfolgungsbehörden reagieren mit Gewalt auf friedliche Versammlungen (UN-HRC 1.12.2022). Nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine fanden in verschiedenen Teilen Russlands Massenproteste dagegen statt. Die Proteste führten zu Massenverhaftungen und Polizeigewalt. Die massenhafte Einberufung von Reservisten (Mobilisierung) führte im September 2022 zu Protestwellen in verschiedenen russischen Regionen, insbesondere in Gebieten, wo ethnische Minderheiten beheimatet sind, beispielsweise in Dagestan (HRW 12.1.2023). Die Anti-Mobilisierungsproteste wurden regelmäßig mit Polizeigewalt sowie willkürlichen Massenverhaftungen von Aktivisten, Demonstranten und Journalisten beantwortet (EUAA 16.12.2022b). In Dagestan hielten die Massenproteste einige Tage an. Sie wurden von den Behörden gewaltsam niedergeschlagen (HRW 12.1.2023; vgl. KR 17.2.2023), und es kam zu Massenverhaftungen (KU 17.2.2023). Im Zuge der Proteste in Dagestan wurden mehrere Strafverfahren gegen Protestteilnehmer wegen angeblicher Gewalt gegen die Polizei eröffnet (HRW 12.1.2023; vgl. KR 17.2.2023). Seit 24.2.2022 fanden in Russland 19.673 Festnahmen von Kriegsgegnern statt (OWD-Info o.D.). Wegen der repressiven Gesetzgebung sind Demonstrationen in Russland kaum noch möglich (SWP 19.4.2022; vgl. AA 28.9.2022). Behörden setzen Gesichtserkennungstechnologien ein, um Demonstranten zu identifizieren und zu verhaften (FH 2023; vgl. AI 4.2023).
Vereinigungsfreiheit
Artikel 30 der Verfassung garantiert Vereinigungsfreiheit, darunter das Recht auf Gründung von Gewerkschaften (Duma 6.10.2022). Die Vereinigungsfreiheit wird von der Regierung beträchtlich eingeschränkt (USDOS 20.3.2023). Gewerkschaftsrechte sind gesetzlich geschützt, jedoch in der Praxis beschränkt. Streiks und Arbeiterproteste finden beispielsweise in der Autoindustrie statt, aber gewerkschaftliche Diskriminierung und Repressalien sind alltäglich. Arbeitgeber ignorieren oft Tarifverhandlungsrechte. Die größte Arbeitervereinigung arbeitet eng mit dem Kreml zusammen. Unabhängige Vereinigungen sind in mehreren Industriesektoren und Regionen aktiv (FH 2023).
Die Gesetzgebung über 'unerwünschte Organisationen' erlaubt dem Generalstaatsanwalt, ausländische oder internationale Organisationen als 'unerwünscht' zu verbieten, wenn sie die Verfassungsordnung, Verteidigungsfähigkeit oder Staatssicherheit Russlands bedrohen. Das Strafmaß reicht von Geldstrafen bis hin zu sechsjährigen Haftstrafen. Auch ausländische oder internationale NGOs sowie im Ausland lebende russische Bürger werden als 'unerwünscht' eingestuft, wenn sie mit 'unerwünschten' Organisationen im Zusammenhang stehen (EUAA 16.12.2022b). Die Gesetzgebung zu 'unerwünschten Organisationen' wird immer extensiver angewendet (AA 28.9.2022). Gesetze wie 'unerwünschte Organisationen' und 'ausländische Agenten' schränken die Vereinigungsfreiheit beträchtlich ein (UN-HRC 1.12.2022) [zur Gesetzgebung über 'ausländische Agenten' siehe Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten].
Opposition
Die Tätigkeiten von Oppositionsparteien werden eingeschränkt (UN-HRC 1.12.2022). Oppositionsvertreter sehen sich unter massivem Druck durch die Behörden, einschließlich Strafverfolgung mit drohenden Haftstrafen. In Ermittlungsverfahren und vor Gericht können sie nicht auf eine faire Behandlung bzw. einen fairen Prozess vertrauen (AA 28.9.2022). Durch überschießende Anwendung der Anti-Extremismus-Gesetzgebung werden politische Gegner behindert (UN-HRC 1.12.2022). Die letzten Duma- bzw. Parlamentswahlen im September 2021 waren laut Wahlbeobachtern und unabhängigen Medien von beträchtlichen Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet, darunter Stimmenkauf, Fälschung von Wahlprotokollen und Druck auf Wähler (FH 24.2.2022; vgl. SWP 14.10.2021, Russland-Analysen 1.10.2021, KAS 21.9.2021). Mit großem Vorsprung gewann die Regierungspartei Einiges Russland die Wahl, so das offizielle Wahlergebnis (FH 24.2.2022). Einiges Russland verfügt über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, welche erforderlich ist, um Verfassungsänderungen durchzusetzen. Vier weiteren Parteien gelang der Einzug ins Parlament. Sie werden allesamt als kremltreue 'System-Opposition' bezeichnet (SWP 14.10.2021). Viele regimekritische Kandidaten waren von der Wahl ausgeschlossen worden (SWP 14.10.2021; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021). Neue politische Parteien können in der Regel nur dann registriert werden, wenn sie die Unterstützung der Machthaber im Kreml genießen (AA 28.9.2022; vgl. BS 2022). Anti-System-Oppositionsbewegungen wurden verboten bzw. zur Selbstauflösung gezwungen (KAS 21.9.2021).
Alexej Nawalnyj wäre im August 2020 beinahe einem Mordanschlag zum Opfer gefallen und ist seit Jänner 2021 inhaftiert. Seine politischen Organisationen sind zerschlagen (SWP 19.4.2022). Die Gerichtsverfahren, welche zur Inhaftierung des Oppositionsführers Nawalnyj führten, boten keine Garantien für ein faires Verfahren. Gemäß Berichten ist die strafrechtliche Verfolgung Nawalnyjs politisch motiviert. Die Haftbedingungen fügen Nawalnyjs Gesundheit beträchtlichen Schaden zu (UN-HRC 1.12.2022). Im März 2022 wurde Nawalnyjs Haftstrafe um neun Jahre verlängert, und im Juni 2022 wurde Nawalnyj ins Hochsicherheitsgefängnis IK-6 in der Region Wladimir verlegt. In diesem Gefängnis wird laut verschiedenen Berichten Folter angewandt. Mitarbeiter Nawalnyjs haben Russland verlassen oder wurden verhaftet. Seit Kriegsbeginn wurden auch weitere prominente Oppositionspolitiker verhaftet und gerichtlich verfolgt, darunter Wladimir Kara-Mursa, Ewgenij Rojsman, Ilja Jaschin und Leonid Gosman (EUAA 16.12.2022b).
Das tschetschenische Republiksoberhaupt Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppe auf Instagram veröffentlicht. Teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie angeblich Feinde des tschetschenischen Volkes sind, oder er ruft offen dazu auf, sie umzubringen. Oppositionelle genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 28.9.2022).
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Haftbedingungen
Letzte Änderung: 29.06.2023
Straftäter werden entweder in sogenannten Ansiedlungskolonien (ähnelt dem freien Vollzug), Erziehungskolonien, Besserungsheileinrichtungen, Strafkolonien mit allgemeinem, strengem oder besonderem Regime (hier sitzt der überwiegende Anteil der Inhaftierten ein), oder in einem Gefängnis untergebracht (AA 28.9.2022). Das Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) des Europarats stattete in der Vergangenheit der Russischen Föderation regelmäßig Besuche ab (Europarat 6.10.2021). Am 16.3.2022 wurde Russland aus dem Europarat ausgeschlossen (Europarat 16.3.2022). Die Behörden gestatten Vertretern öffentlicher Aufsichtskommissionen, Gefängnisse regelmäßig zu besuchen, um die Haftbedingungen zu überwachen. Es gibt in fast allen Regionen öffentliche Aufsichtskommissionen. Menschenrechtsaktivisten äußern sich besorgt darüber, dass einige Kommissionsmitglieder behördennahe Personen sowie Personen mit Erfahrung im Gesetzesvollzug sind. Gemäß den gesetzlichen Vorgaben haben Mitglieder von Aufsichtskommissionen das Recht, Insassen in Haftanstalten und Gefängnissen mit ihrer schriftlichen Genehmigung auf Video aufzunehmen und zu fotografieren. Kommissionsmitglieder dürfen außerdem Luftproben sammeln, andere Umweltinspektionen sowie auch Sicherheitsbewertungen durchführen und psychiatrische Einrichtungen in Gefängnissen betreten. Gefangene dürfen Beschwerden bei öffentlichen Aufsichtskommissionen oder beim Büro der Ombudsperson für Menschenrechte einreichen. Aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen wird diese Möglichkeit aber oft nicht genutzt. Laut Aktivisten riskieren nur Gefangene, die glauben, keine andere Option zu haben, die Folgen einer Beschwerde. Beschwerden, welche bei den Aufsichtskommissionen eingehen, konzentrieren sich häufig auf kleinere persönliche Anliegen (USDOS 20.3.2023).
Die Haftbedingungen entsprechen zum Teil nicht den allgemein anerkannten Mindeststandards. Die Probleme in den Haftanstalten reichen von Misshandlungen, fehlenden Resozialisierungsmaßnahmen bis hin zu mangelnder medizinischer Versorgung (ÖB 30.6.2022) und Nahrungsmittelknappheit (USDOS 20.3.2023). In Haftanstalten kommt es zu Folter (UN-HRC 1.12.2022; vgl. AI 4.2023). Die dafür Verantwortlichen werden selten strafrechtlich verfolgt (AI 28.3.2023). Es kommt vor, dass Journalisten und Aktivisten, die über Folter in Gefängnissen berichten, von Behörden strafrechtlich verfolgt werden (USDOS 20.3.2023). Die Behörden verbieten Inhaftierten, insbesondere Andersdenkenden, häufig den Kontakt zur Außenwelt oder verlegen sie willkürlich in Strafzellen, um Druck auf sie auszuüben (AI 28.3.2023). Für politische Gefangene gestalten sich die Haftbedingungen gemäß Berichten besonders hart. Sie sind zusätzlichen Strafmaßnahmen ausgesetzt, beispielsweise Verbringung in Einzelhaft oder in die Psychiatrie. Mit Stand Dezember 2022 gab es laut der Menschenrechtsorganisation Memorial 488 politische Gefangene im Land. Gemäß Memorial ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen (USDOS 20.3.2023). Bausubstanz und sanitäre Bedingungen in russischen Haftanstalten entsprechen vielfach nicht westeuropäischen Standards. Die Unterbringung der Inhaftierten erfolgt regelmäßig in Schlafsälen. Die Lage in den Strafkolonien ist sehr unterschiedlich und reicht von Strafkolonien mit annehmbaren Haftbedingungen bis hin zu solchen, die laut NGOs als 'Folterkolonien' berüchtigt sind. Die Haftbedingungen in den Untersuchungshaftanstalten sind besser als in den Strafkolonien. Trotz rechtlich vorgesehener Höchstdauer verlängerten Gerichte die Haft in Einzelfällen über Jahre (AA 28.9.2022).
Für Haftanstalten verantwortlich ist das Justizministerium. Mit Stand 1.1.2023 gab es in Russland insgesamt 433.006 Inhaftierte. 25,5 % der Inhaftierten sind Untersuchungshäftlinge, 8,9 % der Inhaftierten sind weiblich, und 0,2 % der Inhaftierten sind minderjährig. In Summe gibt es 872 Haftanstalten, davon 204 Untersuchungshaftanstalten, 642 Strafkolonien, 8 Gefängnisse und 18 Jugendkolonien. Die offizielle Kapazität des Gefängnissystems beträgt 714.253 Haftinsassen. Die Auslastung betrug mit Stand 31.1.2021 67 %. Während die Gesamtanzahl der Inhaftierten im Jahr 2000 1.060.404 betrug, waren es im Jahr 2020 523.928 Inhaftierte (WPB o.D.). Es gibt Ansätze, vermehrt alternative Sanktionen zu verhängen, um die Anzahl der Gefängnisinsassen zu verringern (AA 28.9.2022). 2022 begannen die Wagner-Gruppe sowie das Verteidigungsministerium Inhaftierte für den Ukraine-Krieg anzuwerben (ISW 11.5.2023; vgl. MT 3.5.2023). Die Wagner-Gruppe ist ein privates Militärunternehmen (ZDF 4.5.2023).
Laut Berichten des 'Komitees Ziviler Beistand' müssen Nordkaukasier in Haftanstalten außerhalb des Nordkaukasus mit Diskriminierung rechnen, was sich zum einen aus einer grundsätzlich negativen Einstellung gegenüber Nordkaukasiern erklärt, zum anderen darin begründet ist, dass russische Veteranen des Tschetschenienkrieges überproportional im Strafvollzug beschäftigt sind. Laut dem 'Komitee zur Verhinderung von Folter' gibt es hingegen keine gezielte staatliche Diskriminierung. Es ist flächendeckend sichergestellt, dass muslimische Strafgefangene Zugang zu Gebetsräumen und Imamen haben. Allerdings werden außer medizinisch indizierten Ernährungsvorgaben keine Speisevorgaben religiöser oder sonstiger Art beachtet. Für muslimische Inhaftierte gestalten sich die Haftbedingungen im Nordkaukasus besser als in den anderen Teilen Russlands, die Möglichkeit zur freien Religionsausübung ist für Muslime im Gegensatz zum (christlichen) Rest der Russischen Föderation gewährleistet. Zudem gelten die materiellen Bedingungen in den offiziellen Haftanstalten in Tschetschenien meist als besser als in vielen sonstigen russischen Haftanstalten. Für tschetschenische Straftäter, an welchen die Sicherheitsbehörden kein besonderes Interesse haben, dürften sich ein Gerichtsstand und eine Haftverbüßung in Tschetschenien in der Regel eher günstig auswirken, da sie zudem auf den Schutz der in Tschetschenien prägenden Clanstrukturen setzen können. Dementsprechend haben tschetschenische Straftäter in der Vergangenheit wiederholt ihre Überstellung nach Tschetschenien betrieben (AA 28.9.2022).
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Todesstrafe
Letzte Änderung: 29.06.2023
Gemäß Artikel 20 der Verfassung hat jeder Mensch das Recht auf Leben, jedoch ist laut der Verfassung für Kapitalverbrechen die Todesstrafe vorgesehen (Duma 6.10.2022). Das Strafgesetzbuch zählt in § 44 folgende Bestrafungsformen auf: Geldstrafe; Berufs- und Tätigkeitsverbote; Entziehung spezieller, militärischer Dienstgrade oder Entziehung von Ehrenrängen bzw. -titeln und staatlicher Auszeichnungen; Pflichtarbeiten; Besserungsarbeiten; Militärdienstbeschränkung; Freiheitsbeschränkung; Zwangsarbeit; Arrest; militärische Disziplinarhaft; zeitlich befristeter Freiheitsentzug; lebenslange Haftstrafe; Todesstrafe. Über Frauen, Minderjährige sowie Männer über 65 darf laut § 59 des Strafgesetzbuches nicht die Todesstrafe verhängt werden (RF 28.4.2023). Seit 1996, als Russland Mitglied des Europarats wurde, ist die Todesstrafe aufgrund eines Moratoriums ausgesetzt (AI 5.2023; vgl. CCDPW 27.3.2012, OSCE 7.10.2022). Der russische Verfassungsgerichtshof hat 1999 entschieden und 2009 bestätigt, dass die Todesstrafe in Russland nicht verhängt werden darf. Man kann somit von einer De-facto-Abschaffung der Todesstrafe sprechen (AA 28.9.2022). Die letzte Vollstreckung eines Todesurteils fand in den 1990er-Jahren statt (Lenta 2.6.2022; vgl. AI 5.2023). Am 16.3.2022 wurde Russland aus dem Europarat ausgeschlossen (Europarat 16.3.2022). Das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe wurde von Russland weder unterzeichnet noch ratifiziert (UN-OHCHR o.D.). […]
Religionsfreiheit
Letzte Änderung 2023-06-29 11:20
Die Bevölkerung des Landes weist eine religiöse Vielfalt auf. Ca. 68 % sind russisch-orthodox, 7 % Muslime, und 25 % gehören unter anderem folgenden Gemeinschaften an: Protestanten, Katholiken, Zeugen Jehovas, Buddhisten, Judentum, Bahai usw. (USCIRF 4.2022). Gemäß einer Umfrage des Lewada-Zentrums von April 2023 bekennen sich 72 % der Befragten zur Orthodoxie, 7 % zum Islam, 13 % zu keiner Religion, 5 % zum Atheismus und ca. 3 % zu anderen Glaubensrichtungen - vor allem Katholiken, Protestanten und Buddhisten (LZ 16.5.2023). Verlässliche Zahlen zu den Mitgliedern bzw. Anhängern einzelner Gemeinschaften gibt es nicht, da ein System der Mitgliederregistrierung fehlt (MR 2022).
Artikel 28 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit. Die Wahl des Religionsbekenntnisses steht frei. Auch wird die Freiheit eingeräumt, ohne Bekenntnis zu leben. Religiöse Überzeugungen dürfen frei verbreitet werden. Gemäß Artikel 29 der Verfassung ist das Schüren von religiösem Hass verboten. Laut Verfassungsartikel 14 ist die Russische Föderation ein säkularer (weltlicher) Staat, und es gibt keine Staatsreligion. Staat und Religion sind laut Verfassung voneinander getrennt (Duma 6.10.2022). Gemäß § 3 des Gesetzes 'Über die Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen' darf die Gewissens- und Glaubensfreiheit nur aus folgenden Gründen eingeschränkt werden: zum Schutz der Verfassung, der Moral, der Gesundheit, der Rechte und der gesetzlichen Interessen der Menschen und zur Gewährleistung der Landesverteidigung sowie der nationalen Sicherheit. Gemäß § 9 sind zur Gründung einer örtlichen religiösen Organisation mindestens zehn erwachsene Staatsbürger notwendig. Zentralisierte religiöse Organisationen bestehen aus mindestens drei örtlichen religiösen Organisationen. Laut § 11 unterliegen religiöse Organisationen einer staatlichen Registrierung. Die Verweigerung der staatlichen Registrierung einer religiösen Organisation kann gerichtlich angefochten werden (§ 12). Religiöse Vereinigungen können aufgelöst werden, wenn sie extremistisch tätig sind (§ 14 des Föderalen Gesetzes 'Über die Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen') (RF 29.12.2022c). Die Anti-Extremismus-Gesetzgebung wird in Russland überschießend angewandt (UN-HRC 1.12.2022) und wegen ihrer vagen Formulierungen kritisiert, welche breite Interpretationen sowie eine missbräuchliche Anwendung erlauben (EUAA 16.12.2022b). Beschwerden über den Umgang der Regierung mit dem Thema Religionsfreiheit nimmt die Ombudsperson entgegen (USDOS 15.5.2023).
Die Religionsfreiheit ist in Russland eingeschränkt (UN-HRC 1.12.2022). Behörden missbrauchen die Anti-Terrorismus- und Anti-Extremismus-Gesetzgebung, um friedliche religiöse Gruppen als terroristisch, extremistisch und unerwünscht einzustufen. Zu den betroffenen Gruppen gehören Zeugen Jehovas, vier protestantische Gruppen aus Lettland und der Ukraine, ein regionaler Zweig von Falun Gong sowie sieben mit Falun Gong verbundene NGOs. Solchen Gruppen ist die Religionsausübung verboten, und sie sind mit langen Haftstrafen, harten Haftbedingungen, Hausarrest, Razzien, Diskriminierung und Schikanierungen konfrontiert (USDOS 20.3.2023). Viele Muslime wurden in den letzten Jahren wegen ihrer angeblichen Zugehörigkeit zu verbotenen islamistischen Gruppen inhaftiert (FH 2023). Mindestens 20 angebliche Mitglieder von Hizb-ut-Tahrir wurden im Jahr 2022 im Rahmen politisch motivierter Gerichtsverfahren zu Haftstrafen von 11-18 Jahren verurteilt. Die Bewegung Hizb-ut-Tahrir strebt die Gründung eines Kalifats an, lehnt aber Gewaltanwendung zur Erreichung dieses Ziels ab. Hizb-ut-Tahrir wurde im Jahr 2003 in Russland als terroristische Organisation verboten (HRW 12.1.2023). Zahlreiche Haftstrafen erhielten friedliche Anhänger des gemäßigten muslimischen Theologen Said Nursi sowie der Missionsgruppe Tablighi Jamaat (USCIRF 4.2022; vgl. USCIRF 5.2023). Die Regierung betrachtet unabhängige religiöse Aktivitäten als stabilitätsbedrohend (USCIRF 4.2022). Mit Stand Dezember 2022 gab es laut der Menschenrechtsorganisation Memorial 488 politische Gefangene im Land, darunter 370 Personen, welche ungerechtfertigt wegen ihrer Religionsausübung inhaftiert sind. Gemäß Memorial ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen (USDOS 20.3.2023).
Religiöse Minderheiten sind Diskriminierung ausgesetzt (Sowa-Zentr 24.3.2023; vgl. EEAS 19.4.2022). Orthodoxie, Islam, Judentum und Buddhismus sind als sogenannte traditionelle Religionen anerkannt (MR 2022). Das Föderale Gesetz 'Über die Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen' räumt dem orthodoxen Christentum eine besondere Rolle ein (RF 29.12.2022c). Die russisch-orthodoxe Kirche genießt Privilegien (FH 2023; vgl. BS 2022) und arbeitet im innen- und außenpolitischen Bereich eng mit der Regierung zusammen (FH 2023; vgl. RAD 17.10.2022). Indigene Religionen wurden durch staatliche Programme unter einen gewissen Schutz gestellt. Sie sind jedoch, obwohl seit langer Zeit in Russland verwurzelt, nicht als traditionelle Religionen anerkannt. Ein Beispiel für eine indigene Religion stellt der Schamanismus dar. Die sogenannten traditionellen Religionen haben gesetzlich das Recht, an staatlichen Schulen Religionsunterricht anzubieten. Andere Religionsgemeinschaften dürfen an staatlichen Schulen nicht auftreten (MR 2022). Innerhalb der Politik nimmt Antisemitismus zu (USDOS 2.6.2022; vgl. USCIRF 5.2023). Die Massenmedien bedienen sich antisemitischer Rhetorik (USDOS 15.5.2023). Nach Angaben der israelischen Regierung emigrierten im Jahr 2022 43.685 Personen von Russland nach Israel (TOI 11.1.2023). Vergleichsweise waren im gesamten Jahr 2019 15.930 Russen nach Israel ausgewandert (Reuters 18.8.2022).
Die Leitung der russisch-orthodoxen Kirche hat, mit verschiedenen Nuancen und Dynamiken, Russlands militärisches Handeln in der Ukraine seit dem 24.2.2022 unverändert unterstützt (Russland-Analysen 23.2.2023). Religiöse Führer werden von der Regierung teils unter Druck gesetzt, um als Unterstützer des Krieges gegen die Ukraine aufzutreten (Forum 18 2.8.2022; vgl. FH 2023).
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Tschetschenien
Letzte Änderung 2023-06-29 11:23
Artikel 25 der Verfassung der Republik Tschetschenien garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit. Die Wahl des Religionsbekenntnisses steht frei. Auch wird die Freiheit eingeräumt, ohne Bekenntnis zu leben. Gemäß Artikel 26 ist Propaganda zur Entfachung von religiösem Hass nicht gestattet. Der Verfassungsartikel 11 definiert Tschetschenien als einen säkularen (weltlichen) Staat und spricht sich gegen eine Staatsreligion aus. Staat und religiöse Vereinigungen sind voneinander getrennt (RT 23.3.2003).
Die Hauptreligionsrichtung in Tschetschenien ist der sunnitische Islam (PPTR o.D.). Seit dem späten 18. Jahrhundert blüht in Tschetschenien der Sufismus, eine von großer Vielfalt gekennzeichnete Bewegung des islamischen Mystizismus (USCIRF 10.2021). Heute identifizieren sich die meisten tschetschenischen Muslime mit dem Sufismus (USCIRF 10.2021; vgl. PPTR o.D.). Das tschetschenische Republiksoberhaupt Kadyrow hat eine zentralisierte Staatsreligion begründet, welche mit der Unterstützung Moskaus gewaltsam gegen religiöse Minderheiten sowie Kritiker des Kadyrow-Regimes vorgeht. Kadyrow lehnt jede Form von Islam ab, die nicht mit seinem Sufismus-Modell im Einklang steht. Die in Tschetschenien vorherrschende Islam-Interpretation wird stark vom tschetschenischen Gewohnheitsrecht (Adat) beeinflusst (USCIRF 10.2021). Zu den existierenden säkularen (weltlichen) Gesetzen fügt die tschetschenische Führung religiöse Normen hinzu (BS 2022). Die von Kadyrow aufgezwungene offizielle Islam-Version gibt vor, den örtlichen Glauben und die örtliche Kultur zu verteidigen sowie gewalttätigen Extremismus zu bekämpfen. Kadyrow billigt, beruhend auf seinen religiösen Ansichten, schwerwiegende Menschenrechtsverstöße gegen Frauen, sexuelle Minderheiten usw. (USCIRF 4.2022). Die tschetschenischen Behörden gehen gegen friedliche muslimische Geistliche vor, welche die Einmischung des Regimes in ihre religiösen Angelegenheiten ablehnen (USCIRF 10.2021).
Das Vorgehen der Behörden gegen Extremismusverdächtige ist von Menschenrechts- und Rechtsstaatswidrigkeit gekennzeichnet. Die Bekämpfung von Extremisten geht laut NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, Verschwindenlassen, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in welchen gefoltert wird, einher (AA 28.9.2022). Tschetschenische Strafverfolgungsbehörden werfen vermeintlichen Salafisten und Wahhabiten unbegründet terroristische Machenschaften vor und erzwingen Geständnisse durch Folter (USCIRF 10.2021).
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Dagestan
Letzte Änderung 2023-06-29 15:24
Artikel 29 der Verfassung Dagestans garantiert Religionsfreiheit, darunter die Freiheit, religiöse Überzeugungen zu verbreiten. Auch wird das Recht eingeräumt, ohne Religion zu leben. Gemäß Artikel 28 ist Propaganda zur Entfachung von religiösem Hass nicht gestattet (RD 10.7.2003). Laut § 3 des Gesetzes der Republik Dagestan 'Über die Gewissens-, Religionsfreiheit und religiöse Organisationen' ist Dagestan im Einklang mit der föderalen Gesetzgebung ein säkularer (weltlicher) Staat (RD 16.3.2020).
In Dagestan sind offiziell mehr als 800 religiöse Organisationen registriert (KP 28.11.2021). Mehr als 90 % der Bevölkerung Dagestans sind Muslime. 97 % sind Sunniten und 3 % Schiiten. Der im Kaukasus seit Langem praktizierte Sufismus ist in Dagestan tief verwurzelt. Ab den 1990er-Jahren fand in Dagestan eine neue religiöse Strömung Verbreitung – der Salafismus. Die meisten Muslime in Dagestan sind Anhänger einer traditionellen Form des Islam, welche eng mit den lokalen Bräuchen und Ansichten verwoben ist. Die traditionellen Muslime sind besser als die Salafisten in das säkulare [weltliche] System eingebunden und erkennen dessen Institutionen und Gesetze an. Ihre religiösen Gremien sind zu halbstaatlichen Einrichtungen geworden. Die Salafisten befürworten eine wörtliche Auslegung des Korans, lehnen Heilige sowie religiöse Lehrer ab und treten gegen eine Vermischung des Islam mit lokalen Traditionen ein (ACCORD 13.1.2020). Salafismus-Anhänger in Dagestan gehören keiner islamischen Rechtsschule an und lehnen die Lehren der Geistlichen Verwaltung der Muslime Dagestans ab, welche offiziell beansprucht, das Oberhaupt aller Muslime in Dagestan zu sein. Polizei und Anti-Terroreinheiten diskreditieren salafistische Muslime und beschuldigen diese, Terroristen zu sein oder Terroristen zu unterstützen. Obwohl sich die Einstellung gegenüber salafistischen Muslimen in den letzten Jahren verändert hat, herrschen noch Spannungen in zahlreichen Siedlungen (SR 21.10.2022). In Dagestan ist extremistischer islamischer Wahhabismus gesetzlich verboten, der Begriff wird aber nicht definiert (USDOS 15.5.2023; vgl. RD 12.5.2004). Wer gegen diese gesetzlichen Vorgaben verstößt, wird strafrechtlich belangt oder erhält eine Verwaltungsstrafe (Haftstrafe von bis zu 15 Tagen) (USDOS 15.5.2023).
Mit der Bekämpfung des islamistischen Untergrunds gehen Menschenrechtsverletzungen durch lokale und föderale Sicherheitsbehörden einher, darunter Entführungen und Verschwindenlassen (AA 28.9.2022). Es existiert eine geheime Datenbank mit persönlichen Daten von Personen, welche als potenzielle Extremisten eingestuft werden (Europarat 3.6.2022). Die Datenbank, deren Existenz von den Behörden Dagestans geleugnet wird (Europarat 3.6.2022; vgl. KR 4.2.2023), wird zur Unterstellung von Straftaten genutzt (Europarat 3.6.2022). Personen, welche in diesem prophylaktischen Register aufscheinen, sind laufend mit einer Reihe von Einschränkungen konfrontiert, beispielsweise mit häufigen Verkehrskontrollen, Besuchen durch die Polizei und Versuchen der Behörden, die Bewegungsfreiheit einzuschränken. Allerdings findet das Register keine so breite Anwendung mehr wie noch vor ein paar Jahren, als es bis zu 20.000 Personen umfasst hat (KR 4.2.2023).
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Ethnische Minderheiten
Letzte Änderung: 30.06.2023
Artikel 19 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert für alle ethnischen Gruppen gleiche Rechte und Freiheiten. Die Staatssprache der Russischen Föderation ist Russisch. Die einzelnen Republiken sind berechtigt, ihre eigenen Staatssprachen festzulegen, wobei als Behördensprache parallel das Russische gilt (Art. 68 der Verfassung) (Duma 6.10.2022). Das UN-Übereinkommen über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung wurde von Russland im Jahr 1969 ratifiziert (UN-OHCHR o.D.). Der Vielvölkerstaat Russland umfasst mehr als 190 ethnische Minderheiten (MT 30.1.2023). In etwa 81 % der Bevölkerung sind ethnische Russen (AA 28.9.2022).
Fremdenfeindlichkeit ist weitverbreitet und richtet sich vor allem gegen Arbeitsmigranten aus dem Südkaukasus und Zentralasien sowie gegen Studierende aus Afrika (BS 2022; vgl. ÖB 30.6.2022). Es kommt zu Hassverbrechen gegen ethnische Minderheiten (USDOS 20.3.2023). 'Racial Profiling' ist bei polizeilichen Personenkontrollen verbreitet. Der Kontrolldruck der Sicherheitsbehörden gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. NGOs berichten von willkürlichem Vorgehen der Polizei bei Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen. Letztere finden vor allem in Tschetschenien auch ohne Durchsuchungsbefehle statt. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden Ausländer und Personen fremdländischen Aussehens oft Opfer von Misshandlungen durch Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden. Ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt (AA 28.9.2022). In vielen Fällen werden ethnische Minderheiten aus dem Nordkaukasus und dem Fernen Osten von russischen Behördenvertretern diskriminiert (BS 2022). Einige regionale Behörden schränken die Wohnsitzregistrierung bei ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein (FH 2023). Im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt werden Mitglieder ethnischer Gruppen, insbesondere Nordkaukasier, systematisch diskriminiert. Beispielsweise ist es Bürgern aus dieser Region verboten, auf öffentlichen Märkten in Moskau tätig zu sein (BS 2022).
In Russland sind 47 kleine indigene ethnische Minderheitengruppen offiziell anerkannt (MT 30.1.2023). Gemäß Berichten kommt es zu Verletzungen der Rechte indigener Völker. Diese haben bei Industrieprojekten unzureichende Mitspracherechte hinsichtlich ihrer Ressourcen und Land und Boden (UN-HRC 1.12.2022; vgl. FA 9.12.2022). Der UN-Menschenrechtsausschuss zeigt sich besorgt über die Auflösung des 'Zentrums zur Unterstützung indigener Völker des Nordens'. Indigene Menschenrechtsverteidiger sind Schikanen ausgesetzt (UN-HRC 1.12.2022). Spirituelle indigene Führer werden vermehrt juristisch verfolgt (GFBV 15.12.2022). 2023 wurden die staatlichen Subventionen zur Förderung kleiner indigener Minderheiten gekürzt (WI 30.1.2023).
Ethnische Minderheiten aus dem Süden und Osten des Landes sowie ärmere Bevölkerungsgruppen finden sich in überproportionaler Zahl unter den in der Ukraine gefallenen Soldaten der russischen Armee (SWP 7.11.2022; vgl. FP 23.9.2022, Russland-Analysen 21.12.2022).
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Relevante Bevölkerungsgruppen
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Sexuelle Minderheiten
Letzte Änderung: 04.07.2023
Homosexualität ist in Russland nicht strafbar (AA 28.9.2022). Im Verfassungsartikel 72 wird die Ehe als Verbindung zwischen Mann und Frau definiert (Duma 6.10.2022), wodurch die Möglichkeit gleichgeschlechtlicher Ehen ausgeschlossen wird (FH 2023). Gemäß dem Kodex über Verwaltungsübertretungen (§ 6.21) ist seit 5.12.2022 die 'Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen und für Geschlechtsumwandlungen' nicht nur mehr in Gegenwart von Kindern, sondern nun auch in Gegenwart von Erwachsenen unter Strafe gestellt. Das Strafmaß umfasst Geldstrafen von RUB 50.000-5.000.000 [ca. EUR 575-57.485] und richtet sich danach, von wem die 'Propaganda' betrieben wird (Amtsträger, einfache Bürger, juristische Personen), ob Opfer der 'Propaganda' Minderjährige sind und welche Kommunikationsmittel verwendet werden (Massenmedien, Internet usw.). Bei juristischen Personen kann es zu Geschäftssperren von bis zu 90 Tagen kommen (RF 17.5.2023). Gesetzlich ist außerdem die Sperrung von Internetseiten mit entsprechenden Inhalten ohne vorausgehenden Gerichtsbeschluss durch die Medienaufsichtsbehörde vorgesehen. Einige kleinere Organisationen, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten einsetzen, haben Medienberichten zufolge als Reaktion auf die drohenden Sanktionen ihre Arbeit eingestellt (BAMF 6.12.2022). Seit Verabschiedung des neuen 'Propaganda'-Gesetzes und Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine haben viele Angehörige sexueller Minderheiten Russland verlassen (ILGA 20.2.2023).
Die Situation für Personen mit homosexueller Orientierung ist regional unterschiedlich, die Toleranz variiert oftmals nach Größe der Stadt und empfundener Nähe zu Europa. In St. Petersburg findet jährlich ein 'Queer-Fest' statt (AA 28.9.2022). Sexuelle Minderheiten sind in Russland Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt (UN-HRC 1.12.2022; vgl. AI 28.3.2023, AA 28.9.2022). Wegen Vorurteilen und Intoleranz haben sexuelle Minderheiten eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung (USDOS 20.3.2023). Hassrede von Politikern und religiösen Führern richtet sich gegen sexuelle Minderheiten (UN-HRC 1.12.2022). Sexuelle Minderheiten sind Opfer von Hassverbrechen, darunter Mord, körperliche Gewalt und Erpressung. Die Behörden stufen diese Straftaten nicht als Hassverbrechen ein (ILGA 20.2.2023). Der staatliche Schutz vor Übergriffen Dritter ist unzureichend. Laut Aussagen von NGOs bringen Opfer homophober Straftaten diese häufig nicht zur Anzeige. Wird Anzeige erstattet, weigert sich die Polizei häufig, sie aufzunehmen, wenn das Opfer den homophoben Hintergrund der Tat benennt. Eine Ahndung der Tat durch die Justiz ist dann nur möglich, wenn das Tatopfer Beschwerde bei der vorgesetzten Polizeidienststelle, der Staatsanwaltschaft oder bei Gericht einlegt (AA 28.9.2022).
Am stärksten gefährdet sind Transgender-Personen, die von der Öffentlichkeit als männlich wahrgenommen werden, sich aber entsprechend ihrer sexuellen Identität feminin kleiden und beispielsweise schminken, sowie Personen, welche sich öffentlich für Rechte sexueller Minderheiten einsetzen (AA 28.9.2022). Seit Kriegsausbruch sind transsexuelle Personen mit Hormon-Engpässen und beträchtlichen Preissteigerungen konfrontiert (ILGA 20.2.2023). Die rechtliche Anerkennung ihres Geschlechts gestaltet sich für transsexuelle Personen schwierig (ILGA 20.2.2023; vgl. USDOS 20.3.2023). LGBT-Organisationen und ihre Mitglieder sind anhaltender Schikane unterworfen (UN-HRC 1.12.2022; vgl. BS 2022). Zum Beispiel wird ihr Recht auf friedliche Versammlungen übermäßig eingeschränkt, und ihre Tätigkeiten werden unterbunden (UN-HRC 1.12.2022). Organisatoren und Teilnehmer an öffentlichen Veranstaltungen, welche sich Rechten sexueller Minderheiten widmen, sind mit Schikane und Gewalt konfrontiert (ILGA 20.2.2023). In Russland sind sogenannte Konversionstherapien erlaubt. Diese verfolgen das Ziel, die sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität zu ändern (ILGA 20.2.2023; vgl. ILGA 14.2.2022).
Im April 2022 wurde die NGO Sfera, welche sich für Rechte sexueller Minderheiten eingesetzt hat, gerichtlich aufgelöst (EUAA 16.12.2022b). Im November und Dezember 2021 stufte das Justizministerium folgende vier Gruppen Angehöriger sexueller Minderheiten als 'ausländische Agenten' ein: das 'russische LGBT-Netzwerk', Majak (Leuchtturm), Coming Out und Revers (ILGA 14.2.2022) [zum Begriff ‚ausländischer Agent‘ siehe Näheres im Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten].
Gemäß einer Umfrage des russischen Lewada-Zentrums aus dem Jahr 2021 begegnen 38 % der befragten Russen Homosexuellen mit großer Abneigung oder Angst. 32 % der Befragten stehen Personen mit homosexueller Orientierung neutral gegenüber und 3 % wohlwollend. Interesse an homosexuellen Personen bekundet 1 % der Befragten (LZ 15.10.2021).
Tschetschenien
2017 und 2019 waren Angehörige sexueller Minderheiten Verfolgung durch lokale Behörden ausgesetzt. Gemäß Medienberichten wurden in Tschetschenien Anfang 2019 über 40 Angehörige sexueller Minderheiten festgenommen und zwei zu Tode gefoltert (AA 28.9.2022). Tschetschenien bleibt weiterhin besonders gefährlich für sexuelle Minderheiten (FH 2023; vgl. AA 28.9.2022). Es kommt zu schwerwiegenden Verletzungen der Rechte sexueller Minderheiten (UN-OHCHR 20.10.2022). Nach Aussagen sind Angehörige sexueller Minderheiten in Tschetschenien verbaler und körperlicher Gewalt ausgesetzt, außerdem Massenentführungen, willkürlichen Verhaftungen, Folter durch Behörden (EUAA 16.12.2022b; vgl. UN-OHCHR 20.10.2022), Verschwindenlassen, außergerichtlichen Tötungen sowie systematischer Schikane (FCDO 12.2022). Es existieren Berichte über Angehörige sexueller Minderheiten, welche gegen ihren Willen aus anderen Teilen der Russischen Föderation nach Tschetschenien zurückgebracht wurden und dort zu Opfern von Menschenrechtsverletzungen geworden sind (AA 28.9.2022). Es herrscht ein Klima der Straflosigkeit (UN-OHCHR 20.10.2022; vgl. AA 28.9.2022). Die tschetschenischen Behörden verweigern die Untersuchung von Vorwürfen betreffend Entführung und Misshandlung wegen sexueller Orientierung (Europarat 3.6.2022).
[….]
Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Letzte Änderung: 04.07.2023
Gemäß Artikel 27 der Verfassung der Russischen Föderation haben alle Personen, welche sich rechtmäßig auf dem Territorium der Russischen Föderation aufhalten, das Recht auf Bewegungsfreiheit sowie Wahl des Aufenthalts- und Wohnorts. Alle Personen sind laut der Verfassung berechtigt, aus der Russischen Föderation auszureisen. Bürger der Russischen Föderation haben das Recht, ungehindert in die Russische Föderation zurückzukehren. Gemäß Artikel 61 der Verfassung dürfen Bürger der Russischen Föderation nicht aus der Russischen Föderation ausgewiesen werden (Duma 6.10.2022). Gemäß § 1 des Gesetzes 'Über das Recht der Bürger auf Bewegungsfreiheit' sind Einschränkungen des Rechts auf Bewegungsfreiheit, Wahl des Wohn- und Aufenthaltsorts nur auf gesetzlicher Grundlage möglich. Gemäß § 8 kann dieses Recht unter anderem dann eingeschränkt werden, wenn in den betreffenden Regionen der Ausnahmezustand oder das Kriegsrecht herrscht. Entscheidungen in Bezug auf Bewegungsfreiheit, Wahl des Wohn- und Aufenthaltsortes können von den Bürgern gerichtlich angefochten werden (§ 9) (RF 27.1.2023).
Gemäß § 15 des Gesetzes ’Über den Ablauf der Aus- und Einreise in die Russische Föderation' darf das Recht der Staatsbürger auf Ausreise aus der Russischen Föderation vorübergehend beschränkt werden. Von solchen Beschränkungen sind Personen betroffen, die zum Wehrdienst einberufen oder zum Wehrersatzdienst entsandt wurden (bis zur Beendigung des Wehrdiensts oder Wehrersatzdiensts); Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder unter Anklage stehen; Personen, die wegen Begehung einer Straftat verurteilt wurden (bis die Strafe verbüßt oder eine Strafbefreiung eingetreten ist); Personen, die gegen gerichtlich auferlegte Verpflichtungen verstoßen; Mitarbeiter des Föderalen Sicherheitsdiensts (FSB); sowie Personen, die zahlungsunfähig bzw. insolvent sind (RF 14.4.2023). Bürger, welche im Militärregister aufscheinen, dürfen ab Verkündung einer Mobilmachung ihren Wohnort nur mit behördlicher Erlaubnis verlassen (§ 21 des Gesetzes 'Über die Mobilisierungsvorbereitung und die Mobilisierung') (RF 4.11.2022). Die Regierung beschränkt Auslandsreisen ihrer Mitarbeiter, darunter Generalstaatsanwaltschaft, Innen- und Verteidigungsministerium usw. (USDOS 20.3.2023; vgl. Bell 7.4.2023). Die Grenz- und Zollkontrollen eigener Staatsangehöriger durch russische Behörden entsprechen in der Regel internationalem Standard (AA 28.9.2022). Im Zuge von Grenzkontrollen kommt es zu Befragungen Ausreisender durch Grenzkontrollorgane (ÖB 4.4.2022). Es liegen Hinweise vor, dass die Sicherheitsdienste einige Personen bei Ein- und Ausreisen überwachen (AA 28.9.2022).
Auf Grundlage eines EU-Ratsbeschlusses ist seit 12.9.2022 das Visaerleichterungsabkommen zwischen der EU und Russland vollständig ausgesetzt. Dies bedeutet nun unter anderem höhere Gebühren für einen Visumsantrag, Vorlage zusätzlicher Dokumente und längere Bearbeitungszeiten für Visa (Rat 12.5.2023). Auch die USA verhängten Visabeschränkungen, diese gelten für ca. 900 russische Amtsträger, darunter Mitglieder des Föderationsrats und des russischen Militärs (USDOS 2.8.2022). Weitere Länder (die baltischen Staaten, Tschechien, Niederlande) haben die Visavergabe an russische Staatsbürger eingeschränkt (DW 22.8.2022).
Meldewesen
Die Bürger der Russischen Föderation sind verpflichtet, ihren Aufenthalts- und Wohnort innerhalb des Landes registrieren zu lassen. Die Registrierung ist kostenlos (§ 3) (RF 27.1.2023). Die örtlichen Stellen des Innenministeriums sind gemäß § 4 die Meldebehörden (RF 27.1.2023; vgl. AA 28.9.2022). Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses. Wer über Immobilienbesitz verfügt, bleibt dort ständig registriert, mit Eintragung im Inlandspass. Mieter benötigen eine Bescheinigung des Vermieters und werden damit vorläufig ohne Eintragung im Inlandspass registriert (AA 28.9.2022). Das staatliche Melderegister der Russischen Föderation ist nicht öffentlich zugänglich. Informationen werden natürlichen und nicht staatlichen juristischen Personen auf deren Anfrage nur bei Vorhandensein der Zustimmung derjenigen Person, deren Daten angefragt werden, erteilt; staatlichen Organen, soweit dies zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben erforderlich ist (ÖB 1.2.2023).
Die Registrierung des Aufenthaltsortes hat binnen 90 Tagen nach Wohnungsnahme zu erfolgen. Von der Registrierung des Aufenthaltsortes bleibt die Wohnsitzregistrierung unberührt. Aufenthalte bis zu einer Dauer von 90 Tagen bedürfen keiner Registrierung (§ 5 des Gesetzes 'Über das Recht der Bürger auf Bewegungsfreiheit'). Beispiele für Aufenthaltsorte sind Hotels, Sanatorien, Campingplätze, medizinische Einrichtungen, Haftanstalten usw. (§ 2) (RF 27.1.2023). Die Aufenthaltsregistrierung (temporäre Registrierung) wird durch eine Bescheinigung in elektronischer oder in Papierform bestätigt (Gosuslugi o.D.). Temporär registrierte Personen haben Zugang zu medizinischer Notfallversorgung (ÖB 30.6.2022).
Bürger, welche ihren Wohnort wechseln, haben binnen sieben Tagen nach Wohnungsnahme die Registrierung zu veranlassen. Dabei ist ein Pass oder ein anderes Identitätsdokument vorzulegen. Anträge können auch elektronisch eingebracht werden, beispielsweise über das Portal Gosuslugi. Die Meldebehörde hat spätestens drei Tage nach Antragstellung die Registrierung vorzunehmen (§ 6) (RF 27.1.2023). Die Wohnsitzregistrierung (Propiska) wird im Pass vermerkt. Kinder bis zu einem Alter von 14 Jahren erhalten eine Registrierungsbescheinigung (Gosuslugi o.D.). Eine permanente Registrierung ist Voraussetzung für stationäre medizinische Versorgung, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld und Pensionszahlungen (ÖB 30.6.2022).
Kaukasus
Personen aus dem Nordkaukasus können grundsätzlich in andere Teile Russlands reisen (AA 28.9.2022). Einige regionale Behörden schränken die Wohnsitzregistrierung bei ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein (FH 2023).
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Tschetschenen innerhalb der Russischen Föderation und Westeuropas
Letzte Änderung: 04.07.2023
Die Bevölkerungszahl Tschetscheniens beträgt mit Stand 2023 in etwa 1,5 Millionen (FR o.D.). Laut Aussage des Republiksoberhaupts Kadyrow leben rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region, die eine Hälfte davon in Russland, die andere Hälfte im Ausland (ÖB 30.6.2021). Zwischen Jänner und November 2022 reisten aus Tschetschenien um ca. 4.000 Personen mehr aus, als sich in Tschetschenien niedergelassen haben, ungefähr doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Die Binnenmigration in der Republik Tschetschenien ist angestiegen. Die Anzahl derjenigen Tschetschenen, welche in andere Regionen Russlands reisen, ist merklich höher als die Anzahl der Rückkehrer (KR 15.2.2023). Die tschetschenische Diaspora ist in allen russischen Großstädten stark angewachsen (200.000 Tschetschenen sollen allein in Moskau leben). Sie treffen auf antikaukasische Stimmungen (AA 28.9.2022). Die Migration ins Ausland hat ebenfalls stark zugenommen (KR 15.2.2023). Im Jahr 2022 verließen 1.300 Bewohner Tschetscheniens die Russische Föderation, ein Anstieg um das Vierfache im Vergleich zum Jahr zuvor. Hauptziel der Ausreisen waren Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) (KR 1.3.2023). Die tschetschenische Diaspora in Europa zählt nach verschiedenen Einschätzungen zwischen 150.000 und 300.000 Personen. Eine der größten tschetschenischen Gemeinschaften Europas befindet sich in Frankreich, wo um die 60.000 Tschetschenen leben. In Deutschland, Österreich und Belgien leben nach offiziellen Angaben jeweils zwischen 30.000 und 45.000 Tschetschenen (KU 16.5.2023).
Die 'Ständige Vertretung Tschetscheniens beim russischen Präsidenten' vertritt laut Eigendarstellung die Interessen Tschetscheniens in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Kultur und humanitäre Zusammenarbeit. Außerdem pflegt die Ständige Vertretung Kontakte mit Organisationen der tschetschenischen Diaspora (SVTR o.D.a). Um Belange der tschetschenischen Diaspora kümmern sich beispielsweise folgende Organisationen: der Wiener Rat der Tschetschenen und Inguschen (ZO 29.4.2022), der Weltkongress des tschetschenischen Volks (PTR o.D.), die Vereinigung der Tschetschenen Europas (VTE o.D.) und die Versammlung der Tschetschenen Europas (ACE o.D.). Generalsekretär des Weltkongresses des tschetschenischen Volks ist das tschetschenische Republiksoberhaupt Kadyrow (PTR o.D.). […]
Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung: 04.07.2023
Wirtschaft
Als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die EU mehrere Sanktionspakete angenommen, um die wirtschaftliche Basis Russlands zu schwächen. Der Zugang Russlands zu den Kapital- und Finanzmärkten der EU wurde beschränkt. Für alle russischen Flugzeuge ist der Luftraum der EU geschlossen. Ebenso sind EU-Häfen für alle russischen Schiffe geschlossen. Transaktionen mit der russischen Zentralbank sind verboten. Mehrere russische Banken wurden aus dem SWIFT-System ausgeschlossen. Neue Investitionen in den russischen Energiesektor wurden verboten. Es gilt ein Einfuhrverbot für Eisen und Stahl aus Russland in die EU sowie ein Einfuhrverbot für Kohle, Holz, Zement, Gold, Rohöl, raffinierte Erdölerzeugnisse usw. (Rat 12.5.2023). Sanktionen gegen Russland verhängten außerdem die USA, Kanada, das Vereinigte Königreich, Japan, die Schweiz und die restliche westliche Welt (WKO 3.2023). Der Krieg und die Sanktionen wirken sich auf Wirtschaftssektoren in Russland unterschiedlich aus. In Mitleidenschaft gezogen wurden der Industriesektor sowie der Binnenhandel. Hingegen zählt die Militärproduktion zu den Profiteuren der Sanktionen. Die Energiesanktionen ließen die Staatseinnahmen beträchtlich schrumpfen (WIIW o.D.). Die Wirtschaftssanktionen des Westens haben zu einem Braindrain und einer Kapitalflucht geführt (HF o.D.). Die Isolation Russlands zwingt verstärkt zu einer Eigenproduktion kritischer Waren, darunter Medikamente, Anlagen und Computertechnik (WKO 3.2023). Eine Einschätzung der wirtschaftlichen Situation in Russland ist derzeit schwierig (NDR/Tagesschau 2.8.2022; vgl. Watson 3.2.2023).
Gemäß vorläufigen Daten des Föderalen Amts für Staatliche Statistik (Rosstat) ist das Bruttoinlandsprodukt im 1. Quartal 2023 gegenüber dem Vorjahr um 1,9 % gesunken (Interfax 17.5.2023). Die Inflation betrug im April 2023 nach Angaben von Rosstat 0,38 % (Interfax 12.5.2023). Um den starken Verfall des Rubels aufzuhalten, führte die Regierung strenge Devisenbeschränkungen sowie weitere einschränkende Maßnahmen zur Stabilisierung der russischen Währung und der Wirtschaft ein (WKO 3.2023). Die öffentliche Verschuldung betrug im Jahr 2022 14,9 % des Bruttoinlandsprodukts (WIIW o.D.).
Korruption ist weitverbreitet (BS 2022; vgl. HF o.D.). Eine Herausforderung für den Staat stellt die Schattenwirtschaft dar (BS 2022). Innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte ist Russland vom Importeur zum größten Weizenexporteur der Welt aufgestiegen (ZOIS 9.3.2023). Die Wirtschaft ist wenig diversifiziert (BS 2022) und stark von Öl- und Gasexporten abhängig (HF o.D.). Russland gehört historisch zu den größten Erdölproduzenten weltweit. Exporte von Öl und Gas haben traditionell mehr als zwei Drittel der russischen Ausfuhren ausgemacht. Es gelten Exportbeschränkungen für Holzwaren (WKO 3.2023). Um die sinkenden Exporte in die Europäische Union auszugleichen, handelt Russland verstärkt mit China, Indien und der Türkei (FT 19.8.2022).
Grundversorgung
Nach Angaben von Rosstat betrug im Jahr 2022 der Anteil der russischen Bevölkerung mit Einkommen unter der Armutsgrenze 10,5 %, das heißt 15,3 Millionen Personen (Rosstat 10.3.2023). Seit 2021 wird die Armutsgrenze neu berechnet. Die neue Berechnungsmethode wird als willkürliche Verschleierung der wahren Zustände kritisiert (AA 28.9.2022). Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern (vor allem Großfamilien), Alleinerziehende, Pensionisten und Menschen mit Beeinträchtigungen. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren Moskau und St. Petersburg ist die Armutsquote halb so hoch wie im Landesdurchschnitt. Prinzipiell ist die Armutsgefährdung auf dem Land höher als in den Städten (Russland-Analysen 21.2.2020a). Die Wirkung von Regierungsprogrammen, die sich dem Kampf gegen Armut im ländlichen Raum widmen, ist begrenzt. In den größeren Städten Russlands ist eine beträchtliche Anzahl von Menschen obdachlos (BS 2022).
Gemäß der Weltbank hatten im Jahr 2020 (aktuellste verfügbare Daten) 76 % der Bevölkerung Russlands Zugang zu sicher verwalteten Trinkwasserdiensten (WB o.D.a). Im Jahr 2021 wurden mehr als 450 Trinkwasserversorgungseinrichtungen und Wasseraufbereitungsanlagen errichtet und modernisiert. Dadurch erhöhte sich der Anteil derjenigen Bürger, welche mit hochwertigem Trinkwasser versorgt werden, auf 86 % (NPR o.D.a). Im Welthunger-Index 2022 belegt die Russische Föderation Platz 28 von 121 Ländern. Mit einem Wert von 6,4 fällt die Russische Föderation somit in die Schweregradkategorie niedrig. Weniger als 2,5 % der Bevölkerung sind gemäß dem Welthunger-Index unterernährt (WHI o.D.). Laut der Weltbank hatten im Jahr 2020 (aktuellste verfügbare Daten) 89 % der Bevölkerung Russlands Zugang zu einer (zumindest) Basisversorgung im Bereich Hygiene (WB o.D.b). Ein Problem stellt die Versorgung mit angemessenem Wohnraum dar. Bezahlbare Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für Teile der Bevölkerung unerschwinglich (AA 28.9.2022). Mietkosten variieren je nach Region (IOM 12.2022).
Russische Staatsbürger haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 12.2022). Der Mindestlohn darf das Existenzminimum nicht unterschreiten (RN 16.1.2023). Das Existenzminimum wird per Verordnung bestimmt (AA 28.9.2022). Im Jahr 2023 beträgt die Höhe des monatlichen Existenzminimums für die erwerbsfähige Bevölkerung RUB 15.669 [ca. EUR 184], für Kinder RUB 13.944 [ca. EUR 164] und für Pensionisten RUB 12.363 [ca. EUR 145] (Rosstat 10.1.2023). Die Höhe des monatlichen Mindestlohns beträgt für das Jahr 2023 RUB 16.242 [ca. EUR 191] (Duma 1.1.2023) und kann in jeder Region durch regionale Abkommen individuell festgelegt werden. Jedoch darf die Höhe des regionalen Mindestlohns nicht niedriger als der national festgelegte Mindestlohn sein. In der Stadt Moskau beträgt der Mindestlohn RUB 23.508 [ca. EUR 276] (RN 16.1.2023). Die primäre Versorgungsquelle der russischen Bevölkerung bleibt ihr Einkommen (AA 28.9.2022). Nach staatlichen Angaben betrug die Arbeitslosenrate im März 2023 3,5 % (Rosstat o.D.a). Die Arbeitslosenrate ist von Region zu Region verschieden (IOM 12.2022). Die versteckte Arbeitslosigkeit ist schwer einzuschätzen. Schwer am Arbeitsmarkt haben es ältere Arbeitnehmer. Besonders schwierig bis prekär ist die Lage für viele Migranten, welche überwiegend gering qualifiziert sind. Sie verdienen oft (wenn überhaupt) nur den Mindestlohn (AA 28.9.2022). […]
Nordkaukasus
Letzte Änderung: 04.07.2023
Die sozialwirtschaftlichen Unterschiede zwischen russischen Regionen sind beträchtlich. Die ländliche Peripherie, darunter der Nordkaukasus, ist von Entwicklungsproblemen betroffen (BS 2022). Der Nordkaukasus weist eine hohe Armutsrate (KR 19.5.2023) und eine hohe Arbeitslosigkeit auf (KR 19.5.2023; vgl. ÖB 30.6.2022). In Regionen des Nordkaukasus muss jeder Fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen (Russland-Analysen 21.2.2020a). In vielen nordkaukasischen Regionen liegen Lohnniveaus und Lebensstandard weit unter dem Landesdurchschnitt (BS 2022). Der Nordkaukasus ist von einem hohen Niveau an informeller Beschäftigung von Arbeitnehmern gekennzeichnet (KU 29.3.2023a). Tschetschenien, Dagestan und andere nordkaukasische Gebiete gehören zu denjenigen Regionen Russlands, wo der Mittelschichtanteil unter der Bevölkerung am geringsten ist (Statista 7.2022). Im Jahr 2021 zählten Dagestan, Tschetschenien sowie andere nordkaukasische Regionen zu denjenigen russischen Regionen mit dem niedrigsten Bruttoregionalprodukt (Statista 3.2023).
Tschetschenien ist von großer Armut und Arbeitslosigkeit betroffen (BP 3.9.2021; vgl. AA 28.9.2022). Im Jahr 2021 lebten 19,9 % der Bevölkerung in Tschetschenien unter der Armutsgrenze (Rosstat 27.4.2022). Dank Zuschüssen aus dem russischen föderalen Budget haben sich die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung seit dem Ende des Tschetschenienkrieges deutlich verbessert (AA 28.9.2022). Tschetschenien ist von Moskau finanziell abhängig. Mehr als 80 % des Budgets stammen aus Zuwendungen (ORF 30.3.2022). Die Reallöhne der tschetschenischen Bevölkerung sind im Jahr 2021 um beinahe 5 % gesunken. Am besten bezahlt werden Beamte und Mitarbeiter im Finanzbereich (KR 29.8.2022). In Tschetschenien klafft die Einkommensschere weit auseinander (KU 10.5.2023). Im Jahr 2023 beträgt die Höhe des monatlichen Existenzminimums für die erwerbsfähige Bevölkerung in Tschetschenien RUB 15.042 [ca. EUR 176], für Kinder RUB 13.386 [ca. EUR 157] und für Pensionisten RUB 11.868 [ca. EUR 139] (Rosstat 10.1.2023).
Dagestan zählt zu den von Armut betroffenen Regionen in Russland (Der Standard 21.5.2022). Im Jahr 2021 lebten 14,7 % der Bevölkerung in Dagestan unter der Armutsgrenze (Rosstat 27.4.2022). Es herrscht Unsicherheit bei der Lebensmittelversorgung (FPRI 15.6.2022). Die Preise für Lebensmittel steigen (KR 29.8.2022). In Dagestan ist die Trinkwasserqualität niedrig (KR 15.4.2023). Die Einkommensschere klafft weit auseinander (KU 10.5.2023). Im Jahr 2023 beträgt die Höhe des monatlichen Existenzminimums für die erwerbsfähige Bevölkerung in Dagestan RUB 14.258 [ca. EUR 167], für Kinder RUB 13.066 [ca. EUR 153] und für Pensionisten RUB 11.250 [ca. EUR 132] (Rosstat 10.1.2023). Dagestan wird in beträchtlichem Ausmaß subventioniert (FPRI 15.6.2022; vgl. MT 13.7.2022).
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Sozialbeihilfen
Letzte Änderung: 04.07.2023
Artikel 7 der russischen Verfassung definiert die Russische Föderation als Sozialstaat. Gemäß dem Verfassungsartikel 75 wird Bürgern soziale Unterstützung garantiert. Die Verfassung sieht eine obligatorische Sozialversicherung vor (Duma 6.10.2022). Es ist ein System der sozialen Sicherheit und sozialen Fürsorge in Russland vorhanden, welches Pensionen auszahlt und die vulnerabelsten Bürger unterstützt. Zum Kreis vulnerabler Gruppen zählen Familien mit mindestens drei Kindern, Menschen mit Behinderungen sowie ältere Menschen (IOM 12.2022). Der Staat bietet verschiedene Sozialleistungen an, wovon unter anderem folgende Personengruppen profitieren: Veteranen, Waisenkinder, ältere Personen, Alleinerziehende, Erwerbslose, Dorfbewohner (WSP o.D.), Menschen mit Behinderungen, Familien, Pensionisten (SFR o.D.a), Bewohner des hohen Nordens sowie Familienangehörige Militärbediensteter und von infolge der Ausübung ihrer Dienstpflichten verstorbenen Bediensteten des Innenressorts (Regierung o.D.). Das föderale Gesetz 'Über die staatliche Pensionsversorgung in der Russischen Föderation' zählt im § 5 folgende staatliche Pensionsleistungen auf: Pensionen für langjährige Dienste; Alters-; Invaliditäts-; Hinterbliebenen- und Sozialpensionen (RF 28.4.2023a).
Mit 1.1.2023 wurden der Pensions- und der Sozialversicherungsfonds zum neu geschaffenen 'Fonds für Sozial- und Pensionsversicherung der Russischen Föderation' (kurz 'Sozialfonds') verschmolzen (SFR 17.1.2023). Zu den Aufgaben des neu geschaffenen Sozialfonds gehört die Auszahlung von Pensionen und staatlicher finanzieller Hilfen. In den einzelnen Subjekten der Russischen Föderation gibt es territoriale Abteilungen des Sozialfonds (SFR 30.3.2023).
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Arbeitslosenunterstützung
Letzte Änderung: 04.07.2023
Personen können sich bei den örtlichen Arbeitsämtern des Föderalen Amts für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Sollte es dem Arbeitsamt nicht gelingen, der arbeitssuchenden Person binnen 10 Tagen einen Arbeitsplatz zu beschaffen, wird der betreffenden Person der Arbeitslosenstatus und somit eine monatliche Arbeitslosenunterstützung zuerkannt (IOM 12.2022). Während der ersten drei Monate erhält die arbeitslose Person 75 % des Durchschnittseinkommens des letzten Beschäftigungsverhältnisses, jedoch höchstens RUB 12.792 [ca. EUR 150]. Während der folgenden drei Monate beträgt die Höhe der Arbeitslosenunterstützung 60 % des Einkommens bzw. höchstens RUB 5.000 [ca. EUR 59]. Die Mindesthöhe der Arbeitslosenunterstützung beträgt RUB 1.500 [ca. EUR 18] (RG 23.11.2022). Um den Anspruch auf monatliche Arbeitslosenunterstützung geltend machen zu können, haben sich die Arbeitslosengeldbezieher alle zwei Wochen im Arbeitsamt einzufinden. Außerdem dürfen sie beispielsweise nicht in eine andere Region umziehen und keine Pensionsbezieher sein. Arbeitsämter gibt es überall im Land. Sie stellen verschiedene Dienstleistungen zur Verfügung. Arbeitssuchende, die beim Rostrud registriert sind, dürfen an kostenlosen Fortbildungskursen teilnehmen, um so ihre Qualifikationen zu verbessern (IOM 12.2022).
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Wohnmöglichkeiten, Sozialwohnungen
Letzte Änderung: 04.07.2023
Artikel 40 der russischen Verfassung garantiert das Recht auf Wohnraum. Laut der Verfassung wird bedürftigen Personen Wohnraum kostenlos oder zu einem erschwinglichen Preis zur Verfügung gestellt (Duma 6.10.2022). Bürger ohne Unterkunft oder mit einer Substandard-Unterkunft und sehr geringem Einkommen dürfen kostenfreie Wohnungen beantragen (IOM 12.2022; vgl. RF 28.4.2023b). Jedoch kann die Wartezeit bei einigen Jahren oder Jahrzehnten liegen. Ein Anrecht auf eine kostenlose Unterkunft haben Waisenkinder und Personen mit schwerwiegenden chronischen Erkrankungen (Tuberkulose etc.). Es gibt Schutzunterkünfte für Opfer von Menschenhandel und häuslicher Gewalt, für alleinerziehende Mütter und andere vulnerable Gruppen. Für gewöhnlich werden diese Unterkünfte von örtlichen NGOs verwaltet. Es gibt keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an (mindestens 12 %) (IOM 12.2022). Die Versorgung mit angemessenem Wohnraum stellt ein Problem dar. Bezahlbare Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für Teile der Bevölkerung unerschwinglich (AA 28.9.2022). Wohnungskosten sind regional unterschiedlich (MK 17.3.2023; vgl. Rosrealt o.D.). Es mangelt an ausreichendem Wohnraum für Familien (AA 28.9.2022).
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Alterspension
Letzte Änderung: 04.07.2023
Seit 2018 wird das Pensionsalter für Männer und Frauen allmählich angehoben. Im Jahr 2018 betrug das Pensionseintrittsalter 55 Jahre für Frauen und 60 Jahre für Männer. 2028 soll das Pensionsalter auf 60 Jahre für Frauen und 65 Jahre für Männer angehoben sein. Für bestimmte Personengruppen ist keine Erhöhung des Pensionsalters vorgesehen, beispielsweise für Schwerarbeiter und Personen in gefährlichen Berufsbereichen. Ebenfalls nicht betroffen von der Erhöhung des Pensionsalters sind Sozialpensionen, Invaliditätspensionen und Hinterbliebenenpensionen. Im Jahr 2022 waren für den Anspruch auf eine Alterspension Beschäftigungsverhältnisse von mindestens 13 Jahren erforderlich (SFR 15.1.2021).
Für das Jahr 2023 beträgt die Höhe des Existenzminimums für Pensionisten in Russland RUB 12.363 [ca. EUR 144]. Die Höhe des Existenzminimums für Pensionisten in einzelnen Landesteilen stellt sich wie folgt dar (SFR o.D.b):
Moskau: RUB 16.257 [ca. EUR 189]
Moskauer Gebiet: RUB 14.858 [ca. EUR 173]
St. Petersburg: RUB 12.981 [ca. EUR 151]
Tschetschenien: RUB 11.868 [ca. EUR 138]
Dagestan: RUB 11.250 [ca. EUR 131]
Pensionisten, welche keiner Arbeit nachgehen und deren finanzielle Mittel unter dem Existenzminimum für Pensionisten liegen, erhalten einen Sozialzuschlag zur Pension. Dadurch erfolgt eine Anhebung bis zur Höhe des Existenzminimums (SFR o.D.b).
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Medizinische Versorgung
Letzte Änderung: 04.07.2023
Artikel 41 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert russischen Staatsbürgern das Recht auf kostenlose medizinische Versorgung in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen (Duma 6.10.2022). Eine gesetzliche Grundlage stellt das föderale Gesetz 'Über die Grundlagen des Gesundheitsschutzes der Bürger in der Russischen Föderation' dar (RF 28.4.2023d). Es existiert eine durch präsidentiellen Erlass festgelegte Strategie der Entwicklung des Gesundheitswesens in der Russischen Föderation für den Zeitraum bis 2025 (Präsident 27.3.2023).
Das Basisprogramm der obligatorischen Krankenversicherung gewährleistet die kostenlose medizinische Versorgung für Bürger in allen Regionen Russlands. Das entsprechende Territorialprogramm umfasst Programme auf der Ebene der Subjekte der Russischen Föderation (§ 3 des föderalen Gesetzes 'Über die obligatorische Krankenversicherung') (RF 19.12.2022). Der föderale Fonds der obligatorischen Krankenversicherung ist für die Umsetzung der staatlichen Politik zuständig (Regierung o.D.). Es besteht die Möglichkeit einer freiwilligen Krankenversicherung, welche eine medizinische Versorgung auf höherem Niveau erlaubt (Sber Bank o.D.). Im Rahmen einer freiwilligen Krankenversicherung oder gegen direkte Bezahlung können entgeltliche medizinische Dienstleistungen in staatlichen und privaten Krankenhäusern in Anspruch genommen werden. Die Webseiten der einzelnen medizinischen Einrichtungen enthalten für gewöhnlich Preislisten, so zum Beispiel die Webseite der Poliklinik in Grosnyj/Tschetschenien: http://gr-polik6.ru/uslugi (IOM 12.2022). Für Leistungen privater Krankenhäuser müssen die Kosten selbst getragen werden.
Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos (ÖB 30.6.2022). Bestimmte Patientengruppen erhalten kostenlose oder preisreduzierte Medikamente. Befreit von Medikamentengebühren sind Kinder bis zu einem Alter von drei Jahren; Menschen mit Behinderungen; Veteranen; Patienten mit spezifischen Erkrankungen wie HIV/Aids, onkologischen Erkrankungen, Diabetes, psychiatrischen Erkrankungen usw. (EUAA 9.2022). Regionale Behörden dürfen kostenlose Medikamente für zusätzliche Patientengruppen zur Verfügung stellen (IOM 12.2022). Die Verfügbarkeit von Medikamenten schwankt. Die Beschaffung und Verteilung medizinischer Vorräte ist unzuverlässig, was zu Medikamentenknappheit und starken Preisschwankungen führt. Ursachen dafür sind unter anderem politische Sanktionen, welche Importe begrenzen, und der damit verbundene Umstieg auf einheimische Arzneimittel (EUAA 9.2022). Die vom Staat vorgegebenen Wartezeiten auf eine Behandlung werden um das Mehrfache überschritten und können mehrere Monate betragen. Die Notfallversorgung ist nicht mehr überall gewährleistet. Durch Sparmaßnahmen sind in vielen russischen Verwaltungseinheiten die Notfall-Krankenwagen nur mit einer Person besetzt, welche die notwendigen Behandlungen nicht alleine leisten kann. Besonders angespannt ist die medizinische Versorgung für Kinder, es fehlen Physiotherapeuten und Psychologen (AA 28.9.2022). Mitunter gibt es Probleme bei der Diagnose und Behandlung von Patienten mit besonders seltenen Krankheiten, da meist die finanziellen Mittel für die teuren Medikamente und Behandlungen in den Regionen nicht ausreichen (ÖB 30.6.2022).
In der Praxis müssen viele Leistungen von Patienten selbst bezahlt werden, obwohl die medizinische Versorgung für russische Staatsangehörige kostenfrei sein sollte (AA 28.9.2022). Patienten dürfen Beschwerden einreichen, wenn öffentliche medizinische Einrichtungen Gebühren für eigentlich kostenfreie Dienstleistungen einzuheben versuchen. Patientengebühren tragen zu steigender Ungleichheit bei. Zuzahlungen werden entweder von unversicherten Personen geleistet oder dienen dazu, die Leistungsdeckung der obligatorischen oder freiwilligen/privaten Krankenversicherung zu erhöhen. Beispiele für Zuzahlungen sind offizielle Zahlungen im öffentlichen oder Privatsektor oder informelle Zahlungen im öffentlichen Sektor, um beispielsweise eine spezielle Behandlung zu erhalten. Personen mit höherem Einkommen sowie Bewohner wohlhabenderer Städte wie Moskau und St. Petersburg leisten höhere Zuzahlungen, vor allem betreffend stationäre Behandlungen. Allerdings steigt die Höhe der Zuzahlungen gemäß einer Quelle aus dem Jahr 2018 für ambulante Leistungen für ärmere Bevölkerungsschichten rascher an (EUAA 9.2022). 27,76 % der Ausgaben im Gesundheitssektor entfielen im Jahr 2020 auf Zuzahlungen (WB o.D.c.).
Das Gesundheitssystem ist zentralisiert. Öffentliche Gesundheitsdienstleistungen gliedern sich in drei Ebenen: Die Primärversorgung umfasst allgemeine medizinische Leistungen, Notfallversorgung sowie einige spezielle Dienstleistungen. Die Sekundärversorgung beinhaltet eine größere Bandbreite spezieller medizinischer Leistungen, und die Tertiärversorgung bietet medizinische Leistungen auf Hightechniveau an. Wegen Personalmangels sind Mitarbeiter auf der Primärversorgungsebene oft überlastet. Es fehlt an Koordination zwischen den Ebenen Primär- und Sekundärversorgung. Dem öffentlichen Gesundheitssystem mangelt es an finanziellen Mitteln, Patientenorientierung sowie an Personal, vor allem in ländlichen Gebieten. Das medizinische Personal weist Ausbildungsdefizite auf. Viele Bedienstete im medizinischen Bereich sind wenig motiviert, was teilweise auf niedrige Gehälter zurückzuführen ist. Hinsichtlich verfügbarer Ressourcen und Dienstleistungen herrschen beträchtliche regionale Unterschiede (EUAA 9.2022). Der Staat hat viele Finanzierungspflichten auf die Regionen abgewälzt, die in manchen Fällen nicht ausreichend Budget haben (ÖB 30.6.2022). Die medizinische Versorgung ist außerhalb der Großstädte in vielen Regionen auf einfachem Niveau und in ländlichen Gebieten nicht überall ausreichend. Ein Drittel der Ortschaften in ländlichen Gebieten verfügt über keinen direkten Zugang zu medizinischer Versorgung. Der Weg zum nächsten Arzt kann in manchen Fällen bis zu 400 Kilometer betragen (AA 28.9.2022). Einrichtungen, die hochmoderne Diagnostik sowie Behandlungen anbieten, sind vorwiegend in den Großstädten Moskau und St. Petersburg zu finden (EUAA 9.2022).
Zurückgekehrte Staatsbürger haben ein Anrecht auf eine kostenlose medizinische Versorgung im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung. Jeder Bürger der Russischen Föderation kann dementsprechend gegen Vorlage eines gültigen russischen Reisepasses oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis zu einem Alter von 13 Jahren) eine Krankenversicherungskarte erhalten. Diese wird von der nächstgelegenen Krankenversicherungszweigstelle am Wohnsitzort ausgestellt (IOM 12.2022). Personen ohne Dokumente haben das Recht auf eine kostenlose medizinische Notfallversorgung (EUAA 9.2022).
Die folgende Webseite enthält eine Auflistung medizinischer Einrichtungen in der Russischen Föderation mitsamt Kontaktdetails: https://gogov.ru/clinics (IOM 12.2022).
[…]
Drogenabhängigkeit
Letzte Änderung: 04.07.2023
In Moskau bieten öffentliche Einrichtungen psychiatrische Behandlungen sowie stationäre psychologische Betreuung für Drogenabhängige an (ISOS 24.2.2022). Beispielsweise befindet sich in Moskau das nationale medizinische Forschungszentrum für Psychiatrie und Drogenentzug 'W.P. Serbskij' (NMFZ o.D.; vgl. EUAA 9.2022). In Privateinrichtungen in Moskau besteht die Möglichkeit, Psychotherapien (beispielsweise kognitive Verhaltenstherapie) in Anspruch zu nehmen. Verfügbar sind in Moskau folgende Medikamente: Naloxon, Naltrexonhydrochlorid, Disulfiram und Nalmefen. Nicht verfügbar sind Substitol und Acamprosat (ISOS 24.2.2022). Methadon, ein Medikament zur Behandlung von Drogensucht, ist in Russland offiziell verboten (NG 1.10.2021; vgl. ISOS 24.2.2022, AAC 13.11.2020). Das Föderale Amt für Staatliche Statistik (Rosstat) beziffert die Anzahl derjenigen Drogenabhängigen, welche im Jahr 2021 in Heilanstalten und prophylaktischen Einrichtungen registriert waren, mit 212.000 (Rosstat o.D.b). Drogenabhängige Patienten, welche an einem Entzugsprogramm teilnehmen, müssen sich staatlich registrieren und werden nach Abschluss des Programms noch jahrelang überwacht (AAC 13.11.2020). Gerichtlich können Drogenabhängige zu einer Therapie verpflichtet werden (GOP o.D.; vgl. AAC 13.11.2020). Drogenabhängige sind unwissenschaftlichen Drogenpräventionsmethoden und Behandlungen ausgesetzt. Auch werden ihnen essenzielle Medikamente und Gesundheitsdienstleistungen vorenthalten. Hintergrund dafür ist die sozial intolerante Haltung der Regierung gegenüber Drogenabhängigen, welche die Schlechterbehandlung dieser Personengruppe legitimiert (EUAA 9.2022).
Tschetschenien
Öffentliche Einrichtungen bieten in der Hauptstadt Grosnyj psychiatrische Behandlungen und stationäre psychologische Betreuung für Drogenabhängige an. Verfügbar sind in Grosnyj die Medikamente Buprenorphin, Morphin sowie Naloxon. Nicht verfügbar ist Substitol. Morphin, Buprenorphin und Naloxon sind für gewöhnlich ausschließlich stationär erhältlich. Patienten, welchen diese Medikamente ambulant verschrieben werden, benötigen ein spezielles Rezept, um diese in Apotheken zu erhalten (ISOS 24.8.2020).
[…]
Rückkehr
Letzte Änderung: 04.07.2023
Gemäß Art. 27 der Verfassung und im Einklang mit gesetzlichen Vorgaben haben russische Staatsbürger das Recht, ungehindert in die Russische Föderation zurückzukehren (Duma 6.10.2022; vgl. RF 14.4.2023). Jedoch kommt es de facto beispielsweise im Zuge von Grenzkontrollen zu Befragungen Einreisender durch Grenzkontrollorgane (ÖB 4.4.2022). Es liegen Hinweise vor, dass die Sicherheitsdienste einige Personen bei Ein- und Ausreisen überwachen. Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses, Inlandspasses (wie Personalausweis) oder anerkannten Passersatzdokuments nach Russland einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Verwaltungsstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen beim Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 28.9.2022). Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation über die Rückübernahme (ÖB 30.6.2022; vgl. EUR-Lex 17.5.2007). Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach welchem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, kann diese Person in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB 30.6.2022).
Rückkehrende haben - wie alle anderen russischen Staatsbürger - Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen (IOM 7.2022). Sozialleistungen hängen vom spezifischen Fall des Rückkehrers ab. Zurückkehrende Staatsbürger haben ein Anrecht auf eine kostenlose medizinische Versorgung im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung. Jeder Bürger der Russischen Föderation kann dementsprechend gegen Vorlage eines gültigen russischen Reisepasses oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis zu einem Alter von 13 Jahren) eine Krankenversicherungskarte erhalten. Diese wird von der nächstgelegenen Krankenversicherungszweigstelle am Wohnsitzort ausgestellt (IOM 12.2022). Von Rückkehrern aus Europa wird manchmal die Zahlung von Bestechungsgeldern für grundsätzlich kostenlose Dienstleistungen (medizinische Untersuchungen, Schulanmeldungen) erwartet. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können nicht als spezifische Probleme von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, vor allem für junge Mädchen, wenn diese in einem westlichen Umfeld aufgewachsen sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf eine mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt (ÖB 30.6.2022).
Es sind keine Fälle bekannt, in welchen russische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr nach Russland allein deshalb staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten (AA 28.9.2022). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien für diejenigen Personen ergeben, welche bereits vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB 30.6.2022). Der Kontrolldruck der Sicherheitsbehörden gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. NGOs berichten von willkürlichem Vorgehen der Polizei bei Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen. Letztere finden vor allem in Tschetschenien auch ohne Durchsuchungsbefehle statt (AA 28.9.2022).
Sollte ein Einberufungsbefehl ergangen sein, ist diesem bei Rückkehr Folge zu leisten (ÖB 12.12.2022). Bei Vorliegen eines Einberufungsbefehls werden russische Staatsangehörige aus Tschetschenien - wie auch andere Bürger - nach Rückkehr in die Russische Föderation eingezogen und nach einer Ausbildung im Ukraine-Krieg eingesetzt (ÖB 25.1.2023). Differenziert wird hier zwischen Wehrdienstleistenden oder Reservisten bzw. zur Mobilisierung einberufenen Personen, denn Grundwehrdienstleistende dürfen nicht im Ukraine-Krieg eingesetzt werden (VB 26.4.2023).
[…]
Dokumente
Letzte Änderung: 04.07.2023
Die von den staatlichen Behörden ausgestellten Dokumente sind in der Regel echt und inhaltlich richtig. Dokumente russischer Staatsangehöriger aus den russischen Kaukasusrepubliken (insbesondere Reisedokumente) enthalten hingegen nicht selten unrichtige Angaben. Gründe hierfür liegen häufig in mittelbarer Falschbeurkundung und unterschiedlichen Schreibweisen von beispielsweise Namen oder Orten. In Russland ist es möglich, Personenstands- und andere Urkunden zu kaufen, wie beispielsweise Staatsangehörigkeitsausweise, Geburts- und Heiratsurkunden, Vorladungen, Haftbefehle und Gerichtsurteile. Es gibt Fälschungen, die auf Originalvordrucken professionell hergestellt werden und nur mit speziellen Untersuchungen erkennbar sind. Nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amts hat die Anzahl der im Asylverfahren vorgelegten Vorladungen, Urteile und Beschlüsse, die sich als Fälschungen herausgestellt haben, in der letzten Zeit erheblich zugenommen (AA 28.9.2022). Das niederländische Außenministerium berichtet über manche gefälschte europäische Visa in echten russischen Reisepässen. In der Vergangenheit traten einerseits Fälle gefälschter Einreisestempel in echten russischen Reisepässen auf und andererseits echte russische Reisepässe, welche im Besitz anderer Personen waren (NL-MFA 4.2021).
Weder die Staatendokumentation, noch der Verbindungsbeamte oder die Österreichische Botschaft können die Bedeutung von Reisepassnummern, welche sich auf die ausstellenden Behörden beziehen, nachvollziehen (VB 4.3.2021).
Tschetschenien
Die Verwaltungsstrukturen in Tschetschenien sind größtenteils wiederaufgebaut, sodass die Echtheit von Dokumenten aus Tschetschenien grundsätzlich überprüft werden kann. Probleme ergeben sich allerdings dadurch, dass bei den kriegerischen Auseinandersetzungen viele Archive zerstört wurden (AA 28.9.2022).
[…]“
1.5.2. Coronavirus disease (COVID-19) weekly epidemiological update - WHO (World Health Organization) vom 02.11.2023, verweisend auf https://covid19.who.int/table und https://covid19.who.int/
Nach aktuellem Stand zum Entscheidungszeitpunkt gibt es im ganzen Land (RF) 23.098.734 bestätigte Infektionen mit dem Coronavirus und 400.195 Todesfälle.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Der oben ausgeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakte des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und des Verfahrensaktes des Bundesverwaltungsgerichts.
2.2. Der oben festgestellte Sachverhalt beruht auf den Ergebnissen des vom erkennenden Gericht aufgrund der vorliegenden Akten durchgeführten Ermittlungsverfahrens.
2.3. Die Feststellungen zur Einreise der BF und ihrem Asylzuerkennungsverfahren fußen auf dem Verwaltungsakt und den Angaben der BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung.
2.4. Die Feststellungen zu Identität, Nationalität, Volksgruppe, Herkunft sozialen, privaten Verhältnissen der BF gründen auf ihren insofern unbedenklichen Angaben vor dem BFA am 06.05.2021, sowie am 12.05.2022, im Beschwerdeschriftsatz und in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG. Die BF hat im Verfahren keine unbedenklichen Dokumente zu ihrer Identität vorgelegt, weshalb die Feststellungen ausschließlich für die Identifizierung der Person der BF im Asylverfahren gelten.
2.5. Die Feststellungen zu den Familienverhältnissen der BF im Herkunftsstaat beruhen auf ihren Angaben vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung (S. 7f des VH-Prot.).
2.6. Die Feststellungen zu ihren familiären Verhältnissen in Österreich beruhen auf den Angaben der BF vor dem BFA und dem BVwG (S. 8 des VH-Prot.). Die österreichische Staatsbürgerschaft der Mutter und des Bruders der BF ergibt sich aus den Angaben der BF in der Beschwerdeverhandlung in Zusammenschau mit aktuell eingeholten ZMR-Auszügen.
2.7. Die Feststellungen zur Ausbildung der BF und ihren beruflichen Tätigkeiten beruhen auf den von ihr in der mündlichen Beschwerdeverhandlung getätigten Angaben (S. 6 des VH-Prot.) in Zusammenschau mit den vorgelegten Unterlagen und einem aktuell eingeholten AJ-Web Auszug.
2.8. Die sehr guten Deutschkenntnisse der BF ergeben sich zum einen aus dem Umstand, dass sie ab ihrem 14. Lebensjahr in Österreich aufgewachsen ist und die Schule besucht hat, sowie der Tatsache, dass ihre Einvernahme vor dem BVwG am 01.09.2023 ohne Probleme in Deutsch geführt werden konnte, andererseits aus dem persönlichen Eindruck des erkennenden Richters in der mündlichen Verhandlung, wobei die BF – auch ohne Zuhilfenahme der im Verhandlungssaal anwesenden Dolmetscherin – mit dem erkennenden Richter problemlos auf Deutsch kommunizieren konnte. Die Feststellung zur von der BF absolvierten Sprachprüfung beruht auf dem vorgelegten Sprachzertifikat. Die Feststellungen zu den übrigen von der BF gesprochenen Sprachen ergeben sich aus ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung und aus den Angaben vor dem BFA.
2.9. Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der BF beruhen auf ihren Angaben in der mündlichen Beschwerdeverhandlung, wonach sie gesund sei und keine Medikamente nehme (S. 15 des VH-Prot.). Die Feststellung zu ihrer Drogenabhängigkeit in der Vergangenheit fußen auf den Angaben der BF in der Beschwerdeverhandlung (S. 13f des VH-Prot.), dem Beschluss des BG XXXX vom 21.03.2022, Zl. XXXX , und den vorgelegten Bestätigungen der Beratungsstelle XXXX .
2.10. Die Feststellung den strafgerichtlichen Verurteilungen der BF ergeben sich aus einer vom Bundesverwaltungsgericht aktuell eingeholten Strafregisterauskunft und den im Akt einliegenden Strafurteilen.
2.11. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
2.11.1. Die Feststellungen zur Rückkehrsituation der BF ergeben sich aus der Einsichtnahme in den Inhalt des Verwaltungsaktes, den im gegenständlichen Verfahren herangezogenen Länderberichten zur aktuellen Sicherheits- und Menschrechtslage in der Russischen Föderation, sowie den Angaben der BF anlässlich ihrer Einvernahme am 01.09.2023 im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung im Zuge derer sie zu ihren aktuellen Rückkehrbefürchtungen befragt wurde.
2.11.2. Im gegenständlichen Verfahren kann kein Hinweis auf eine aktuelle Gefährdung der BF im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat erkannt werden. Es sind keine Anhaltspunkte für eine der BF im Falle einer Rückkehr aktuell drohende staatliche oder private Verfolgung oder sonst maßgebliche individuelle oder generelle Gefährdung ersichtlich, wie in der Folge dargelegt wird:
Hinsichtlich der von der BF, welche im Jahr 2007 - abgeleitet von ihrer Mutter - Asyl erhalten hat, vorgebrachten Gefährdungslage aus dem Jahr 2000, wonach ihr Vater im Herkunftsstaat umgebracht worden sei, weil er für eine gemächlichere Richtung des Islam eingetreten wäre, sowie Politiker gewesen und ihr Bruder entführt worden sei, wobei dieser von Polizisten wiedergefunden worden sei, ist festzuhalten, dass diese Gefährdungslage der BF und ihrer Familie in der Vergangenheit mit dem zweiten Tschetschenienkrieg in Verbindung stand, welcher zwischenzeitig beendet worden ist. Die BF selbst hat in der Beschwerdeverhandlung angegeben, dass die Gefährdungslage in direktem Zusammenhang mit den beiden Tschetschenienkriegen gestanden sei und es immer wieder Terroranschläge gegeben habe, bevor sie ausgereist seien. Im Übrigen sind seit der seinerzeitigen Ausreise der BF, sowie ihrer Kernfamilie, inzwischen 23 Jahre vergangen und sind ihre Mutter, sowie ihr Bruder im Bundesgebiet mittlerweile österreichische Staatsbürger. Die Sicherheits- und Menschenrechtslage hat sich seit der Asylgewährung nachhaltig verbessert und ist dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu entnehmen, dass selbst von einer Verfolgung von aktiven Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges - einzig und allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen - heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen ist.
2.11.3. Die BF wurde insgesamt mehrfach, sowohl vor der belangten Behörde, als auch vor dem BVwG, zu ihren Rückkehrbefürchtungen befragt, wobei sie diese in casu nicht hinreichend zu substantiieren vermochte. Zunächst brache die BF im Rahmen eines Parteiengehörs am 31.01.2019 - hinsichtlich ihrer Rückkehrbefürchtungen - lediglich vor, dass sie Krieg und Gefahr erwarten würde. Außerdem sei die Russische Föderation für sie ein fremdes Land. Auch im Rahmen eines weiteren Parteiengehörs im Dezember 2020 vermeinte die BF - zu ihren Rückkehrbefürchtungen befragt - nur unsubstantiiert, dass eine Rückkehr für sie keinesfalls in Frage komme, weil ihre Heimat hier in Österreich sei, wo ihre Familie lebe. Neuerlich vor dem BVwG dazu befragt, was die BF im Fall einer Rückkehr befürchte, gab die BF an: „Alles. Ich kann es mir gar nicht vorstellen, dass ich dort lebe. Nachgefragt: Ich kenne dieses Land nicht und bin hier aufgewachsen. Für mich ist es ein fremdes Land“ (S. 11 des VH-Prot.). Insgesamt vermochte die BF ihre Rückkehrbefürchtungen damit nicht hinreichend zu konkretisieren.
2.11.4. Vor dem BFA am 06.05.2021 gab die BF - befragt zu ihren Fluchtgründen - an, dass ihre Mutter wegen ihres Vaters Asyl erhalten habe. Dieser sei politisch tätig gewesen und hätten sie aufgrund ihrer Religion Probleme gehabt, es sei um den Islam gegangen. Sie seien in Gefahr gewesen und sei der Bruder der BF auch entführt worden. Befragt dazu, ob die BF eigene Fluchtgründe gehabt habe, vermeinte sie, es seien Familiengründe gewesen und könne sie sich nicht vorstellen zurückzukehren. Es habe Terroranschläge gegeben, doch gäbe es für die BF im Herkunftsstaat kein Problem. Für die BF gäbe es nur wegen ihres Vaters Probleme, sie wisse jedoch nicht, wie es heute wäre (S. 4 des BFA-Prot. vom 06.05.2021). Die BF vermochte damit ihre Furcht vor Verfolgung aus asylrelevanten Gründen nicht hinreichend substantiiert glaubhaft zu machen, zumal sie keine näheren Gründe für die politische Verfolgung ihres Vaters vorzubringen wusste. Ebenso wenig machte die BF vor dem BFA genauere Angaben zur behaupteten politischen Position ihres Vaters im Herkunftsstaat, noch zu den Gründen und genaueren Umständen der Entführung ihres Bruders. Darüber hinaus führte die BF aus, dass es mit den „Terroristen und Wahabiten“ nie aufgehört habe. Diese würden alle Frauen verschleiern und wären fanatisch, die BF könne sich nicht vorstellen, sich zu verschleiern. Diesbezüglich bleibt aus dem LIB festzuhalten, dass die Verfassung der russischen Republik Dagestan die Religionsfreiheit garantiert. Auch wird das Recht eingeräumt, ohne Religion zu leben. In Dagestan sind offiziell mehr als 800 religiöse Organisationen registriert, mehr als 90 % der Bevölkerung Dagestans sind Muslime. Davon sind 97 % Sunniten und 3 % Schiiten. Der im Kaukasus seit Langem praktizierte Sufismus ist in Dagestan tief verwurzelt. Ab den 1990er-Jahren fand in Dagestan eine neue religiöse Strömung Verbreitung – der Salafismus. Die meisten Muslime in Dagestan sind Anhänger einer traditionellen Form des Islam, welche eng mit den lokalen Bräuchen und Ansichten verwoben ist. Die traditionellen Muslime sind besser als die Salafisten in das säkulare [weltliche] System eingebunden und erkennen dessen Institutionen und Gesetze an. In Dagestan ist extremistischer islamischer Wahhabismus gesetzlich verboten, der Begriff wird aber nicht definiert. Wer gegen diese gesetzlichen Vorgaben verstößt, wird strafrechtlich belangt oder erhält eine Verwaltungsstrafe (Haftstrafe von bis zu 15 Tagen). Der islamistische Untergrund wird in Dagestan durch lokale und föderale Sicherheitsbehörden bekämpft, wobei nicht verkannt wird, dass damit Menschenrechtsverletzungen einhergehen.
Die BF selbst ist ebenfalls sunnitische Muslima, sie gehört daher der in Dagestan vorherrschenden Religionsrichtung an. Sofern die BF vermeint, dass ihr die Interpretation des Islams in Dagestan zu konservativ sei und sie es ablehne einen Schleier zu tragen, ist ihr entgegenzuhalten, dass es ihr grundsätzlich möglich, sowie zumutbar ist auch in einem anderen Teil der Russischen Föderation zu leben, wo sie weder gezwungen wäre unter der behaupteten wahabitischen Auslegung des Islams zu leben, noch einen Schleier zu tragen. Nach dem LIB weist die russische Bevölkerung eine religiöse Vielfalt auf und sind 68% der Bevölkerung russisch-orthodox und nur etwa 7% Muslime. Im Übrigen garantiert die Russische Föderation Gewissens- und Glaubensfreiheit, sowie die Wahl des Religionsbekenntnisses.
Aus den Länderberichten geht hervor, dass das Recht der freien Wahl des Wohnsitzes auch Dagestanern - wie allen russischen Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen - zusteht. Nach den aktuellen Länderberichten ergibt sich zwar, dass Angehörige der kaukasischen Volksgruppe immer noch auf eine anti-kaukasische Stimmung treffen und Diskriminierungen ausgesetzt sein können, eine asylrelevante Gefährdung auf Grund der Volksgruppenzugehörigkeit, kann aber nicht mehr festgestellt werden. Auch diesbezüglich ist daher eine Änderung der Situation im Herkunftsstaat eingetreten, die nicht nur vorübergehend ist. Dass eine Wohnsitznahme außerhalb der Herkunftsrepublik in anderen Teilen der Russischen Föderation grundsätzlich möglich ist, geht bereits aus dem Faktum hervor, dass etwas 14.000 Tschetschenen alleine in Moskau, 11.000 allein in der Rostow Region und 12.000 in Stawropol leben.
2.11.5. Auch vor dem BVwG vermochte die BF - zu ihren Fluchtgründen befragt - anzugeben, dass sie wegen der Kriegssituation, der Ermordung ihres Vaters und der Entführung ihres Bruders geflogen seien. Nachgefragt, sei der Vater der BF aus religiösen Gründen getötet worden, weil er gegen die Islamisierung der Republik und gegen die Verschleierung aller Frauen gewesen sei. Der Vater der BF habe eine starke Position in der Politik gehabt. Die BF vermochte jedoch selbst auf wiederholte Nachfrage des erkennenden Richters nicht anzugeben, welche Position ihr Vater tatsächlich innegehabt habe. Zunächst vermeinte die BF erneut auf Frage des Richters in welcher Position ihr Vater gewesen sei: „Er war in der Politik“. Neuerlich gefragt, welche Position er innegehabt habe, vermeinte die BF: „Ich weiß nicht, was er genau getan hat. Er hat mehrere Entscheidungen treffen können und hat sozusagen eine Stimme gehabt. Er war gegen die Islamisierung“ (S. 10 des VH-Prot.). Insgesamt ergibt sich daher für das erkennende Gericht der Eindruck eines wenig durchdachten Erzählkonstruktes ohne eigentliches Substrat, zumal zu erwarten wäre, dass der BF die Position ihres Vaters in der Politik bekannt wären, sollte er tatsächlich in der Politik gewesen seien und die Familie aufgrund dessen im Herkunftsstaat gröbere Probleme gehabt haben. Der mangelnde Tiefgang in den Schilderungen der BF belasten die Fluchtgründe insgesamt schwer mit Unglaubhaftigkeit.
Auch hinsichtlich der Entführung ihres Bruders vermochte die BF wenig Einzelheiten anzugeben. So brachte sie – nachgefragt - vor, dass ihr Bruder kurz bevor ihr Vater umgebracht worden sei, entführt worden sei. Vom erkennenden Richter dazu befragt, wie ihr Bruder wieder freigekommen sei, vermeinte die BF: „Polizisten haben ihn gefunden. Es war wie eine Vorwarnung für meinen Vater, weil sie ihn für die Islamisierung gebraucht haben. Es war schon der Tschetschenien Krieg und aus Tschetschenien sind die Wahabiten marschiert. Die erste Dorfgeiselnahme war und dann ist alles eskaliert“ (S. 10 des VH-Prot.). Insgesamt lässt die BF auch zur vermeintlichen Entführung ihres Bruders daher jegliche Details vermissen und entsteht neuerlich der Eindruck als berichte die BF nicht von tatsächlich Selbsterlebtem.
2.11.6. Wie sich aus dem LIB ergibt, ist die Menschenrechtslage in Dagestan grundsätzlich besser als im benachbarten Tschetschenien, die Kontrolle der Zivilgesellschaft ist weniger ausgeprägt. Doch auch in Dagestan gehen mit der Bekämpfung des islamistischen Untergrunds Menschenrechtsverletzungen durch lokale und föderale Sicherheitsbehörden einher, darunter Entführungen und Verschwindenlassen. Vom Vorgehen der Sicherheitsbehörden wegen des Verdachts auf Extremismus sind neben Menschenrechtsorganisationen auch NGOs im sozialen/humanitären Bereich oder regierungskritische Journalisten betroffen. Im Gegensatz zu Tschetschenien können NGOs in Dagestan tätig werden, sich mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen treffen, vor Ort recherchieren und selbst Verfahren gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte wegen Foltervorwürfen anstrengen. In Dagestan gibt es eine regionale Ombudsperson für Menschenrechte. Stand Russland 2011 noch an neunter Stelle im Global Terrorism Index hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land, rangierte es im Jahr 2016 dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36).
Laut LIB zur Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich die Sicherheitslage dort verbessert. Die Zahl der Opfer gewalttätiger Zusammenstöße hat in den letzten Jahren abgenommen. Es ist nicht mehr von einer breiten islamistischen Bewegung im Nordkaukasus auszugehen, wenngleich es vereinzelt zu Anschlägen kommt, die von den Behörden auch mit dem 'Islamischen Staat' (IS) in Verbindung gebracht werden. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus deutlich zurückgegangen ist. In Dagestan wurde von offizieller Seite im Jänner 2019 die praktisch vollständige Liquidierung des bewaffneten Widerstands in Dagestan verkündet, vereinzelt kommt es dennoch zu bewaffneten Zwischenfällen. Im Fokus der Sicherheitsbehörden stehen mutmaßliche Terroristen bzw. Anhänger extremistischer Überzeugungen (dazu zählen auch in Dagestan die Zeugen Jehovas).
2.11.7. Insgesamt betrachtet kann daher nicht angenommen werden, dass die BF, welche selbst nie an Kampfhandlungen teilgenommen hat und nie politisch aktiv gewesen ist, alleine aufgrund der (behaupteten) politischen Tätigkeiten ihres Vaters, im Falle einer Rückkehr – 23 Jahre nach ihrer Ausreise – noch immer einer gezielten Verfolgung durch die Behörden ihres Heimatlandes unterliegen würde.
Weshalb gerade an der Person der BF ein derart nachhaltiges Interesse der Behörden ihres Herkunftsstaates bestehen sollte, vermochte sie auch weder in der Beschwerde, noch in der Beschwerdeverhandlung hinreichend substantiiert darzulegen. Vielmehr gab die BF selbst vor dem BFA an, im Herkunftsstaat selbst keine Probleme zu haben. Die BF hat auch keine Unterlagen, wie etwa einen Haftbefehl oder Ladungen, vorgelegt, welche eine Verfolgungsgefahr ihrer Person im Herkunftsstaat nachweislich belegen würde.
Im Übrigen verfügt die BF über zahlreiche familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat, vor allem in den Personen der Geschwister ihrer Mutter, zu welchen die im Bundesgebiet lebende Mutter der BF immer noch Kontakt hat. Von etwaigen Problemen dieser Verwandten im Herkunftsstaat – aufgrund der seinerzeitigen Fluchtgründe der BF und deren Familie – vermochte die BF vor dem BVwG selbst auf Nachfrage nichts zu berichten. Dabei gab sie nur an, dass sicherlich jeder eigene Probleme habe und die BF ihr Leben hier (Anm.: in Österreich) habe, sie wisse es nicht. Jeder schaue auf sich. Auf neuerliche Nachfrage vermeinte die BF: „Ich habe davon nichts gehört, vielleicht meine Mutter weiß es“ (S. 8 des VH-Prot.). Es wäre davon auszugehen, dass die BF über ihre eigene Mutter davon erfahren hätte, wenn ihre im Herkunftsstaat lebenden Verwandten aufgrund der seinerzeitigen Probleme der Familie der BF noch Probleme mit den Behörden des Herkunftsstaates hätten, zumal die Mutter der BF mit ihren Geschwistern immer noch- wenn auch nur gelegentlich - in Kontakt steht. Außerdem hat die BF vor der belangten Behörde angegeben, dass ihre Mutter im Jahr 2018 selbst für etwa einen Monat in den Herkunftsstaat zurückgereist ist, ein Umstand, welcher gegen eine noch aktuelle Gefährdung der BF im Herkunftsstaat spricht, zumal die BF ihren Asylstatus selbst nur von ihrer Mutter erstreckt erhalten hat und ihre Mutter als ihre Bezugsperson offenbar selbst bereits im Jahr 2018 von keinerlei Gefährdung im Herkunftsstaat aufgrund der seinerzeitigen Fluchtgründe mehr ausgegangen ist, da sie sonst wohl nicht freiwillig im Jahr 2018 dorthin gereist wäre und dort sogar einen Monat zugebracht hat. Insgesamt ist somit von einer wesentlich geänderten Sachlage im Herkunftsstaat auszugehen.
2.11.8. Eine politische Betätigung ihrer Person hat die BF weder vor noch nach ihrer Ausreise behauptet. Dass die BF, welche keine exponierte politische oder gesellschaftliche Stellung genießt - im Falle einer Rückkehr - einer gezielten Verfolgung durch die Behörden ihres Heimatlandes unterliegen würde, kann demnach nicht angenommen werden.
Den diesbezüglichen Erwägungen der belangten Behörde wurde auch in der Beschwerde nicht hinreichend substantiiert entgegengetreten, zumal auch in dieser keine hinreichend substantiierte Rückkehrbefürchtung der BF geäußert wurde, welche eine aktuelle staatliche Verfolgung ihrer Person indizieren würde.
Aufgrund der dargelegten Umstände, welche bereits im angefochtenen Bescheid festgestellt wurden, ergibt sich, dass eine aktuelle Gefahr einer Verfolgung der BF aus asylrelevanten Motiven nicht gegeben ist und auch darüber hinaus keine Gefährdung der BF im Falle ihrer Rückkehr zu prognostizieren ist.
2.11.9. Die volljährige BF leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen, sondern ist gesund und arbeitsfähig. Sie ist auch derzeit im Bundesgebiet selbsterhaltungsfähig und verfügt über eine fundierte Schulbildung im Herkunftsstaat. Im Bundesgebiet hat die BF das Polytechnikum und 3 Jahre die Berufsschule besucht, wobei sie die Lehrabschlussprüfung nicht abgelegt hat. Die BF arbeitet auch derzeit im Bundesgebiet Vollzeit im Verkauf und verfügt noch über zahlreiche familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat. Zu diesen hat die BF zwar persönlich keinen Kontakt, doch könnte eine Kontaktaufnahme über die Mutter der BF neuerlich reaktiviert werden, zumal diese - nach wie vor - mit ihren im Herkunftsstaat lebenden Verwandten in Kontakt steht. Der BF wäre es daher grundsätzlich möglich im Herkunftsstaat einen Job zu finden und unabhängig von familiärer Unterstützung zu leben. Es wäre ihr insgesamt möglich und zumutbar, ihren Lebensunterhalt selbst zu erwirtschaften, wenn auch zunächst durch etwaige Gelegenheitsjobs. Im gesamten Verfahren wurde nicht dargelegt, weshalb es der BF als 37-jährige Frau, welche die ersten 14 Lebensjahre in der Russischen Föderation gelebt hat und somit mit den kulturellen Gegebenheiten und der gebräuchlichen Sprache in ihrem Herkunftsstaat sehr gut vertraut ist, nicht möglich sein sollte, nach einer Rückkehr eigenständig für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Der BF spricht nach eigenen Angaben sowohl Russisch, als auch Kumykisch und wäre damit in der Lage sich im Herkunftsstaat ausreichend zu verständigen und am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Aufgrund der zahlreichen familiären Anknüpfungspunkte der BF im Herkunftsstaat (vor allem in den Personen der Geschwister ihrer Mutter), mit welchen die Mutter der BF auch noch in Kontakt steht, ist davon auszugehen, dass die BF bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat vor Obdachlosigkeit bewahrt wäre und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde.
Hinsichtlich der Drogenabhängigkeit der BF in der Vergangenheit ist festzuhalten, dass die BF eine gerichtlich angeordnete Drogenberatung erfolgreich abgeschlossen hat und ihr letzter Drogenkonsum über ein Jahr zurückliegt. Die BF hat vor dem erkennenden Gericht glaubhaft gemacht, ihr Leben inzwischen umgestellt und in geordnete Bahnen gelenkt zu haben, sowie weiterhin ein drogenfreies Leben anzustreben. Selbst im Falle eines Rückfalls wäre es der BF möglich im Herkunftsstaat medizinische und therapeutische Unterstützung zu erlangen. Es stehen in der Russischen Föderation sowohl Therapiemöglichkeiten im Rahmen von Entzugsprogrammen, als auch diverse Substitutionsmedikamente zur Verfügung, sollte die BF solche in Zukunft benötigen. Im Übrigen sind auch Einrichtungen zur psychiatrischen und psychologischen Behandlung vorhanden. Ein allfälliger Rückfall der BF könnte daher in Zukunft in der Russischen Föderation behandelt werden.
Zudem stünde es der BF offen, als russische Staatsangehörige auf Leistungen des dortigen Sozialsystems zurückzugreifen und zur Erleichterung einer Niederlassung im Herkunftsstaat Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. In einer Gesamtschau wird es der BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit möglich sein, allenfalls mit Unterstützung ihrer Familie – vor allem in der Anfangsphase – im Herkunftsstaat wieder Fuß zu fassen, sich bald ein ausreichendes Einkommen zu sichern und in keine aussichtslose Lage geraten.
2.11.10. Insgesamt konnte die BF eine Gefährdungssituation bei Rückkehr nicht hinreichend substantiieren, welcher sie im Falle der Rückkehr in exponierter Weise ausgesetzt wäre. Unter Beachtung der zur Verfügung stehenden Berichtslage, sowie der sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (wie z.B. familiäre Anknüpfungspunkte, Ausbildung, berufliche Tätigkeit, usw.) ergibt sich, dass eine Rückkehr der BF in die Russische Föderation möglich und zumutbar ist.
2.12. Zu den Länderfeststellungen:
2.12.1. Die zur Lage im der Russischen Föderation getroffenen Feststellungen basieren auf Berichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen und stellen angesichts des bereits Ausgeführten im konkreten Fall eine hinreichende Basis zur Beurteilung des Vorbringens der BF dar. Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen, sowie des Umstandes, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht grundsätzlich kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
2.12.2. Aus den getroffenen Länderfeststellungen lässt sich keine derartige Situation im Herkunftsland ableiten, wonach die BF allein aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage - ohne Hinzutreten individueller Faktoren - in der Russischen Föderation aktuell und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ihrer Person drohen würde oder, dass ihr im Falle einer Rückkehr ins Herkunftsland die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.
2.12.3. Somit bleibt weiterhin festzuhalten, dass es sich bei der Russischen Föderation um einen Staat handelt, der zwar im Hinblick auf menschenrechtliche Standards Defizite aufweist, darüber hinaus aber nicht – etwa im Vergleich zu Krisenregionen wie Afghanistan, Irak, Somalia, Syrien u.v.a. - als Staat mit sich rasch ändernder Sicherheitslage auffällig wurde, sondern sich im Wesentlichen über die letzten Dekaden als relativ stabil erwiesen hat (vgl. dazu etwa VfGH vom 21.09.2017, Zl. E 1323/2017-24, VwGH vom 13.12.2016, Zl. 2016/20/0098).
2.12.4. Letztlich ist noch anzumerken, dass unter Zugrundelegung der getroffenen Feststellungen zur Grundversorgung in der Russischen Föderation auch kein Grund erkannt werden kann, wonach die arbeitsfähige BF, die über fundierte Schulausbildung und Arbeitserfahrung in Österreich verfügt, bei einer Rückkehr in die Russische Föderation in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine ausweglose Situation geraten würde. Außerdem verfügt die BF über eine Vielzahl an familiären Anknüpfungspunkten in der Russischen Föderation.
2.12.5. Was die Ausbreitung des Corona Virus in der Russischen Föderation betrifft, ist festzuhalten, dass die BF an keinen schwerwiegenden Krankheiten leidet, sondern gesund ist. Die absoluten Zahlen in der Russischen Föderation erweisen sich mit 23.098.734 Erkrankten als so hoch, wie in kaum einem anderen Land. Dennoch erweisen sich die Todesfälle, mit insgesamt 400.195 Toten als, verglichen mit anderen Ländern, verhältnismäßig gering. Sieht man die absolute Zahl der Erkrankten jedoch im Verhältnis zur Einwohnerzahl, zeigt sich die Zahl der Erkrankungen pro 100.000 Einwohner noch davon entfernt, ein für eine Schutzgewährung signifikantes Risiko aufzuzeigen, in der Russischen Föderation an einer Lungenkrankheit Covid-19 (mit schweren Verlauf) zu erkranken. Die Russische Föderation hat als eines der ersten Länder mit landesweiten Impfungen ihrer Bevölkerung begonnen und sind mittlerweile mehrere heimische Impfstoffe zugelassen, die für die Bevölkerung kostenlos zur Verfügung stehen. Darüber hinaus stehen diverse Medikamente zur Behandlung von Covid-19 zur Verfügung und erfolgt eine medizinische Covid-Versorgung für die Bevölkerung kostenlos. Insgesamt ist, vor dem Hintergrund der umfangreich gegebenen medizinischen Covid-Versorgung in der Russischen Föderation, dieser Umstand nicht dazu geeignet ein für eine Schutzgewährung signifikantes Risiko aufzuzeigen, um jene geforderte Schwelle der Exzeptionalität der Umstände zu erreichen.
2.13. Die Aufnahme weiterer Beweise war wegen Entscheidungsreife nicht mehr erforderlich.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Eine derartige Regelung wird in den einschlägigen Normen (VwGVG, BFA-VG, AsylG 2005) nicht getroffen, und es liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
3.2. Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 33/2013 idF BGBl. I 122/2013, geregelt (§ 1 leg. cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
3.3. Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
3.4. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Zum Spruchteil A
3.5. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides
3.5.1. Der mit „Aberkennung des Status des Asylberechtigten“ übertitelte § 7 AsylG 2005 lautet, wir folgt:
„1) Der Status des Asylberechtigten ist einem Fremden von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn
(2) In den Fällen des § 27 Abs. 3 Z 1 bis 4 und bei Vorliegen konkreter Hinweise, dass ein in Art. 1 Abschnitt C Z 1, 2 oder 4 der Genfer Flüchtlingskonvention angeführter Endigungsgrund eingetreten ist, ist ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten jedenfalls einzuleiten, sofern das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß Abs. 1 wahrscheinlich ist. Ein Verfahren gemäß Satz 1 ist, wenn es auf Grund des § 27 Abs. 3 Z 1 eingeleitet wurde, längstens binnen einem Monat nach Einlangen der Verständigung über den Eintritt der Rechtskraft der strafgerichtlichen Verurteilung gemäß § 30 Abs. 5 BFA-VG, in den übrigen Fällen schnellstmöglich, längstens jedoch binnen einem Monat ab seiner Einleitung zu entscheiden, sofern bis zum Ablauf dieser Frist jeweils der entscheidungsrelevante Sachverhalt feststeht. Eine Überschreitung der Frist gemäß Satz 2 steht einer späteren Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht entgegen. Als Hinweise gemäß Satz 1 gelten insbesondere die Einreise des Asylberechtigten in seinen Herkunftsstaat oder die Beantragung und Ausfolgung eines Reisepasses seines Herkunftsstaates.
(2a) Ungeachtet der in § 3 Abs. 4 genannten Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung ist ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten jedenfalls einzuleiten, wenn sich aus der Analyse gemäß § 3 Abs. 4a ergibt, dass es im Herkunftsstaat des Asylberechtigten zu einer wesentlichen, dauerhaften Veränderung der spezifischen, insbesondere politischen, Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind, gekommen ist. Das Bundesamt hat von Amts wegen dem Asylberechtigten die Einleitung des Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten formlos mitzuteilen.
(3) Das Bundesamt kann einem Fremden, der nicht straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3), den Status eines Asylberechtigten gemäß Abs. 1 Z 2 nicht aberkennen, wenn die Aberkennung durch das Bundesamt – wenn auch nicht rechtskräftig – nicht innerhalb von fünf Jahren nach Zuerkennung erfolgt und der Fremde seinen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet hat. Kann nach dem ersten Satz nicht aberkannt werden, hat das Bundesamt die nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005, zuständige Aufenthaltsbehörde vom Sachverhalt zu verständigen. Teilt diese dem Bundesamt mit, dass sie dem Fremden einen Aufenthaltstitel rechtskräftig erteilt hat, kann auch einem solchen Fremden der Status eines Asylberechtigten gemäß Abs. 1 Z 2 aberkannt werden.
(4) Die Aberkennung nach Abs. 1 Z 1 und 2 ist mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt. Dieser hat nach Rechtskraft der Aberkennung der Behörde Ausweise und Karten, die den Status des Asylberechtigten oder die Flüchtlingseigenschaft bestätigen, zurückzustellen.“
Gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005, welcher vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl angewendet wurde, ist der Status des Asylberechtigten einem Fremden von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn einer der in Art 1 Abschnitt C der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Endigungsgründe eingetreten ist.
Art 1 Abschnitt C der Genfer Flüchtlingskonvention lautet:
"C. Dieses Abkommen wird auf eine Person, die unter die Bestimmungen des Abschnittes A fällt, nicht mehr angewendet werden, wenn sie
1. sich freiwillig wieder unter den Schutz ihres Heimatlandes gestellt hat; oder
2. die verlorene Staatsangehörigkeit freiwillig wieder erworben hat; oder
3. eine andere Staatsangehörigkeit erworben hat und den Schutz ihres neuen Heimatlandes genießt; oder
4. sich freiwillig in dem Staat, den sie aus Furcht vor Verfolgung verlassen oder nicht betreten hat, niedergelassen hat; oder
5. wenn die Umstände, auf Grund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen und sie es daher nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen.
Die Bestimmungen der Ziffer 5 sind nicht auf die in Ziffer 1 des Abschnittes A dieses Artikels genannten Flüchtlinge anzuwenden, wenn sie die Inanspruchnahme des Schutzes durch ihr Heimatland aus triftigen Gründen, die auf frühere Verfolgungen zurückgehen, ablehnen;
6. staatenlos ist und die Umstände, auf Grund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen, sie daher in der Lage ist, in ihr früheres Aufenthaltsland zurückzukehren.
Die Bestimmungen der Ziffer 6 sind jedoch auf die in Ziffer 1 des Abschnittes A dieses Artikels genannten Personen nicht anzuwenden, wenn sie die Inanspruchnahme des Schutzes durch ihr früheres Aufenthaltsland aus triftigen Gründen, die auf frühere Verfolgungen zurückgehen, ablehnen."
3.5.3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl stützte die angefochtene Entscheidung hinsichtlich der BF im Wesentlichen darauf, dass sich die Umstände, aufgrund derer der BF der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden waren, zum Entscheidungszeitpunkt nicht mehr bestehen und die BF es daher nicht weiterhin ablehnen könne, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen. Damit seien auch die früher bestehenden Voraussetzungen für eine Schutzgewährung nicht mehr gegeben. In der Russischen Föderation liege aktuell keine Gefährdungslage für die BF (mehr) vor. Damit bejahte die belangte Behörde das Vorliegen des Asylaberkennungsgrunds des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK (im Folgenden auch als „Wegfall der Umstände“-Klausel bezeichnet; vgl. VwGH vom 23.10.2019, Ra 2019/19/0059).
Die Bestimmung des Art. 1 Abschnitt C Z 5 verleiht dem Grundsatz Ausdruck, dass die Gewährung von internationalem Schutz lediglich der vorübergehenden Schutzgewährung, nicht aber der Begründung eines Aufenthaltstitels, dienen soll. Bestehen nämlich die Umstände, aufgrund derer eine Person als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr und kann sie es daher nicht weiterhin ablehnen, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen, so stellt auch dies einen Grund dar, den gewährten Status wieder abzuerkennen (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, § 7 AsylG, K8).
Die Bestimmung des Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK stellt primär auf eine grundlegende Änderung der (objektiven) Umstände im Herkunftsstaat ab, kann jedoch auch die Änderung der in der Person des Flüchtlings gelegenen Umstände umfassen, etwa wenn eine wegen der Mitgliedschaft zu einer bestimmten Religion verfolgte Person nun doch zu der den staatlichen Stellen genehmen Religion übertritt und damit eine gefahrlose Heimkehr möglich ist (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, § 7 AsylG, K9).
Ein in der Person des Flüchtlings gelegenes subjektives Element spielt auch insofern eine Rolle, zumal aus der in Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK enthaltenen Wortfolge "nicht mehr ablehnen kann" auch die Zumutbarkeit einer Rückkehr in das Herkunftsland ein entscheidendes Kriterium einer Aberkennung des Flüchtlingsstatus ist (vgl. Putzer/Rohrböck, aaO, Rz 146).
Um die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft zu bejahen, muss die Änderung der Umstände sowohl grundlegend als auch dauerhaft sein, zumal der Flüchtlingsschutz umfassende und dauerhafte Lösungen zum Ziel hat und Personen nicht unfreiwillig in Verhältnisse zurückkehren sollen, welche möglicherweise zu einer neuerlichen Flucht führen. Da eine voreilige oder unzureichende Begründung der Beendigungsklauseln ernsthafte Konsequenzen haben kann, ist es angebracht, die Klauseln restriktiv auszulegen. (vgl. UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Beendigung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Artikels 1 C (5) und (6) des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ["Wegfall der Umstände"-Klauseln], Abs. 6 f).
Die Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 11 Abs. 1 lit. e Status-RL aF, der der aktuellen Rechtslage entspricht, erlischt, wenn in Anbetracht einer erheblichen und nicht nur vorübergehenden Veränderung der Umstände in dem fraglichen Drittland diejenigen Umstände, aufgrund deren der Betreffende begründete Furcht vor Verfolgung aus einem der in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie genannten Gründe hatte und als Flüchtling anerkannt worden war, weggefallen sind und er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor "Verfolgung" im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie haben muss (EuGH vom 02.03.2010, Rs C-175/08 ua., Abdulla ua., Rz 76). Die Umstände müssen sich auf grundlegende, in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK angeführte Fluchtgründe beziehen, auf Grund deren angenommen werden kann, dass der Anlass für die - begründete - Furcht vor Verfolgung nicht mehr länger besteht (VwGH vom 25.06.1997, 95/01/0326). Ein Flüchtling hört erst dann auf Flüchtling zu sein, wenn er wieder effektiven Schutz im Herkunftsstaat erlangen kann (vgl. Grahl-Madsen The Status of Refugees in International Law I [1965], 7, 405) bzw. ihm zugemutet werden kann, sich wieder dem Schutz dieses Staates zu unterstellen (Kälin, Grundriß des Asylverfahrens [1990], 162).
Nach der Judikatur setzt Artikel 1 Abschnitt C Ziffer 5 eine wesentliche nachhaltige Änderung der (für die Verfolgungsgefahr maßgeblichen) Umstände im Heimatstaat des Flüchtlings, einen Wegfall der Verfolgungsgefahr im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und der Notwendigkeit der Schutzgewährung voraus.
Die Änderungen im Herkunftsstaat müssen nachhaltig und nicht bloß von vorübergehender Natur sein (VwGH vom 22.4.1999, 98/20/0567; VwGH vom 25.3.1999, 98/20/0475). Nach Einhaltung eines längeren Beobachtungszeitraumes wird auch der bloße "Haltungswandel" des bisherigen Verfolgers, ohne dass ein politischer Machtwechsel stattgefunden hat, eine asylrechtlich maßgebliche Änderung der Umstände ergeben und in Folge Artikel 1 Abschnitt C Ziffer 5 der Genfer Flüchtlingskonvention zum Tragen kommen (VwGH vom 21.11.2002, 99/20/0171).
Der Wegfall der Verfolgungsgefahr ist maßgeblich für die Anwendung von Artikel 1 Abschnitt C Ziffer 5 der Genfer Flüchtlingskonvention. Ob die allgemeine wirtschaftliche Lage im Herkunftsstaat schlecht ist oder familiäre beziehungsweise emotionelle Bindungen zum Aufnahmestaat bestehen, ist für den Eintritt der Ziffer 5 grundsätzlich irrelevant.
3.5.4. Für den gegenständlichen Fall bedeutet das Folgendes:
3.5.4.1. Die BF hat den Status der Asylberechtigten vom seinerzeitigen Bundesasylamt nicht aufgrund einer individuellen Verfolgung, sondern aufgrund einer Erstreckung nach dem AsylG 1997 (entspricht im Wesentlichen dem nunmehrigen Familienverfahren gem. § 34 AsylG 2005) - von ihrer Mutter abgeleitet - zugesprochen erhalten. Die Aberkennung des Status der Asylberechtigten erfolgte fallgegenständlich, da die Umstände, aufgrund derer der Mutter der BF und in Erstreckung dazu der BF der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden war, zum Entscheidungszeitpunkt nicht mehr bestehen und es die BF daher nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz seines Heimatlandes zu stellen.
3.5.4.2. Da die BF straffällig im Sinne des § 2 Abs. 3 Z 1 AsylG 2005 geworden ist, schadet es gemäß § 7 Abs. 3 AsylG 2005 nicht, dass die Aberkennung fallgegenständlich nicht innerhalb von fünf Jahren ab rechtskräftiger Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten erfolgt ist.
Für die Aberkennung des einem Familienangehörigen im Familienverfahren (bzw. durch Asylerstreckung) zuerkannten Status des Asylberechtigten wegen Wegfalls der fluchtauslösenden Umstände (Art. 1 Abschnitt C Z 5 der GFK) kommt es darauf an, ob die Umstände, auf Grund deren die Bezugsperson als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen und es diese daher nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen. Diese Frage hat die Behörde (bzw. das Verwaltungsgericht) ohne Bindung an eine allfällige diesbezügliche Entscheidung im Verfahren über die Aberkennung des Asylstatus des Familienangehörigen selbstständig zu beurteilen. Gelangt die Behörde (bzw. das Verwaltungsgericht) in so einem Fall zu der Beurteilung, dass die fluchtauslösenden Umstände nicht mehr vorliegen, ist der Asylstatus eines Familienangehörigen, dem dieser Status im Familienverfahren (bzw. durch Asylerstreckung) zuerkannt worden ist, abzuerkennen, sofern im Entscheidungszeitpunkt hinsichtlich des Familienangehörigen nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (drohende Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK) vorliegen (VwGH vom 23.10.2019, Ra 2019/19/0059).
3.5.4.3. Wie schon beweiswürdigend ausgeführt, ist dem aktuellen Länderinformationsblatt zu entnehmen, dass selbst Teilnehmern am ersten und zweiten Tschetschenienkrieg heute keine Gefahr mehr droht, sofern es sich nicht um prominente bzw. öffentliche Oppositionelle handelt. Im Falle der Mutter der BF liegt dies nicht vor, zumal sie aufgrund der Tötung ihres Ehemannes Asyl erhalten habe, wobei der Vater Politiker gewesen sein soll. Das Vorbringen, wonach ihr Vater Politiker gewesen sei, konnte die BF vor dem BVwG jedoch nicht hinreichend substantiiert glaubhaft machen. Die Eltern der BF waren im Übrigen auch selbst keine Widerstandskämpfer und ist die Mutter der BF mittlerweile österreichische Staatsbürgerin. Die Mutter der BF hat im Jahr 2018 selbst einen Monat in der Russischen Föderation verbracht, wobei dies ebenfalls gegen das Vorliegen einer asylrelevanten Verfolgung von entsprechender Intensität im Herkunftsstaat, sowohl hinsichtlich der Mutter der BF als auch hinsichtlich der BF selbst, spricht. Die Mutter der BF ist selbst scheinbar nicht mehr von einer Gefährdungslage für ihre Person im Herkunftsstaat ausgegangen, widrigenfalls sie nicht in die Russische Föderation gereist wäre und dort einen Monat zugebracht hätte. Auch die Lage im Herkunftsstaat der BF hat sich wesentlich und nachhaltig verbessert (s. ausführlich beweiswürdigend Pkt. II.2.11.).
3.5.4.4. Vor diesem Hintergrund sind die Umstände, aufgrund derer der Mutter der BF der Status der Asylberechtigten zuerkannt wurde, zweifellos und nicht nur vorübergehend weggefallen. Dies schlägt im Sinne der zitierten Rechtsprechung auch auf die BF durch. Individuelle Gründe, die zur Zuerkennung (bzw. Beibehaltung) des Status der Asylberechtigten geführt hätten, konnten von der BF nicht glaubhaft gemacht werden und sind auch vor dem Hintergrund der zitierten Länderberichte nicht hervorgekommen.
3.5.4.5. Auch von Amts wegen konnten, wie dargelegt, keine Gründe dahingehend erkannt werden, dass die BF im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation zum aktuellen Zeitpunkt von russischen Behörden verfolgt bzw. einer sonstigen asylrelevanten Verfolgung in seinem Herkunftsstaat ausgesetzt sein würde. Hierbei ist auch auf die zwischenzeitig eingetretene Lageänderung hinzuweisen (siehe dazu insbesondere die Entscheidung des BVwG vom 18.12.2018, W112 1258438-2 sowie jene vom 6.9.2018, W236 2202290-1 (nachfolgende Beschwerdeablehnung, VfGH vom 25.2.2019, E 420/2019) und vom 7.3.2019, W125 1240799-3), wonach insbesondere seit 2011 keine Verfolgungen im Kontext der ersten beiden Tschetschenienkriege festzustellen waren.
3.5.5. Die Voraussetzungen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten sind bei der BF daher aus dem Grund des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art 1 Abschnitt C Z 5 GFK gegeben und war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides daher zu Recht abzuweisen.
3.5.6. Da sich die Aberkennung des Status der Asylberechtigten insgesamt als rechtmäßig erweist, hat die belangte Behörde auch gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 zu Recht festgestellt, dass der BF die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt.
3.6. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides:
Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung oder Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
Ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon mangels einer Voraussetzung gemäß Abs. 1 oder aus den Gründen des Abs. 3 oder 6 abzuweisen, so hat gemäß § 8 Abs. 3a AsylG 2005 eine Abweisung auch dann zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 vorliegt. Diesfalls ist die Abweisung mit der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt sinngemäß auch für die Feststellung, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.
§ 8 AsylG 2005 beschränkt den Prüfungsrahmen auf den "Herkunftsstaat" des Asylwerbers. Dies ist dahin gehend zu verstehen, dass damit derjenige Staat zu bezeichnen ist, hinsichtlich dessen auch die Flüchtlingseigenschaft des Asylwerbers auf Grund seines Antrages zu prüfen ist (VwGH vom 22.04.1999, 98/20/0561; 20.05.1999, 98/20/0300).
Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird – auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören – der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten (oder anderer in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 erwähnter) Rechte ausgesetzt wäre, so kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen (VwSlg. 15.437 A/2000; VwGH vom 25.11.1999, 99/20/0465; 08.06.2000, 99/20/0203; 08.06.2000, 99/20/0586; 21.09.2000, 99/20/0373; 25.01.2001, 2000/20/0367; 25.01.2001, 2000/20/0438; 25.01.2001, 2000/20/0480; 21.06.2001, 99/20/0460; 16.04.2002, 2000/20/0131). Diese in der Rechtsprechung zum AsylG 1997 erwähnten Fälle sind nun z.T. durch andere in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 erwähnte Fallgestaltungen ausdrücklich abgedeckt. Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat (unter dem Gesichtspunkt des § 57 FremdenG, dies ist nun auf § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zu übertragen) als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH vom 27.02.2001, 98/21/0427).
Das Bundesverwaltungsgericht hat somit vorerst zu klären, ob im Falle der Rückführung des Fremden in seinen Herkunftsstaat Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde. Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger, noch zum Refoulementschutz nach der vorigen Rechtslage ergangenen, aber weiterhin gültigen Rechtsprechung erkannt, dass der Antragsteller das Bestehen einer solchen Bedrohung glaubhaft zu machen hat, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffende, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerte Angaben darzutun ist (VwGH vom 23.02.1995, Zahl 95/18/0049; vom 05.04.1995, Zahl 95/18/0530; vom 04.04.1997, Zahl 95/18/1127; vom 26.06.1997, Zahl 95/18/1291; vom 02.08.2000, Zahl 98/21/0461). Diese Mitwirkungspflicht des Antragstellers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH vom 30.09.1993, Zahl 93/18/0214).
Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH vom 08.06.2000, Zahl 2000/20/0141). Ereignisse, die bereits längere Zeit zurückliegen, sind daher nicht geeignet, die Feststellung nach dieser Gesetzesstelle zu tragen, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten, die ihnen einen aktuellen Stellenwert geben (vgl. VwGH vom 14.10.1998, Zahl 98/01/0122; vom 25.01.2001, Zahl 2001/20/0011).
Unter „realer Gefahr“ ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen („a sufficiently real risk“) im Zielstaat zu verstehen (VwGH vom 19.02.2004, Zahl 99/20/0573; auch ErläutRV 952 BlgNR 22. GP zu § 8 AsylG 2005). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK zu gelangen (zB VwGH vom 26.06.1997, Zahl 95/21/0294; vom 25.01.2001, Zahl 2000/20/0438; vom 30.05.2001, Zahl 97/21/0560).
Nach Ansicht des VwGH ist am Maßstab der Entscheidungen des EGMR zu Art. 3 EMRK für die Beantwortung der Frage, ob die Abschiebung eines Fremden eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt, unter anderem zu klären, welche Auswirkungen physischer und psychischer Art auf den Gesundheitszustand des Fremden als reale Gefahr („real risk“) – die bloße Möglichkeit genügt nicht – damit verbunden wären (VwGH vom 23.09.2004, Zahl 2001/21/0137).
Nach der Judikatur des EGMR obliegt es der betroffenen Person, die eine Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle einer Abschiebung behauptet, so weit als möglich Informationen vorzulegen, die den innerstaatlichen Behörden und dem Gerichtshof eine Bewertung der mit einer Abschiebung verbundenen Gefahr erlauben (vgl. EGMR vom 05.07.2005 in Said gg. die Niederlande). Bezüglich der Berufung auf eine allgemeine Gefahrensituation im Heimatstaat, hat die betroffene Person auch darzulegen, dass ihre Situation schlechter sei, als jene der übrigen Bewohner des Staates (vgl. EGMR vom 26.07.2005 N. gg. Finnland).
Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung erkannt, dass der Antragsteller das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen hat, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffende, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerte Angaben darzutun ist (vgl. VwGH vom 26.06.1997, Zl. 95/18/1291). Diese Mitwirkungspflicht des Antragstellers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann.
Den Fremden trifft somit eine Mitwirkungspflicht, von sich aus das für eine Beurteilung der allfälligen Unzulässigkeit der Abschiebung wesentliche Tatsachenvorbringen zu erstatten und dieses zumindest glaubhaft zu machen. Hinsichtlich der Glaubhaftmachung des Vorliegens einer derartigen Gefahr ist es erforderlich, dass der Fremde die für diese ihm drohende Behandlung oder Verfolgung sprechenden Gründe konkret und in sich stimmig schildert und, dass diese Gründe objektivierbar sind.
3.6.1. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 fallgegenständlich nicht gegeben sind:
3.6.2. Wie die Beweiswürdigung ergeben hat, vermochte die BF eine konkrete Verfolgungsgefahr in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation nicht (mehr) darzutun, weshalb auf Grund des konkreten Vorbringens der BF auch keinerlei Bedrohung im Sinne des § 8 AsylG erkannt werden kann.
3.6.3. Zu prüfen bleibt, ob die BF im Falle einer Abschiebung in den Herkunftsstaat in ihren durch Art. 3 EMRK garantierten Rechten verletzt würde. Hierzu bleibt festzuhalten:
Bei außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten im Herkunftsstaat kann nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) die Außerlandesschaffung eines Fremden nur dann eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände („exceptional circumstances“) vorliegen (EGMR 02.05.1997, D. vs. Vereinigtes Königreich, Zahl 30240/96; 06.02.2001, Bensaid, Zahl 44599/98; vgl. auch VwGH vom 21.08.2001, Zahl 2000/01/0443). Unter „außergewöhnlichen Umständen“ können auch lebensbedrohende Ereignisse (zB. Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bzw. § 50 Abs. 1 FPG bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (EGMR 02.05.1997, D. vs. Vereinigtes Königreich; vgl. VwGH vom 21.08.2001, Zahl 2000/01/0443; 13.11.2001, Zahl 2000/01/0453; 09.07.2002, Zahl 2001/01/0164; 16.07.2003, Zahl 2003/01/0059).
In diesem Kontext sei auch auf die ständige Rechtsprechung des EGMR sowie der Höchstgerichte verwiesen, etwa das Erkenntnis des VfGH vom 06.03.2008 zu B 2400/07-9, welches die Rechtsprechung des EGMR zur Frage der Vereinbarkeit der Abschiebung Kranker in einen anderen Staat mit Art. 3 EMRK zusammenfasst. Der VwGH hat, unter Verweis auf die entsprechenden Urteile des EGMR, ausgeführt, dass sich aus diesen ergibt, dass im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, im Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil des Zielstaates gibt. Allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückgelegte Entfernung zu berücksichtigen sind (vgl. VwGH vom 21.02.2017, Ro 2016/18/0005 mit Verweis auf EGMR 13.12.2016, 41738/10 Paposhvili gg Belgien). Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (vgl. EGMR 02.05.1997, 30.240/96, D. gg. Vereinigtes Königreich). Aus dieser Judikaturlinie des EGMR ergibt sich jedenfalls der für das vorliegende Beschwerdeverfahren relevante Prüfungsmaßstab.
Der Verwaltungsgerichtshof hat diesbezüglich auch schon festgehalten, dass es einem Fremden obliegt, substantiiert darzulegen, auf Grund welcher Umstände eine bestimmte medizinische Behandlung für ihn notwendig sei und dass diese nur in Österreich erfolgen könnte. Denn nur dann wäre ein sich daraus (allenfalls) ergebendes privates Interesse iSd Art. 8 EMRK an einem Verbleib in Österreich beurteilbar (vgl. VwGH vom 12.12.2012, Zlen. 2012/18/0204 und 0205, mwN, VwGH vom 21.12.2013, 2011/23/0617).
Mit Erkenntnis vom 21.05.2019, Zl. Ro 2019/19/0006-3, wurde seitens des Verwaltungsgerichtshofes bekräftigt, dass dieser an seiner Rechtsprechung festhalte, wonach eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK durch eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat – auch wenn diese nicht durch das Verhalten eines Dritten (Akteurs) bzw. die Bedrohungen in einem bewaffneten Konflikt verursacht wird – die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG begründen kann.
3.6.4. Zunächst kann im Beschwerdefall nicht angenommen werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. diesbezüglich das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 16.07.2003, 2003/01/0059, zur dargestellten „Schwelle“ des Art. 3 EMRK):
Die arbeitsfähige BF verfügt über fundierte Schulausbildung im Herkunftsstaat und hat im Bundesgebiet ebenfalls das Polytechnikum und 3 Jahre lang die Berufsschule besucht. Sie verfügt über Arbeitserfahrung im Bundesgebiet und ist auch derzeit seit Jänner 2023 angestellt, sowie selbsterhaltungsfähig. Da die BF ihren Herkunftsstaat mit 14 Jahren verlassen hat und in Dagestan aufgewachsen ist, wo sie auch die Schule besucht hat, spricht sie sowohl die kumykische, als auch die russische Sprache. Aus diesen Gründen ist die BF mit den kulturellen und sprachlichen Gegebenheiten in der Russischen Föderation gut vertraut und wäre es der BF zumutbar ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten. Die BF verfügt über zahlreiche familiäre Anknüpfungspunkte in der Russischen Föderation, insbesondere zu den Geschwistern ihrer Mutter, zu welchen sie zwar selbst keinen persönlichen Kontakt hat, doch steht ihre Mutter - nach wie vor - in regelmäßigem Kontakt mit diesen und könnte die BF den Kontakt zu ihren im Herkunftsstaat lebenden Verwandten daher über ihre Mutter reaktivieren. Diese Verwandten könnten der BF bei einer Rückkehr – zumindest in der Anfangsphase – auch eine Unterstützung sein. Insgesamt wäre die BF vor dem Hintergrund der Vielzahl an familiären Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat jedenfalls vor Obdachlosigkeit und finanzieller Notlage bewahrt. Es ist daher davon auszugehen, dass die BF im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auf familiäre Unterstützung zurückgreifen könnte, weshalb sie vor existentieller Notlage bewahrt wäre.
3.6.5. Die BF leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten. Dass ihr im Zusammenhang mit gesundheitlichen Beschwerden dringend benötigte ärztliche Versorgung oder Medikamente im Herkunftsstaat nicht zugänglich wären, brachte sie zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens vor und ist dies auch aus dem zitierten Länderdokumentationsmaterials nicht zu entnehmen. Sollte die BF in Zukunft einen Drogenrückfall erleiden, stehen auch Therapiemöglichkeiten in der Russischen Föderation zur Verfügung. Es gibt Drogenersatzprogramme und Therapieeinrichtungen für Drogenabhängige. Ein kritischer Gesundheitszustand bzw. außergewöhnliche Verschlechterung als Rückkehrhindernisse wurden im Übrigen auch nicht hinreichend substantiiert vorgebracht. Ein allfälliger Drogenrückfall der BF könnte in Zukunft daher auch problemlos in der Russischen Föderation behandelt werden, wo die kostenlose medizinische Grundversorgung gesichert und in der Verfassung verankert ist.
Aufgrund der in der Russischen Föderation gesicherten medizinischen Grundversorgung und der kostenlos zur Verfügung stehenden umfangreichen Covid-19 Versorgung der Bevölkerung, ist eine mögliche Infektion der BF mit Covid-19 auch nicht dazu geeignet ein für eine Schutzgewährung signifikantes Risiko aufzuzeigen, um jene geforderte Schwelle der Exzeptionalität der Umstände zu erreichen.
Zudem ist auf die vom Verwaltungsgerichtshof übernommene Rechtsprechung des EGMR zu verweisen hat, wonach im Allgemeinen kein Fremder das Recht hat, in seinem aktuellen Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielstaat nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, fällt nicht entscheidend ins Gewicht, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielland gibt (vgl. etwa das Erkenntnis vom 29.02.2012, Zlen. 2010/21/0310 bis 0314, mwN). Der Verwaltungsgerichtshof hat diesbezüglich auch schon festgehalten, dass es einem Fremden obliegt, substantiiert darzulegen, auf Grund welcher Umstände eine bestimmte medizinische Behandlung für ihn notwendig sei und dass diese nur in Österreich erfolgen könnte. Denn nur dann wäre ein sich daraus (allenfalls) ergebendes privates Interesse iSd Art. 8 EMRK an einem Verbleib in Österreich beurteilbar (vgl. VwGH vom 12.12.2012, Zlen. 2012/18/0204 und 0205, mwN, VwGH vom 21.12.2013, 2011/23/0617).
3.6.6. Weiters ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach sich aus schlechten Lebensbedingungen keine Gefährdung bzw. Bedrohung im Sinne des § 57 FrG ergibt (vgl. etwa VwGH vom 30.1.2001, Zl. 2001/01/0021). Selbst wenn, vor dem Hintergrund dessen, der BF bei einer Rückkehr in eine in materieller Hinsicht beschwerliche Lebenssituation gelangen könnte, war aus diesen Erwägungen nicht abzuleiten, dass im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände ("exceptional circumstances") vorliegen würden, die die hohe Schwelle eines Eingriffs iSv Art. 2 und 3 EMRK erreichen würden.
3.6.7. Vor dem Hintergrund der Feststellungen kann nicht gesagt werden, dass jene gemäß der Judikatur des EGMR geforderte Exzeptionalität der Umstände vorliegen würde, um die Außerlandesschaffung eines Fremden im Hinblick auf außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegende Gegebenheiten im Zielstaat im Widerspruch zu Art. 3 EMRK erscheinen zu lassen (VwGH vom 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443). Es liegen keine begründeten Anhaltspunkte dafür vor, dass die BF mit der hier erforderlichen Wahrscheinlichkeit befürchten müsste, im Herkunftsland Übergriffen von im gegebenen Zusammenhang ausreichender Intensität ausgesetzt zu sein.
3.6.8. Schließlich kann auch nicht gesagt werden, dass eine Abschiebung der BF für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde. In der Russischen Föderation ist eine Zivilperson nicht allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer solchen Bedrohung ausgesetzt.
3.6.9. Aufgrund der vorgenommenen Prüfung im Einzelfall (VfGH 13.09.2012, U370/2012) unter Berücksichtigung der allgemeinen Gegebenheiten und der persönlichen Umstände der BF, sowie unter Beachtung der Rechtsprechung des VwGH und VfGH und Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR, war die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides spruchgemäß als unbegründet abzuweisen.
3.7. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides:
Gemäß § 58 Abs. 1 Z 3 AsylG hat das Bundesamt die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 von Amts wegen zu prüfen, wenn einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt.
Gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:
1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
3.7.1. Zuletzt hat der VwGH in seinem Erkenntnis vom 25.07.2023, Zl. Ra 2021/20/0246-21, ausgesprochen, dass sich dem Gesetz für die nach § 9 Abs. 3 BFA-VG vorzunehmende Feststellung nicht die Bedingung entnehmen lasse, dass zuvor über die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 negativ abgesprochen werde, wenn die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und diese daher zu unterbleiben habe. Vielmehr entfalle diesfalls eine amtswegige Prüfung der Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels, weil gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 (jedenfalls) ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 zu erteilen sei. Ginge man vom Gegenteil aus, dann wäre bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 57 AsylG 2005 vorrangig dieser Aufenthaltstitel zu erteilen und es käme trotz Vorliegens der Voraussetzungen des § 9 Abs. 3 BFA-VG nicht zur Feststellung der dauernden Unzulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung und zur Erteilung des - aufenthaltsrechtlich eine bessere Rechtsposition einräumenden - Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005. Dass eine solche (gleichheitswidrige) Konsequenz vom Gesetzgeber beabsichtigt gewesen wäre, könne ihm nicht unterstellt werden. Die Anordnung eines negativen Ergebnisses der amtswegigen Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 als Bedingung für eine Rückkehrentscheidung habe offenbar auch nur den Zweck zu verhindern, dass eine Rückkehrentscheidung erlassen werde, obwohl der Drittstaatsangehörige nach der genannten Bestimmung Anspruch auf eine Aufenthaltsberechtigung habe. Diese teleologische Überlegung treffe aber auf den Fall, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 zu erteilen sei, gerade nicht zu.
3.7.2. In casu wurde von der belangten Behörde ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gegen die BF auf Dauer unzulässig ist, weshalb vor dem Hintergrund der dargelegten Rechtsprechung ein von Amts wegen zu tätigender Ausspruch über die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 nicht zu erfolgen hat. Folglich war Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides daher zu beheben.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Da die Entscheidung über die gegenständliche Beschwerde letztlich lediglich von Fragen der Beweiswürdigung abhängig war, ist die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Die Revision ist im konkreten Fall ausfolgenden Gründen nicht zulässig: Parteivorbringen ist abstrakt nach dem objektiven Erklärungswert auszulegen (vgl. VwGH vom 24.01.1994). Die Auslegung von protokollierten Vorbringens ist nicht reversibel (vgl. VwGH vom 18.05.2016 RA 2016/04/001). Die Beurteilung ob ein identer Sachverhalt vorliegt ist keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung (vgl. VwGH vom 25.02.2016 2015/19/0267).