Spruch
W194 2270649-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Daniela Sabetzer über die Beschwerde des XXXX , geb. am XXXX , StA. Syrien, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Gregor KLAMMER in 1010 Wien, wegen Verletzung der Entscheidungspflicht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl betreffend den am 18.07.2022 gestellten Antrag auf internationalen Schutz, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Dem Antrag auf internationalen Schutz vom 18.07.2022 wird Folge gegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein syrischer Staatsangehöriger, stellte am 18.07.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am 20.07.2022 erfolgte seine Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes.
2. Die Anordnung der belangten Behörde gemäß § 43 Abs. 1 AsylG 2005 erging am 20.07.2022 (Datum) bzw. am 22.07.2022 (Stempel).
3. Am 26.01.2023 erhob der Beschwerdeführer bei der belangten Behörde die vorliegende Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht (Säumnisbeschwerde) und brachte zusammengefasst vor, dass seit der Stellung seines Antrages auf internationalen Schutz mehr als sechs Monate vergangen seien. Die gesetzliche Entscheidungsfrist sei verstrichen und die belangte Behörde daher säumig.
4. Die belangte Behörde übermittelte dem Bundesverwaltungsgericht mit hg. am 21.04.2023 eingelangter Beschwerdevorlage den gegenständlichen Verwaltungsakt. Mit beiliegender Stellungnahme vom 19.04.2023 führte die belangte Behörde aus, dass trotz näher beschriebener umfassender organisatorischer und personeller Optimierungsmaßnahmen und einer damit einhergehenden überdurchschnittlichen Produktivitätssteigerung der andauernde Anstieg bei den Asylantragszahlen die belangte Behörde vor ein unbeeinflussbares und unüberwindliches Hindernis stelle. Der belangten Behörde sei es derzeit nicht möglich, alle Verfahren in der vorgesehenen Verfahrensfrist zu erledigen, es treffe sie aufgrund der geschilderten Umstände an der Verzögerung der Erledigung des gegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz kein überwiegendes Verschulden.
5. Am 28.09.2023 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer sowie dessen Rechtsvertreter teilnahmen und der eine Dolmetscherin für die Sprache Arabisch beigezogen wurde. Die belangte Behörde verzichtete – wie vorab bekanntgegeben – auf eine Teilnahme an der Verhandlung.
In der Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen und seinen persönlichen Umständen befragt. Weiters wurden die Länderberichte zum Herkunftsland des Beschwerdeführers erörtert.
6. Im Anschluss an die Verhandlung übermittelte das Bundesverwaltungsgericht der belangten Behörde die Niederschrift der Verhandlung zur Kenntnis.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Beschwerdeführer:
1.1.1. Persönliche Verhältnisse und Familie:
Der Name des Beschwerdeführers lautet XXXX . Er wurde am XXXX geboren, ist syrischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Araber und sunnitischer Moslem. Der Beschwerdeführer besuchte in Syrien XXXX Jahre lang die Schule und schloss diese mit XXXX ab. Er lernte in Syrien weiters mit XXXX . Diesem Beruf ging er später XXXX nach.
Der Beschwerdeführer stammt aus dem Distrikt XXXX im Gouvernement Aleppo in Syrien. Dieser ist XXXX der Hauptstadt Aleppo gelegen. Er lebte dort bis zu seiner Ausreise aus Syrien XXXX . Daran anschließend war er XXXX aufhältig.
Der Beschwerdeführer ist XXXX Der Beschwerdeführer hat mehrmals wöchentlich Kontakt zu XXXX .
Der Beschwerdeführer stellte am 18.07.2022 den hier gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Ein betreffend ihn eingeholter Strafregisterauszug weist keine Verurteilungen auf. XXXX Der Beschwerdeführer ist gesund, lebt derzeit in XXXX und ist XXXX alt.
1.1.2. Machtverhältnisse in Syrien sowie in der Herkunftsregion und im Herkunftsort:
Gemäß der Länderinformation der Staatendokumentation zu Syrien vom 17.07.2023 ist das Gouvernement Aleppo in mehrere Kontrollgebiete unterteilt. Der Süden, der Südosten und die direkte Umgebung der Hauptstadt Aleppo stehen unter der Kontrolle der syrischen Regierung und ihren iranischen und russischen Verbündeten. Der Nordosten des Gouvernements und die Region um die Stadt Tal Rif’at stehen unter der Kontrolle der kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) und ihren Verbündeten in der US-geführten Koalition. Im Nordwesten steht ein Teil des Gouvernements unter der Kontrolle der islamistischen Gruppierung Hayat Tahrir Al-Sham (HTS), vormals bekannt als Al-Nusra Front. Im Norden des Gouvernements herrscht vorwiegend starker türkischer Einfluss. Dort haben etwa die Syrian National Army (SNA) und weitere türkeinahe Milizen die Kontrolle.
Die ( XXXX der Hauptstadt Aleppo gelegene) Herkunftsregion des Beschwerdeführers, XXXX , steht vornehmlich unter der Kontrolle der HTS, aber auch zumindest in Randbereichen unter der Kontrolle des syrischen Regimes (vgl. den folgenden Auszug von https://syria.liveuamap.com/ [abgerufen am 12.10.2023]: „Areas control [rot eingefärbt]: Government pro-government forces: Assad, Russia, Iran“; [grün eingefärbt]: „Hayat Tahrir Al-Sham[ex Al-Nusra]“):
Gemäß den historischen Landkarten zur Gebietskontrolle in Syrien in „The Carter Center“ (vgl. https://www.cartercenter.org/news/multimedia/map/exploring-historical-control-in-syria.html [abgerufen am 12.10.2023]) bestehen diese Kontrollverhältnisse in XXXX seit zumindest Jänner 2014.
Übersicht über die Machtverhältnisse in Syrien [abgerufen am 12.10.2023]:
In der Länderinformation der Staatendokumentation zu Syrien vom 17.07.2023 sind die Machtverhältnisse wie auf dieser Landkarte abgebildet beschrieben:
1.1.3. Gründe, auf die der Antrag auf internationalen Schutz gestützt wird:
Der Beschwerdeführer leistete in Syrien den Militärdienst bislang nicht ab; er weigert sich, stattdessen eine Ausgleichszahlung zu tätigen. Er verließ XXXX Syrien XXXX , um sich der Wehrpflicht zu entziehen. Der Beschwerdeführer befürchtet, in Syrien direkt am Flughafen oder an der Grenze verhaftet und vor die Wahl gestellt zu werden, einzurücken oder ins Gefängnis zu kommen. Er begründet seine Ablehnung des syrischen Regimes damit, dass „ XXXX “ (vgl. Seite 12 der Niederschrift). Der Beschwerdeführer will den syrischen Wehrdienst nicht ableisten, da er das Regime nicht unterstützen und keinesfalls „unschuldige Menschen“ töten will.
Männliche Syrer im Alter von 18 bis 42 Jahren sind gesetzlich verpflichtet, einen Wehrdienst von zwei Jahren abzuleisten. Der Beschwerdeführer ist XXXX und gesund. Er ist in Syrien grundsätzlich wehrpflichtig, da geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, gleichermaßen mit einer Zwangsrekrutierung rechnen müssen. Im Fall des Beschwerdeführers sind keine Aufschub- oder Ausnahmegründe betreffend den Wehrdienst ersichtlich. Es gibt auch keinen zivilen Ersatzdienst.
In Syrien droht dem Beschwerdeführer die (zwangsweise) Einberufung zum Militärdienst. Es besteht mit großer Wahrscheinlichkeit die Gefahr, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Syrien bereits bei der Einreise in sein Heimatland als Wehrdienstpflichtiger identifiziert, verhaftet und in der Folge zum Wehrdienst der syrischen Armee eingezogen wird. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatland seine Herkunftsregion im Gouvernement Aleppo, ungeachtet dessen, dass diese unter gemischter Kontrolle steht, nicht erreichen kann, ohne im Zuge einer der zahlreichen militärischen Straßenkontrollstellen in das Blickfeld des syrischen Regimes zu gelangen.
Bei einer Weigerung, der Einberufung Folge zu leisten, würde er zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft werden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Anwendung von Folter verbunden wäre. Es kann dem Beschwerdeführer nicht zugemutet werden, um einer Bestrafung zu entgehen, gegen seine eindeutige Überzeugung den Wehrdienst abzuleisten und für das syrische Regime, das er ablehnt, zB an Kampfhandlungen, im Rahmen derer er dazu gezwungen werden könnte, sich an Menschenrechtsverletzungen zu beteiligen, teilzunehmen.
1.1.4. Verfahren vor der belangten Behörde:
1.1.4.1. Am 18.07.2022 stellte der Beschwerdeführer den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Die Anordnung der belangten Behörde gemäß § 43 Abs. 1 BFA-VG erging am 20.07.2022 (Datum) bzw. am 22.07.2022 (Stempel). Die belangte Behörde setzte im Beschwerdefall außer einem Eurodac- und ein AFIS-Abgleich bislang keine Ermittlungsschritte.
Am 26.01.2023 erhob der Beschwerdeführer die vorliegende Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht.
1.1.4.2. Im Jahr 2015 wurden bei der belangten Behörde 88.340 Anträge auf internationalen Schutz gestellt und 29.911 Entscheidungen getroffen. Im Jahr 2016 wurden 42.285 Anträge auf internationalen Schutz gestellt und 57.499 Entscheidungen getroffen. Die durchschnittliche Verfahrensdauer stieg vom 1. Quartal 2016 mit durchschnittlich 7,4 Monaten bis zum 3. Quartal 2018 auf durchschnittlich 21,6 Monate an.
Im Jahr 2020 wurden 14.775 Anträge auf internationalen Schutz gestellt und 14.062 Entscheidungen getroffen. Die durchschnittliche Verfahrensdauer betrug 3,9 Monate. Im Jahr 2021 wurden 39.930 Anträge auf internationalen Schutz gestellt und 29.362 Entscheidungen getroffen. Die durchschnittliche Verfahrensdauer betrug 3,2 Monate. Im Jahr 2022 wurden 112.272 Anträge auf internationalen Schutz eingebracht und 89.437 Entscheidungen getroffen. Die durchschnittliche Verfahrensdauer betrug 3,5 Monate. Im ersten Quartal des Jahres 2023 wurden 10.167 Anträge auf internationalen Schutz gestellt. Die durchschnittliche Verfahrensdauer betrug 5,7 Monate.
48 % der im Jahr 2022 getroffenen Entscheidungen, das sind 42.696 Entscheidungen, entfielen auf „sonstige Entscheidungen“, das sind gegenstandslose Verfahren (§ 25 AsylG 2005), Aussetzungen zur Klärung einer Vorfrage (§ 38 AsylG 2005) und Einstellungen (§ 24 AsylG 2005). Auf Einstellungen entfielen etwa 41.000 Entscheidungen. Im Jahr 2022 wurden 90.994 Personen aus der Ukraine als Vertriebene registriert und 86.737 Ausweise für Vertriebene ausgestellt.
1.2. Arabische Republik Syrien:
1.2.1. Berichtsquellen:
Im Verfahren wurden die folgenden Quellen zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers herangezogen:
Länderinformation der Staatendokumentation zu Syrien vom 17.07.2023 (LIB)
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation TÜRKEI / SYRIEN, Einreise türkisch-syrische Grenze, Weiterreise in AANES-Gebiete, besonders Tal Rifaat, 05.04.2023 (Anfragebeantwortung)
UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen 6. aktualisierte Fassung, März 2021 (UNHCR)
1.2.2. Politische Lage in Syrien (aus: LIB Seiten 3f):
„Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba’ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016). Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.5.2022). Das Assad-Regime kontrolliert rund 70 % des syrischen Territoriums. Seit dem Höhepunkt des Konflikts, als das Regime – unterstützt von Russland und Iran – unterschiedslose, groß angelegte Offensiven startete, um Gebiete zurückzuerobern, hat die Gewalt deutlich abgenommen. Auch wenn die Gewalt zurückgegangen ist, kommt es entlang der Konfliktlinien im Nordwesten und Nordosten Syriens weiterhin zu kleineren Scharmützeln. Im Großen und Ganzen hat sich der syrische Bürgerkrieg zu einem internationalisierten Konflikt entwickelt, in dem fünf ausländische Streitkräfte – Russland, Iran, die Türkei, Israel und die Vereinigten Staaten – im syrischen Kampfgebiet tätig sind und Überreste des Islamischen Staates (IS) regelmäßig Angriffe durchführen (USIP 14.3.2023). […]“
1.2.3. Gebiet unter der Kontrolle von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) (aus: LIB Seiten 31 bis 33):
„In der nordwestlichen Provinz Idlib und den angrenzenden Teilen der Provinzen Nord-Hama und West-Aleppo befindet sich die letzte Hochburg der Opposition in Syrien (BBC 2.5.2023). Das Gebiet wird von dem ehemaligen al-Qaida-Ableger Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) [Anm.: übersetzt soviel wie: Komitee zur Befreiung der Levante] beherrscht, der nach Ansicht von Analysten einen Wandel durchläuft, um seine Herrschaft in der Provinz zu festigen (Alaraby 5.6.2023). Das Gebiet beherbergt aber auch andere etablierte Rebellengruppen, die von der Türkei unterstützt werden (BBC 2.5.2023). HTS hat die stillschweigende Unterstützung der Türkei, die die Gruppe als Quelle der Stabilität in der Provinz und als mäßigenden Einfluss auf die radikaleren, transnationalen dschihadistischen Gruppen in der Region betrachtet. Durch eine Kombination aus militärischen Konfrontationen, Razzien und Festnahmen hat die HTS alle ihre früheren Rivalen wie Hurras ad-Din und Ahrar ash-Scham effektiv neutralisiert. Durch diese Machtkonsolidierung unterscheidet sich das heutige Idlib deutlich von der Situation vor fünf Jahren, als dort eine große Anzahl an dschihadistischen Gruppen um die Macht konkurrierte. HTS hat derzeit keine nennenswerten Rivalen. Die Gruppe hat Institutionen aufgebaut und andere Gruppen davon abgehalten, Angriffe im Nordwesten zu verüben. Diese Tendenz hat sich nach Ansicht von Experten seit dem verheerenden Erdbeben vom 6.2.2023, das Syrien und die Türkei erschütterte, noch beschleunigt (Alaraby 5.6.2023). HTS hat neben der militärischen Kontrolle über den Großteil des verbleibenden Oppositionsgebiets in Idlib auch lokale Verwaltungsstrukturen unter dem Namen "Errettungs-Regierung" [auch Heilsregierung, ḥukūmat al-ʾinqāḏ as-sūrīyah/Syrian Salvation Government, SSG] aufgebaut (AA 29.3.2023).
Aufgrund des militärischen Vorrückens der Regime-Kräfte und nach Deportationen von Rebellen aus zuvor vom Regime zurückeroberten Gebieten, ist Idlib in Nordwestsyrien seit Jahren Rückzugsgebiet vieler moderater, aber auch radikaler, teils terroristischer Gruppen der bewaffneten Opposition geworden (AA 29.11.2021). Zehntausende radikal-militanter Kämpfer, insb. der HTS, sind in Idlib präsent. Unter diesen befinden sich auch zahlreiche Foreign Fighters (Uiguren, Tschetschenen, Usbeken) (ÖB Damaskus 12.2022). Auch al-Qaida und der Islamische Staat (IS) sollen dort Netzwerke unterhalten (KAS 4.2020). Viele IS-Kämpfer übersiedelten nach dem Fall von Raqqa 2017 nach Idlib - großteils Ausländer, die für den Dschihad nach Syrien gekommen waren und sich nun anderen islamistischen Gruppen wie der Nusra-Front [Jabhat al-Nusra], heute als HTS bekannt, angeschlossen haben. Meistens geschah das über persönliche Kontakte, aber ihre Lage ist nicht abgesichert. Ausreichend Geld und die richtigen Kontaktleute ermöglichen derartige Transfers über die Frontlinie (Zenith 11.2.2022). Laut einem Bericht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom Februar 2023 sind neben HTS und Hurras ad-Din unter anderem auch die zentralasiatischen Gruppierungen Khatiba at-Tawhid wal-Jihad (KTJ) - im März 2022 in Liwa Abu Ubayda umbenannt - und das Eastern Turkistan Islamic Movement (ETIM) - auch bekannt als Turkistan Islamic Party (TIP) - in Nordwestsyrien präsent (UNSC 13.2.2023).
Im Jahr 2012 stufte Washington Jabhat an-Nusra [Anm.: nach Umorganisationen und Umbenennungen nun HTS] als Terrororganisation ein (Alaraby 8.5.2023). Auch die Vereinten Nationen führen die HTS als terroristische Vereinigung (AA 29.3.2023). Die Organisation versuchte, dieser Einstufung zu entgehen, indem sie 2016 ihre Loslösung von al-Qaida ankündigte und ihren Namen mehrmals änderte, aber ihre Bemühungen waren nicht erfolgreich und die US-Regierung führt sie weiterhin als "terroristische Vereinigung" (Alaraby 8.5.2023; vgl. CTC Sentinel 2.2023). HTS geht gegen den IS und al-Qaida vor (COAR 28.2.2022; vgl. CTC Sentinel 2.2023) und reguliert nun die Anwesenheit ausländischer Dschihadisten mittels Ausgabe von Identitätsausweisen für die Einwohner von Idlib, ohne welche z.B. das Passieren von HTS-Checkpoints verunmöglicht wird. Die HTS versucht so, dem Verdacht entgegenzutreten, dass sie das Verstecken von IS-Führern in ihren Gebieten unterstützt, und signalisiert so ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft bei der Terrorismusbekämpfung (COAR 28.2.2022). Im Mai 2023 startete die HTS in den Provinzen Idlib und Aleppo beispielsweise eine Verhaftungskampagne gegen Hizb ut-Tahrir (HuT) als Teil der langfristigen Strategie, andere islamistische Gruppen in den von ihr kontrollierten Gebieten zu unterwerfen und die Streichung der HTS von internationalen Terroristenlisten zu erwirken (ACLED 8.6.2023; vgl. Alaraby 8.5.2023). Das Vorgehen gegen radikalere, konkurrierende Gruppierungen und die Versuche der Führung, der HTS ein gemäßigteres Image zu verpassen, führten allerdings zu Spaltungstendenzen innerhalb der verschiedenen HTS-Fraktionen (AM 22.12.2021).“
1.2.4. Streitkräfte (aus: LIB Seiten 97 bis 99):
„Die syrischen Streitkräfte bestehen aus dem Heer, der Marine, der Luftwaffe, den Luftabwehrkräften und den National Defense Forces (NDF, regierungstreue Milizen und Hilfstruppen). Aktuelle Daten zur Anzahl der Soldaten in der syrischen Armee existieren nicht. Vor dem Konflikt soll die aktive Truppenstärke geschätzt 300.000 Personen umfasst haben (CIA 7.2.2023). Zu Jahresbeginn 2013 war etwa ein Viertel bis ein Drittel aller Soldaten, Reservisten und Wehrpflichtigen desertiert, bzw. zur Opposition übergelaufen (zwischen 60.000-100.000 Mann). Weitere rund 50.000 Soldaten fielen durch Verwundung, Invalidität, Haft oder Tod aus. Letztlich konnte das Regime 2014 nur mehr auf rd. 70.000 bis 100.000 loyale und mittlerweile auch kampferprobte Soldaten zurückgreifen (BMLV 12.10.2022). 2014 begann die syrische Armee mit Reorganisationsmaßnahmen (MEI 18.7.2019), und seit 2016 werden irreguläre Milizen in die regulären Streitkräfte integriert, in einem Ausmaß, das je nach Quelle unterschiedlich eingeschätzt wird (CMEC 12.12.2018; Üngör 15.12.2021; Voller 9.5.2022). Mit Stand Dezember 2022 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von regierungsfreundlichen, proiranischen Milizen unterstützt, deren Truppenstärke in die Zehntausende gehen dürfte (CIA 7.2.2023). Das Offizierskorps gilt in den Worten von Kheder Khaddour als kleptokratisch, die die Armee als Institution ausgehöhlt. Den Offizieren bleibt nichts übrig, als sich an den Regimenetzwerken zu beteiligen und mit Korruption ihre niedrigen Gehälter aufzubessern. Die Praxis der Bestechung der Offiziere durch Rekruten gegen ein Decken ihrer Abwesenheit vom Dienst durch Offiziere ist so verbreitet, dass sie im Sprachgebrauch als tafyeesh oder feesh (Bezeichnung für den Personalakt, der bei einem Offizier aufliegt) bezeichnet wird. Auch der Einsatz von Rekruten für private Arbeiten für die Offiziere und deren Familien kommt vor - ebenso wie die Annahme von Geschenken oder lokalen Lebensmittelspezialitäten (CMEC 14.3.2016). Die Höhe der Geldsummen für Tafyeesh [Anm.: im Artikel auf eingezogene Reservisten und Soldaten bezogen] variieren zwar nach Einheit und Offizier, aber aufgrund der Verschlechterung der Lebensbedingungen und der zunehmenden geheimdienstlichen Kontrolle über die Militäreinheiten stiegen die verlangten Preise für Tafyeesh seit Anfang 2023, was diejenigen, welche sich dies nicht mehr leisten konnte, dazu veranlasste, zu ihren Einheiten zurückzukehren. Der Hintergrund für die monetäre Abgeltung für das Decken der abwesenden Soldaten durch ihre Offiziere ist, dass die Militärs mindestens zweimal so viel Geld benötigen, als die Löhne im öffentlichen Dienst ausmachen, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien abzudecken. Das führt dazu, dass Männer im Reserve- oder Militärdienst (retention service) mit unbestimmter Dauer auf Tafyeesh zurückgreifen. Einem Präsidialdekret von Ende Dezember 2022 zufolge verdient z.B. ein Oberleutnant regulär umgerechnet 17 US-Dollar monatlich und ein Brigadegeneral 43,5 US-Dollar pro Monat, während SoldatInnen entsprechend weniger verdienen als die Offiziersränge (Enab 7.2.2023, zu weiteren Formen der Korruption durch Mitglieder des Sicherheitsapparats siehe auch Kapitel Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung). Aufgrund der Stationierung (Hauptquartier u.a.) von Divisionen in bestimmten Gebieten im Rahmen des Quta'a-Systems [arab. Sektor, Landstück] verfügen die Divisionskommandanten über viel Freiraum in ihrer Befehlsgewalt wie auch für persönliche Vorteile. Diese Strukturierung kann von Bashar als-Assad auch genutzt werden, den Einfluss einzelner Divisionskommandeure einzuschränken, indem er sie gegeneinander ausspielt, um so das System auch zur Prävention von Militärputschen zu nutzen (CMEC 14.3.2016).
Die syrische Armee war der zentrale Faktor für das Überleben des Regimes während des Bürgerkriegs. Im Laufe des Krieges hat ihre Kampffähigkeit jedoch deutlich abgenommen (CMEC 26.3.2020a) und mit Stand September 2022 war die syrische Armee in jeglicher Hinsicht grundsätzlich auf die Unterstützung Russlands, Irans bzw. sympathisierender, vornehmlich schiitischer Milizen angewiesen – d. h. ein eigenständiges Handeln, Durchführung von Militäroperationen usw. durch Syrien sind nicht oder nur in äußerst eingeschränktem Rahmen möglich (BMLV 12.10.2022).
Das syrische Regime und damit auch die militärische Führung unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und 'rein militärischen Zielen' (BMLV 12.10.2022). Nach Experteneinschätzung trägt jeder, der in der syrischen Armee oder Luftwaffe dient, per defintionem zu Kriegsverbrechen bei, denn das Regime hat in keiner Weise gezeigt, dass es das Kriegsrecht oder das humanitäre Recht achtet. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass eine Person in eine Einheit eingezogen wird, auch wenn sie das nicht will, und somit in einen Krieg, in dem die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kämpfern nicht wirklich ernst genommen wird (Üngör 15.12.2021). Soldaten können in Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen verwickelt sein, weil das Militär in Syrien auf persönlichen Vertrauensbeziehungen, manchmal auch auf familiären Netzwerken innerhalb des Militärs beruht. Diejenigen, die Verbrechen begehen, handeln innerhalb eines vertrauten Netzwerks von Soldaten, Offizieren, Personen mit Verträgen mit der Armee und Zivilisten, die mit ihnen als nationale Verteidigungskräfte oder lokale Gruppen zusammenarbeiten (Khaddour, Kheder 24.12.2021).“
1.2.5. Folter und unmenschliche Behandlung (aus: LIB Seiten 105 bis 107):
„Im März 2022 wurde ein neues Gesetz gegen Folter verabschiedet (HRW 12.1.2023). Das Gesetz Nr. 16 von 2022 sieht Strafen von drei Jahren Haft bis hin zur Todesstrafe vor (OSS 18.1.2023b). Die Todesstrafe gilt für Folter mit Todesfolge oder in Verbindung mit einer Vergewaltigung (HRW 12.1.2023). Eine lebenslange Strafe ist für Fälle vorgesehen, in welchen Kinder oder Menschen mit Beeinträchtigungen gefoltert wurden oder das Opfer einen permanenten Schaden davonträgt (OSS 18.1.2023b). Das Gesetz verbietet auch das Anordnen von Folter durch Behörden (HRW 12.1.2023). Es weist jedoch wichtige Lücken auf, und die Anwendung bleibt unklar. So werden keine Organisationen genannt, auf welche das Gesetz angewendet werden soll. Verschiedene Teile des Sicherheitsapparats einschließlich der Zollbehörden sowie die Streitkräfte sind de facto weiterhin von Strafverfolgung ausgenommen (OSS 18.1.2023), was durch Dekrete gedeckt ist (OSS 1.10.2017b, STJ 12.7.2022) – ebenso wie Gefängnisse (OSS 18.1.2023b). Dort wurden und werden Zehntausende gefoltert (OSS 18.1.2023b, FH 9.3.2023), und zahlreiche Menschen starben in der Haft oder man ließ sie ‚verschwinden‘ (FH 9.3.2023).
SNHR kritisiert unter anderem, dass das Gesetz keine Folterstraftaten, die vor seinem Erlass begangen wurden, umfasst, keinen Bezug auf grausame Haftbedingungen nimmt und andere Gesetze, welche Angehörigen der vier Geheimdienste Straffreiheit gewähren, weiterhin in Kraft bleiben (SNHR 26.6.2022). Weitere NGOs kritisieren außerdem, dass das Gesetz keine konkreten Schutzmaßnahmen für Zeugen oder Überlebende von Folter sowie keine Wiedergutmachungen vorsieht, und zwar weder für frühere Folteropfer noch für die Angehörigen im Falle des Todes. Auch beinhaltet das Gesetz keine Präventionsmaßnahmen, die ergriffen werden könnten, um Folter in Haftanstalten und Gefängnissen zukünftig zu verhindern (AI 31.3.2022).
Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt (‚incommunicado‘) fest (USDOS 20.3.2023).
Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden: Zehn nahe Damaskus, jeweils vier nahe Homs, Latakia und Idlib, drei nahe Dara‘a und zwei nahe Aleppo. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 29.3.2023). In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht, wo sie verschiedenen Formen von Folter unterworfen werden (SHRC 24.1.2019). Auch in den Krankenhäusern Harasta Military Hospital, Mezzeh Military Hospital 601 und Tishreen Military Hospital werden Gefangene gefoltert. Laut Berichten von NGOs gibt es zudem zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden (USDOS 20.3.2023).
Laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes unterliegen Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, einem besonders hohen Folterrisiko (AA 29.3.2023). Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichten von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung wahrgenommener Oppositioneller einsetzen, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und bereits vor 2011 dokumentiert wurde (USDOS 12.4.2022). Die willkürlichen Festnahmen, Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen durch syrische Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche Milizen betreffen auch Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen, RückkehrerInnen und Personen aus wiedereroberten Gebieten, die ‚Versöhnungsabkommen‘ unterzeichnet haben (HRW 12.1.2023). Auch sexueller Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern wird verübt (USDOS 20.3.2023), wobei die jüngsten Betroffenen erst elf Jahre alt waren (HRW 13.1.2022).
Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 29.3.2023; vgl. bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021). Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.4.2022).
Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen bei Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt (AA 29.3.2023). Dem Syrian Network for Human Rights (SNHR) zufolge beträgt die Gesamtzahl der durch Folter seitens der syrischen Regierung seit März 2011 verstorbenen Personen mit Stand Juni 2022 14.464 Menschen, darunter 174 Kinder und 75 Frauen (SNHR 26.6.2022). Neben gewaltsamen Todesursachen ist jedoch eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 29.3.2023).
Die meisten der im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In diesen Fällen wurden die sterblichen Überreste auch nicht den Angehörigen übergeben (SNHR 26.6.2022).
Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren. Ein im Dezember 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison veröffentlichter Bericht quantifiziert anhand von Interviews mit Familienangehörigen von 508 Verschwundenen das wirtschaftliche Ausmaß dieses Systems. Anhand von Hochrechnungen auf Basis der dokumentierten Fälle geht ADMSP von Zahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 100 Mio. USD in Vermisstenfällen aus, bei Einberechnung aller erkauften Freilassungen von über 700 Mio. USD (AA 29.3.2023).
Eine realistische Möglichkeit zur Einforderung einer strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte besteht nicht. Gegenwärtig können sich der einzelne Bürger und die einzelne Bürgerin in keiner Weise gegen die staatlichen Willkürakte zur Wehr setzen. Bis zur Vorführung vor einem Richter können nach Inhaftierung mehrere Monate vergehen, in dieser Zeit besteht in der Regel keinerlei Kontakt zu Familienangehörigen oder Anwälten. Bereits vor März 2011 gab es glaubhafte Hinweise, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt bzw. wiederholt selbst Opfer solcher Praktiken zu werden (AA 29.3.2023).
Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen, der Folter von Inhaftierten (darunter laut SNHR drei Todesfälle durch Folter im Jahr 2022), Verschwindenlassen und willkürlicher Verhaftungen beschuldigt. Opfer sind vor allem Personen, die der Regimetreue verdächtigt werden, Kollaborateure und Mitglieder von regimetreuen Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Die Berichte dazu betreffen u. a. HTS (Hay’at Tahrir ash-Sham), SNA (Syrian National Army) und SDF (Syrian Democratic Forces) (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Folteropfer der SDF starben im Zeitraum Januar 2014 bis Juni 2022 SNHR zufolge mindestens 83 Menschen durch Folter, darunter ein Kind und zwei Frauen (SNHR 26.6.2022).“
1.2.6. Haftbedingungen (aus: LIB Seiten 155 bis 157):
„Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Seit Ausbruch des Konflikts haben sich die Zustände aufgrund von Überfüllung und einer gestiegenen Gewaltbereitschaft der Sicherheitskräfte und Gefängnisbediensteten erheblich verschlechtert (AA 29.3.2023). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind überdies stark überfüllt. Es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind (USDOS 20.3.2023). Diese Lage geht mit grassierenden Krankheiten, einschließlich COVID-19 (AA 29.3.2023), und mit einer entsprechend hohen Sterberate einher (USDOS 20.3.2023). Die hygienischen Zustände sind laut Auswärtigem Amt ‚katastrophal‘. Dies gilt generell, jedoch in besonderem Maße für diejenigen Gefängnisse, in denen Oppositionelle und sonstige politische Gefangene untergebracht sind (AA 29.3.2023), und laut US-Außenministerium insbesondere in Hafteinrichtungen der Sicherheits- und Nachrichtendienste (USDOS 20.3.2023).
Besondere Bedürfnisse von Frauen werden kaum oder gar nicht berücksichtigt. Berichten zufolge müssen Frauen in Gefängnissen ohne jegliche Unterstützung entbinden und für ihre Kinder sorgen. Eine Versorgung mit Milch oder Hygieneartikeln erfolgt allenfalls durch Besucher, sofern sie in der entsprechenden Haftanstalt erlaubt sind (AA 29.3.2023).
Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt (‚incommunicado‘) fest (USDOS 20.3.2023).
Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen [Anm.: zu Hinrichtungen und Tod durch Folter – siehe Kapitel Todesstrafe und außergerichtlichen Tötungen sowie Folter und unmenschliche Behandlung] von Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt. Neben gewaltsamen Todesursachen ist eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auch auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 29.3.2023). Die meisten der auch im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In diesen Fällen wurden die sterblichen Überreste auch nicht den Angehörigen übergeben (SNHR 26.6.2022).
Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren. Ein im Dezember 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison veröffentlichter Bericht quantifiziert anhand von Interviews mit Familienangehörigen von 508 Verschwundenen das wirtschaftliche Ausmaß dieses Systems. Anhand von Hochrechnungen auf Basis der dokumentierten Fälle geht ADMSP von Zahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 100 Mio. USD in Vermisstenfällen aus, bei Einberechnung aller erkauften Freilassungen von über 700 Mio. USD (AA 29.3.2023).“
1.2.7. Bewegungsfreiheit (aus: LIB Seiten 195 bis 202):
Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens
„Die Verfassung sieht Bewegungsfreiheit vor, ‚außer eine gerichtliche Entscheidung oder die Umsetzung von Gesetzen‘ schränken diese ein. Das Regime, HTS (Hay’at Tahrir ash-Sham) und andere bewaffnete Gruppen sehen Restriktionen bei der Bewegungsfreiheit in ihren jeweiligen Gebieten vor und setzen dazu zur Überwachung Checkpoints ein (USDOS 20.3.2023). Regierungsangriffe auf die Provinz Idlib und Teile Südsyriens schränkten die Bewegungsfreiheit ein und führten zu Todesfällen, Hunger und schwerer Mangelernährung, während die Angst vor der Vergeltung der Regierung zur Massenflucht von ZivilistInnen und dem Zusammenbruch u. a. der humanitären Hilfe führte. Im Februar 2022 ergab eine UN-Umfrage, dass 51 % der geprüften Gemeinschaften von Bewegungseinschränkungen betroffen waren (USDOS 20.3.2023).
Checkpoints werden sowohl von Regimesicherheitskräften sowie lokalen und ausländischen Milizen unterhalten (USDOS 20.3.2023). In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig ungeregelte Kontrollen durchführen. Dabei kann es auch zu Forderungen nach Geldzahlungen oder willkürlichen Festnahmen kommen. Insbesondere Frauen sind in diesen Kontrollen einem erhöhten Risiko von Übergriffen ausgesetzt (AA 15.5.2023). Auch können Passierende gewaltsam für den Militärdienst eingezogen werden (NFMA 5.2022).
Überlandstraßen und Autobahnen sind zeitweise gesperrt. Reisen im Land ist durch Kampfhandlungen vielerorts weiterhin sehr gefährlich. Es gibt in Syrien eine Reihe von Militärsperrgebieten, die allerdings nicht immer eindeutig gekennzeichnet sind. Darunter fallen auch die zahlreichen Checkpoints der syrischen Armee und Sicherheitsdienste im Land. Für solche Bezirke gilt ein absolutes Verbot, sie zu betreten. Der Begriff der militärischen Einrichtung wird von den syrischen Sicherheitsdiensten umfassend ausgelegt und kann neben klar erkennbaren Kasernen, Polizeistationen und Militärcheckpoints auch schwerer zu identifizierende Infrastruktur wie z. B. Wohnhäuser hochrangiger Personen, Brücken, Rundfunkeinrichtungen oder andere staatliche Gebäude umfassen (AA 15.5.2023). Zudem wurden Kontrollpunkte eingerichtet, um diejenigen, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete leben, am Zugang zu ihren Grundstücken oder Eigentumsdokumenten zu hindern. Es gibt auch Berichte über die Beschlagnahmung von Eigentumsdokumenten und anderen Ausweispapieren an Kontrollpunkten, einschließlich Heiratsurkunden. Dies birgt für Frauen ein besonders hohes Risiko, den Zugang zu ihrem Eigentum zu verlieren, falls das Eigentum auf den Namen des Ehemannes eingetragen ist (AA 29.3.2023). Die Regimesicherheitskräfte erpressen Leute an den Checkpoints (USDOS 20.3.2023) für eine sichere Passage durch ihre Kontrollpunkte. So werden z. B. an den Checkpoints an der Straße von der jordanisch-syrischen Grenze nach Dara’a üblicherweise Bestechungsgelder eingehoben (HRW 20.10.2021).
Die Kontrollpunkte grenzen die Stadtteile voneinander ab. Sie befinden sich auch an den Zugängen zu Städten und größeren Autobahnen wie etwa Richtung Libanon, Flughafen Damaskus, und an der M5-Autobahn, welche von der jordanischen Grenze durch Dara’a, Damaskus, Homs, Hama und Aleppo bis zur Grenze mit der Türkei reicht. Zurückeroberte Gebiete weisen eine besonders hohe Dichte an Checkpoints auf (HRW 20.10.2021). Die Vierte Division, angeführt von Maher al-Assad, dem Bruder von Bashar al-Assad, übernahm die Kontrolle über alle Transportrouten Richtung Libanon und Jordanien sowie alle Hauptverkehrswege in West- und Süd-Syrien. Eine große Rekrutierungskampagne für die Besatzungen der Kontrollpunkte ist im Gang. Die Checkpoints sichern die Drogentransitrouten […].
Passierende müssen an den vielen Checkpoints des Regimes ihren Personalausweis und bei Herkunft aus einem wiedereroberten Gebiet auch ihre sogenannte ’Versöhnungskarte’ vorweisen. Die Telefone müssen zur Überprüfung der Telefonate übergeben werden. Es mag zwar eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen geben, aber die Nachrichtendienste führen auch ihre eigenen Suchlisten. Seit 2011 gibt es Computer an den Checkpoints und bei Aufscheinen (in der Liste) wird die betreffende Person verhaftet (HRW 20.10.2021). Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, u.a. wenn sie z. B. aus früher oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder auch wenn sie Verbindungen zu Personen in Oppositionsgebieten wie Nordsyrien oder zu bekannten oppositionellen Familien haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Kontrollpunkten führen (DIS/DRC 2.2019). Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem, wer ihn kontrolliert. Auch die Laune und die Präferenzen des Kommandanten können eine Rolle spielen (DIS 9.2019). Es gibt keine Rechtssicherheit, und die Gefahr, Opfer staatlicher Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar (AA 29.3.2023).
Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2018 befinden sich weit weniger Gebiete unter Belagerung, nachdem die Regierung und sie unterstützende ausländische Einheiten die meisten Gebiete im Süden und Zentrum des Landes wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben (SHRC 24.1.2019). Die Regimesicherheitskräfte halten in einigen Fällen ZivilistenInnen von der Flucht aus belagerten Städten ab (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Dara’a al-Balad im Jahr 2021 verletzte laut UN Commission of Inquiry for Syria die Belagerungstaktik der Pro-Regimekräfte die Bewegungsfreiheit und könnte auf eine Kollektivbestrafung hinauslaufen (USDOS 20.3.2023).
[…]
Betreten und Verlassen des Regimegebiets
Zum Betreten und Verlassen des Regimegebiets ist eine Sicherheitsfreigabe durch das Regime nötig, was ein Hindernis für Flüchtlinge und Binnenvertriebene darstellt, welche in ihre Heimatorte zurückkehren möchten. Personen, die vom Regime als kritisch wahrgenommen werden, erhalten diese Genehmigung oft nicht – ebenso ihre Verwandten, frühere Oppositionelle sowie ehemalige BewohnerInnen von als Hochburgen der Opposition wahrgenommen Gebieten (USDOS 20.3.2023).
Laut niederländischem Außenministerium ist es unmöglich, einen Überblick zu vermitteln, welche Übergänge zwischen den Oppositionsgebieten und dem Regimegebiet im Berichtszeitraum offen waren – und zu welchem Zeitpunkt und für welche Personen und Reisezwecke. Es wird aber auf die potenzielle Gefahr von Reisen für ZivilistInnen innerhalb Syriens allgemein und besonders bei Einreisen aus den Oppositionsgebieten in das Regimegebiet wegen der Notwendigkeit des Passierens von Checkpoints der syrischen Geheimdienste, des Militärs und anderer Pro-Regime-Milizen hingewiesen (NMFA 6.2021).
Es ist laut niederländischem Außenministerium nicht möglich, frei vom Regimegebiet in die Gebiete der sog. Errettungsregierung (Anm.: mit HTS als dominante Kraft) oder in das Gebiet der Syrischen Interimsregierung (Anm.: mit den pro-türkischen Einheiten der Syrian National Army) zu reisen und in umgekehrter Richtung. Das gilt für alle BürgerInnen ungeachtet ihres Geschlechts, Alters, ethnischer Zugehörigkeit und Religion, und hat nichts mit der Corona-Pandemie zu tun. Es ist auch nicht möglich, vom kurdischen Selbstverwaltungsgebiet ins Gebiet der Syrischen Interimsregierung zu gelangen. Reisen zwischen dem Gebiet der sog. Errettungsregierung und der Syrischen Interimsregierung sind möglich. Manche Reisen zwischen dem Regimegebiet und dem Selbstverwaltungsgebiet (der SDF) sind möglich, aber die genauen Konditionen sind unbekannt. BewohnerInnen von al-Hassakah und Qamishli sowie Personen, die dort geboren sind, gehören zu den Personengruppen, welche vom Regimegebiet aus in diese beiden Städte reisen können, weil die Behörden dort eine gewisse Präsenz haben. Auch Leute, die im Regimegebiet wohnen, aber aus Teilen von Raqqa und Deir az-Zour stammen, die nun unter Kontrolle der Selbstverwaltung stehen, können Berichten zufolge hin und her reisen, um ihre Besitztümer zu überprüfen oder Land zu kultivieren (NMFA 5.2022). […]“
Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen
„Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten geografischen Gebiet verweigern. Die Kosten für einen Reisepass von 800 bis 2.000 USD macht diesen für viele unerschwinglich. Das syrische Regime hat zudem Erfordernisse für Ausreisegenehmigungen eingeführt. Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition oder Personen, die als solche wahrgenommen werden oder mit diesen oder mit Oppositionsgebieten in Verbindung stehen. Deshalb zögern diese sowie ihre Familien, eine Ausreise zu versuchen, aus Angst vor Angriffen/Übergriffen und Festnahmen an den Flughäfen und Grenzübergängen. Auch JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen sowie Personen, die sich in der Zivilgesellschaft engagieren, sowie deren Familien und Personen mit Verbindungen zu ihnen werden oft mit einem Ausreiseverbot belegt. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer. Erhalten AktivistInnen oder JournalistInnen eine Ausreiseerlaubnis, so werden sie bei ihrer Rückkehr verhört (USDOS 20.3.2023). Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten, und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 29.3.2023).
Flüchtlingsbewegungen finden in die angrenzenden Nachbarländer statt. Die Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen, bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden, und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 16.5.2023). Das Regime schließt regelmäßig den Flughafen von Damaskus sowie Grenzübergänge und begründet dies mit Gewalt, bzw. drohender Gewalt (USDOS 20.3.2023) (Anm.: Bzgl. der Schließung von zivilen Flughäfen wegen israelischer Luftangriffe siehe auch Kapitel Sicherheitslage). Im Anschluss an israelische Luftschläge auf die Flughäfen Aleppo und Damaskus musste der Flugverkehr teilweise für mehrere Wochen eingestellt werden (AA 29.3.2023).
Die auf Grund von COVID-19 verhängten Sperren der Grenzübergänge vom regierungskontrollierten Teil in den Libanon, nach Jordanien (Nasib) und in den Irak (Al-Boukamal) für den Personenverkehr wurden zwischenzeitig aufgehoben. Neue Einschränkungen seitens des Libanon sind mehr der Vermeidung illegaler Migration aus Syrien in den Libanon als COVID-Maßnahmen geschuldet. Der libanesische Druck zur freiwilligen Rückkehr einer wachsenden Zahl syrischer Flüchtlinge steigt. Die Grenzen zwischen der Türkei und den syrischen kurdisch besetzten Gebieten sind geschlossen; zum Irak hin sind diese durchlässiger (ÖB Damaskus 12.2022) (Anm.: bzgl. Personenverkehr zwischen Türkei und Syrien seit 6.2.2023 siehe auch Kapitel Rückkehr).
Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden (STDOK 8.2017). Außerdem gibt es ein Gesetz, das Ehemännern erlaubt, ihren Ehefrauen per Antrag an das Innenministerium die Ausreise aus Syrien zu verbieten, auch wenn Frauen, die älter als 18 Jahre sind, eigentlich das Recht haben, ohne die Zustimmung männlicher Angehöriger zu verreisen (USDOS 20.3.2023).
Einige in Syrien aufhältige PalästinenserInnen brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen. Dies hängt jedoch von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab (STDOK 8.2017). […]“
Rückkehr
„Die Regierung erlaubt SyrerInnen, die im Ausland leben, ihre abgelaufenen Reisepässe an den Konsulaten zu erneuern. Viele SyrerInnen, die aus Syrien geflohen sind, zögern jedoch, die Konsulate zu betreten, aus Angst, dass dies zu Repressalien gegen Familienangehörige in Syrien führen könnte (USDOS 20.3.2023). […]
Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen ’black lists’ betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Je nach Sachlage kann es aber (z.B. aufgrund von Desertion oder Wehrdienstverweigerung oder früherer politischer Tätigkeit) durchaus zu Schwierigkeiten mit den syrischen Behörden kommen. Seit 1.8.2020 wurde – bedingt durch den Devisenmangel – bei Wiedereinreise ein Zwangsumtausch von 100 USD pro Person zu dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs eingeführt. Damit einher geht ein Kursverlust gegenüber Umtausch zum Marktkurs von mittlerweile bereits mehr als 50 % (ÖB Damaskus 12.2022).
Auch länger zurückliegende Gesetzesverletzungen im Heimatland (z. B. illegale Ausreise) können von den syrischen Behörden bei einer Rückkehr verfolgt werden. In diesem Zusammenhang kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Z.B. müssen deutsche männliche Staatsangehörige, die nach syrischer Rechtsauffassung auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie syrische Staatsangehörige mit Aufenthaltstitel in Deutschland auch bei nur besuchsweiser Einreise damit rechnen, zum Militärdienst eingezogen oder zur Zahlung eines Geldbetrages zur Freistellung vom Militärdienst gezwungen zu werden. Eine vorab eingeholte Reisegenehmigung der syrischen Botschaft stellt keinen verlässlichen Schutz vor Zwangsmaßnahmen seitens des syrischen Regimes dar. Auch aus Landesteilen, die aktuell nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen, sind Fälle zwangsweiser Rekrutierung bekannt (AA 16.5.2023). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt (AA 29.3.2023).
Es ist nicht Standard, dass SyrerInnen bei der legalen Ein- und Ausreise nach ihren Login-Daten für ihre Konten für soziale Medien gefragt werden, aber für Einzelfälle kann das nicht ausgeschlossen werden, z. B. wenn jemand - aus welchem Grund auch immer - auf dem Flughafen das Interesse der Behörden bei der Ausreise - erweckt (NMFA 5.2022) (Anm.: bzgl. Abfrage derartiger Daten bei Verhören siehe Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage).
Durch das Fehlen klarer Informationen über das Prozedere für eine Rückkehr, durch das Zurückhalten der Gründe für die Ablehnung einer Rückkehr, bzw. durch das Fehlen einer Einspruchsmöglichkeit enthält die syrische Regierung ihren BürgerInnen im Ausland das Recht auf Einreise in ihr eigenes Land vor (UNCOI 7.2.2023).“
1.2.8. Wehr- und Reservedienst – syrische Streitkräfte (aus: LIB Seiten 112ff):
„Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB Damaskus 12.2022). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 29.3.2023). In der Vergangenheit wurde es auch akzeptiert, sich, statt den Militärdienst in der syrischen Armee zu leisten, einer der bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppierung anzuschließen. Diese werden inzwischen teilweise in die Armee eingegliedert, jedoch ohne weitere organisatorische Integrationsmaßnahmen zu setzen oder die Kämpfer auszubilden (ÖB Damaskus 12.2022). Wehrpflichtige und Reservisten können im Zuge ihres Wehrdienstes bei der Syrischen Arabischen Armee (SAA) auch den Spezialeinheiten (Special Forces), der Republikanischen Garde oder der Vierten Division zugeteilt werden, wobei die Rekruten den Dienst in diesen Einheiten bei Zuteilung nicht verweigern können (DIS 4.2023). Um dem verpflichtenden Wehrdienst zu entgehen, melden sich manche Wehrpflichtige allerdings aufgrund der höheren Bezahlung auch freiwillig zur Vierten Division, die durch die von ihr kontrollierten Checkpoints Einnahmen generiert (EB 17.1.2023). Die 25. (Special Tasks) Division (bis 2019: Tiger Forces) rekrutiert sich dagegen ausschließlich aus Freiwilligen (DIS 4.2023).
Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB Damaskus 12.2022).
Die im März 2020, Mai 2021 und Jänner 2022 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetz, darunter Fahnenflucht. Die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB Damaskus 12.2022).
Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen (AA 29.3.2023). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.3.2023; vgl. ICWA 24.5.2022).
Männliche Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge, die zwischen 1948 und 1956 nach Syrien kamen und als solche bei der General Administration for Palestinian Arab Refugees (GAPAR) registriert sind (NMFA 5.2022), bzw. palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht (AA 13.11.2018; vgl. Action PAL 3.1.2023, ACCORD 21.9.2022). Ihren Wehrdienst leisten sie für gewöhnlich in einer Unterabteilung der syrischen Armee, die den Namen Palästinensische Befreiungsarmee trägt: Palestinian Liberation Army (PLA) (BAMF 2.2023, (AA 13.11.2018; vgl. ACCORD 21.9.2022). Es konnten keine Quellen gefunden werden, die angeben, dass Palästinenser vom Reservedienst ausgeschlossen seien (ACCORD 21.9.2022; vgl. BAMF 2.2023).
Frauen können als Berufssoldatinnen dem syrischen Militär beitreten. Dies kommt in der Praxis tatsächlich vor, doch stoßen die Familien oft auf kulturelle Hindernisse, wenn sie ihren weiblichen Verwandten erlauben, in einem so männlichen Umfeld zu arbeiten. Dem Vernehmen nach ist es in der Praxis häufiger, dass Frauen in niedrigeren Büropositionen arbeiten als in bewaffneten oder leitenden Funktionen. Eine Quelle erklärt dies damit, dass Syrien eine männlich geprägte Gesellschaft ist, in der Männer nicht gerne Befehle von Frauen befolgen (NMFA 5.2022).
Die syrische Regierung hat im Jahr 2016 begonnen, irreguläre Milizen im begrenzten Ausmaß in die regulären Streitkräfte zu integrieren (CMEC 12.12.2018). Mit Stand Mai 2023 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 9.5.2023). Frauen sind auch regierungsfreundlichen Milizen beigetreten. In den Reihen der National Defence Forces (NDF) dienen ca. 1.000 bis 1.500 Frauen, eine vergleichsweise geringe Anzahl. Die Frauen sind an bestimmten Kontrollpunkten der Regierung präsent, insbesondere in konservativen Gebieten, um Durchsuchungen von Frauen durchzuführen (FIS 14.12.2018).
Die Umsetzung
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt.
Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).
Obwohl die offizielle Wehrdienstzeit etwa zwei Jahre beträgt, werden Wehrpflichtige in der Praxis auf unbestimmte Zeit eingezogen (NMFA 5.2022; vgl. AA 29.3.2022), wobei zuletzt von einer ‚Verkürzung‘ des Wehrdienstes auf 7,5 Jahre berichtet wurde. Die tatsächliche Dauer richtet sich laut UNHCR Syrien jedoch nach Rang und Funktion der Betreffenden (ÖB Damaskus 12.2022).
Personen, die aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse von großem Wert für die Armee und nur schwer zu ersetzen sind, können daher über Jahre hinweg im Militärdienst gehalten werden. Personen, deren Beruf oder Fachwissen in der Gesellschaft sehr gefragt ist, wie z.B. Ärzte, dürfen eher nach Ablauf der offiziellen Militärdienstzeit ausscheiden (NMFA 5.2022).
Seit März 2020 hat es in Syrien keine größeren militärischen Offensiven an den offiziellen Frontlinien mehr gegeben. Scharmützel, Granatenbeschuss und Luftangriffe gingen weiter, aber die Frontlinien waren im Grunde genommen eingefroren. Nach dem Ausbruch von COVID-19 und der Einstellung größerer Militäroperationen in Syrien Anfang 2020 verlangsamten sich Berichten zufolge die militärischen Rekrutierungsmaßnahmen der SAA. Die SAA berief jedoch regelmäßig neue Wehrpflichtige und Reservisten ein. Im Oktober 2021 wurde ein Rundschreiben herausgegeben, in dem die Einberufung von männlichen Syrern im wehrpflichtigen Alter angekündigt wurde. Auch in den wiedereroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Militärdienst ableisten (EUAA 9.2022). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (AA 29.3.2023).
Rekrutierungspraxis
Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert (AA 29.3.2023; vgl. NMFA 5.2022), wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt (NMFA 5.2022; vgl. NLM 29.11.2022). Im September 2022 wurde beispielsweise von der Errichtung eines mobilen Checkpoints im Gouvernement Dara’a berichtet, an dem mehrere Wehrpflichtige festgenommen wurden (SO 12.9.2022). In Homs führte die Militärpolizei gemäß einem Bericht aus dem Jahr 2020 stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 6.3.2020). Im Jänner 2023 wurde berichtet, dass Kontrollpunkte in Homs eine wichtige Einnahmequelle der Vierten Division seien (EB 17.1.2023).
Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Lokale Medien berichteten, dass die Sicherheitskräfte der Regierung während der Fußballweltmeisterschaft der Herren 2022 mehrere Cafés, Restaurants und öffentliche Plätze in Damaskus stürmten, wo sich Menschen versammelt hatten, um die Spiele zu sehen, und Dutzende junger Männer zur Zwangsrekrutierung festnahmen (USDOS 20.3.2023).
Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z. B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vgl. ICG 9.5.2022, EB 6.3.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Das Gesetz verbietet allerdings die Publikation jeglicher Informationen über die Streitkräfte (USDOS 20.3.2023).
Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft.
Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht (STDOK 8.2017). Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017; vgl. FIS 14.12.2018). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).
Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020). Anfang April 2023 wurde beispielsweise von verstärkten Patrouillen der Regierungsstreitkräfte im Osten Dara’as berichtet, um Personen aufzugreifen, die zum Militär- und Reservedienst verpflichtet sind (ETANA 4.4.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 4.12.2020).
Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB Damaskus 12.2022; vgl. EASO 4.2021). Da die Zusammensetzung der syrisch-arabischen Armee ein Spiegelbild der syrischen Bevölkerung ist, sind ihre Wehrpflichtigen mehrheitlich sunnitische Araber, die vom Regime laut einer Quelle als ‚Kanonenfutter‘ im Krieg eingesetzt wurden. Die sunnitisch-arabischen Soldaten waren (ebenso wie die alawitischen Soldaten und andere) gezwungen, den größeren Teil der revoltierenden sunnitisch-arabischen Bevölkerung zu unterdrücken. Der Krieg forderte unter den alawitischen Soldaten bezüglich der Anzahl der Todesopfer einen hohen Tribut, wobei die Eliteeinheiten der SAA, die Nachrichtendienste und die Shabiha-Milizen stark alawitisch dominiert waren (Al-Majalla 15.3.2023).
Im Rahmen sog. lokaler ‚Versöhnungsabkommen‘ in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben (AA 29.3.2023).
Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle
Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die SAA eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Absolvierung des ‚Wehrdiensts‘ gemäß der ‚Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien‘ [Autonomous Administration of North and East Syria (AANES)] befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien. Die syrische Regierung verfügt über mehrere kleine Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese die Bezeichnung ‚Sicherheitsquadrate‘ (Al-Morabat Al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befinden. Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw. ‚Sicherheitsquadraten‘ auseinander – auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten (DIS 6.2022). Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im ‚Sicherheitsquadrat‘ im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z.B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat] hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren (BMLV 12.10.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z.B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o.ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).
Das Gouvernement Idlib befindet sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann (Rechtsexperte 14.9.2022), mit Ausnahme einiger südwestlicher Sub-Distrikte (Nahias) des Gouvernements, die unter Regierungskontrolle stehen (ACLED 1.12.2022; vgl. Liveuamap 17.5.2023). Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen, um sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der ‚Gesuchten‘ zu setzen. Das erleichtert ihre Verhaftung zur Rekrutierung, wenn sie das Gouvernement Idlib in Richtung der Gebiete unter Kontrolle der syrischen Regierung verlassen (Rechtsexperte 14.9.2022).
Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich auf das Gouvernement Aleppo konzentriert. Sie wird von der Türkei unterstützt und besteht aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA). Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann keine Personen aus diesen Gebieten für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Auch mit Stand Februar 2023 hat die syrische Armee laut einem von ACCORD befragten Syrienexperten keine Zugriffsmöglichkeit auf wehrdienstpflichtige Personen in Jarabulus (ACCORD 20.3.2023).
Reservedienst
Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden. Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z. B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung) (STDOK 8.2017). Reservisten können laut Gesetz bis zum Alter von 42 Jahren mehrfach zum Militärdienst eingezogen werden. Die syrischen Behörden ziehen weiterhin Reservisten ein (NMFA 5.2022). Die Behörden berufen vornehmlich Männer bis 27 ein, während ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise nach oben angehoben, sodass auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen wurden bzw. Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen können (ÖB Damaskus 12.2022). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab als von allgemeinen Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen Über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020). Das niederländische Außenministerium berichtet unter Berufung auf vertrauliche Quellen, dass Männer über 42 Jahre, die ihren Wehrdienst abgeleistet hatten, Gefahr laufen, verhaftet zu werden, um sie zum Reservedienst zu bewegen. Männer, auch solche über 42 Jahren, werden vor allem in Gebieten, die zuvor eine Zeit lang nicht unter der Kontrolle der Behörden standen, als Reservisten eingezogen. Dies soll eine Form der Vergeltung oder Bestrafung sein. Personen, die als Reservisten gesucht werden, versuchen, sich dem Militärdienst durch Bestechung zu entziehen oder falsche Bescheinigungen zu erhalten, gemäß derer sie bei inoffiziellen Streitkräften, wie etwa regierungsfreundlichen Milizen, dienen (NMFA 5.2022).
Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung
Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Mit der COVID-19-Pandemie und der Beendigung umfangreicher Militäroperationen im Nordwesten Syriens im Jahr 2020 haben sich die groß angelegten militärischen Rekrutierungskampagnen der syrischen Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten jedoch verlangsamt (COAR 28.1.2021), und im Jahr 2021 hat die syrische Regierung damit begonnen, Soldaten mit entsprechender Dienstzeit abrüsten zu lassen.
Nichtsdestotrotz wird die syrische Armee auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, nicht nur zur Aufrechterhaltung des laufenden Dienstbetriebs, sondern auch, um eingeschränkt militärisch operativ sein zu können. Ein neuerliches ‚Hochfahren‘ dieses Systems scheint derzeit [Anm.: Stand 16.9.2022] nicht wahrscheinlich, kann aber vom Regime bei Notwendigkeit jederzeit wieder umgesetzt werden (BMLV 12.10.2022).
In Syrien besteht seit 2011 de facto eine unbefristete Wehrpflicht (AA 29.3.2023), nachdem die syrische Regierung die Abrüstung von Rekruten einstellte. Als die Regierung große Teile des Gebiets von bewaffneten Oppositionellen zurückerobert hatte, wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren (DIS 5.2020). Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte, und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Zuletzt erließ der syrische Präsident einen ab Oktober 2022 geltenden Verwaltungserlass mit Blick auf die unteren Ebenen der Militärhierarchie, der die Beibehaltung und Einberufung von bestimmten Offizieren und Reserveoffiziersanwärtern, die für den obligatorischen Militärdienst gemeldet sind, beendete.
Bestimmte Offiziere und Offiziersanwärter, die in der Wehrpflicht stehen, sind zu demobilisieren, und bestimmte Unteroffiziere und Reservisten dürfen nicht mehr weiterbeschäftigt oder erneut einberufen werden (TIMEP 17.10.2022; vgl. SANA 27.8.2022). Ziel dieser Beschlüsse ist es, Hochschulabsolventen wie Ärzte und Ingenieure dazu zu bewegen, im Land zu bleiben (TIMEP 17.10.2022). Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020, vgl. NMFA 5.2022).
Einsatz von Rekruten im Kampf
Grundsätzlich vermeidet es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, jedoch können diese aufgrund der asymmetrischen Art der Kriegsführung mit seinen Hinterhalten und Anschlägen, wie zuletzt beispielsweise in Dara’a, trotzdem in Kampfhandlungen verwickelt werden (BMLV 12.10.2022). Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.3.2023). Alle Eingezogenen können dagegen laut EUAA (European Union Agency for Asylum) unter Berufung auf einen Herkunftsländerbericht vom April 2021 potenziell an die Front abkommandiert werden. Ihr Einsatz hängt vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der Eingezogenen und ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab. Eingezogene Männer aus ‚versöhnten‘ Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EUAA 2.2023). [Anm.: In welcher Relation die Zahl der Reservisten zu den Wehrpflichtigen steht, geht aus dem Bericht nicht hervor.]“
1.2.9. Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts (aus: LIB Seiten 122ff):
„Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vgl. FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit vorübergehenden Erkrankungen können den Wehrdienst aufschieben, wobei die Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020). Diese Ausnahmen sind theoretisch immer noch als solche definiert, in der Praxis gibt es jedoch mittlerweile mehr Beschränkungen [als vor dem Konflikt] und es ist unklar, wie die entsprechenden Gesetze derzeit umgesetzt werden (FIS 14.12.2018). Das Risiko der Willkür ist immer gegeben (STDOK 8.2017; vgl. DRC/DIS 8.2017).
Einem von der European Union Asylum Agency (EUAA) befragten syrischen Akademiker zufolge werden Männer mit deutlich sichtbaren medizinischen Problemen, die nicht wehrdiensttauglich sind, weiterhin freigestellt. Die medizinischen Ausschüsse, welche die Personen untersuchen, sind jedoch eher streng in ihren Urteilen. In einigen Fällen wurden Männer mit einem bestimmten Gesundheitszustand dennoch in die Armee einberufen, um militärische Tätigkeiten außerhalb des Feldes auszuüben (EUAA 9.2022). Einer vom niederländischen Außenministerium befragten Quelle zufolge werden medizinische Befreiungen häufig ignoriert und die Betroffenen müssen dennoch ihren Wehrdienst ableisten (NMFA 5.2022). Die tatsächliche Handhabung der Tauglichkeitskriterien ist schwer eruierbar, da sie von den Entscheidungen der medizinischen Ausschüsse abhängen (DIS 5.2020).
Seit einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im Juli 2019 ist die Aufschiebung des Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich und kann durch Befehl des Oberbefehlshabers beendet werden (ÖB Damaskus 12.2022). Es gibt Beispiele, wo Männer sich durch die Bezahlung von Bestechungsgeldern vom Wehrdienst freigekauft haben, was jedoch keineswegs als einheitliche Praxis betrachtet werden kann. So war es vor dem Konflikt gängige Praxis, sich vom Wehrdienst freizukaufen, was einen aber nicht davor schützt – manchmal sogar Jahre danach – trotzdem eingezogen zu werden (STDOK 8.2017). Auch berichtet eine Quelle, dass Grenzbeamte von Rückkehrern trotz entrichteter [offizieller] Befreiungsgebühr Bestechungsgelder verlangen könnten, oder dass Personen mit gesundheitlichen Problemen, die eigentlich vom Wehrdienst befreit sein sollten, mitunter Bestechungsgelder bezahlen müssen, um eine Befreiung zu erwirken (DIS 5.2020).
Polizeidienst als Befreiung vom Wehrdienst
Gemäß Abschnitt 12 des Wehrpflichtgesetzes war eine Person vom Wehrdienst befreit, wenn sie mindestens zehn Jahre in den Diensten der inneren Sicherheit stand, einschließlich der Polizei. Diese Frist wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 1 von 2012 auf fünf Jahre verkürzt. Hat eine Person nicht die vollen fünf Jahre gedient, muss sie dennoch ihren Militärdienst ableisten. Wer bei der Polizei akzeptiert wird, unterschreibt jedoch einen Zehnjahresvertrag. Es ist auch möglich, dass ein Rekrut der Polizei beitritt und dort seinen Militärdienst ableistet, da die internen Sicherheitsdienste gemäß Artikel 10 des Wehrpflichtgesetzes zu den syrischen Streitkräften gezählt werden. Wenn eine Person der Polizei beitritt, wird das Rekrutierungsbüro, dem sie untersteht, angewiesen, sie nicht zum Militärdienst einzuberufen (NMFA 5.2022).
Rechtlich gesehen ist es möglich, aus dem Polizeidienst auszutreten. Die Kündigung muss samt einer Erklärung über die Gründe eingereicht werden. Alle Rücktrittsgesuche werden auf der Grundlage einer Sicherheitsanalyse geprüft. In der Praxis werden die meisten Anträge aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Polizeibeamte können während der ersten zehn Jahre ihres Vertrags de facto nicht kündigen. Eine Laufbahn innerhalb des erweiterten Sicherheitsapparats ist grundsätzlich auf Lebenszeit angelegt und es ist nicht üblich, eine solche Position vorzeitig zu verlassen. Bei einer Laufbahn in einer Sicherheitsbehörde ist es laut einer Quelle praktisch unmöglich, die Erlaubnis zur Kündigung zu erhalten. Das unerlaubte Verlassen eines Polizeidienstpostens wird als eine Form der Desertion angesehen, die mit Strafe bedroht werden kann. Es gibt unterschiedliche Angaben darüber, welches Gesetz in diesem Fall gilt (NMFA 5.2022). Zollbeamte gelten im Rahmen ihrer Zuständigkeit als allgemeine Sicherheitskräfte und Kriminalbeamte (ACCORD 17.1.2022).
[…]
Befreiungsgebühr für Syrer mit Wohnsitz im Ausland
Das syrische Militärdienstgesetz erlaubt es syrischen Männern und registrierten Palästinensern aus Syrien im Militärdienstalter (18-42 Jahre) und mit Wohnsitz im Ausland, eine Gebühr (‚badal an-naqdi‘) zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit und nicht wieder einberufen zu werden.
Bis 2020 konnten Männer, die sich mindestens vier aufeinanderfolgende Jahre außerhalb Syriens aufgehalten haben, einen Betrag von 8.000 US-Dollar zahlen, um vom Militärdienst befreit zu werden (DIS 5.2020), wobei noch weitere Konsulargebühren anfallen (EB 2.9.2019; vgl. SB Berlin o.D.). Im November 2020 wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 31 (Rechtsexperte 14.9.2022) die Dauer des erforderlichen Auslandsaufenthalts auf ein Jahr reduziert und die Gebühr erhöht (NMFA 6.2021). Das Wehrersatzgeld ist nach der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 gestaffelt nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts und beträgt 10.000 USD (ein Jahr), 9.000 USD (zwei Jahre), 8.000 USD (drei Jahre) bzw. 7.000 USD (vier Jahre). Bei einem Aufenthalt ab fünf Jahren kommen pro Jahr weitere 200 USD Strafgebühr hinzu. Laut der Einschätzung verschiedener Organisationen dient die Möglichkeit der Zahlung des Wehrersatzgeldes für Auslandssyrer maßgeblich der Generierung ausländischer Devisen (AA 29.3.2023).
Für außerhalb Syriens geborene Syrer im wehrpflichtigen Alter, welche bis zum Erreichen des wehrpflichtigen Alters dauerhaft und ununterbrochen im Ausland lebten, gilt eine Befreiungsgebühr von 3.000 USD. Wehrpflichtige, die im Ausland geboren wurden und dort mindestens zehn Jahre vor dem Einberufungsalter gelebt haben, müssen einen Betrag von 6.500 USD entrichten (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein Besuch von bis zu drei Monaten in Syrien wird dabei nicht als Unterbrechung des Aufenthalts einer Person in dem fremden Land gewertet. Für jedes Jahr, in welchem ein Wehrpflichtiger weder eine Befreiungsgebühr bezahlt, noch den Wehrdienst aufschiebt oder sich zu diesem meldet, fallen zusätzliche Gebühren an (DIS 5.2020; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022). Auch Männer, die Syrien illegal verlassen haben, können Quellen zufolge durch die Zahlung der Gebühr vom Militärdienst befreit werden (NMFA 5.2022; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022). Diese müssen ihren rechtlichen Status allerdings zuvor durch einen individuellen ‚Versöhnungsprozess‘ bereinigen (NMFA 5.2022).
Informationen über den Prozess der Kompensationszahlung können auf den Webseiten der syrischen Botschaften in Ländern wie Deutschland, Ägypten, Libanon und der Russischen Föderation aufgerufen werden. Bevor die Zahlung durchgeführt wird, kontaktiert die Botschaft das syrische Verteidigungsministerium, um eine Genehmigung zu erhalten. Dabei wird ermittelt, ob die antragstellende Person sich vom Wehrdienst freikaufen kann (NMFA 5.2020). Die syrische Botschaft in Berlin gibt beispielsweise an, dass u. a. ein Reisepass oder Personalausweis sowie eine Bestätigung der Ein- und Ausreise vorgelegt werden muss (SB Berlin o.D.), welche von der syrischen Einwanderungs- und Passbehörde ausgestellt wird (‚bayan harakat‘). So vorhanden, sollten die Antragsteller auch das Wehrbuch oder eine Kopie davon vorlegen (Rechtsexperte 14.9.2022).
Offiziell ist dieser Prozess relativ einfach, jedoch dauert er in Wirklichkeit sehr lange, und es müssen viele zusätzliche Kosten aufgewendet werden, unter anderem Bestechungsgelder für die Bürokratie. Beispielsweise müssen junge Männer, die mit der Opposition in Verbindung standen, aber aus wohlhabenden Familien kommen, wahrscheinlich mehr bezahlen, um vorab ihre Akte zu bereinigen (Balanche 13.12.2021).
Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdienstes
Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in Syrischen Pfund leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2.000 USD oder das Äquivalent in Syrischen Pfund nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird wie ein ganzes Jahr gerechnet (SANA 8.11.2017; vgl. PAR 15.11.2017). Diese mit dem Gesetz Nr. 35 vom 15.11.2017 beschlossene Änderung ermöglicht es der Direktion für militärische Rekrutierung, Vermögen wie Immobilien und bewegliche Güter von syrischen Männern zu beschlagnahmen, die ihren Verpflichtungen zur Ableistung des Militärdienstes nicht nachgekommen sind. Gesetz Nr. 39 vom 24.12.2019 zur Änderung von Artikel 97 des Wehrdienstgesetzes Nr. 30 aus dem Jahr 2007 veränderte die Art der vorgesehenen Beschlagnahmung. Es ermöglicht die Beschlagnahme von Eigentum von Männern, die das 42. Lebensjahr vollendet haben und weder den Militärdienst abgeleistet noch die Kompensationszahlung von 8.000 USD ordnungsgemäß beglichen haben, oder von deren Ehefrauen oder Kindern, ohne dass die betroffenen Personen davon in Kenntnis gesetzt werden. Derzeit kann das Vermögen dieser Person vorsorglich beschlagnahmt werden, was bedeutet, dass es weder verkauft noch an eine andere Partei übertragen werden kann. Das Vermögen kann ohne weitere Ankündigung vom Staat versteigert werden, anstatt es bis zu einer Lösung der Frage einzufrieren. Der Staat kann den geschuldeten Betrag aus der Versteigerung einbehalten und den Restbetrag (falls vorhanden) an die Person zurückzahlen, deren Eigentum versteigert wurde. Erreicht das Vermögen des Mannes nicht den Wert der Kompensationszahlung, kann das gleiche Versteigerungsverfahren auf das Vermögen seiner Frau oder seiner Kinder angewandt werden, bis der Wert der Gebühr erreicht ist (Rechtsexperte 14.9.2022).
Unter anderem wurde auch berichtet, dass Palästinensern, die keinen Wehrdienst abgeleistet haben, der Zugang zum Camp Yarmouk verweigert wurde, um sich dort ihren Besitz zurückzuholen (Action PAL 3.1.2023).
Geistliche und Angehörige von religiösen Minderheiten
Christliche und muslimische religiöse Führer sind weiterhin aus Gewissensgründen vom Militärdienst befreit, wobei muslimische Geistliche dafür eine Abgabe bezahlen müssen (USDOS 15.5.2023). Es gibt Berichte, dass in einigen ländlichen Gebieten Mitgliedern von religiösen Minderheiten die Möglichkeit geboten wurde, sich lokalen regierungsnahen Milizen anzuschließen, anstatt ihren Wehrdienst abzuleisten. In den Städten gab es diese Möglichkeit im Allgemeinen jedoch nicht, und Mitglieder von Minderheiten wurden unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund zum Militärdienst eingezogen (FIS 14.12.2018).
Anders als in vielen Gebieten unter Regierungskontrolle konnten sich Männer im Gouvernement Suweida der gesetzlich festgelegten allgemeinen Wehrpflicht in den syrischen nationalen Streitkräften weitgehend entziehen (Syria Untold 9.1.2020; vgl. COAR 30.9.2020), viele Gemeindevorsteher und hochrangige drusische Religionsführer haben sich geweigert, die Einberufung in die Armee zu genehmigen (AW 5.12.2022). Stattdessen hat die drusische Gemeinschaft gut organisierte Nachbarschaftsschutzgruppen und Einheiten der Nationalen Verteidigungskräfte (NDF) unterhalten. Die syrische Regierung hält jedoch offiziell weiterhin an der verfassungsmäßig verankerten ‚heiligen Pflicht‘ des allgemeinen Wehrdienstes - auch für die in Suweida heimische drusische Gemeinschaft – fest (COAR 30.9.2020). Das Regime behandelt diese Menschen als Wehrdienstverweigerer und zwingt sie von Zeit zu Zeit, an so genannten ‚Sicherheitsregelungen‘ teilzunehmen. Die letzte dieser Maßnahmen fand am 5.10.2022 statt. Sie beinhaltete einerseits einen administrativen Aufschub für einen Zeitraum von sechs Monaten vor dem Eintritt in die im Süden Syriens stationierten Armeeeinheiten und andererseits die Einstellung der Verfolgung von Personen, die von den Sicherheitsapparaten gesucht werden. Allerdings nehmen viele Drusen diese Sicherheitsregelungen nicht ernst, da sie sich nicht als Rechtsbrecher betrachten. Im Oktober 2022 nahmen nur 2.500 junge Männer von 30.000 Wehrdienstverweigerern und Überläufern in Suweida an der Sicherheitsregelung teil. Für diejenigen, die einen Vergleich abschließen, besteht das Hauptmotiv darin, eine ‚Schlichtungskarte‘ zu erwerben, die ihnen Freizügigkeit gewährt und es ihnen ermöglicht, Transaktionen bei staatlichen Einrichtungen, wie z. B. die Beantragung von Reisedokumenten, ohne Angst vor Verhaftung und Inhaftierung durchzuführen (MED Blog 12.12.2022). Die Grauzone bezüglich der Umsetzung der Wehrpflicht hat zur Folge, dass die derzeit rund 30.000 zum Wehrdienst gesuchten Personen Suweida nicht verlassen bzw. nicht in von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiete reisen können (Alaraby 11.2.2022).“
1.2.10. Wehrdienstverweigerung / Desertion (aus: LIB Seiten 131ff):
„Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten Zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und vergleichsweise wenige wurden nach diesem Zeitpunkt deswegen verhaftet (Landinfo 3.1.2018).
In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 29.3.2023).
Der verpflichtende Militärdienst führt weiterhin zu einer Abwanderung junger syrischer Männer, die vielleicht nie mehr in ihr Land zurückkehren werden (ICWA 24.5.2022). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.3.2023).
Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern
In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis. Ob die Entrichtung einer ‚Befreiungsgebühr‘ wirklich dazu führt, dass man nicht eingezogen wird, hängt vom Profil der Person ab. Dabei sind junge, sunnitische Männer im wehrfähigen Alter am stärksten im Verdacht der Behörden, aber sogar aus Regimesicht untadelige Personen wurden oft verhaftet (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Der Syrien-Experte Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt ‚ihr Land zu verteidigen‘. Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit ‚gerettet‘ haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021).
Gesetzliche Lage
Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Art. 98-99 ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 29.3.2023; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022).
Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung. Das Militärstrafgesetzbuch unterscheidet zwischen ‚interner Desertion‘ (farar dakhelee) und ‚externer Desertion‘ (farar kharejee). Interne Desertion in Friedenszeiten wird begangen, wenn sich der Soldat sechs Tage lang unerlaubt von seiner militärischen Einheit entfernt. Ein Soldat, der noch keine drei Monate im Dienst ist, gilt jedoch erst nach einem vollen Monat unerlaubter Abwesenheit als Deserteur. Interne Desertion liegt außerdem vor, wenn der reisende Soldat trotz Ablauf seines Urlaubs nicht innerhalb von 15 Tagen nach dem für seine Ankunft oder Rückkehr festgelegten Datum zu seiner militärischen Einheit zurückgekehrt ist (Artikel 100/1/b des Militärstrafgesetzbuchs). Interne Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und wenn es sich bei dem Deserteur um einen Offizier oder einen Berufsunteroffizier handelt, kann er zusätzlich zu der vorgenannten Strafe mit Entlassung bestraft werden (Artikel 100/2). In Kriegszeiten können die oben genannten Fristen auf ein Drittel verkürzt und die Strafe verdoppelt werden (Artikel 100/4). Eine externe Desertion in Friedenszeiten liegt vor, wenn der Soldat ohne Erlaubnis die syrischen Grenzen überschreitet und seine Militäreinheit verlässt, um sich ins Ausland zu begeben. Der betreffende Soldat wird in Friedenszeiten nach Ablauf von drei Tagen seit seiner illegalen Abwesenheit und in Kriegszeiten nach einem Tag als Deserteur betrachtet (Artikel 101/1) (Rechtsexperte 14.9.2022). Externe Desertion wird mit einer
Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft (Artikel 101/2) (Rechtsexperte 14.9.2022; vgl. AA 29.3.2023). Die Haftstrafen können sich bei Vorliegen bestimmter Umstände noch erhöhen (z. B. Desertion während des Dienstes, Mitnahme von Ausrüstung) (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Todesstrafe ist gemäß Art. 102 bei Überlaufen zum Feind und gemäß Art. 105 bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (AA 29.3.2023). Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vgl. DIS 5.2020).
Syrische Männer im wehrpflichtigen Alter können sich nach syrischem Recht durch Zahlung eines sogenannten Wehrersatzgeldes von der Wehrpflicht freikaufen. Diese Regelung findet jedoch nur auf Syrer Anwendung, die außerhalb Syriens leben (AA 29.3.2023). Das syrische Wehrpflichtgesetz (Art. 97) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 29.3.2023; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022).
[…]
Handhabung
Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt (Landinfo 3.1.2018), und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen (Rechtsexperte 14.9.2022). Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vgl. Landinfo 3.1.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder ‚verschwinden gelassen‘ werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018).
Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für das Sich-Entziehen vom Wehrdienst ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als ‚Kanonenfutter‘), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter). Selbst für privilegierte Personen mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen – es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021).
Es gibt jedoch Fälle von militärischer Desertion, die dem Militärgericht übergeben werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Eine Quelle berichtet, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt (DIS 5.2020). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von ‚high profile‘-Deserteuren der Fall sein, also z.B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020).
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen berichtete im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen durch die Regierungskräfte, darunter auch von Personen, die sich zuvor mit der Regierung ‚ausgesöhnt‘ hatten. Andere wurden vor der am 21.12.2022 angekündigten Amnestie für Verbrechen der ‚internen und externen Desertion vom Militärdienst‘ aufgrund von Tatbeständen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht inhaftiert (UNHRC 7.2.2023).
‚Versöhnungsabkommen‘ und Rückkehr von Wehrpflichtigen
Im Rahmen sog. lokaler ‚Versöhnungsabkommen‘ in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus dem Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Ein Monitoring durch die Vereinten Nationen oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als Flüchtlinge identifiziert werden. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.3.2023). Einzelne Personen in Aleppo berichteten, dass sie durch die Teilnahme am ‚Versöhnungsprozess‘ einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden. Selbst für diejenigen, die nicht im Verdacht stehen, sich an oppositionellen Aktivitäten zu beteiligen, ist das Risiko der Einberufung eine große Abschreckung, um zurückzukehren (ICG 9.5.2022). Zudem sind in den ‚versöhnten Gebieten‘ Männer im entsprechenden Alter auch mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert (FIS 14.12.2018).
In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten viele Deserteure und Überläufer, denen durch die ‚Versöhnungsabkommen‘ Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020). Human Rights Watch (HRW) berichtete 2021 vom Fall eines Deserteurs, der nach seiner Rückkehr zuerst inhaftiert und nach Abschluss eines ‚Versöhnungsabkommens‘ zur Armee eingezogen wurde, wo er nach Angaben einer Angehörigen aufgrund seiner vorherigen Desertion gefoltert und misshandelt wurde (HRW 20.10.2021).
Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen ist unklar, wie systematisch und weit verbreitet staatliche Übergriffe auf Rückkehrer sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt dazu bei, dass es hierbei kein klares Muster gibt (DIS 5.2022). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Glaubwürdige Berichte über Einzelschicksale legen nahe, dass auch eine zuvor ausgesprochene Garantie des Regimes, auf Vollzug der Wehrpflicht bzw. Strafverfolgung aufgrund von Wehrentzug, etwa im Rahmen sogenannter ‚Versöhnungsabkommen‘ zu verzichten, keinen effektiven Schutz vor Zwangsrekrutierung bietet (AA 29.3.2023).
Einem Experten sind hingegen keine Berichte von Wehrdienstverweigerern bekannt, die aus dem Ausland in Gebiete unter Regierungskontrolle zurückgekehrt sind. Ihm zufolge kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, was in so einem Fall passieren würde. Laut dem Experten wäre es aber ‚wahnsinnig‘, als Wehrdienstverweigerer aus Europa ohne Sicherheitsbestätigung und politische Kontakte zurückzukommen. Wenn keine ‚Befreiungsgebühr‘ bezahlt wurde, müssen zurückgekehrte Wehrdienstverweigerer ihren Wehrdienst ableisten. Wer die Befreiungsgebühr entrichtet hat und offiziell vom Wehrdienst befreit ist, wird nicht eingezogen (Balanche 13.12.2021).“
1.2.11. Rückkehr (aus LIB Seiten 253ff):
„Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht durch verschiedene Akteure, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen könnten, und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen gegeben (UNCOI 7.2.2023). Eine UNHCR-Umfrage im Jahr 2022 unter syrischen Flüchtlingen in Ägypten, Libanon, Jordanien und Irak ergab, dass nur 1,7 Prozent der Befragten eine Rückkehr in den nächsten 12 Monaten vorhatten. Gleichzeitig steigt durch die diplomatische Normalisierung zwischen Syrien und der Arabischen Liga in manchen Staaten der Druck auf die Flüchtlinge, trotz der für sie unsicheren Lage nach Syrien zurückzukehren (CNN 10.5.2023).
Seit 2011 waren 12,3 Millionen Menschen in Syrien gezwungen, zu flüchten - 6,7 Millionen sind aktuell laut OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) Binnenvertriebene (HRW 12.1.2022) RückkehrerInnen nach Syrien müssen laut Human Rights Watch mit einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen rechnen, von willkürlicher Verhaftung, Folter, Verschwindenlassen (HRW 12.1.2023, vgl. Al Jazeera 17.5.2023) bis hin zu Schikanen durch die syrischen Behörden (HRW 12.1.2023). Immer wieder sind Rückkehrende, insbesondere – aber nicht nur – solche, die als oppositionell oder regimekritisch bekannt sind oder auch nur als solche erachtet werden, erneuter Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben ausgesetzt. Fehlende Rechtsstaatlichkeit und allgegenwärtige staatliche Willkür führen dazu, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert, oder eingeschüchtert wurden. Zuletzt dokumentierten Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) unabhängig voneinander in ihren jeweiligen Berichten von September bzw. Oktober 2021 Einzelfälle schwerwiegendster Menschenrechtsverletzungen von Regimekräften an Rückkehrenden, die sich an verschiedenen Orten in den Regimegebieten, einschließlich der Hauptstadt Damaskus, ereignet haben sollen. Diese Berichte umfassen Fälle von sexualisierter Gewalt, willkürlichen und ungesetzlichen Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen bis hin zu Verschwindenlassen und mutmaßlichen Tötungen von Inhaftierten. Die Dokumentation von Einzelfällen – insbesondere auch bei Rückkehrenden – zeigt nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes, dass es trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. Willkürliche Verhaftungen gehen primär von Polizei, Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen aus. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten, es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt (AA 29.11.2021).
Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien laut Auswärtigem Amt weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 29.3.2023).
Laut UNHCR sind von 2016 bis Ende 2020 170.000 Flüchtlinge (40.000 2020 gegenüber 95.000 im Jahr 2019) zurückgekehrt, der Gutteil davon aus dem Libanon und Jordanien (2019: 30.000), wobei die libanesischen Behörden weit höhere Zahlen nennen (bis 2019: 187.000 rückkehrende Flüchtlinge). COVID-bedingt kam die Rückkehr 2020 zum Erliegen. Die Rückkehr von Flüchtlingen wird durch den Libanon und die Türkei mit erheblichem politischem Druck verfolgt. Als ein Argument für ihre Militäroperationen führt die Türkei auch die Rückführung von Flüchtlingen in die von der Türkei kontrollierten Gebiete an. Die Rückkehrbewegungen aus Europa sind sehr niedrig. Eine von Russland Mitte November 2020 initiierte Konferenz zur Flüchtlingsrückkehr in Damaskus (Follow-up 2021 sowie 2022), an der weder westliche noch viele Länder der Region teilnahmen, vermochte an diesen Trends nichts zu ändern (ÖB Damaskus 12.2022).
Laut Vereinten Nationen (u. a. UNHCR) sind die Bedingungen für eine nachhaltige Flüchtlingsrückkehr in großem Umfang derzeit nicht gegeben (ÖB Damaskus 12.2022).
Hindernisse für die Rückkehr
Rückkehrende sind auch Human Rights Watch zufolge mit wirtschaftlicher Not konfrontiert wie der fehlenden Möglichkeit, sich Grundnahrungsmittel leisten zu können. Die meisten finden ihre Heime ganz oder teilweise zerstört vor, und können sich die Renovierung nicht leisten. Die syrische Regierung leistet keine Hilfe bei der Wiederinstandsetzung von Unterkünften (HRW 12.1.2023). In der von der Türkei kontrollierten Region um Afrin nordöstlich von Aleppo Stadt wurde überdies berichtet, dass Rückkehrer ihre Häuser geplündert oder von oppositionellen Kämpfern besetzt vorgefunden haben. Auch im Zuge der türkischen Militäroperation 'Friedensquelle' im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB Damaskus 12.2022). Neben den fehlenden sozioökonomischen Perspektiven und Basisdienstleistungen ist es oft auch die mangelnde individuelle Rechtssicherheit, die einer Rückkehr entgegensteht. Nach wie vor gibt es Berichte über willkürliche Verhaftungen und das Verschwinden von Personen. Am stärksten betroffen sind davon Aktivisten, oppositionelle Milizionäre, Deserteure, Rückkehrer und andere, die unter dem Verdacht stehen, die Opposition zu unterstützen. Um Informationen zu gewinnen, wurden auch Familienangehörige oder Freunde von Oppositionellen bzw. von Personen verhaftet. Deutlich wird die mangelnde Rechtssicherheit auch laut ÖB Damaskus an Eigentumsfragen. Das Eigentum von Personen, die wegen gewisser Delikte verurteilt wurden, kann vom Staat im Rahmen des zur Terrorismusbekämpfung erlassenen Gesetzes Nr. 19 konfisziert werden. Darunter fällt auch das Eigentum der Familien der Verurteilten in einigen Fällen sogar ihrer Freunde. Das im April 2018 erlassene Gesetz Nr. 10 ermöglicht es Gemeinde- und Provinzbehörden, Zonen für die Entwicklung von Liegenschaften auszuweisen und dafür auch Enteignungen vorzunehmen. Der erforderliche Nachweis der Eigentumsrechte für Entschädigungszahlungen trifft besonders Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Konkrete Pläne für die Einrichtung von Entwicklungszonen deuten auf Gebiete hin, die ehemals von der Opposition gehalten wurden. Von den großflächigen Eigentumstransfers dürften regierungsnahe Kreise profitieren. Auf Druck von Russland, der Nachbarländer sowie der Vereinten Nationen wurden einige Abänderungen vorgenommen, wie die Verlängerung des Fristenlaufs von 30 Tagen auf ein Jahr (ÖB Damaskus 12.2022). Flüchtlinge und Binnenvertriebene sind besonders von Enteignungen betroffen (BS 23.2.2022). Zudem kommt es zum Diebstahl durch Betrug von Immobilien, deren Besitzer - z.B. Flüchtlinge - abwesend sind (The Guardian 24.4.2023). Viele von ihren Besitzern verlassene Häuser wurden mittlerweile von jemandem besetzt. Sofern es sich dabei nicht um Familienmitglieder handelt, ist die Bereitschaft der Besetzer, das Haus oder Grundstück zurückzugeben, oft nicht vorhanden. Diese können dann die Rückkehrenden beschuldigen, Teil der Opposition zu sein, den Geheimdienst auf sie hetzen, und so in Schwierigkeiten bringen (Balanche 13.12.2021). Der Mangel an Wohnraum und die Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren (AA 29.11.2021).
Laut einer Erhebung der Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD) ist für 58 Prozent aller befragten Flüchtlinge die Abschaffung der Zwangsrekrutierung die wichtigste Bedingung für die Rückkehr in ihre Heimat (AA 4.12.2020). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach der Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar zum Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021).
Die laut Experteneinschätzung katastrophale wirtschaftliche Lage ist ein großes Hindernis für die Rückkehr: Es gibt wenige Jobs, und die Bezahlung ist schlecht (Balanche 13.12.2021). Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB 1.10.2021).
Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft. Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren (Weltbank 2020). Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom IS gehalten wurden (z.B. Raqqa, Deir Ez-Zor). Laut aktueller Mitteilung von UNMAS vom November 2022 sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen also rund 50 Prozent der Bevölkerung dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Dabei sind Männer aufgrund unterschiedlicher sozialer Rollen dem Risiko stärker ausgesetzt als Frauen. Im Schnitt gab es seit Kriegsbeginn alle zehn Minuten ein Opfer des Kriegs oder mittelbarer Kriegsfolgen. Ein Drittel der Opfer von Explosionen sind gestorben, 85 Prozent der Opfer sind männlich, fast 50 Prozent mussten amputiert werden und mehr als 20 Prozent haben Gehör oder Sehvermögen verloren. Zwei Drittel der Opfer sind lebenslang eingeschränkt. 39 Prozent der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 Prozent auf landwirtschaftlichen Flächen, zehn Prozent auf Straßen oder am Straßenrand. Seit 2019 waren 26 Prozent der Opfer IDPs (ÖB Damaskus 12.2022) [Anm.: Infolge der Erdbeben im Februar 2023 erhöht sich die Gefahr, dass Explosivmaterialen wie Minen durch Erdbebenbewegungen, Wasser etc. verschoben werden].
Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer 'sehr begrenzten' und 'abnehmenden' Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück. Hierbei handelte es sich allerdings zu 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022). Insgesamt ging im Jahr 2022 laut UN-Einschätzung die Bereitschaft zu einer Rückkehr zurück, und zwar aufgrund von Sicherheitsbedenken der Flüchtlinge. Stattdessen steigt demnach die Zahl der SyrerInnen, welche versuchen, Europa zu erreichen, wie beispielsweise das Bootsunglück vom 22.9.2022 mit 99 Toten zeigte. In diesem Zusammenhang wird Vorwürfen über die willkürliche Verhaftung mehrer männlicher Überlebender durch die syrische Polizei und den Militärnachrichtendienst nachgegangen (UNCOI 7.2.2023).
Während die syrischen Behörden auf internationaler Ebene öffentlich eine Rückkehr befürworten, fehlen syrischen Flüchtlingen, im Ausland arbeitenden SyrerInnen und Binnenflüchtlingen, die ins Regierungsgebiet zurückkehren wollen, klare Informationen für die Bedingungen und Zuständigkeiten für eine Rückkehr sowie bezüglich einer Einspruchsmöglichkeit gegen eine Rückkehrverweigerung (UNCOI 7.2.2023) [Anm.: mehr dazu siehe in dem Unterkapitel Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort sowie im Unterkapitel Perspektiven des Staatsapparats bezüglich Emigration und Rückkehr].
Weitere Informationen zu Enteignungen und der Wohnraumsituation finden sich im Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.
Perspektiven des Staatsapparats bezüglich Emigration und Rückkehr
Die Bedeutung von Überweisungen von SyrerInnen im Ausland und die Rolle der syrischen Lohnpolitik für Angestellte des öffentlichen Diensts dabei
Neben dem wachsenden Auswanderungsdruck auf gebildete SyrerInnen durch die Bevorzugung der Militärs bezüglich Gehälter zielt die syrische Lohnpolitik im öffentlichen Sektor laut einer Studie von Omran for Strategic Studies darauf ab, junge Leute dazu zu bewegen, ins Ausland zu gehen, damit sie später Geld an ihre Familien schicken. So profitiert Syrien von den Devisenüberweisungen in die Gebiete unter Regimekontrolle sowie von den großen Summen, welche für die Befreiung vom Wehr- und Reservedienst zu zahlen sind (Omran 23.1.2023). Rücküberweisungen aus dem Ausland (remittances) sind angesichts der Wirtschaftskrise eine wichtige Einnahmequelle für viele Syrerinnen und Syrer. Seit Konfliktbeginn sind sie merklich angestiegen: 2010 betrugen sie laut der syrischen Zentralbank (CBS) 906 Mio. USD. 2019 waren es 3.01 Mrd. USD (elf Prozent des BIP). Seither hat die CBS keine Zahlen mehr veröffentlicht. Laut Medienberichten lagen die Rücküberweisungen 2022 bei über drei Mrd. US-Dollar (20 Prozent des gesamten BIP 2022; laut Weltbank etwa 15,5 Mrd. US-Dollar). Sie sind weiterhin eine signifikante Einnahmequelle für die Bevölkerung. Gleichzeitig verbreiteten Syrien und Russland bei einer Konferenz Mitte Oktober 2022 den Vorwurf, 'der Westen' würde eine Rückkehr von Geflüchteten verhindern (AA 29.3.2023). Das Regime wünscht sich laut Experten-Einschätzung RückkehrerInnen mit Geld - nicht einfache Leute (Khaddour 24.12.2021) oder ehemalige Flüchtlinge, zumal die Regierung, nicht die Kapazitäten und finanziellen Möglichkeiten hätte, für die ehemaligen Flüchtlinge zu sorgen (The Guardian 23.3.2023).
Laut Einschätzung des Think Tanks Omran for Strategic Studies werden rückkehrende Syrer mehrheitlich als Folge der obigen Lohnpolitik sich gezwungenermaßen einer militärischen Einrichtung oder einer Miliz anschließen müssen, denn diese Organisationen bieten als einzige eine berufliche Perspektive in den Regime-kontrollierten Gebieten (Omran 23.1.2023) [Anm.: zu weiteren Kriterien wie z.B. bereits vorhandenen Verbindungen zu Personen mit Einfluss im Staatsapparat sowie Loyalität der Assad-Herrschaft gegenüber siehe Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft sowie Kapitel Korruption und speziell zu illegalen Zweitjobs von Militärs zur Aufbesserung der Gehälter siehe Unterkapitel Streitkräfte im Kapitel Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen].
Wahrnehmung von RückkehrerInnnen ja nach Profil
Nach zuvor vorwiegend rückkehrkritischen öffentlichen Äußerungen hat die syrische Regierung seine Politik seit Ankündigung eines sogenannten „Rückkehrplans“ für Flüchtlinge durch Russland 2018 sukzessive angepasst und im Gegenzug für eine Flüchtlingsrückkehr Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und die Aufhebung westlicher Sanktionen gefordert (AA 20.3.2023). Die Rückkehr von ehemaligen Flüchtlingen ist trotzdem nicht erwünscht, auch wenn offiziell mittlerweile das Gegenteil gesagt wird (The Guardian 23.3.2023, vgl, Balanche 13.12.2021). Insgeheim werden jene, die das Land verlassen haben, als 'Verräter' angesehen (AA 29.3.2023; vgl. Balanche 13.12.2021), bzw. als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition und/oder bewaffneter Gruppen (AI 9.2021). Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (regime-)kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiärer Verbindung zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z.B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 29.3.2023).
Jeder, der geflohen ist und einen Flüchtlingsstatus hat, ist in den Augen des Regimes bereits verdächtig (Üngör 15.12.2021). Aus Sicht des syrischen Staates ist es daher besser, wenn diese SyrerInnen im Ausland bleiben, damit ihr Land und ihre Häuser umverteilt werden können, um Assads soziale Basis neu aufzubauen. Minderheiten wie Alawiten und Christen, reiche Geschäftsleute und Angehörige der Bourgeoisie sind hingegen für Präsident al-Assad willkommene Rückkehrer. Für arme Menschen, z.B. aus den Vorstädten von Damaskus oder Aleppo, hat der syrische Staat jedoch keine Verwendung (Balanche 13.12.2021), zumal keine Kapazitäten zur Unterstützung von (mittellosen) Rückkehrenden vorhanden sind (The Guardian 23.2.2023).
Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen [Anm.: für weitere Informationen zu Sicherheitsüberprüfungen siehe Unterkapitel Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort], Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021).
Anhand der von der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic, NGOs und anderen dokumentierten Einzelschicksalen der Vergangenheit ist die Bedrohung der persönlichen Sicherheit im Einzelfall das zentrale Hindernis für Rückkehrende. Dabei gilt nach Ansicht des deutschen Auswärtigen Amts, dass sich die Frage einer möglichen Gefährdung des Individuums weder auf etwaige Sicherheitsrisiken durch Kampfhandlungen und Terrorismus beschränken lässt, noch ganz grundsätzlich eine Eingrenzung auf einzelne Landesteile möglich ist. Entscheidend für die Sicherheit von Rückkehrenden bleibt vielmehr die Frage, wie der oder die Rückkehrende von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen wird. Rückkehr auf individueller Basis findet, z.B. aus der Türkei, insbesondere in Gebiete statt, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen. Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 29.3.2023).
Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr (ÖB Damaskus 1.10.2021), und die Aussagen zur Haltung der Regimekräfte gegenüber Rückkehrern heben unterschiedliche Aspekte zu deren Wahrnehmung und Behandlung hervor:
Der Syrien-Experte Uğur Üngör geht davon aus, dass jeder, der das Land verlassen hat, und nach Europa geflohen ist, vom Regime als verdächtig angesehen wird, weil es im Verständnis des Regimes keinen Grund gab, zu fliehen. Die Flucht nach Europa und das Beantragen von Asyl können negativ gesehen werden - im Sinne einer Zusammenarbeit mit den europäischen Regierungen oder sogar, dass man von diesen bezahlt wurde. Dies gilt jedoch nicht für Personen, die eine offiziell bestätigte regierungsfreundliche Einstellung haben. Weiters werden Personen, die in die Türkei geflohen sind, als Vertreter von Präsident Erdoğans Regierung gesehen. Wer im Ausland negative Äußerungen [Anm.: siehe hierzu das Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen und das Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage bzgl. der Gesetze zur Schädigung des Ansehens im Ausland sowie bzgl. positiver Äußerungen über Staaten, mit denen Syrien verfeindet ist] über das Regime gemacht hat (im Sinne von öffentlichem politischen Aktivismus, aber auch privat in sozialen Medien), kann bei der Rückkehr speziell vom politischen Geheimdienst überprüft werden. Wenn man Glück hat, sind die Anschuldigungen laut Üngör nicht sehr ernst, oder man kann ein Bestechungsgeld zahlen, um freizukommen, andernfalls kann man direkt vor Ort verhaftet werden. Hierbei spielen nicht nur eigene Aktivitäten eine Rolle, sondern auch Aktivitäten von Verwandten und die geografische Herkunft der rückkehrenden Person. Es gibt auch Berichte, dass Familienmitglieder von Journalisten, die in Europa für oppositionelle Medien schreiben, inhaftiert und tagelang festgehalten und wahrscheinlich gefoltert wurden (Üngör 15.12.2021) [Anm.: siehe hierzu auch Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage].
Laut dem Syrien-Experten Kheder Khaddour kommt es darauf an, wo im Ausland man sich aufgehalten hat: War man in den Golfstaaten, wird vielleicht davon ausgegangen, dass man geschäftlichen Tätigkeiten nachgegangen ist und nichts mit Politik zu tun hat. Wer in die Türkei gegangen ist, wird als Kollaborateur der Islamisten und Präsident Erdoğans gesehen. Wer in Europa war, wird beschuldigt, von Europa bezahlt worden zu sein, um gegen das Regime zu sein. Der Libanon ist vielleicht noch am neutralsten, quasi wie ein 'erweitertes Syrien', und durch die geografische Nähe stehen Flüchtlingen im Libanon-Korruptionsnetzwerke (zur Absicherung der Rückkehr) zur Verfügung, auf die man in Europa keinen Zugriff hat (Khaddour 24.12.2021).
Bashar al-Assad hat erklärt, dass er jene, die gegen sein Regime sind, als 'Krankheitserreger' sieht. Die Rückkehr ist aber nicht nur für Regimegegner, sondern auch für alle, über deren politischer Position sich das Regime nicht sicher ist, problematisch. Die Behandlung eines Rückkehrers durch die Behörden hängt laut dem syrischen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Mohamad Rasheed allein davon ab, ob die Person für oder gegen das Regime ist. Wer regierungstreu ist, kann auf legalem und gewöhnlichem Weg ein- und ausreisen. Die Unvorhersehbarkeit und Willkür sind große Hindernisse für die Rückkehr nach Syrien. Man kann jederzeit verhaftet und verhört werden und niemand weiß, ob man leben, getötet oder verschwinden gelassen wird. Der Staatsapparat ist durchzogen von Mafias, und im ganzen Land gibt es Milizen, die die Bevölkerung tyrannisieren (Rasheed 28.12.2021).
Laut dem Nahost-Experten Fabrice Balanche kann man, wenn man Teil der Opposition war oder sogar gekämpft hat, nicht nach Syrien zurückkehren, selbst wenn es laut offiziellem Narrativ des Präsidenten eine Amnestie gibt. Dasselbe gilt auch für (andere) politische Flüchtlinge. Zudem besteht immer die Gefahr, vom Geheimdienst verhaftet zu werden, zum Teil, um Geld zu erpressen. Man wird für ein paar Wochen inhaftiert, weil man vom Ausland zurückkommt und davon ausgegangen wird, dass man Geld hat. Die Familie muss dann ein Lösegeld von ein paar Tausend Dollar bezahlen, oder die Person bleibt weitere zwei Wochen im Gefängnis (Balanche 13.12.2021).
Das deutsche Auswärtige Amt zieht den Schluss, dass eine sichere Rückkehr Geflüchteter insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden kann (AA 29.3.2023). UNHCR ruft weiterhin die Staaten dazu auf, keine zwangsweise Rückkehr von syrischen Staatsbürgern sowie ehemals gewöhnlich dort wohnenden Personen - einschließlich früher in Syrien ansässiger Palästinenser - in irgendeinen Teil Syrien zu veranlassen, egal wer das betreffende Gebiet in Syrien beherrscht (UNHCR 6.2022).
Auch die lokale Bevölkerung hegt oft Argwohn gegen Personen, die das Land verlassen haben. Es besteht eine große Kluft zwischen Syrern, die geflohen sind, und jenen, die dort verblieben sind. Erstere werden mit Missbilligung als Leute gesehen, die 'davongelaufen' sind, während Letztere oft Familienmitglieder im Krieg verloren und unter den Sanktionen gelitten haben (Khaddour 24.12.2021; vgl. Üngör 15.12.2021). Es kann daher zu Denunziationen oder Erpressungen von Rückkehrern kommen, selbst wenn diese eigentlich 'sauber' [Anm.: aus Regimeperspektive] sind, mit dem Ziel, daraus materiellen Gewinn zu schlagen (Üngör 15.12.2021) [Anm.: siehe hierzu auch die Thematik des Immobiliendiebstahls durch Betrug, der sich oft gegen seit langem Abwesende richtet, z.B. im Überkapitel Rückkehr].
Ein weiteres soziales Problem sind persönliche Racheakte: Wenn bei Kämpfen zwischen zwei Gruppen jemand getötet wurde, kann es vorkommen, dass jemand, der mit dem Mörder verwandt ist, von der Familie des Ermordeten im Sinne der Vergeltung getötet wird. Dies hindert viele an der Rückkehr in ihren Heimatort (Balanche 13.12.2021).
Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort
Administrative Verfahren der syrischen Behörden für RückkehrerInnen
Die syrische Regierung bietet administrative Verfahren an, die Rückkehrwillige aus dem Ausland oder aus von der Opposition kontrollierten Gebieten vor der Rückkehr in durch die Regierung kontrollierte Gebiete durchlaufen müssen, um Probleme mit der Regierung zu vermeiden. Im Rahmen dieser Verfahren führen die syrischen Behörden auf die eine oder andere Weise eine Überprüfung der RückkehrerInnen durch. Während des als 'Sicherheitsüberprüfung' (arabisch muwafaka amniya) bezeichneten Verfahrens werden die Namen der AntragstellerInnen mit Fahndungslisten verglichen. Beim sogenannten 'Statusregelungsverfahren' (arabisch: taswiyat wade) beantragen die AntragstellerInnen, wie es in einigen Quellen heißt, die 'Versöhnung', sodass ihre Namen von den Fahndungslisten der syrischen Behörden gestrichen wird (DIS 5.2022). Es gibt jedoch keine einheitlichen, bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und verfügbare Rechtswege (AA 29.3.2023).
Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen, zur Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und zu gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) berichtet von Menschenrechtsverletzungen in ihrem Berichtszeitraum, darunter den Tod eines Rückkehrers in Haft, dem man lebensrettende medizinische Versorgung verweigert hatte. Er war Anfang 2022 bei seiner Rückkehr nach Syrien trotz eines erfolgten Beilegungs-, bzw. 'Versöhnungsprozesses', verhaftet worden (UNCOI 7.2.2023).
So gilt es zum Beispiel für die Rückkehr nach Homs, in die von der Regierung gehaltenen Teile von Idlib sowie ins Umland von Damaskus (Rif Dimashq) mehrere und sich überlappende Genehmigungsprozesse bei einer Reihe von Behörden zu durchlaufen. Oft beinhalten diese Prozedere eine geheimdienstliche Sicherheitsgenehmigung oder ein Beilegungsabkommen (Anm.: auch 'Versöhnungsabkommen') oder beides, je nachdem woher die Rückkehrenden kommen, wo sie hingehen, und was ihre Profile sind. Einige mussten etwa schon vor ihrer Rückkehr ihren Status bei Zentren zur 'Statusklärung' in Regierungsgebieten 'klären', indem Verwandte oder Freunde vor Ort dies für sie durchführten. Andere gingen direkt zu diesen Zentren, nachdem sie durch Schmuggelrouten in das Gebiet zurückkehrten oder nachdem sie an einem Grenzübergang um eine 'Statusklärung' angesucht hatten. Andere wiederum mussten eine Sicherheitsgenehmigung für einen Wohnsitz, bzw. Aufenthalt ('residence') bereits vor ihrer Rückkehr einholen. Andere versuchten an kollektiven Rückkehraktionen aus dem Libanon teilzunehmen (UNCOI 7.2.2023) [Anm.: siehe dazu Unterkapitel Hinweise über Rückkehrende aus den Nachbarstaaten und Europa].
Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu unvorhergesehenen Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass selbst eine von der jeweiligen Sicherheitsbehörde vorgenommene positive Sicherheitsüberprüfung jederzeit von dieser revidiert werden kann und damit keine Garantie für eine sichere Rückkehr leistet (AA 29.3.2023).
Sicherheitsüberprüfungen (besonders al-Muwafaqa al-Amniyeh, die Sicherheitsgenehmigung) vor der Rückkehr sowie inoffizielle Schutzzusagen
Es gibt widersprüchliche Informationen darüber, ob sich Personen, die nach Syrien zurückkehren wollen, einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen müssen oder nicht (AA 19.5.2020). Gemäß einem Rechtsexperten der ÖB Damaskus hat prinzipiell jeder syrische Staatsbürger das Recht, sich auf dem syrischen Staatsgebiet zu bewegen sowie es zu verlassen. Er darf gemäß Artikel 38 der syrischen Verfassung von 2012 nicht an der Rückkehr gehindert werden. Daraus folgt, dass von syrischen StaatsbürgerInnen vor ihrer Rückkehr keine Sicherheitsgenehmigung verlangt wird, oder sie um eine solche ansuchen müssen. Der Konflikt hat die Sicherheitsgenehmigung jedoch ins Zentrum gerückt. Viele syrische StaatsbürgerInnen haben die Rückkehr nach Syrien erwägt, fürchten allerdings, von den syrischen Behörden verhaftet zu werden. Da die syrische Regierung bestrebt war, zu zeigen, dass Syrien sicher ist, und für die Rückkehr von Flüchtlingen offen steht, damit diese am Wiederaufbau des Landes teilnehmen, hat die syrische Regierung zur Erleichterung der Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien zugestimmt, in manchen Fällen bekannt zu geben, ob jemand gemäß ihrer Aufzeichnungen in Syrien gesucht wird. Dies ist bei der freiwilligen Rückkehr von Gruppen von Syrern aus dem Libanon der Fall, erleichtert durch die Kooperation des General Security Office (GSO) [Anm.: libanesischer Nachrichtendienst] im Libanon mit den syrischen Behörden. Das heißt, bei der Teilnahme an einer GSO-unterstützten Rückkehr führt das GSO akkordiert mit den syrischen Behörden eine Sicherheitsüberprüfung durch und leitet die persönlichen Daten der RückkehrerInnen an die syrischen Behörden weiter. Letztere informieren das GSO dann darüber, welche Personen eine Sicherheitsfreigabe erhalten haben. Eine ähnliche Vorgehensweise wurde auch bei individuellen Rückkehrern aus Jordanien vermerkt: Rückkehrer müssen hierzu bei der syrischen Botschaft in Amman um eine Sicherheitsfreigabe ansuchen (AA 29.3.2023).
Laut einer in Syrien tätigen Menschenrechtsorganisation überprüfen die syrischen Behörden bei der Sicherheitsüberprüfung Informationen über den/die AntragstellerIn, Familienmitglieder und eventuell auch seine/ihre erweiterte Familie. Das syrische Außenministerium ermöglichte im Rahmen des letzten Amnestiegesetzes (Gesetzesdekret Nr. 7/2022 vom 30.4.2022), welches alle von syrischen StaatsbürgerInnen vor dem 30.4.2022 verübten 'terroristischen Verbrechen' ohne Todesopfer beinhaltet, dass syrische StaatsbürgerInnen im Ausland durch die diplomatischen Vertretungen überprüft werden, ob sie unter das Amnestiegesetz fallen. Die betroffenen Personen müssen bei der syrischen Botschaft ihres Wohnorts erscheinen, und einen gesonderten Antrag ausfüllen. Die syrische Botschaft leitet den Antrag dann an das Außenministerium weiter, das eine Liste mit den persönlichen Daten der AntragstellerInnen vorbereitet, und sie an das syrische Innenministerium weiterleitet. Letzteres gleicht die Namen auf der Liste mit einer zentralen Datenbank ab, um zu überprüfen, ob eine Person Verbindungen zu 'terroristischen' Gruppierungen hat (Rechtsexperte 27.9.2022). Das Auswärtige Amt weist jedoch darauf hin, dass jeder Geheimdienst auch eigene Fahndungslisten führt. Es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt (AA 29.3.2023) (Anm.: Zu der Amnestie siehe Unterkapitel Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst im Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen].
Nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amtes müssen sich syrische Flüchtlinge, unabhängig von ihrer politischen Orientierung, vor ihrer Rückkehr weiterhin einer Sicherheitsüberprüfung durch die syrischen Sicherheitsbehörden unterziehen (AA 19.5.2020). Laut Mohamad Rasheed braucht jeder, der nach Syrien zurückkehren will, eine Sicherheitsüberprüfung, selbst Eltern von Personen, die für das syrische Regime arbeiten (Rasheed 28.12.2021). Die Kriterien und Anforderungen für ein positives Ergebnis sind nicht bekannt (AA 19.5.2020). Auch nach Angaben der International Crisis Group stellt die Sicherheitsüberprüfung durch den zentralen Geheimdienst in Damaskus (oder die Verweigerung einer solchen) die endgültige Entscheidung darüber dar, ob ein Flüchtling sicher nach Hause zurückkehren kann, unabhängig davon, welchen administrativen Weg ein Flüchtling, der zurückkehren möchte, einschlägt (ICG 13.2.2020). Im Gegensatz dazu berichtete die dänische Einwanderungsbehörde auf der Grundlage von Befragungen, dass SyrerInnen, die sich außerhalb Syriens aufhalten und nicht von der syrischen Regierung gesucht werden, keine Sicherheitsgenehmigung für die Rückkehr nach Syrien benötigen. Syria Direct berichtete dem DIS hingegen, dass nur SyrerInnen im Libanon, die über eine 'organisierte Gruppenrückkehr' nach Syrien zurückkehren wollen, eine Sicherheitsüberprüfung für die Einreise nach Syrien benötigen (DIS 12.2020).
Laut Fabrice Balanche brauchen Personen, die kein politisches Asyl und keine Probleme mit dem Regime haben, auch keine Sicherheitsüberprüfung, sondern nur jene, die auf einer Liste gesuchter Personen stehen. Um diese Überprüfung durchzuführen, bezahlt man die zuständige Behörde (z. B. syrische Botschaft, Grenzbeamte an der Grenze zwischen Syrien und Libanon, syrische Behörden im Heimatort in Syrien), um zu überprüfen, ob der eigene Name auf einer Liste steht (Balanche 13.12.2021). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt demnach immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann (AA 29.3.2023), zum Teil, um von den Rückkehrenden Geld zu erpressen (UNCOI 7.2.2023; vgl. Balanche 13.12.2021).
Die Herkunftsregion spielt eine große Rolle für die Behörden bei der Behandlung von Rückkehrern, genauso wie die Frage, was die Person in den letzten Jahren gemacht hat. SyrerInnen aus Homs, Deir iz-Zor oder Ost-Syrien werden dabei eher verdächtigt als Personen aus traditionell regierungstreuen Gebieten (Khaddour 24.12.2021). Besonders Gebiete, die ehemals unter Kontrolle oppositioneller Kräfte standen (West-Ghouta, Homs, etc.), stehen seit der Rückeroberung durch das Regime unter massiver Überwachung und der syrische Staat kontrolliert genau, wer dorthin zurückkehren darf. Es kann also besonders schwierig sein, für eine Rückkehr in diese Gebiete eine Sicherheitsgenehmigung zu bekommen, und falls man diese erhält und zurückkehrt, wird man den Sicherheitsbehörden berichterstatten müssen (Üngör 15.12.2021) [Anm.: zum Informantenwesen siehe auch Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen].
Mehrere Experten gehen davon aus, dass es vor allem auf die informelle Sicherheitsgarantie ankommt. Der sicherste Schutz vor Inhaftierung ist es, ein gutes Netzwerk bzw. Kontakte zum Regime zu haben, die einem im Notfall helfen können. Man muss jemanden in der Politik oder vom Geheimdienst haben, den man um Schutz bittet (Balanche 13.12.2021; vgl. Khaddour 24.12.2021, Rechtsexperte 27.9.2022). Laut Kheder Khaddour wird der offizielle Weg zur Rückkehr kaum genutzt, nicht nur weil er sehr langwierig ist, sondern auch weil niemand Vertrauen in die Institutionen hat. Nur bekannte Oppositionspersonen müssen den offiziellen Weg gehen, dieser Prozess bringt aber keine Garantie mit sich. Daher muss zusätzlich auch immer eine informelle Sicherheitsgarantie über persönliche Kontakte erlangt werden, wenn jemand zurückkehren will. Wenn jemand auf einer schwarzen Liste aufscheint, muss er seinen Namen bereinigen lassen. Dies geschieht meist durch Bestechung (Khaddour 24.12.2021). Personen, die erfahren, dass sie von den Behörden gesucht werden, bezahlen große Summen an Vermittler und Mitglieder der Sicherheitskräfte, um bei der Rückkehr eine Verhaftung zu vermeiden (UNCOI 7.2.2023).
'Versöhnungsanträge', Statusregelungsverfahren
Das Regime hat einen Mechanismus zur Erleichterung der 'Versöhnung' und Rückkehr geschaffen, der als 'Regelung des Sicherheitsstatus' (taswiyat al-wadaa al-amni) bezeichnet wird. Das Verfahren beinhaltet eine formale Klärung mit jedem der vier großen Geheimdienste und eine Überprüfung, ob die betreffende Person alle vorgeschriebenen Militärdienstanforderungen erfüllt hat. Einzelne Personen in Aleppo berichteten jedoch, dass sie durch die Teilnahme am 'Versöhnungsprozess' einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden (ICG 9.5.2022). Personen, die von der syrischen Regierung gesucht werden und deshalb keine Erlaubnis zur Rückkehr erhalten, werden aufgefordert, ihren Status zu 'regularisieren', bevor sie zurückkehren können (Reuters 25.9.2018; vgl. SD 16.1.2019).
Nach Angaben eines syrischen Generals müssen Personen, die aus dem Ausland zurückkehren wollen, bei der zuständigen syrischen Vertretung einen Antrag auf 'Versöhnung' stellen und unter anderem angeben, wie und warum sie das Land verlassen haben, und Informationen über ihre Aktivitäten während ihres Auslandsaufenthalts vorlegen. Diese Informationen werden an das syrische Außenministerium weitergeleitet, wo eine Sicherheitsprüfung durchgeführt wird. SyrerInnen, die über die Landgrenzen einreisen, müssen nach Angaben des Generals einen 'Versöhnungsantrag' ausfüllen (DIS 6.2019). Um eine Verhaftung bei der Rückkehr zu vermeiden, versuchen SyrerInnen, Informationen über ihre Sicherheitsakte zu erhalten und diese, wenn möglich, zu löschen. Persönliche Kontakte und Bestechungsgelder sind die gebräuchlichsten Kanäle und Mittel zu diesem Zweck (ICG 13.2.2020; vgl. EASO 6.2021), doch aufgrund ihrer Informalität und des undurchsichtigen Charakters des syrischen Sicherheitssektors sind solche Informationen und Freigaben nicht immer zuverlässig, und nicht jeder kann sie erhalten (ICG 13.2.2020). Zwei Quellen berichteten EASO (Anm.: nun EUAA), dass, wenn ein/e RückkehrerIn durch informelle Netzwerke oder Beziehungen (arab. 'wasta') herausfindet, dass er oder sie nicht von den syrischen Behörden gesucht wird, es dennoch keine Garantie dafür gibt, dass er oder sie bei der Rückkehr nicht verhaftet wird (EASO 6.2021).
Im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen aus Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert - ebenso wie bei lokaler 'Versöhnungsabkommen' in den vom Regime zurückeroberten Gebieten. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen nicht eingehalten. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein. Ein Monitoring durch die Vereinten Nationen oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als Flüchtlinge identifiziert werden (AA 29.3.2023).
Rückkehrverweigerungen
Die Regierung verweigert gewissen BürgerInnen die Rückkehr nach Syrien, während andere SyrerInnen, die in die Nachbarländer flohen, die Vergeltung des Regimes im Fall ihrer Rückkehr fürchten (USDOS 12.4.2022). Der %satz der AntragstellerInnen, die nicht zur Rückkehr zugelassen werden, ist nach wie vor schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020): Ihr Anteil wird von verschiedenen Quellen aus den Jahren 2018 bis 2022 auf 5 % (SD 16.1.2019), 10 % (Reuters 25.9.2018), 20 % (Qantara 2.2.2022) oder bis zu 30 % (ABC 6.10.2018) geschätzt. Das Regime fördert nicht die sichere, freiwillige Rückkehr in Würde, eine Umsiedlung oder die lokale Integration von IDPs. In einigen Fällen ist es Binnenvertriebenen nicht gestattet, in ihre Heimatgebiete zurückzukehren (USDOS 12.4.2022). Einige BeobachterInnen und humanitäre HelferInnen geben an, dass die Bewilligungsquote für AntragstellerInnen aus Gebieten, die als regierungsfeindliche Hochburgen identifiziert wurden, fast bei null liegt (ICG 13.2.2020). Gründe für die Ablehnung können (vermeintliche) politische Aktivitäten gegen die Regierung, Verbindungen zur Opposition oder die Nichterfüllung der Wehrpflicht sein (Reuters 25.9.2018; vgl. ABC 6.10.2018, SD 16.1.2019).
Weitere im Fall einer Rückkehr benötigte behördliche Genehmigungen
Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr. Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB Damaskus 12.2022).
Es muss z. B. bei Abschluss eines Immobilienkaufvertrags, bevor die Immobilie übertragen werden kann, bei den Sicherheitsbehörden um eine Freigabe (Anm.: al-Muwafaqa al-Amniyeh - die Sicherheitsgenehmigung) angesucht werden. Bei Mietverträgen wurde diese Regelung jüngst vereinfacht, sodass die Daten erst nach Abschluss des Vertrags an die Gemeinde übermittelt werden mussten. Diese Information wird dann an die Sicherheitsbehörden weitergegeben, die im Nachhinein einen Einspruch erheben können. Diese Regelung wurde aber nach aktuellen Informationen nur in Damaskus umgesetzt, außerhalb muss die Genehmigung nach wie vor vorab eingeholt werden. Auch hinsichtlich Damaskus wurde berichtet, dass SyrerInnen aus anderen Gebieten nicht erlaubt wurde, sich in Damaskus niederzulassen. Die Niederlassung ist dementsprechend – für alle Gebiete unter Regierungskontrolle – von einer Zustimmung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 12.2022). Erschwerend kommt hinzu, dass eine von einer regierungsnahen Stelle innerhalb Syriens ausgestellte Sicherheitsgenehmigung in Gebieten, die von anderen regierungsnahen Stellen kontrolliert werden, als ungültig angesehen werden kann. Dies ist auf die Fragmentierung des Sicherheitsapparats der Regierung zurückzuführen, welche die Mobilität auf Gebiete beschränkt, die von bestimmten regierungsnahen Sicherheitsbehörden kontrolliert werden (EASO 6.2021).
Gefährdungslage
Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt gemäß deutschem Auswärtigem Amt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 29.3.2023)
Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (system-) kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiären Verbindungen zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 29.3.2023). Einer Umfrage des Middle East Institute im Februar 2022 zufolge berichteten 27 % der RückkehrerInnen, dass sie oder jemand Nahestehender aufgrund ihres Herkunftsorts, für das illegale Verlassen Syriens oder für das Stellen eines Asylantrags Repression ausgesetzt sind. Ein Rückkehrhindernis ist zudem laut Menschenrechtsberichten das Wehrdienstgesetz, das die Beschlagnahmung von Besitz von Männern ermöglicht, die den Wehrdienst vermieden haben, und nicht die Befreiungsgebühr bezahlt haben (USDOS 20.3.2023).
Syrische Flüchtlinge müssen bereit sein, der Regierung gegenüber vollständig Rechenschaft über ihre Beziehungen zur Opposition abzulegen, um nach Hause zurückkehren zu dürfen. Die RückkehrerInnen sind Schikanen oder Erpressungen durch die Sicherheitsbehörden sowie Inhaftierung und Folter ausgesetzt, um Informationen über die Aktivitäten der Flüchtlinge im Ausland zu erhalten (TWP 2.6.2019) [Anm.: siehe hierzu auch Unterkapitel Überwachungsmaßnahmen im Ausland und deren Folgen].
Gemäß der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic könnte das Unterlassen einer klaren Information über die Rückkehrverfahren und das Vorenthalten der Gründe für Rückkehrverweigerungen, bzw. einer Einspruchsmöglichkeit in solchen Fällen eine 'willkürliches Vorenthalten des Rechts auf Einreise von SyrerInnen im Ausland in ihr eigenes Land' durch die syrische Regierung darstellen. Dieses Vorgehen könnte auch als Verletzung des internationalen humanitären Gewohnheitsrechts gelten (UNCOI 7.2.2023).
Rückkehr an den Herkunftsort
Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele Faktoren die Möglichkeit dazu beeinflussen. Ethnisch-konfessionelle, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber den der Opposition nahestehenden Gemeinschaften. Wenn es darum geht, wer in seine Heimatstadt zurückkehren darf, können laut einem Experten ethnische und religiöse, aber auch praktische Motive eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018). Einem Syrien-Experten zufolge dient eine von einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat erteilte Sicherheitsgenehmigung lediglich dazu, dem Inhaber die Einreise nach Syrien zu ermöglichen. Sie garantiert dem Rückkehrer nicht, dass er seinen Herkunftsort in den von der Regierung kontrollierten Gebieten auch tatsächlich erreichen kann (EASO 6.2021). Auch über Damaskus wurde berichtet, dass SyrerInnen aus anderen Gebieten sich dort nicht niederlassen durften. Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020). SyrerInnen, die nach Syrien zurückkehren, können sich nicht einfach an einem beliebigen Ort unter staatlicher Kontrolle niederlassen (ÖB Damaskus 21.8.2019). Demnach ist die Ansiedlung - in allen Gebieten unter staatlicher Kontrolle - von der Genehmigung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB Damaskus 29.9.2020).Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie von der Region bestimmt, in die sie zurückkehren, sondern davon, wie die RückkehrerInnen von den Akteuren, die die jeweiligen Regionen kontrollieren, wahrgenommen werden (AA 4.12.2020). Die Rückkehr an den Herkunftsort innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete erfordert einen anderen Weg, der von lokalen Machthabern wie den Gemeindebehörden oder den die Regierung unterstützenden Milizen gesteuert wird. Die Verfahren, um eine Genehmigung für die Einreise in den Herkunftsort zu erhalten, variieren von Ort zu Ort und von Akteur zu Akteur. Da sich die lokale Machtdynamik im Laufe der Zeit verschiebt, sind auch die unterschiedlichen Verfahren Veränderungen unterworfen (EASO 6.2021).
Übereinstimmenden Berichten der Vereinten Nationen und von Menschenrechtsorganisationen (UNHCR, Human Rights Watch, Enab Baladi, The Syria Report) sowie Betroffenen zufolge finden Verstöße gegen Wohn-, Land- und Eigentumsrechte (Housing, Land and Property – HLP) seitens des Regimes fortgesetzt statt. Die Rechte der Zivilbevölkerung auf Zugang und Nutzung ihres Eigentums werden durch Konfiszierung, Enteignung, Zerstörung oder Zwangsverkauf, zum Teil mit gefälschten Dokumenten, verletzt. Seit 2011 wurden mehr als 50 neue Gesetze und Verordnungen zur Stadtplanung und -entwicklung erlassen, die die Regelung der Eigentumsrechte und der Besitzverhältnisse vor Konfliktbeginn infrage stellen. Die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen verweigern den Vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte (AA 29.11.2021). Das Gesetz Nr. 10 von 2018 wird weiterhin zur Belohnung von regimeloyalen Personen verwendet und schafft Hürden für die Rückkehr von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, die in ihre Heime zurückkehren möchten. Laut Berichten ersetzt die Regierung so ehemalige BewohnerInnen von vormaligen Oppositionsgebieten durch ihr gegenüber loyalere Personen. Dies betrifft disproportional sunnitische Flüchtlinge und IDPs. Laut Einschätzung von SNHR (Syria Network for Human Rights) steckt die Regierungsstrategie dahinter, durch einen demografischen und gesellschaftlichen Wandel des Staats, automatisch eine Hürde für die Rückkehr von IDPs und Flüchtlingen zu schaffen (USDOS 2.6.2022).
Andere RückkehrerInnen müssen Berichten zufolge Bestechungsgelder an die Lokalverwaltung zahlen, um Zugang zu ihren Heimen zu erhalten. Anderen wird der Zugang zu ihren Heimen verwehrt. Auch gibt es Fälle, wo Immobilien von Nachbarn übernommen wurden, und die Rückkehrwilligen bedrohen, wenn sie versuchen, ihren Besitz wieder zu beanspruchen. Eine regierungstreue Miliz erlangte z. B. durch öffentliche Versteigerungen an enteignetes Land, was einer bereits dokumentierten Praxis entspricht. Gegenmaßnahme für derartige Situationen fehlen oder sind ineffektiv (UNCOI 7.2.2023).
Einige ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind für alle, die in ihre ursprünglichen Häuser zurückkehren wollen, praktisch abgeriegelt. In anderen versucht das Regime, die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung einzuschränken, um eine Wiederherstellung des sozialen Umfelds, das den Aufstand unterstützt hat, zu vermeiden. Einige nominell vom Regime kontrollierte Gebiete wie Dara'a, die Stadt Deir ez-Zour und Teile von Aleppo und Homs konfrontieren für Rückkehrer mit schweren Zerstörungen, der Herrschaft regimetreuer Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des Islamischen Staats oder einer Kombination aus allen drei Faktoren (ICG 13.2.2020). So durften z. B. nach Angaben von Aktivisten bisher nur wenige Familien mit Verbindungen zu regierungsnahen Milizen und ältere Bewohner zurückkehren (MEI 6.5.2020). Vor zwei Jahren haben die syrischen Behörden begonnen, ehemaligen Bewohnern die Rückkehr nach Yarmouk zu erlauben, wenn diese den Besitz eines Hauses nachweisen können, und eine Sicherheitsfreigabe vorliegt. Bislang sollen allerdings nur wenige zurückgekommen sein. UNRWA dokumentierte bis Juni 2022 die Rückkehr von rund 4.000 Personen, weitere 8.000 haben im Laufe des Sommers eine Rückkehrerlaubnis bekommen (zur Einordnung: Vor 2011 lebten dort 160.000 PalästinenserInnen zusätzlich zu SyrerInnen) (TOI 17.11.2022). Viele kehren aus Angst vor Verhaftungen und Zwangsrekrutierungen oder aufgrund der nicht mehr vorhandenen Wohnung nicht zurück. Die Rückkehrer kämpfen laut UNRWA mit einem 'Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, begrenzten Transportmöglichkeiten und einer weitgehend zerstörten öffentlichen Infrastruktur' (TOI 17.11.2022).
Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren. Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft (Weltbank 2020). Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer 'sehr begrenzten' und 'abnehmenden' Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück und davon handelte es sich bei 94 % um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022), wenngleich von der UNO auch Fälle dokumentiert sind, dass Binnenvertriebene von aktuell oppositionell gehaltenen Gebieten aus nicht in ihre Heimatdörfer im Regierungsgebiet zurückkehren durften - trotz vorheriger Genehmigung (UNCOI 7.2.2023).
Laut Einschätzung der United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic könnte das Vorgehen der Regierung möglicherweise eine Verletzung von Unterkunfts-, Land- und Besitzrechten dar. Die Duldung der Inbesitznahme von Immobilien durch Dritte könnte eine Verletzung des Schutzes genannter Rechte darstellen. Sie haben auch mögliche Verletzungen des internationalen humanitären Gewohnheitsrechts zur Folge bezüglich der Besitzrechte von Vertriebenen (UNCOI 7.2.2023).
Ergänzende Informationen zur Behandlung bei und nach der Rückkehr
Am 10.5.2023 erklärten die Außenminister von Russland, Türkei, Iran und Syrien, dass erst die nötige Infrastruktur für eine sichere Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien geschaffen werden müsse (SNHR 6.2023). Es besteht nach wie vor kein freier und ungehinderter Zugang von UNHCR und anderer Menschenrechtsorganisationen zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen bei der Rückkehr ist es unklar, wie systematisch und weit verbreitet Übergriffe gegen Rückkehrer sind. Es gibt kein klares Gesamtmuster bei der Behandlung von Rückkehrern, auch wenn einige Tendenzen zu beobachten sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt zur Abwesenheit eines klaren Musters bei (DIS 5.2022). Die Behandlung von Menschen, die nach Syrien einreisen, hängt stark vom Einzelfall ab, und es gibt keine zuverlässigen Informationen über den Kenntnisstand der syrischen Behörden über einzelne Rückkehrer (ÖB Damaskus 29.9.2020).
Es ist schwierig, Informationen über die Situation von Rückkehrern in Syrien zu erhalten. Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude (Anm.: über die Rückkehr) der RückkehrerInnen (TN 10.12.2018), pro-oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von RückkehrerInnen (TN 10.12.2018; vgl. TWP 2.6.2019, FP 6.2.2019). Zudem wollen viele Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen durch die Regierung nach ihrer Rückkehr nach Syrien nicht mehr mit Journalisten (TN 10.12.2018) oder auch nur mit Angehörigen sprechen (SD 16.1.2019; vgl. TN 10.12.2018). Die syrische Regierung und ihr Sicherheitsapparat sind immer wieder gegen Personen vorgegangen, die sich abweichend oder oppositionell geäußert haben, unter anderem durch willkürliche Inhaftierung, Folter und Schikanen gegen Kritiker und ihre Angehörigen. Trotz Amnestien und gegenteiliger Erklärungen hat die syrische Regierung bisher keine Änderung ihres Verhaltens erkennen lassen. Selbst dort, wo Einzelpersonen von der Regierung Sicherheitsgarantien erhalten haben, kam es zu Übergriffen. Jeder, der aus dem Land geflohen ist oder sich gegen die Regierung geäußert hat, läuft Gefahr, als illoyal angesehen zu werden, was dazu führen kann, dass er verdächtigt, bestraft oder willkürlich inhaftiert wird (COAR/HRW/HBS/JUSOOR 19.4.2021). BürgerInnen in von der Regierung rückeroberten Gebieten wie auch Rückehrende gehören zu den verwundbarsten Bevölkerungsgruppen. RückkehrerInnen und Binnenvertriebene sind am ehesten von gesellschaftlichem Ausschluss und einem Mangel an Zugang zu öffentlichen Leistungen in der näheren Zukunft ausgesetzt (BS 23.3.2022). Enteignungen dienen der Schaffung von Hürden für rückkehrende Flüchtlinge und Binnenvertriebene und der Belohnung von regimeloyalen Personen mit einer daraus resultierenden demografischen Änderung in ehemaligen Hochburgen der Opposition (USDOS 15.5.2023).
Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten. Es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt. Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. In nur wenigen Fällen werden Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt (AA 29.3.2023). Alles in allem kann eine Person, die von der Regierung gesucht wird, aus einer Vielzahl von Gründen oder völlig willkürlich gesucht werden. So kann die Behandlung einer Person an einem Checkpoint von verschiedenen Faktoren abhängen, darunter der Willkür des Kontrollpersonals oder praktischen Problemen wie eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, müssen mit verschiedenen Konsequenzen seitens der Regierung rechnen, z. B. mit Verhaftung und im Zuge dessen auch mit Folter. Einigen Quellen zufolge gehört medizinisches Personal zu den Personen, die als oppositionell oder regierungsfeindlich gelten, insbesondere wenn es in einem von der Regierung belagerten Oppositionsgebiet gearbeitet hat. Dies gilt auch für Aktivisten und Journalisten, die die Regierung offen kritisiert oder Informationen oder Fotos von Ereignissen wie Angriffen der Regierung verbreitet haben, sowie generell für Personen, die die Regierung offen kritisieren. Einer Quelle zufolge kann es vorkommen, dass die Regierung eine Person wegen eines als geringfügig eingestuften Vergehens nicht sofort verhaftet, sondern erst nach einer gewissen Zeit. Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Kontrollpunkt beeinflussen kann, ist das Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. Wenn eine Person an einem Ort lebt oder aus einem Ort kommt, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, kann dies das Misstrauen des Kontrollpersonals wecken (FIS 14.12.2018). Die Definition des Regimes, wer ein Oppositioneller ist, ist nicht immer klar oder kann sich im Laufe der Zeit ändern. Es gibt keine Gewissheit darüber, wer vor Verhaftungen sicher ist. In Gesprächen mit der NGO International Crisis Group (ICG) berichteten viele Flüchtlinge, dass der Verzicht auf regimefeindliche Aktivitäten keine sichere Rückkehr garantiert (ICG 13.2.2020). So folgten z. B. Abschiebungen aus dem Libanon im April 2023 von mindestens 130 Menschen - darunter auch unbegleitete Minderjährige - Berichte, wonach es zu Verhaftungen [Anm.: die Zahlen variieren je nach Quelle - z.B. mindestens vier dokumentierte Verhaftungen] und zwangsweisem Einzug zum Wehrdienst [Anm.: keine Zahlenangaben, nur Beispiele] kam (Reuters 1.5.2023).
Generell ist es schwer, in Erfahrung zu bringen, was der Status einer Person bezüglich der syrischen Regierung ist. Für Menschen mit Geld und guten Beziehungen zu den Behörden oder einflussreichen Personen besteht die Möglichkeit, nachzuforschen, ob ihre Namen auf Suchlisten stehen. Allerdings kann die Suche nach diesen Informationen diese auch exponieren - bzw. die Personen, welche für sie nach Informationen suchen. Es gibt keine Garantie, dass sie dabei nicht mit Schwierigkeiten konfrontiert sein werden, darunter das Risiko einer Verhaftung (DIS 9.2019). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse. Laut dieser Berichte haben die Sicherheitsbehörden bzw. regimetreue Milizen der vertriebenen, oft als regimekritisch oder oppositionsnah angesehenen Bevölkerung, die Rückkehr an ihre Ursprungsorte verweigert. Mangel an Wohnraum und Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren. Zudem ist nach wie vor eine großflächige Enteignung in Form von Zerstörung und Abriss von Häusern und Wohnungen in ehemaligen Oppositionsgebieten unter Anwendung der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Nr. 19/2012 und Dekret 63/2012) zu verzeichnen. Sie erlaubt es, gezielt gegen Inhaftierte, Menschenrechtsaktivistinnen und –aktivisten sowie Personen, die sich an Protesten gegen das Regime beteiligen oder beteiligt haben, vorzugehen und deren Eigentum und Vermögen zu beschlagnahmen. (AA 29.3.2023).
Neben der allgemein instabilen Sicherheitslage bleibt die mangelnde persönliche Sicherheit in Verbindung mit der Angst vor staatlicher Repression das wichtigste Hindernis für die Rückkehr (AA 19.5.2020; vgl. SACD 21.7.2020, ICG 13.2.2020). Unverändert besteht nach Bewertung des deutschen Auswärtigen Amts in keinem Teil Syriens ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen und Rückkehrende. Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar. Auch erschienen Berichte über erneute Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben von Rückkehrenden. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert oder eingeschüchtert wurden (AA 29.3.2023).
Das Syrian Network for Human Rights dokumentierte beinahe 2.000 Verhaftungen von RückkehrerInnen nach Syrien von 2014 bis 2019. Ein Drittel von ihnen wurde 'verschwunden gelassen' (BS 23.3.2022). Hunderte syrische Flüchtlinge wurden Berichten von 2019 zufolge nach ihrer Rückkehr verhaftet und verhört, darunter Flüchtlinge, die aus dem Ausland nach Syrien zurückgekehrt sind, Binnenvertriebene aus von der Opposition kontrollierten Gebieten und Personen, die in von der Regierung zurückeroberten Gebieten ein 'Versöhnungsabkommen' mit der Regierung unterzeichnet hatten. Sie wurden gezwungen, Aussagen über Familienmitglieder zu machen, und in einigen Fällen wurden sie gefoltert (TWP 2.6.2019; vgl. EIP 7.2019). Amnesty International legte in seinem Bericht aus dem Jahr 2021 Informationen über 66 Personen vor, die bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland Opfer von Verstößen wurden. Unter ihnen wurden 59 Fälle von unrechtmäßiger oder willkürlicher Inhaftierung von Männern, Frauen und Kindern dokumentiert. Unter den Inhaftierten befanden sich zwei schwangere Frauen und zehn Kinder im Alter zwischen drei Wochen und 16 Jahren, von denen sieben vier Jahre alt oder jünger waren. Außerdem wurden 27 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen dokumentiert, darunter vier Kinder, die mindestens eine Woche und bis zu vier Jahre lang festgehalten wurden, wobei 17 Fälle noch andauerten. Die Sicherheitsbeamten verhafteten die Rückkehrer zumeist unter dem pauschalen Vorwurf des 'Terrorismus', weil sie häufig davon ausgingen, dass einer ihrer Verwandten der politischen oder bewaffneten Opposition angehörte, oder weil die Rückkehrer aus einem Gebiet kamen, das zuvor von der Opposition kontrolliert wurde. Darüber hinaus wurden 14 Fälle gemeldet, in denen Sicherheitsbeamte sexuelle Gewalt gegen Kinder, Frauen und männliche Rückkehrer ausübten, darunter Vergewaltigungen an fünf Frauen, einem 13-jährigen Buben und einem fünfjährigen Mädchen. Die sexuelle Gewalt fand an Grenzübergängen oder in Haftanstalten während der Befragung am Tag der Rückkehr oder kurz danach statt. Berichten zufolge setzten Geheimdienstmitarbeiter 33 RückkehrerInnen, darunter Männer, Frauen und fünf Kinder, während ihrer Inhaftierung und Verhöre in Geheimdiensteinrichtungen Praktiken aus, die Folter oder anderen Misshandlungen gleichkommen. Trotz der Behauptung, Damaskus und seine Vororte seien sicher, um dorthin zurückzukehren, fand ein Drittel der im Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2021 dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Damaskus selbst oder in der Umgebung von Damaskus statt, was laut Amnesty International darauf hindeutet, dass selbst dann, wenn die willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau liegt und/oder die Regierung ein bestimmtes Gebiet unter Kontrolle hat, die Risiken bestehen bleiben (AI 9.2021).
Eine gemeinsame Studie von Zivilgesellschaftsorganisationen im Frühjahr 2022 (Stand November 2022) zu Rückkehrenden aus Europa (Deutschland, Dänemark, Niederlande), der engeren Nachbarschaft (Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten) und anderen Regionen Syriens dokumentiert schwierigste Rückkehrbedingungen in allen Regionen Syriens, darunter in einigen Fällen physische Gewalt und Verhaftungen der Betroffenen oder von Angehörigen sowie weitgehende Bewegungsbeschränkungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Rückkehrbedingungen nach Syrien in keiner Hinsicht erfüllt seien. Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts insofern für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden. Auch UNHCR und Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 29.3.2023).“
1.2.12. UNHCR-Risikoprofile:
Übersicht (aus: UNHCR, Seiten 10 bis 12):
„Das vorliegende Dokument enthält maßgebliche und zuverlässige Informationen zum Herkunftsland und Hinweise für die Beurteilung des Schutzbedarfs in Bezug auf die nachstehenden Risikoprofile, die gegebenenfalls auch für Familienangehörige und sonstige Personen gelten, die Menschen mit diesen Risikoprofilen nahestehen:
1. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf Mitglieder politischer Oppositionsparteien; Demonstrierende; Aktivisten aus der Zivilgesellschaft und politische Aktivisten; (ehemalige) Mitglieder oppositioneller lokaler Räte; Journalisten und Bürgerjournalisten aus der Zivilbevölkerung; Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen und Freiwillige der Zivilverteidigung; Ärzte und sonstige medizinische Fachkräfte; Verteidiger der Menschenrechte; Hochschulangestellte; Personen, die als Mitglieder bewaffneter, regierungsfeindlicher Gruppen angesehen werden; und Zivilpersonen (insbesondere Männer und Jungen im kampffähigen Alter) aus derzeit oder ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten;
2. Wehrdienstentzieher und Deserteure der syrischen Streitkräfte;
3. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich die Regierung unterstützen, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf Regierungsbeamte und Funktionäre der Baath-Partei; tatsächliche und vermeintliche Mitglieder von Streitkräften der Regierung und Zivilbürger, von denen angenommen wird, dass sie mit Streitkräften der Regierung zusammenarbeiten; Mitglieder von Versöhnungskomitees; und Zivilpersonen, die in städtischen Bezirken, Dörfern und Gemeinden leben, von denen angenommen wird, dass sie die Regierung unterstützen;
4. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zu den Syrian Democratic Forces (SDF) / Volksschutzeinheiten (YPG), der Partei der Demokratischen Union (PYD) und den Institutionen der Autonomieverwaltung stehen, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf Mitglieder kurdischer Oppositionsparteien, Journalisten und Bürgerjournalisten aus der Zivilbevölkerung, Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen, Aktivisten und Mitglieder der Zivilgesellschaft, Demonstrierende; Personen, bei denen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft und/oder familiären Beziehungen eine Verbindung zum Islamischen Staat im Irak und in Syrien (ISIS) angenommen wird; und Personen, bei denen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft und/oder familiären Beziehungen eine Verbindung zur Türkei oder zur Syrischen Nationalen Armee (SNA) angenommen wird;
5. Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner von Hay’at Tahrir Al-Sham (HTS) und bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppen sind und sich in Idlib und angrenzenden Gegenden in Gebieten aufhalten, die de facto unter Kontrolle dieser Gruppen stehen, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf politische Aktivisten und Menschenrechtsaktivisten, Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen, medizinische Fachkräfte sowie Journalisten und Bürgerjournalisten aus der Zivilbevölkerung;
6. Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner bewaffneter, mit der SNA verbundener Gruppen sind, in den von diesen Gruppen de facto kontrollierten Gebieten, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) und den SDF/PYD/YPG sowie den Kurden im weiteren Sinne verbunden sind; sowie Journalisten und Aktivisten;
7. Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner von ISIS in Gebieten sind, in denen ISIS weiterhin präsent ist oder Einfluss ausübt, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf Zivilpersonen, die tatsächlich oder vermeintlich die Regierung oder die SDF/AANES unterstützen, z. B. Stammesführer, örtliche Bürgermeister, Mitglieder lokaler Räte sowie Kollaborateure;
8. Mitglieder religiöser und ethnischer Minderheiten und Personen, die so wahrgenommen werden, als handelten sie entgegen strenger islamischer Vorschriften;
9. Frauen und Mädchen mit bestimmten Profilen oder in speziellen Situationen, insbesondere Frauen, die sexuelle Gewalt überlebt haben oder gefährdet sind, Opfer sexueller Gewalt zu werden, zwangsverheiratet oder im Kindesalter verheiratet zu werden, häusliche Gewalt oder Gewalt im Namen der Ehre zu erleiden oder Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und Zwangsprostitution zu werden;
10. Kinder mit bestimmten Profilen oder in speziellen Situationen, insbesondere Kinder, die sexuelle Gewalt überlebt haben oder gefährdet sind, Opfer sexueller Gewalt zu werden; zwangsverheiratet oder im Kindesalter verheiratet zu werden; häusliche Gewalt oder Gewalt im Namen der Ehre zu erleiden; Kinder, die einen Einsatz als Kindersoldaten überlebt haben oder gefährdet sind, als Kindersoldaten rekrutiert zu werden; Opfer von Menschenhandel und anderen schlimmsten Formen von Kinderarbeit zu werden; Kinder, die zu Arbeit verpflichtet werden, die je nach der Erfahrung und dem Alter des betreffenden Kindes und den sonstigen Umständen wahrscheinlich ihre Gesundheit, Sicherheit oder Sittlichkeit beeinträchtigt (‚gefährliche Arbeit‘); Kinder im schulpflichtigen Alter, denen der Zugang zu Bildung systematisch verwehrt wird, einschließlich infolge zielgerichteter Angriffe auf Schulen; fehlende Ausweispapiere; Behinderungen; oder diskriminierende Praktiken, die Mädchen den Zugang zu Bildung aufgrund ihres Geschlechts verwehren; sowie Kinder, denen der Zugang zu Geburtsurkunden und sonstigen Ausweisdokumenten verweigert wird oder bei denen eine entsprechende Gefahr besteht;
11. Personen mit sexueller Orientierung und/oder geschlechtlicher Identität, die nicht den traditionellen Vorstellungen entsprechen;
12. palästinensische Flüchtlinge“.
Zu 1. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen (aus: UNHCR, Seiten 101 bis 123 ohne Fußnoten):
„a) Umgang mit Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner der Regierung sind
Die syrische Regierung geht in den von ihr kontrollierten Gebieten weiterhin gewaltsam gegen tatsächlich oder vermeintlich abweichende politische Meinungen vor, um diese zu unterdrücken oder zu bestrafen. Bei der Einstufung, was als abweichende politische Meinung betrachtet wird, wendet die Regierung sehr weite Kriterien an: Jegliche Art oder Form von Kritik, Widerstand oder unzureichender Loyalität gegenüber der Regierung führen regelmäßig zu schweren Vergeltungsmaßnahmen für die betreffende Person.
Zu den Personen, denen regelmäßig eine regierungsfeindliche Gesinnung unterstellt wird, zählen Zivilpersonen (insbesondere Männer und Jungen im kampffähigen Alter) aus oder in derzeit oder ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten; Wehrdienstentzieher und Deserteure; oppositionelle Mitglieder lokaler Räte; Aktivisten aus der Zivilgesellschaft und politische Aktivisten; Demonstrierende; Journalisten und Bürgerjournalisten aus der Zivilbevölkerung; Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen und Freiwillige der Zivilverteidigung; Ärzte und sonstige medizinische Fachkräfte; Verteidiger der Menschenrechte sowie Lehrer, Hochschullehrkräfte und -wissenschaftler.
Berichten zufolge setzen die Sicherheitsbehörden der Regierung Informanten ein, um vermeintliche Regierungsgegner zu identifizieren. Außerdem wird gemeldet, dass Menschen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aufgrund falscher Anschuldigungen verhaftet werden, weil Personen, die sich rächen wollen oder der Regierung ihre Loyalität beweisen möchten, sie gegenüber den Sicherheitsbehörden beschuldigen, in oppositionelle Aktivitäten verwickelt zu sein.
Personen mit diesem Profil werden regelmäßig Opfer von willkürlicher Verhaftung und Verschwindenlassen, Inhaftierung unter lebensbedrohlichen Umständen5, systematischer und weitverbreiteter Folter und sonstigen Formen der Misshandlung einschließlich sexueller Gewalt, Strafverfolgung nach der zu weit gefassten Antiterrorgesetzgebung von 2012 unter Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren vor Antiterror- und militärischen Feldgerichten sowie summarischer und außergerichtlicher Hinrichtung. IICISyria hat seit 2011 dokumentiert, ‚… wie die syrische Regierung die Verbrechen der Ausrottung, des Mordes, der Vergewaltigung und sonstiger Formen sexueller Gewalt, der Folter und der Freiheitsentziehung im Zusammenhang mit den umfassenden und systematischen Festnahmen von Dissidenten sowie Personen, die als Sympathisanten bewaffneter Gruppen wahrgenommen wurden, begangen hat‘.
Das Einfrieren von Vermögen und die Beschlagnahme von Eigentum von Personen, die als Gegner der Regierung angesehen werden, ist ebenfalls gemeldet worden und wurde in manchen Fällen auch gegenüber den Familienangehörigen und Bekannten der Betroffenen praktiziert. Laut IICISyria sind zwischen 2016 und 2018 gegen ca. 70.000 Syrer Entscheidungen des Finanzministeriums ergangen, die das Einfrieren ihres Vermögens anordneten, und diese Praxis wird laut Berichten fortgesetzt.
Der Erlass zeitlich begrenzter Amnestien seit 2011485 hat Berichten zufolge nur eine eingeschränkte Wirkung in Bezug auf die Freilassung tatsächlicher und vermeintlicher Regierungsgegner, von denen viele aufgrund des Antiterrorgesetzes inhaftiert sind.
b) Umgang mit Familienangehörigen
Die tatsächliche oder vermeintliche regierungskritische Haltung einer Person wird häufig auch Menschen in ihrem Umfeld zugeschrieben, einschließlich Familienmitgliedern. Für Familienangehörige besteht die Gefahr, dass sie zwecks Vergeltung und/oder mit dem Ziel, tatsächliche oder vermeintliche Regierungskritiker zum Schweigen zu bringen, bedroht, schikaniert, willkürlich verhaftet, gefoltert, zwangsverschleppt und zum Verschwinden gebracht werden. Was Regierungskritiker betrifft, die in den von der Opposition kontrollierten Gebieten oder im Ausland leben, besteht für ihre Familienangehörigen und manchmal ihre Bekannten Berichten zufolge die Gefahr, dass sie den vorgenannten Maßnahmen zwecks Vergeltung oder mit der Absicht ausgesetzt werden, die gesuchten Personen dazu zu bringen, ihre Aktivitäten einzustellen oder nach Syrien zurückzukehren. Zudem sind die Familienangehörigen politischer Gefangener gefährdet, Opfer von Erpressungs- und Einschüchterungsversuchen zu werden, und in einigen Fällen kommt es zum rechtswidrigen Einfrieren von Vermögen und der Beschlagnahme von Eigentum zwecks ‚kollektiver Bestrafung‘.
c) Besondere Bedenken in Bezug auf Personen in nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner der Regierung sind
In der von der Opposition kontrollierten Enklave Idlib sind Zivilpersonen weiterhin zahlreichen Strafmaßnahmen ausgesetzt, z. B. in Form von Artilleriebeschuss, Luftangriffen und Bodenoffensiven sowie der absichtlichen Vorenthaltung humanitärer Unterstützung aufgrund der vermeintlichen regierungsfeindlichen Haltung und/oder Unterstützung bewaffneter oppositioneller Gruppen. Die systematischen Bombardierungen und Angriffe, die sich auf Zivilpersonen und zivile Ziele wie Krankenhäuser, Schulen und Märkte in den von bewaffneten oppositionellen Gruppen kontrollierten Gegenden richten, sind von den Vereinten Nationen und anderen Beobachtern als Taktik der ‚verbrannten Erde‘ und als ‚kollektive Bestrafung‘ der Zivilbevölkerung in diesen Gebieten bezeichnet worden, mit dem Ziel, die Zivilbevölkerung zur Umsiedlung zu nötigen, die Unterstützung der bewaffneten Opposition in der Bevölkerung zu unterminieren und letztlich die bewaffnete Opposition zum Aufgeben zu zwingen. Dem Syrian Network for Human Rights (SNHR) zufolge ist die vorsätzliche und weitverbreitete Zerstörung der von der Opposition kontrollierten Gebiete und die Vertreibung der Zivilbevölkerung ‚ein Selbstzweck, … um jedem, der einen politischen Wandel anstrebt, die schlimmstmöglichen Strafen zuteilwerden zu lassen‘. IICISyria stellte fest, dass die Regierungstruppen während der Militäroffensiven in Idlib 2019 und 2020 ‚möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von zwangsweiser Überführung, Mord und sonstigen unmenschlichen Handlungen begangen‘ haben.
Aufgrund des Vorrückens der Regierungstruppen flohen große Teile der Zivilbevölkerung aus Furcht vor Gewalt und Festnahmen durch die Regierung. Beobachter haben berichtet, dass Zivilpersonen, die sich dafür entschieden hatten, in den zurückeroberten Gebieten in Idlib und Umgebung zu bleiben, oder nach der Rückeroberung zurückgekehrt sind, von den Regierungstruppen festgenommen, gefoltert und getötet wurden.
d) Besondere Bedenken in Bezug auf Personen in zurückeroberten Gebieten, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner der Regierung sind
‚Versöhnungsverfahren‘
Nachdem die Regierung Gebiete außerhalb ihrer Kontrolle zurückerobert hatte, mussten Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen und bestimmte Kategorien von Zivilpersonen entweder gezwungenermaßen das Gebiet verlassen oder an einem ‚Versöhnungsverfahren‘ teilnehmen, um bleiben zu dürfen. Zwar waren die ‚Versöhnungsabkommen‘ in jedem Gebiet unterschiedlich geregelt, doch sahen sie üblicherweise vor, dass die Sicherheits- und Verwaltungsbehörden der Regierung in das betreffende Gebiet zurückkehren, die Waffen niedergelegt werden und den von der Regierung gesuchten Personen Straffreiheit gewährt sowie eine sechsmonatige Schonfrist in Bezug auf die Einziehung zum Wehrdienst angewandt wird. Gemäß diesen Abkommen mussten sich Kämpfer und sonstige Personen, die als Widersacher der Regierung wahrgenommen wurden und in dem zurückeroberten Gebiet bleiben wollten, einer Überprüfung durch die Sicherheitsbehörden unterziehen (arabisch: ‚taswiyat al-wada‘; deutsch: den eigenen Status klären). Sofern sich Personen für eine ‚Versöhnung‘ entschieden und qualifiziert hatten, beinhaltete die Überprüfung eine Untersuchung der früheren oppositionellen Aktivitäten der betreffenden Person, z. B. Beteiligung an Protesten gegen die Regierung, humanitäre Aktivitäten, Beteiligung an Kämpfen bewaffneter oppositioneller Gruppen oder sonstige Aktivitäten, die die Regierung als ‚Terrorismus‘ einstuft.
Zudem mussten sich die Betroffenen verpflichten, derartige Aktivitäten künftig zu unterlassen. IICISyria stellte fest, dass die Bedingungen der ‚Versöhnung‘ Eingriffe in die ‚fundamentalen Menschenrechte einschließlich des Rechts auf friedliche Versammlung‘ darstellen. Außerdem waren die Betroffenen gezwungen, Informationen über Familienangehörige und Aktivisten preiszugeben, die unter Zwang in andere Landesteile vertrieben worden waren. Berichten zufolge wird jedoch nicht allen Versöhnungsanträgen stattgegeben. Personen, deren Antrag abgelehnt wurde, laufen Gefahr, willkürlich inhaftiert zu werden. Wer seinen Status erfolgreich geklärt hat, erhält Berichten zufolge einen ‚Statusbereinigungsausweis‘, der vor Festnahmen schützen und das Passieren von Kontrollstellen ermöglichen soll. Die ‚Klärung des Status‘ garantiert jedoch nicht, dass die betreffende Person tatsächlich vor willkürlichen Festnahmen geschützt ist, und Meldungen zufolge wurden Personen verhaftet, obwohl sie einen ‚Statusbereinigungsausweis‘ besaßen oder weil die Behörden die Statusbereinigung später widerrufen haben.
Personen, die aus Gebieten außerhalb der Kontrolle der Regierung in Gebiete zurückkehren möchten, die von der Regierung zurückerobert wurden, müssen sich Berichten zufolge ebenfalls einer Überprüfung unterziehen, die derjenigen vergleichbar ist, der Personen unterliegen, die in ihren Gebieten geblieben sind, und können einer Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sein, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf willkürliche Verhaftung und Zwangsrekrutierung.
Umgang mit Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner der Regierung sind
In Gebieten, die von der Regierung zurückerobert wurden, einschließlich der Provinzen Aleppo, Dera’a und Quneitra, Deir Ez-Zour, Damaskus, Damaskus-Umgebung und Homs, sind die früheren Praktiken der Menschenrechtsverletzungen wieder aufgetaucht, und Meldungen zufolge setzt die Regierung eine Vielzahl von Maßnahmen ein, ‚um zu bestrafen und Gehorsam zu erzwingen‘.
Echte oder vermeintliche Gegner werden von der Regierung ins Visier genommen und willkürlich verhaftet, in Isolationshaft genommen, zwangsrekrutiert, gefoltert und in sonstiger Weise misshandelt. Einigen Meldungen zufolge werden Gebiete, die zuvor von der Opposition kontrolliert wurden, absichtlich von der Grundversorgung und humanitären Hilfsleistungen abgeschnitten, um die Bevölkerung für ihre vermeintliche Illoyalität kollektiv zu bestrafen.
Unter Verstoß gegen Bestimmungen in Versöhnungsabkommen, die eine Rückkehr der staatlichen Beschäftigten an ihren ehemaligen Arbeitsplatz vorsehen, sind Berichten zufolge Hunderte von Lehrern, medizinischen Fachkräften und Beamten in ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten entlassen oder vom Dienst suspendiert worden, weil man sie für ihre vermeintliche Illoyalität bestrafen wollte. In zurückeroberten Gebieten wurde gemeldet, dass Personen von den Sicherheitsdiensten der Regierung überwacht und willkürlich verhaftet wurden, wenn festgestellt wurde, dass sie mit Angehörigen im Ausland oder in Gebieten kommunizierten, die von bewaffneten oppositionellen Gruppen kontrolliert wurden. Zahlreiche Berichte beschreiben die allgegenwärtigen
Plünderungen und Zerstörungen von Wohnhäusern, Geschäften und landwirtschaftlichen Feldern der Personen, die nach dem Ende der Militäroffensiven von den Regierungstruppen vertrieben wurden. In einigen ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten ist die Freizügigkeit Berichten zufolge weiterhin stark eingeschränkt, sowohl innerhalb der Gebiete als auch in Bezug auf die Ein- und Ausreise. IICISyria ist der Auffassung, dass diese willkürlichen Beschränkungen der Freizügigkeit, einschließlich in Ost-Ghouta, möglicherweise den Tatbestand des ‚Kriegsverbrechens der kollektiven Bestrafung‘ erfüllen.
Beobachtern zufolge hat die Regierung auch von Vorschriften des Eigentumsrechts, z. B. Dekret Nr. 66 von 2012 und Gesetz Nr. 10 von 2018, Gebrauch gemacht, um Personen zu enteignen, die in Gebieten leben, die sie für illoyal hält, oder die ‚allgemein als Personen wahrgenommen werden, die mit oppositionellen Gruppen in Verbindung stehen‘.Es wird auch berichtet, dass bewaffnete regierungsnahe Gruppen Grundstücke in zurückeroberten Gebieten durch Drohungen gegen die Eigentümer oder einfach durch Beschlagnahmung übernommen haben. Darüber hinaus wird berichtet, dass die Regierung gezielt Gebäude von vermeintlichen Gegnern abgerissen hat, angeblich weil sie nicht nach den geltenden Bauvorschriften errichtet worden waren.
e) Besondere Bedenken in Bezug auf Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner der Regierung sind und aus dem Ausland zurückkehren
Für Personen, die aus dem Ausland nach Syrien zurückkehren möchten und vorher eine ‚Statusklärung‘ durchführen wollen, nutzen die syrischen Behörden einen Überprüfungsmechanismus. Die Kriterien für eine Unbedenklichkeitsbescheinigung sind nicht bekannt, und es gibt auch keine Informationen darüber, wie viele rückkehrwillige Personen eine Rückkehrerlaubnis bzw. einen ablehnenden Bescheid von den syrischen Behörden erhalten haben.
Berichten zufolge haben die syrischen Behörden einer erheblichen Anzahl rückkehrwilliger Syrer die Rückkehr verweigert, was zur Trennung von Familien geführt hat. Entgegen den offiziellen Aussagen, denen zufolge die Rückkehr von Flüchtlingen willkommen sei, haben Regierungsbeamte laut Berichten öffentliche Drohungen gegen Flüchtlinge ausgesprochen und gewarnt, dass Personen, die der Regierung nicht die Treue gehalten hätten, nicht willkommen seien.
Aus allen von der Regierung kontrollierten Gebieten wird gemeldet, dass Rückkehrer zu den Personen gehören, die schikaniert, willkürlich verhaftet, zwangsverschleppt und zum Verschwinden gebracht, gefoltert und in sonstiger Weise misshandelt werden, und dass ihr Eigentum beschlagnahmt wird, u. a. aufgrund einer vermeintlich oppositionellen Haltung der Betroffenen. Männer im wehrpflichtigen Alter laufen auch Gefahr, nach ihrer Rückkehr verhaftet und zwangsrekrutiert zu werden. Die International Crisis Group (ICG) weist darauf hin, dass es keinerlei sichere Grundlage für die Einschätzung gebe, wer im Falle einer Rückkehr vor einer Verhaftung geschützt sei, da ‚die Vorstellung des Regimes, wer ein Gegner ist, nicht immer klar ist oder – noch gefährlicher – sich im Laufe der Zeit ändern kann‘.
Zwischen 2017 und August 2019 registrierte SNHR die Verhaftung von fast 2.000 Rückkehrern aus dem Ausland, einschließlich Frauen und Kindern. Weitere Festnahmen von Rückkehrern aus dem Libanon wurden von SNHR zwischen Januar und September 2020 dokumentiert. Den Berichten zufolge werden die Betroffenen entweder sofort bei der Einreise an den Landesgrenzen zum Libanon, zu Jordanien, zur Türkei und am Flughafen von Damaskus oder erst Tage bzw. Monate nach der Rückkehr festgenommen. Ferner wurde gemeldet, dass Personen verhaftet wurden, obwohl sie vor ihrer Rückkehr ein positives Sicherheitsclearing der syrischen Regierung erhalten hatten. Beim Amt des Hohen Kommissars für Menschenrechte (OHCHR) gingen Berichte ein, denen zufolge Rückkehrer verhaftet wurden, nachdem sie aufgrund des im September 2019 erlassenen Amnestiedekrets nach Syrien zurückgekehrt waren. Berichten zufolge sind auch Personen in Haft gestorben.
Palästinenser, die früher in Syrien lebten, zählen laut Meldungen zu den Personen, die nach der Rückkehr nach Syrien verhaftet wurden.
Zudem müssen einige Rückkehrer eventuell Beschränkungen der Freizügigkeit hinnehmen, u. a. durch die Vorgabe, vor ihrer Rückkehr in ihr Heimatgebiet eine Genehmigung der Sicherheitsbehörden einzuholen, während andere grundsätzlich an einer Rückkehr in ihr Heimatgebiet gehindert werden.
Aufgrund des eindeutigen Musters, dass auf Personen abgezielt wird, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen, ist UNHCR der Auffassung, dass Personen mit diesem Profil, einschließlich Zivilpersonen, die aus Gebieten stammen oder in Gebieten wohnen, die derzeit oder früher von bewaffneten oppositionellen Gruppen kontrolliert werden bzw. wurden, wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, je nach den Umständen des Einzelfalls aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder anderer maßgeblicher Gründe.“
Zu 2. Wehrdienstentzieher und Deserteure der syrischen Streitkräfte (aus: UNHCR, Seiten 124 bis 139 ohne Fußnoten):
„a) Wehrdienstentzieher
Pflichtwehrdienst und Reservewehrdienst
Der Wehrdienst ist für alle syrischen Männer zwischen 18 und 42 Jahren obligatorisch (sofern sie nicht vom Wehrdienst befreit oder ihnen Aufschub gewährt wurde; siehe unten), einschließlich derjenigen, die während eines Auslandsaufenthalts das wehrpflichtige Alter erreichen. Nachfahren palästinensischer Flüchtlinge, die zwischen 1948 und 1956 in Syrien eintrafen und bei der General Administration for Palestinian Arab Refugees (GAPAR) registriert wurden, müssen ebenfalls den Pflichtwehrdienst ableisten. Die Gesetze sehen einen Pflichtwehrdienst von 18 oder 21 Monaten vor, je nach Ausbildungsstand. Seit 2011 wurden jedoch viele Rekruten gezwungen, über einen längeren Zeitraum zu dienen, der die gesetzlich festgelegte Dauer des Pflichtwehrdienstes überschreitet. Nach ihrer Entlassung aus dem Wehrdienst werden ehemalige Soldaten automatisch als Reservisten angesehen und können für den Reservedienst eingezogen werden. Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist gesetzlich nicht anerkannt, und ein Ersatz- oder Alternativdienst ist nicht vorgesehen. Einige angehende Rekruten, Reservisten und Wehrdienstentzieher oder ihre Familien zahlen laut Berichten Bestechungsgelder, um den Wehrdienst zu umgehen, z. B. um einen Aufschub zu erhalten, Zusicherungen zu bekommen, dass sie die Kontrollstellen unbehelligt passieren können, oder um eine vorübergehende Streichung ihres Namens aus den Einberufungslisten zu erwirken. Mitglieder der Sicherheits- oder Geheimdienste verhaften laut Berichten Männer, die wegen des Wehrdienstes gesucht sind, um Bestechungsgelder von Verwandten zu erhalten, mit denen die Freilassung der Männer bewirkt wird. Es gibt auch Berichte, nach denen Rekruten Bestechungsgeld bezahlen, um an sicheren Orten ihren Dienst leisten zu können sowie über Offiziere, die Rekruten nutzen, um nichtmilitärische Aufgaben auf den privaten Grundstücken der Offiziere auszuführen.
Pflichtwehrdienst für Personen, die nach einem ‚Versöhnungsabkommen‘ ihren ‚Status geklärt haben‘
Auch in zurückeroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Pflichtwehrdienst ableisten. Obwohl die ‚Versöhnungsabkommen‘ ihnen üblicherweise eine sechsmonatige Schonfrist nach der Klärung ihres Status (‚taswiyat al-wada‘) mit den Sicherheitsbehörden einräumten, dokumentieren Berichte die Verhaftung und Zwangsrekrutierung von Personen vor dem Ablauf der Schonfrist. Männer in diesen Gebieten haben sich manchmal lokalen oder ausländischen regierungsnahen Truppen angeschlossen, statt den Pflicht- oder Reservewehrdienst bei der regulären Armee abzuleisten. OHCHR zufolge wurden die Männer unter Druck gesetzt, sich diesen regierungsnahen Truppen anzuschließen, da ihnen andernfalls vorgeworfen worden wäre, der Opposition anzugehören.
Zwar hängen Entscheidungen über den Einsatz von Rekruten von einer Vielzahl von Faktoren ab, einschließlich des militärischen Bedarfs und des professionellen Hintergrunds und Sachverstands der betreffenden Personen, und werden zudem willkürlich getroffen, es besteht jedoch für alle Rekruten die potenzielle Gefahr, dass sie für den Kampf an der Front eingesetzt werden. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass Rekruten aus Gebieten, die sich ‚versöhnt‘ haben, besonders gefährdet sind, innerhalb weniger Tage oder Wochen nach ihrer Festnahme und mit nur minimalem Training an vorderster Front für den Kampf eingesetzt zu werden, einschließlich als Bestrafung für ihre vermeintliche Illoyalität.
Eine Quelle beschrieb die Rekrutierung von Jugendlichen in ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten als eine Methode, ‚um Jugendliche aus den Orten, in denen sie leben, zu entfernen und auf diese Weise die Zahl der Personen, die eine Bedrohung für die Stabilität des syrischen Regimes darstellen, kurzfristig zu verringern‘.
Umgang mit Wehrdienstentziehern
Das Militärstrafgesetzbuch sieht für Wehrdienstentzug eine Gefängnisstrafe vor. Personen, die das wehrpflichtige Alter (42 Jahre) überschritten haben, ohne den Pflichtwehrdienst vollendet zu haben, werden mit finanziellen Sanktionen belegt, und ihnen droht die Beschlagnahme ihres beweglichen und unbeweglichen Vermögens sowie Inhaftierung. Viele Wehrdienstentzieher, die sich in den von der Regierung kontrollierten Gebieten in Syrien aufhalten, verstecken sich und leben in der ständigen Angst, festgenommen und zwangsrekrutiert zu werden. Zudem ist es ihnen nicht möglich, Rechtsgeschäfte oder administrative Handlungen vorzunehmen, wie z. B. Anmietung, Kauf oder Verkauf von Grundeigentum, Eheschließung oder Beantragung (bzw. Verlängerung) von Ausweisdokumenten und Pässen. Darüber hinaus müssen Männer zwischen 17 und 42 Jahren eine Erlaubnis von der Rekrutierungsbehörde einholen, wenn sie das Land verlassen möchten. [… Die Reiseerlaubnis ist drei Monate gültig; …]. Berichten zufolge wurden Regierungsangestellte entlassen, weil sie sich dem Reservewehrdienst entzogen haben. Unter Einsatz von Fahndungslisten setzen die Armee und die Sicherheitsbehörden laut Berichten ihre Anstrengungen fort, Wehrdienstentzieher aufzuspüren und unter Zwang zu rekrutieren, vor allem an mobilen und festen Kontrollstellen, aber auch in staatlichen Einrichtungen wie Universitäten und Krankenhäusern, Aufnahmestellen der Regierung und bei Hausdurchsuchungen. Berichten zufolge gehören Rückkehrer aus dem Ausland zu den Personen, die nach der Rückkehr verhaftet und zwangsrekrutiert werden. Solche Kampagnen werden aus allen Gebieten gemeldet, die unter der Kontrolle der Regierung stehen, insbesondere aus den zurückeroberten Gebieten, allerdings hat die Regierung wegen lokaler Vereinbarungen und ihrer begrenzten Präsenz nur eingeschränkte Möglichkeiten, Wehrdienstentzieher aus bestimmten Gebieten unter Zwang zu rekrutieren. In der Praxis droht Wehrdienstentziehern statt einer strafrechtlichen Sanktion und Haftstrafen nach dem Militärstrafgesetzbuch mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Festnahme und kurzfristige Inhaftierung, bevor sie eingezogen werden. Wehrdienstentzieher, die für Regierungsgegner gehalten werden, unterliegen laut Berichten dem Risiko einer besonders strengen Behandlung während der Festnahme, beim Verhör und in Haft sowie – nach Einziehung – im Militärdienst rechnen. Auch die Familien von Wehrdienstentziehern wurden in einigen Fällen bedroht und misshandelt.
b) Wehrdienstbefreiung und -aufschub
Das Rekrutierungsgesetz sieht für bestimmte Kategorien von Männern eine Befreiung von der Wehrpflicht vor, u. a. für Männer, die der einzige Sohn ihrer Eltern sind, aus medizinischen Gründen als untauglich eingestuft werden oder sich für mindestens ein Jahr rechtmäßig im Ausland aufhalten und eine Freistellungsgebühr gezahlt haben. Außerdem ermöglicht das Rekrutierungsgesetz unter bestimmten Voraussetzungen den Aufschub des Wehrdienstes, einschließlich für Studierende einer Universität und Personen mit vorübergehenden gesundheitlichen Problemen. Berichten zufolge werden die Regeln und Vorschriften für den Militärdienst, einschließlich der Verfahren für den Aufschub und die Befreiung vom Wehrdienst, seit 2011 zunehmend willkürlich angewandt und Korruption greift um sich.
c) Deserteure
Nach dem Militärstrafgesetzbuch von 1950 in der geänderten Fassung ist Desertion strafbar und wird je nach den Umständen des Einzelfalls mit Freiheitsstrafe oder Todesstrafe bestraft. Die Mehrzahl der gemeldeten Desertionen fand in den ersten Jahren des Konflikts statt. Einzelpersonen, die versuchen, zu desertieren, können zum Zeitpunkt der Desertion hingerichtet werden, während Deserteure, die später ergriffen werden, dem Risiko unterliegen, festgenommen, in Isolationshaft gehalten, gefoltert und summarisch oder außergerichtlich hingerichtet zu werden. Die vorhandenen Informationen beziehen sich größtenteils auf den Umgang mit Deserteuren, die sich nach ihrer Desertion entweder als Zivilpersonen oder als Kämpfer bewaffneter oppositioneller Gruppen in ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten aufhielten. Nachdem die Regierung diese Gebiete zurückerobert hatte, zählten Deserteure zu dem Personenkreis, der an einem ‚Versöhnungsverfahren‘ teilnehmen musste, um in den Gebieten bleiben zu dürfen. Berichten zufolge haben sich zwar viele von ihnen wieder ihren ehemaligen Armeeeinheiten angeschlossen oder sich regierungsnahen Truppen verpflichtet, doch wurde auch gemeldet, dass die Regierung Festnahmekampagnen gegen Deserteure durchgeführt hat und ‚versöhnte‘ Deserteure sowie Personen, die bei der Regierung eine ‚Versöhnung‘ beantragt haben oder zeitlich begrenzte Teilamnestien in Anspruch nehmen wollten, festgenommen, inhaftiert, gefoltert und infolge der Folter gestorben sind. Deserteure, einschließlich derjenigen, die Teilamnestien in Anspruch nehmen wollten, zählen laut Meldungen zu den Personen, die nach der Rückkehr nach Syrien Gefahr laufen, verhaftet zu werden.
Einige ‚versöhnte‘ Kämpfer sind Berichten zufolge nach ihrer neuerlichen Einberufung (erneut) von der Armee und den regierungsnahen Truppen desertiert, u. a. auch Personen, die in Kampfgebieten eingesetzt wurden. Dies hat laut Meldungen zu Fahndungsaktionen der Regierung und Festnahmewellen geführt. Wie Berichte belegen, haben die Regierungstruppen Familienangehörige von Deserteuren gezielt bedroht, willkürlich verhaftet und interniert.
d) Zeitlich begrenzte Amnestien für Wehrdienstentzieher und Deserteure
Seit 2011 hat die Regierung per Dekret mehrere zeitlich begrenzte Amnestien für Wehrdienstentzieher und Deserteure erlassen. Um die Amnestien in Anspruch nehmen zu können, mussten sich Wehrdienstentzieher und Deserteure innerhalb einer bestimmten Frist nach Erlass des Dekrets den Behörden stellen. Die Amnestiedekrete, die Wehrdienstentzug oder Desertion betreffen, befreien von den Strafen, die mit Wehrdienstentzug und Desertion verbunden sind, entbinden jedoch nicht von der Wehrpflicht.
Da ein Ersatz- oder Alternativdienst nicht vorgesehen ist, vertritt UNHCR die Auffassung, dass Personen, die sich dem Pflichtwehrdienst oder dem Reservewehrdienst aus Gewissensgründen entzogen haben (‚Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen‘), wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, je nach den Umständen des Einzelfalls auf der Grundlage einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder ihrer Religion.
Angesichts der weitverbreiteten Berichte über schwere Verstöße der Regierungstruppen gegen internationale Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht und das Völkerstrafrecht in Verbindung mit dem Umstand, dass individuelle Rekruten und Reservisten grundsätzlich keinen Einfluss auf ihre Funktion innerhalb der Streitkräfte (einschließlich des Gebiets, in dem sie eingesetzt werden, und der Art der Aufgaben, die ihnen zugewiesen werden) nehmen können, ist UNHCR der Auffassung, dass bei einer Einberufung zu den Streitkräften die vernünftige Wahrscheinlichkeit besteht, an Aktivitäten teilnehmen zu müssen, die Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, das Völkerstrafrecht und/oder internationale Menschenrechte darstellen. Dementsprechend ist UNHCR der Auffassung, dass Personen, die sich dem Pflichtwehrdienst oder dem Reservewehrdienst entzogen haben, da sie mit den Mitteln und Methoden der Kriegsführung der Regierungstruppen nicht einverstanden sind (‚Verweigerung des Militärdienstes in Konflikten, die den Grundregeln menschlichen Verhaltens zuwiderlaufen‘), wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, je nach den Umständen des Einzelfalls auf der Grundlage einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder ihrer Religion.
In seinen Richtlinien zu Anträgen auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus Gründen des Militärdienstes hat UNHCR festgestellt, dass die Anerkennung des Rechts auf Verweigerung des Militärdienstes mit der Begründung, dass der Militärdienst die Teilnahme an Aktivitäten beinhalte, die einen Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht, Völkerstrafrecht oder internationale Menschenrechte darstellten, und die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft in diesen Fällen angesichts des Grundgedankens der Ausschlussklauseln der GFK ein konsistenter Schluss ist.
Ausführungen zu Wehrdienstentziehern, die Gegner der Regierung sind oder aufgrund ihrer regierungskritischen Aktivitäten (z. B. Teilnahme an regierungskritischen Protesten, regierungskritische Äußerungen in der Presse oder den sozialen Medien, Unterstützung oder Beitritt zu einer bewaffneten oppositionellen Gruppe), ihrer Herkunft aus zurückeroberten Gebieten oder ihrer familiären Bindungen zu einer Person, die tatsächlich oder vermeintlich Gegner der Regierung ist, für Regierungsgegner gehalten werden, finden sich in Kapitel III.A.1 (‚Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner der Regierung sind‘).
Darüber hinaus ist UNHCR der Auffassung, dass Personen, die aus den syrischen Streitkräften desertiert sind, wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, je nach den Umständen des Einzelfalls aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder anderer maßgeblicher Gründe.
UNHCR ist ferner der Auffassung, dass Familienangehörige von Wehrdienstentziehern und Deserteuren aufgrund ihrer vermeintlichen politischen Meinung möglicherweise internationalen Flüchtlingsschutz benötigen.
Bei Asylgesuchen von Deserteuren der syrischen Streitkräfte und von ehemaligen Mitgliedern bewaffneter oppositioneller Gruppen können Ausschlussgründe gegeben sein (siehe auch Kapitel III.D).
Teilamnestien, die von der syrischen Regierung erlassen wurden und Straffreiheit vorsehen, müssen sorgfältig geprüft werden, da sie zeitlich begrenzt sind und nicht vom Pflichtwehrdienst befreien. Außerdem muss geprüft werden, ob für die betreffende Person die Gefahr besteht, dass sie anderen Formen der Verfolgung ausgesetzt wird, die nicht die strafrechtliche Verantwortlichkeit betreffen, von der sie durch die Amnestie befreit wurden.“
1.2.13. Einreise türkisch-syrische Grenze (aus: Anfragebeantwortung, Seiten 3f):
„Den nachfolgend zitierten Quellen ist zu entnehmen, dass die Serie von Erdbeben im Februar 2023 auch Auswirkungen auf die Grenzübergänge hatte. Nach einer Vereinbarung zwischen den Vereinten Nationen und der syrischen Regierung sind UN-Hilfskonvois über zwei Grenzübergänge in den Nordwesten Syriens gelangt. Dazu zählt der Grenzübergang Bab al-Salameh, sowie ein Grenzübergang in al-Rai. Vor dieser Vereinbarung durften die Vereinten Nationen nur über den Grenzübergang Bab al-Hawa Hilfsgüter liefern. Die UNO erklärte, die Übergänge würden zunächst für drei Monate geöffnet sein. Darüber hinaus haben die türkischen Behörden eine Lockerung der Reisebeschränkungen für syrische Staatsangehörige verfügt. Das Rückkehrprogramm gilt allerdings nur für Inhaber eines vorübergehenden Schutzstatus und bei einem Wohnsitz in den von dem Erdbeben besonders betroffenen Provinzen und nicht für Inhaber einer Aufenthaltsgenehmigung, für Touristen oder für Menschen mit syrisch-türkischer Doppelstaatsbürgerschaft. Die Inhaber eines temporären Schutzstatus – und soweit sie aus den 10 türkischen Provinzen, die von den Erdbeben verwüstet wurden (Gaziantep, Hatay, Sanliurfa, Adana, Kahramanmaraş, Diyarbakir, Kilis, Adiyaman, Osmaniye und Malatya) stammen – können nun freiwillig in den von der Opposition kontrollierten Nordwesten Syriens reisen und anschließend in die Türkei zurückkehren – vorausgesetzt, sie bleiben nicht länger als sechs Monate in Syrien.
Die Zahl dieser syrischen Flüchtlinge, die bisher über die Grenzübergänge Bab al-Hawa, Bab al-Salameh und Jarablus nach Syrien gekommen sind, hat ungefähr 40.000 erreicht [Anm.: Stand 9.3.2023]. In Tal Abyad wurden rund 7.000 Einreisen nach Syrien verzeichnet. Beobachtern zufolge kehren die meisten Rückkehrer in die nordsyrischen Gebiete zurück, die nicht unter der Kontrolle von Diktator Bashar al-Assad stehen. Einer nachfolgend zitierter Quelle ist zu entnehmen, dass die Rückkehrer, weil sie nicht in die vom Assad-Regime kontrollierten Gebiete zurückkehren, keine Angst vor Verfolgung oder Verhaftung durch die Sicherheitskräfte der Regierung haben. Die größte Bedrohung geht nach Einschätzung der Befragten nach wie vor von Machthaber Bashar al-Assad aus, der sie daran hindern würde, in die Gebiete zurückzukehren, aus denen sie ursprünglich kommen. Wenn sie jedoch die von der Opposition gehaltenen Gebiete nicht verlassen, besteht die größte Gefahr für sie darin, vom Assads Waffen getroffen zu werden. Im Kontext einer inner-syrischen Weiterreise berichten nachfolgende Quellen, dass die lokalen Akteure und ihre externen Unterstützer in den drei verschiedenen Kontrollgebieten entlang der türkisch-syrischen Grenze zwar zum Teil gegensätzliche Ziele verfolgen, diese drei Regionen aber durch interne Grenzübergänge miteinander und mit dem vom Regime kontrollierten Syrien verbunden sind.“
2. Beweiswürdigung:
2.1. Beschwerdeführer:
2.1.1. Persönliche Verhältnisse und Familie:
Die Feststellungen zum Namen des Beschwerdeführers, zu dessen Geburtsdatum und seiner Staatsangehörigkeit stützen sich auf den vom Beschwerdeführer in der Verhandlung im Original vorgelegten syrischen Personalausweis (vgl. Seite 4 der Niederschrift). Die Feststellungen zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit des Beschwerdeführers gründen sich auf die glaubwürdigen Angaben des Beschwerdeführers (vgl. Seite 6 der Niederschrift). Dasselbe gilt für die Feststellungen zur Schulbildung und zur Berufserfahrung des Beschwerdeführers (vgl. Seite 6 der Niederschrift).
Die Feststellungen zur Heimatregion des Beschwerdeführers beruhen auf den in sich schlüssigen Ausführungen des Beschwerdeführers in der Verhandlung (vgl. die Seiten 6 und 8ff der Niederschrift) in Verbindung mit seinen damit übereinstimmenden Angaben bei der Erstbefragung (AS 5 und 11).
Dass der Beschwerdeführer bis XXXX in Syrien lebte und danach in der XXXX aufhältig war, gründet sich auf seine nachvollziehbaren und spontanen Angaben in der Verhandlung (vgl. Seite 6 der Niederschrift). Der Beschwerdeführer konnte dabei einen Widerspruch zu seiner Aussage bei der Erstbefragung, nämlich Syrien XXXX verlassen zu haben (AS 11), schlüssig aufklären (vgl. Seite 8 der Niederschrift).
Dass der Beschwerdeführer XXXX hat, gab er bei der Erstbefragung an (AS 9) und bestätigte dies in der Verhandlung (vgl. Seite 7 der Niederschrift). XXXX beruhen auf den glaubwürdigen Angaben des Beschwerdeführers in der Verhandlung (vgl. die Seiten 7f der Niederschrift).
Dass der Beschwerdeführer am 18.07.2022 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz stellte, ist den Akten der belangten Behörde zu entnehmen. Der betreffend den Beschwerdeführer vom Bundesverwaltungsgericht eingeholte Strafregisterauszug ist Teil des gegenständlichen Aktes. Die Feststellungen zu seinem Gesundheitszustand, seinem derzeitigen Wohnort und seinem Alter sowie dahingehend, dass der Beschwerdeführer XXXX hat, ergeben sich aus den Angaben des Beschwerdeführers in der Verhandlung (vgl. Seite 11 der Niederschrift) in Verbindung mit dem im Verfahren vorgelegten Personalausweis.
2.1.2. Machtverhältnisse in Syrien sowie in der Herkunftsregion und im Herkunftsort:
Die getroffenen Feststellungen gründen sich einerseits auf die Länderberichte (vgl. II.1.2.3.) und andererseits auf die Ergebnisse einer Einsichtnahme des Bundesverwaltungsgerichtes in die zitierten Websites am 12.10.2023. Der Beschwerdeführer bestätigte in der Verhandlung die festgestellten gemischten Kontrollverhältnisse in seiner Heimatregion (vgl. Seite 10 der Niederschrift).
2.1.3. Gründe, auf die der Antrag auf internationalen Schutz gestützt wird:
Die Feststellungen zur Nichtleistung des Militärdienstes durch den Beschwerdeführer, zu seiner Ausreise aus Syrien und den Beweggründen hierfür beruhen auf den klaren und nachvollziehbar dargetanen Angaben des Beschwerdeführers in der Verhandlung (vgl. die Seiten 11ff der Niederschrift). Der Beschwerdeführer legte in der Verhandlung schlüssig, nachdrücklich und für das Bundesverwaltungsgericht klar erkennbar dar, dass er das syrische Regime ablehnt und den Wehrdienst in Syrien keinesfalls ableisten will (vgl. Seite 12ff der Niederschrift).
Soweit festgestellt wurde, dass der Beschwerdeführer sich weigert, stattdessen eine Ausgleichszahlung zu tätigen (vgl. Seite 14 der Niederschrift), muss – auch wenn er dies tun würde – darauf hingewiesen werden, dass der Prozess der Kompensationszahlung gemäß der Berichtslage sehr lange dauert und viele zusätzliche Kosten, ua. Bestechungsgelder für die Bürokratie, erfordert (vgl. zu den Feststellungen II.1.2.9.). Zudem ist zu berücksichtigen, dass nach den Länderberichten zB syrische Staatsangehörige mit Aufenthaltstitel in Deutschland auch bei nur besuchsweiser Einreise damit rechnen müssen, zum Militärdienst eingezogen oder zur Zahlung eines Geldbetrages zur Freistellung vom Militärdienst gezwungen zu werden. Eine vorab eingeholte Reisegenehmigung der syrischen Botschaft stellt dabei keinen verlässlichen Schutz vor Zwangsmaßnahmen seitens des syrischen Regimes dar (vgl. II.1.2.7.).
Die allgemeinen Rahmenbedingungen des gesetzlich verpflichtenden Wehrdienstes in Syrien sowie der Umstand, dass auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, mit einer Zwangsrekrutierung rechnen müssen, ergeben sich aus den zitierten Berichtsquellen (vgl. II.1.2.8.). In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch eine Übersiedelung in andere Landesteile zu entziehen (vgl. II.1.2.10.). Die in den Länderberichten beschriebenen Aufschub- und Ausnahmegründe kommen im Beschwerdefall nicht zu tragen. Der Beschwerdeführer ist weder aus medizinischen Gründen untauglich, noch ist er XXXX . In seinem Fall kommt auch ein Aufschub aufgrund eines potenziellen Universitätsstudiums nicht in Betracht. Sonstige genannte Ausnahmegründe sind im Fall des Beschwerdeführers ebenfalls nicht einschlägig (vgl. II.1.2.9.).
Zur Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern gehen die Meinungen nach den Länderberichten zum Teil auseinander (vgl. II.1.2.10.): Manche Experten gehen davon aus, dass eine Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten Fall im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis kommen. Ob die Entrichtung einer „Befreiungsgebühr“ wirklich dazu führt, dass man nicht eingezogen wird, hängt vom Profil der Person ab. Dabei geraten junge sunnitische Männer im wehrfähigen Alter (wie zB der Beschwerdeführer) am stärksten im Verdacht der Behörden, aber sogar – aus Sicht des Regimes – untadelige Personen wurden oft verhaftet. Loyalität ist hierbei ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen. Ein Syrien-Experte sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will; andererseits werden Wehrdienstverweigerer inoffiziell als Verräter angesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt ihr Land zu verteidigen, Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, um nicht getötet zu werden. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich freizukaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen und sich damit „gerettet“ haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben.
Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass Binnenvertriebene wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet sind und rekrutiert werden. Geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen ebenfalls mit Zwangsrekrutierung rechnen. Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (vgl. II.1.2.8. und II.1.2.10.).
Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In den Art. 98 und 99 leg.cit. wird festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (vgl. II.1.2.10.). Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt, und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen. Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren. Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder „verschwinden gelassen“ werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab. Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: So ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird. Die Strafe für das Sich-Entziehen vom Wehrdienst ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als „Kanonenfutter“), werden Wehrdienstverweigerer derzeit wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit sich die aktivsten Kampfgebiete beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter). Selbst für privilegierte Personen mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen – es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (vgl. II.1.2.10.).
Dazu ist nach UNHCR zu beachten, dass Entscheidungen über den Einsatz von Rekruten zwar von einer Vielzahl von Faktoren abhängen, einschließlich des militärischen Bedarfs und des professionellen Hintergrunds und Sachverstands der betreffenden Personen, und zudem willkürlich getroffen werden, jedoch für alle Rekruten die potenzielle Gefahr besteht, dass sie für den Kampf an der Front eingesetzt werden (vgl. II.1.2.12.).
Dass dem Beschwerdeführer in Syrien die festgestellte Gefahr einer sofortigen Einberufung zum Militärdienst droht, steht im Einklang mit den Länderberichten. So ist ein Herausfiltern von wehrpflichtigen Personen im Rahmen von Straßenkontrollen oder Checkpoints weit verbreitet. Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert, wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt. Ganz generell sieht ua. das Regime Restriktionen bei der Bewegungsfreiheit vor und setzt dazu zur Überwachung Checkpoints ein. Diese sind seit dem Jahr 2011 mit Computern ausgestattet (vgl. II.1.2.7. und II.1.2.8.).
Es ist im Beschwerdefall nicht ersichtlich, inwiefern für den Beschwerdeführer eine legale Einreise über einen Grenzübergang aus einem Nachbarstaat auf dem Landweg möglich sein könnte. Im Hinblick auf die Einreise über einen Flughafen ist anzumerken, dass diese unter der Kontrolle der syrischen Regierung stehen (Damaskus, Aleppo, Quamishli, Deir ez-Zor, Latakia; siehe https://syria.liveuamap.com/ [abgerufen am 19.10.2023]). Die Berichte kennen zahlreiche Fälle, in denen Personen bei der Rückkehr am Flughafen Damaskus verhaftet wurden (vgl. II.1.2.11.). Die Grenzübergänge zwischen Syrien und der Türkei sind großteils geschlossen. Nach den Erdbeben im Februar 2023 wurden einige Grenzübergänge vorübergehend geöffnet, um die Lieferung von Hilfsgütern zu ermöglichen. Dabei wurde gleichzeitig eine Lockerung der Reisebeschränkungen für syrische Staatsangehörige in der Türkei verfügt. Sofern sie Inhaber eines vorübergehenden Schutzstatus sind und einen Wohnsitz in einer von den Erdbeben betroffenen Provinzen haben, können Syrer aus der Türkei nach Syrien zurückkehren (vgl. II.1.2.13.). Allerdings kann nicht angenommen werden, dass der Beschwerdeführer über die erforderlichen Voraussetzungen, insbesondere einen vorübergehenden Schutzstatus in der Türkei, verfügt. Zudem ist laut dem deutschen Auswärtigen Amt eine sichere Rückkehr, für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhersagbar oder überprüfbar (vgl. II.1.2.11.).
Auch wenn der Beschwerdeführer aus dem Gouvernement Aleppo stammt, das nicht zur Gänze unter der Kontrolle des syrischen Regimes steht, kann zudem keineswegs angenommen werden, dass er seine Heimatregion erreichen kann, ohne von Truppen der syrischen Armee aufgegriffen zu werden oder an einer Kontrollstelle zumindest in das Blickfeld des syrischen Regimes zu geraten. Hierbei ist zu beachten, dass zumindest in den Randbereichen seiner Herkunftsregion eine Kontrolle des syrischen Regimes besteht (vgl. II.1.1.2.).
Die Einstellung des Regimes gegenüber und die verstärkten Überprüfungen von Rückkehrenden sowie die oftmals vorkommenden Verfolgungshandlungen sowohl durch den Staat und dessen Apparate als auch durch Privatpersonen, sowie der Umstand, dass es bei der Rückkehr nach Syrien zu einer Gefahr von Repressionen kommt, ergeben sich aus den festgestellten Berichten, denen zu entnehmen ist, dass insbesondere Personen, welchen eine oppositionelle Gesinnung zumindest unterstellt wird, Gefahr laufen, verhaftet und misshandelt zu werden. Ebenso wird berichtet, dass das syrische Regime die Rückkehr von ehemaligen Flüchtlingen mit Argwohn sieht und diese ua. als Verräter ansieht (vgl. II.1.2.11.).
Es muss vor dem Hintergrund der zitierten Berichtslage daher angenommen werden, dass der Beschwerdeführer in Syrien als Wehrdienstverweigerer eingestuft und verhaftet wird (wobei eine Haft regelmäßig mit Folter verbunden ist) oder als junger gesunder syrischer Staatsangehöriger damit rechnen muss, (allenfalls nach kurzer Haft) sogleich zum Militärdienst eingezogen zu werden, wobei in keiner Weise absehbar ist, wie er dort eingesetzt wird.
Da keine Möglichkeit des Ersatzdienstes besteht, müsste der Beschwerdeführer in Syrien entgegen seiner Überzeugung einer Einberufung zum Militär Folge leisten, wenn er nicht – infolge der mehrjährigen Verweigerung des Militärdienstes – stattdessen inhaftiert wird und dabei der Gefahr von Folter ausgesetzt ist, zumal Folter zu den häufigsten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung zählt und umfassend dokumentiert ist (vgl. II.1.2.4. und II.1.2.5.). Angesichts der weitverbreiteten Berichte über schwere Verstöße der Regierungstruppen gegen internationale Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht und das Völkerstrafrecht in Verbindung mit dem Umstand, dass individuelle Rekruten und Reservisten grundsätzlich keinen Einfluss auf ihre Funktion innerhalb der Streitkräfte (einschließlich des Gebiets, in dem sie eingesetzt werden, und der Art der Aufgaben, die ihnen zugewiesen werden) nehmen können, besteht laut UNHCR bei einer Einberufung zu den Streitkräften die vernünftige Wahrscheinlichkeit, an Aktivitäten teilnehmen zu müssen, die Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, das Völkerstrafrecht und/oder internationale Menschenrechte darstellen (vgl. II.1.2.12.), was im Beschwerdefall ebenfalls zu berücksichtigen ist.
2.1.4. Verfahren vor der belangten Behörde:
2.1.4.1. Die Feststellungen zum bisherigen Verfahren im konkreten Fall ergeben sich aus dem Akt der belangten Behörde.
2.1.4.2. Die Feststellungen zur Arbeitsbelastung der belangten Behörde in den genannten Jahren beruhen auf den veröffentlichten Statistiken (Jahresbilanzen und Detailstatistiken) der belangten Behörde (vgl. https://www.bfa.gv.at/403/start.aspx, abgerufen am 19.10.2023).
2.3. Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen stützen sich auf die zitierten Quellen. Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie des Umstandes, dass diese Berichte auf verschiedenen voneinander unabhängigen Quellen beruhen und ein übereinstimmendes, in sich schlüssiges und nachvollziehbares Gesamtbild liefern, besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Zudem ist anzumerken, dass die Staatendokumentation der belangten Behörde nach § 5 Abs. 2 BFA-VG verpflichtet ist, gesammelte Tatsachen nach objektiven Kriterien wissenschaftlich aufzuarbeiten und in allgemeiner Form zu dokumentieren. Den UNHCR-Richtlinien ist schon nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besondere Beachtung zu schenken (siehe zB VwGH 07.06.2019, Ra 2019/14/0114). Die Quellen konnten daher ohne Bedenken dem Verfahren zugrunde gelegt werden (vgl. die Feststellungen unter II.1.2.). Die Parteien traten diesen auch nicht entgegen. Ergänzend ist zu der vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen (und nach der Verhandlung in das Verfahren eingebrachten) Anfragebeantwortung (II.1.2.13.) anzumerken, dass diese von der bei der belangten Behörde eingerichteten Staatendokumentation stammt und nicht zulasten des Antrages des Beschwerdeführers herangezogen wurde.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht (Säumnisbeschwerde):
3.1.1. Rechtslage:
Die §§ 8 und 16 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) lauten:
„Frist zur Erhebung der Säumnisbeschwerde
§ 8. (1) Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG (Säumnisbeschwerde) kann erst erhoben werden, wenn die Behörde die Sache nicht innerhalb von sechs Monaten, wenn gesetzlich eine kürzere oder längere Entscheidungsfrist vorgesehen ist, innerhalb dieser entschieden hat. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antrag auf Sachentscheidung bei der Stelle eingelangt ist, bei der er einzubringen war. Die Beschwerde ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde zurückzuführen ist.
(2) In die Frist werden nicht eingerechnet:
1. die Zeit, während deren das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung einer Vorfrage ausgesetzt ist;
2. die Zeit eines Verfahrens vor dem Verwaltungsgerichtshof, vor dem Verfassungsgerichtshof oder vor dem Gerichtshof der Europäischen Union.“
„Nachholung des Bescheides
§ 16. (1) Im Verfahren über Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG kann die Behörde innerhalb einer Frist von bis zu drei Monaten den Bescheid erlassen. Wird der Bescheid erlassen oder wurde er vor Einleitung des Verfahrens erlassen, ist das Verfahren einzustellen.
(2) Holt die Behörde den Bescheid nicht nach, hat sie dem Verwaltungsgericht die Beschwerde unter Anschluss der Akten des Verwaltungsverfahrens vorzulegen. Gleichzeitig hat die Behörde den Parteien eine Mitteilung über die Vorlage der Beschwerde an das Verwaltungsgericht zuzustellen; diese Mitteilung hat den Hinweis zu enthalten, dass Schriftsätze ab Vorlage der Beschwerde an das Verwaltungsgericht unmittelbar bei diesem einzubringen sind.“
3.1.2. Zulässigkeit und Berechtigung:
3.1.2.1. Gemäß § 73 Abs. 1 AVG sind Behörden verpflichtet, wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, über Anträge von Parteien und Berufungen ohne unnötigen Aufschub, spätestens aber sechs Monate nach deren Einlangen den Bescheid zu erlassen.
Das hier anzuwendende AsylG 2005 sieht keine davon abweichende Entscheidungsfrist vor.
Gemäß § 17 Abs. 1 AsylG 2005 ist ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt, wenn ein Fremder in Österreich vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes oder einer Sicherheitsbehörde um Schutz vor Verfolgung ersucht. Gemäß § 17 Abs. 2 AsylG 2005 gilt der Antrag auf internationalen Schutz mit Anordnung des Bundesamtes gemäß § 43 Abs. 1 BFA-VG als eingebracht, soweit sich aus diesem Bundesgesetz oder dem BFA-VG nichts anderes ergibt.
§ 43 Abs. 1 BFA-VG lautet:
„Anordnung zur weiteren Vorgehensweise
§ 43. (1) Das Bundesamt hat auf Basis der gemäß § 42 übermittelten Information unverzüglich anzuordnen, dass
1. im Falle eines zum Aufenthalt berechtigten Fremden dieser aufzufordern ist, sich binnen vierzehn Tagen in einer Erstaufnahmestelle oder Regionaldirektion einzufinden oder
2. im Falle eines nicht zum Aufenthalt berechtigten Fremden
a. dieser zur weiteren Verfahrensführung einer Erstaufnahmestelle, einer Regionaldirektion oder einer Außenstelle vorzuführen ist oder
b. sofern die Vorführung zur weiteren Verfahrensführung nicht erforderlich ist, diesem die kostenlose Anreise in eine bestimmte Betreuungseinrichtung des Bundes zu ermöglichen ist; darüber ist der Fremde in geeigneter Weise zu informieren. § 2 Abs. 1a GVG-B 2005 gilt sinngemäß.
(2) […]“
Den Gesetzesmaterialien zu § 17 Abs. 2 AsylG 2005 ist ua. Folgendes zu entnehmen (vgl. 582 der Beilagen XXV. GP – Regierungsvorlage): „[…] Anstatt für die verschiedenen Konstellationen unterschiedliche Regelungen zu treffen, wird einheitlich normiert, dass Anträge bereits mit Anordnung des Bundesamtes an die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gemäß § 43 Abs. 1 BFA-VG (d.h. der Anordnung der Vorführung bzw. der Anordnung, dem Antragsteller auf internationalen Schutz die Anreise in eine Betreuungseinrichtung zu ermöglichen) als eingebracht gelten. […]“
Am 18.07.2022 stellte der Beschwerdeführer den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Die Anordnung der belangten Behörde gemäß § 43 Abs. 1 BFA-VG erging am 20.07.2022 bzw. am 22.07.2022. Der Antrag des Beschwerdeführers gilt demnach (spätestens) am 22.07.2022 als eingebracht.
Am 26.01.2023, somit etwas mehr als sechs Monate später, langte die vorliegende Säumnisbeschwerde bei der belangten Behörde ein. Am 21.04.2023, dh. nicht ganz drei Monate danach, legte die belangte Behörde die Säumnisbeschwerde dem Bundesverwaltungsgericht vor. Die belangte Behörde hat den Antrag des Beschwerdeführers bisher nicht erledigt. Dies teilte sie dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 19.04.2023 („Säumnisbeschwerdevorlage“) mit.
Die gegenständliche Säumnisbeschwerde wurde demnach zulässig erhoben. Die belangte Behörde hat bis zur Einbringung der Säumnisbeschwerde durch den Beschwerdeführer, die nach Ablauf der sechsmonatigen Entscheidungsfrist erhoben wurde, den beantragten Bescheid nicht erlassen.
Dabei ist zu beachten, dass die belangte Behörde den Bescheid nicht gemäß § 16 VwGVG innerhalb einer Frist von bis zu drei Monaten (ab Einlangen der Säumnisbeschwerde bei der belangten Behörde) nachgeholt hat, weshalb nach ungenütztem Ablauf dieser Dreimonatsfrist die Zuständigkeit auf das Bundesverwaltungsgericht übergegangen ist (vgl. zB VwGH 20.06.2017, Ra 2017/01/0052).
3.1.2.2. Zudem liegt im Beschwerdefall Säumnis aufgrund eines (überwiegenden) Verschuldens der Behörde vor:
Zur Prüfung dieser Frage ergibt sich aus der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes folgender Maßstab (VwGH 24.02.2022, Ra 2020/06/0069):
„Der VwGH hat in Fällen der Verletzung der Entscheidungspflicht zur Frage des überwiegenden Verschuldens der Behörde ausgesprochen, dass der Begriff des Verschuldens der Behörde nach § 73 Abs. 2 AVG bzw. nach § 8 Abs. 1 VwGVG 2014 nicht im Sinne eines Verschuldens von Organwaltern der Behörde, sondern insofern ‚objektiv‘ zu verstehen sei, als ein solches ‚Verschulden‘ dann anzunehmen sei, wenn die zur Entscheidung berufene Behörde nicht durch schuldhaftes Verhalten der Partei oder durch unüberwindliche Hindernisse an der Entscheidung gehindert war. Der VwGH hat ein überwiegendes Verschulden der Behörde darin angenommen, dass diese die für die zügige Verfahrensführung notwendigen Schritte unterlässt oder mit diesen grundlos zuwartet (VwGH 25.10.2017, Ra 2017/07/0073, mwN). Entscheidend ist, ob die notwendigen Ermittlungen im Verfahren innerhalb des Entscheidungszeitraumes vorgenommen werden konnten.“
Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass der allgemeine Hinweis auf die Überlastung der Behörde die Geltendmachung der Entscheidungspflicht nicht vereiteln kann (vgl. VwGH 19.06.2018, Ra 2018/03/0021). Ganz generell haben Behörden dafür Sorge zu tragen, dass durch organisatorische Vorkehrungen eine rasche Entscheidung einer Rechtssache möglich ist (vgl. VwGH 19.02.2020, Ra 2019/12/0083).
Aufgrund besonderer Umstände wurde jedoch im Jahr 2016 vom Verwaltungsgerichtshof Folgendes erwogen (VwGH 10.11.2016, Ro 2016/20/0004, mit Hinweis auf VwGH 24.05.2016, Ro 2016/01/0001):
„Die durch den massiven Zustrom von Schutzsuchenden in der jüngeren Vergangenheit bewirkte Ausnahmesituation, die auch für das BFA eine extreme Belastung darstellt, unterscheidet sich in ihrer Exzeptionalität von sonst allenfalls bei (anderen) Behörden auftretenden, herkömmlichen Überlastungszuständen ihrem Wesen nach, und sohin grundlegend. Die Verpflichtung der Behörde, dafür Sorge zu tragen, dass durch organisatorische Vorkehrungen eine rasche Entscheidung möglich ist, muss in einer solchen Ausnahmesituation zwangsläufig an Grenzen stoßen. Eine Säumnis des BFA, die alleine auf eine derartige Belastungssituation zurückzuführen ist, kann eine Abweisung der Säumnisbeschwerde mangels überwiegenden Verschuldens der Behörde an der Säumnis nach § 8 Abs. 1 letzter Satz VwGVG 2014 begründen.“
In seinem Erkenntnis vom 24.05.2016, Ro 2016/01/0001, nahm der Verwaltungsgerichtshof dabei auf die folgenden gesetzlichen Anpassungen Bezug:
„Auch der Gesetzgeber (AB 1097 BlgNR, 25. GP, S. 7 f) geht davon aus, dass infolge des starken Zustroms Schutzsuchender im Jahr 2015 ‚eine Entscheidung innerhalb von sechs Monaten nicht gewährleistet werden kann‘ und hat deshalb die Verlängerung der Entscheidungsfrist (auf 15 Monate) für geboten erachtet. Gleichzeitig hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass die Verpflichtung der Behörden, entsprechend ihren Möglichkeiten ohne unnötigen Aufschub zu entscheiden, nicht berührt wird.“
Eine mit der Situation in den Jahren 2015 und 2016 im Wesentlichen vergleichbare Lage vermag das Bundesverwaltungsgericht im konkreten Fall unter Beachtung der Stellungnahme der belangten Behörde vom 19.04.2023 jedoch nicht zu bemerken. In ihrer Stellungnahme weist die belangte Behörde zusammengefasst darauf hin, dass sie an der Verzögerung der Erledigung des gegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz kein überwiegendes Verschulden treffe, da es ab Sommer 2021 zu einem deutlichen Anstieg bei den Asylanträgen gekommen sei, welche die belangte Behörde vor ein unbeeinflussbares und unüberwindliches Hindernis stellen würden. Zudem würde das mit dem unvorhersehbaren Krieg in der Ukraine einhergehende vorübergehende Aufenthaltsrecht für Ukraine-Vertriebene eine erhebliche Mehrbelastung für die belangte Behörde darstellen.
Zunächst ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber sich bislang nicht veranlasst sah, eine von § 73 Abs. 1 AVG abweichende (verlängerte) Entscheidungsfrist vorzusehen, wie er dies im Hinblick auf die Antragszahlen in den Jahren 2015 und 2016 mit § 22 Abs. 1 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 24/2016 getan hatte. Des Weiteren ist darauf Bedacht zu nehmen, dass es – auch wenn es im Jahr 2022 mit 112.272 Anträgen auf internationalen Schutz in Relation zu den Jahren 2020 und 2021 zu einem deutlichen zahlenmäßigen Anstieg kam – ca. 41.000 Verfahren davon mit Einstellung erledigt werden konnten. Bezogen auf die 90.994 aus der Ukraine vertriebenen Personen muss davon ausgegangen werden, dass die Ausstellung eines Ausweises für Vertriebene nach § 62 AsylG 2005 in Verbindung mit der VertriebenenVO nicht denselben Bearbeitungsaufwand wie die bescheidmäßige Erledigung eines Antrages auf internationalen Schutz benötigt. Schließlich vermag ein Vergleich der durchschnittlichen Verfahrensdauer – konkret ein Anstieg von 7,4 Monaten im 1. Quartal 2016 auf 21,6 Monate im 3. Quartal 2018 im Verhältnis zu 3,9 Monate im Jahr 2021, 3,5 Monate im Jahr 2022 und 5,7 Monate im 1. Quartal 2023 – eine generelle Überlastung der belangten Behörde nicht zu belegen.
Dazu kommt, dass dem gegenständlichen Akt der belangten Behörde nach der Quartierszuweisung und der Verfahrenszulassung im Juli 2022 außer einem Eurodac- und ein AFIS-Abgleich keine Ermittlungsschritte entnommen werden können. Dass die Verfahrensverzögerung zB durch das Verschulden des Beschwerdeführers verursacht worden wäre oder andere auf das konkrete Verfahren bezogene Ursachen bestanden hätten, macht die belangte Behörde weder geltend, noch ergeben sich entsprechende Hinweise aus dem Verwaltungsakt.
3.1.2.3. Die vorliegende Säumnisbeschwerde ist vor diesem Hintergrund gemäß § 8 VwGVG zulässig und berechtigt, da im konkreten Fall angenommen werden muss, dass die Verzögerung auf ein überwiegendes Verschulden der belangten Behörde zurückzuführen ist. Der Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht ist daher Folge zu geben.
In einem weiteren Schritt hat das Bundesverwaltungsgericht nunmehr in der Sache über den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zu entscheiden (vgl. II.3.2.).
3.2. Antrag auf internationalen Schutz:
3.2.1. Rechtslage und Judikatur:
§ 3 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) lautet:
„Status des Asylberechtigten
§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.
[…]“
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Der Flüchtlingsbegriff umfasst demnach die folgenden im Verfahren zu prüfenden Elemente: wohlbegründete Furcht, Verfolgung, Vorliegen eines Konventionsgrundes, Aufenthalt außerhalb des Heimatlandes, Fehlen der Möglichkeit oder der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme von Schutz im Heimatland (vgl. zB Putzer, Asylrecht² [2011] 28ff).
Einem Fremden ist der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne der GFK droht (§ 3 Abs. 1 AsylG 2005). Gemäß § 3 Abs. 2 AsylG 2005 kann eine Verfolgung auch auf Nachfluchtgründe gestützt werden. Eine Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hat hingegen zu erfolgen, wenn eine drohende Verfolgung nicht glaubhaft ist, eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist (§ 3 Abs. 3 Z 1 iVm § 11 AsylG 2005) oder ein Asylausschlussgrund vorliegt (§ 3 Abs. 3 Z 2 iVm § 6 AsylG 2005).
Zentraler Aspekt des Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung.
Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771).
Aus der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ergibt sich zur Verfolgung (VwGH 31.07.2018, Ra 2018/20/0182):
„Unter ‚Verfolgung‘ im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen (Hinweis E vom 24. März 2011, 2008/23/1443, mwN). § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 umschreibt ‚Verfolgung‘ als jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie, worunter – unter anderem – Handlungen fallen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 MRK keine Abweichung zulässig ist. Dazu gehören insbesondere das durch Art. 2 MRK geschützte Recht auf Leben und das in Art. 3 MRK niedergelegte Verbot der Folter.“
Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen.
Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl. zB VwGH 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.
Für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ist es zum einen nicht zwingend erforderlich, dass bereits in der Vergangenheit Verfolgung stattgefunden hat, zum anderen ist eine solche „Vorverfolgung“ für sich genommen auch nicht hinreichend. Entscheidend ist, ob die betroffene Person vor dem Hintergrund der zu treffenden aktuellen Länderfeststellungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. VwGH 03.05.2016, Ra 2015/18/0212 mwN).
3.2.2. Beschwerdefall:
Der Beschwerdeführer brachte im Verfahren vor, dass er sich weigere, den Militärdienst abzuleisten und deshalb sein Heimatland Syrien am XXXX verlassen habe. In Syrien befürchte er Verfolgung wegen der Verweigerung des Militärdienstes bzw. die (zwangsweise) Einberufung zum Militärdienst. Er lehne das syrische Regime ab, weil „ XXXX “ (vgl. Seite 12 der Niederschrift).
Die geltend gemachte Verfolgung ist gemäß der GFK unter den Gesichtspunkten einer Verfolgung aus Gründen der politischen Gesinnung und/oder der Religion zu würdigen (vgl. UNHCR unter II.1.2.12., wonach – zumal ein Ersatz- oder Alternativdienst nicht vorgesehen ist – Personen, die sich dem Pflichtwehrdienst oder dem Reservewehrdienst aus Gewissensgründen entzogen haben [„Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen“], wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, je nach den Umständen des Einzelfalls auf der Grundlage einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder ihrer Religion).
Aus der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ergibt sich zum Fluchtgrund der Wehrdienstverweigerung insbesondere Folgendes (VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108):
„27 In diesem Zusammenhang weist der Verwaltungsgerichtshof darauf hin, dass die Asylgewährung an Wehrdienstverweigerer neben der Prüfung, ob die schutzsuchende Person bei Rückkehr in den Herkunftsstaat tatsächlich ‚Verfolgung‘ im asylrechtlichen Sinne zu gewärtigen hätte, auch den Konnex dieser Verfolgungshandlung mit einem der fünf in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Konventionsgründe (‚Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung‘) erfordert, die in Art. 10 Statusrichtlinie näher umschrieben werden. In den Worten des Art. 9 Abs. 3 Statusrichtlinie muss eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 genannten Gründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen bestehen.
28 Als Verfolgungshandlungen gegen Wehrdienstverweigerer kommen – im Lichte des Unionsrechts – insbesondere solche nach Art. 9 Abs. 2 lit b, c und e Statusrichtlinie in Betracht, also etwa eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung des Wehrdienstverweigerers (Art. 9 Abs. 2 lit. c) oder eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Art. 12 Abs. 2 fallen (Art. 9 Abs. 2 lit. e); Letzteres betrifft u.a. Fälle, in denen der Militärdienst die Begehung von Kriegsverbrechen umfassen würde, einschließlich solcher, in denen der Asylwerber nur mittelbar an der Begehung solcher Verbrechen beteiligt wäre, wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass er durch die Ausübung seiner Funktionen eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würde (EuGH 26.2.2015, C-472/13, Rs. Shepherd). Hätte der Wehrpflichtige seinen Militärdienst im Kontext eines allgemeinen Bürgerkriegs abzuleisten, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Statusrichtlinie durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist, so besteht nach den Ausführungen des EuGH eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem – allenfalls noch nicht bekannten – Einsatzgebiet dazu veranlasst sein würde, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung der betreffenden Verbrechen teilzunehmen (EuGH 19.11.2020, C-238/19, Rs. EZ).
29 Selbst die Bejahung von Verfolgungshandlungen der geschilderten Art erübrigt es nicht, das Bestehen einer Verknüpfung zwischen (zumindest) einem der in Art. 10 Statusrichtlinie bzw. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Verfolgungsgründe und den Verfolgungshandlungen individuell zu prüfen.
30 Wie der EuGH bereits klargestellt hat, ist die Verweigerung des Militärdienstes in vielen Fällen Ausdruck politischer Überzeugungen (sei es, dass sie in der Ablehnung jeglicher Anwendung militärischer Gewalt oder in der Opposition zur Politik oder den Methoden der Behörden des Herkunftslandes bestehen), religiöser Überzeugungen oder sie hat ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. In diesen Konstellationen können die Verfolgungshandlungen aufgrund der Verweigerung des Wehrdienstes den einschlägigen Verfolgungsgründen zugeordnet werden.
31 Die Verweigerung des Militärdienstes kann allerdings auch aus Gründen erfolgen, die in den Verfolgungsgründen von Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK bzw. Art. 10 Statusrichtlinie keine Deckung finden. Sie kann u.a. durch die Furcht begründet sein, sich den Gefahren auszusetzen, die die Ableistung des Militärdienstes im Kontext eines bewaffneten Konflikts mit sich bringt. Ginge man davon aus, dass die Verweigerung des Militärdienstes in jedem Fall mit einem der von der GFK vorgesehenen Verfolgungsgründe verknüpft ist, würde dies somit in Wirklichkeit darauf hinauslaufen, diesen Gründen weitere Verfolgungsgründe hinzuzufügen, was weder mit der GFK noch mit der Statusrichtlinie in Einklang stünde (EuGH Rs. EZ, Rn. 47 ff).
32 In diesem Sinne hat auch der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass die (bloße) Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrelevante Verfolgung darstellt, sondern nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen kann (VwGH 7.1.2021, Ra 2020/18/0491, mwN).
33 Neben Fällen, in denen die Wehrdienstverweigerung des oder der Betroffenen auf einem Verfolgungsgrund, wie etwa politischer Gesinnung oder religiöser Überzeugung beruht, kann nach der ständigen – auf das hg. Erkenntnis vom 21. März 2002, 99/20/0401, zurückgehenden – Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes einer Wehrdienstverweigerung bei entsprechenden Verfolgungshandlungen auch dann Asylrelevanz zukommen, wenn dem Betroffenen wegen seines Verhaltens vom Verfolger eine oppositionelle (politische oder religiöse) Gesinnung unterstellt wird.
34 In jedem Fall ist es also vor der Asylgewährung wegen behaupteter Wehrdienstverweigerung erforderlich, die drohenden Verfolgungshandlungen wegen dieses Verhaltens im Herkunftsstaat im Sinne des bisher Gesagten zu ermitteln und bejahendenfalls eine Verknüpfung zu einem der Verfolgungsgründe des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK bzw. Art. 10 Statusrichtlinie herzustellen.
35 Auch im Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie gilt, wie der EuGH bereits erkannt hat, nichts anderes. Allein deshalb, weil einem Wehrdienstverweigerer unter den Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie Bestrafung durch die Behörden seines Herkunftsstaates droht, kann die Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund nicht als gegeben angesehen werden. Die Plausibilität der Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und den Verfolgungsgründen ist nach Auffassung des EuGH von den zuständigen nationalen Behörden vielmehr in Anbetracht sämtlicher vom Asylwerber (oder der Asylwerberin) vorgetragenen Anhaltspunkte zu prüfen. Dabei spricht zwar eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 Statusrichtlinie genannten Gründe in Zusammenhang steht. Dies entbindet die Asylbehörde bzw. das nachprüfende BVwG aber nicht von der erforderlichen Plausibilitätsprüfung (EuGH Rs. EZ vgl. dazu auch jüngst deutsches BVerwG, 19.1.2023, 1 C 22.21, u.a. Rn. 48 ff).“
Im Beschwerdefall ist es – nach den Ausführungen in den Feststellungen und der Beweiswürdigung – glaubhaft, dass dem Beschwerdeführer in Syrien (ua. bei der Einreise in sein Heimatland und auf dem Weg in seine Herkunftsregion) mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine unverhältnismäßige Bestrafung aufgrund seiner Weigerung der Ableistung des Militärdienstes für die syrische Regierung oder – entgegen seiner Überzeugung – die sofortige Einberufung zum syrischen Militär droht. Die Wehrdienstverweigerung des Beschwerdeführers beruht auf seinen politischen bzw. weltanschaulichen Überzeugungen, nämlich das Regime keinesfalls unterstützen zu wollen. Der Beschwerdeführer fällt insoweit in eine von UNHCR angeführte Risikogruppe, nämlich jene der „Wehrdienstentzieher und Deserteure der syrischen Streitkräfte“ (vgl. II.1.2.12).
Die Verknüpfung zwischen der befürchteten Verfolgungshandlung des Staates (Inhaftierung und/oder Einberufung) und dem geltend gemachten Verfolgungsgrund der politischen Gesinnung ist im Beschwerdefall daher gegeben bzw. plausibel, zumal der Beschwerdeführer in der Verhandlung klarmachte, mit den Taten des syrischen Regimes nicht einverstanden zu sein und dieses keinesfalls unterstützen zu wollen. Zudem kann im Falle der Einberufung des Beschwerdeführers zum Militärdienst in keiner Weise abgeschätzt werden, welcher Einsatzbereich diesem zugewiesen wird, dh. auch ein Dienst an der Front bzw. Aktivitäten, die Verstöße gegen die Menschenrechte inkludieren, können nicht ausgeschlossen werden (vgl. EuGH 19.11.2020, Rs C‑238/19, Rz 37).
An dieser Einschätzung ändert auch nichts, dass sich die Heimatregion des Beschwerdeführers ( XXXX im Gouvernement Aleppo) aktuell nicht zur Gänze unter der Kontrolle des syrischen Regimes befindet. Aus der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ergibt sich nämlich insbesondere Folgendes (siehe neuerlich VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108):
„14 Erstens ist gemäß § 3 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) einem Fremden, der in Österreich einen (zulässigen) Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat (vgl. § 2 Abs. 1 Z 17 AsylG 2005) Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht. Die für die Asylgewährung erforderliche Verfolgungsgefahr ist daher in Bezug auf den Herkunftsstaat des Asylwerbers oder der Asylwerberin zu prüfen (vgl. dazu etwa VwGH 2.2.2023, Ra 2022/18/0266, mwN). Auch Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK und die Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) stellen auf das Herkunftsland (vgl. etwa Art. 2 lit. n Statusrichtlinie) des Asylwerbers oder der Asylwerberin ab und prüfen die Asylberechtigung hinsichtlich dieses Landes. Eine Einschränkung der Prüfung der Gewährung von Asyl auf die Herkunftsregion des Asylwerbers oder der Asylwerberin innerhalb des Herkunftsstaates ist dieser Rechtslage nicht zu entnehmen.
15 Davon zu unterscheiden ist, dass bei der Prüfung der innerstaatlichen Fluchtalternative nach herrschender Judikatur zwischen der Heimatregion der schutzsuchenden Person und einem in Betracht kommenden verfolgungssicheren Landesteil differenziert wird (vgl. etwa VwGH 25.8.2022, Ra 2021/19/0442; VwGH 9.3.2023, Ra 2022/19/0317); auf das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative nach § 11 Abs. 1 AsylG 2005 kommt es allerdings in einem Fall wie dem vorliegenden, bei dem eine Verfolgung in der Heimatregion verneint wird, nicht an (vgl. etwa VwGH 20.1.2021, Ra 2020/19/0445; VwGH 9.3.2023, Ra 2022/20/0235).
16 Zweitens kommt es nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für die Asylgewährung auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass die schutzsuchende Person in der Vergangenheit bereits verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung (‚Vorverfolgung‘) für sich genommen nicht hinreichend. Entscheidend ist vielmehr, dass der schutzsuchenden Person im Zeitpunkt der Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz (hier: durch das BVwG) im Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in der GFK bzw. in Art. 10 Statusrichtlinie genannten fünf Verfolgungsgründe drohen würde (vgl. etwa VwGH 3.5.2016, Ra 2015/18/0212; VwGH 7.3.2023, Ra 2022/18/0284, mwN).
17 Die Bedachtnahme auf diese beiden rechtlichen Grundsätze führt zu dem Ergebnis, dass das BVwG auch im vorliegenden Fall zu klären hatte, ob der Revisionswerber im Zeitpunkt seiner Entscheidung in seinem Herkunftsstaat mit asylrelevanter Verfolgung rechnen musste.
18 Das BVwG hat eine solche nur bezogen auf die Herkunftsregion verneint und sich mit der Behauptung des Revisionswerbers, schon beim Grenzübertritt von den syrischen Behörden aufgegriffen und verfolgt zu werden, nicht auseinandergesetzt. Damit hat es die erforderlichen Feststellungen zur abschließenden Klärung, ob dem Revisionswerber im Zeitpunkt seiner Entscheidung eine asylrelevante Verfolgung im Herkunftsstaat droht, zu Unrecht unterlassen und insbesondere nicht geklärt, ob die Prozessbehauptung der Verfolgung beim Grenzübertritt in jedem Fall zutrifft.
[…]
25 Die Rechtsansicht des BVwG, es komme auf die (behauptete) Verfolgung des Revisionswerbers aus asylrelevanten Gründen schon beim Grenzübertritt in den Herkunftsstaat nicht an, erweist sich daher als rechtlich unzutreffend, weshalb das angefochtene Erkenntnis keinen Bestand haben kann.
26 Im fortgesetzten Verfahren wird daher näher zu prüfen sein, ob die Behauptung des Revisionswerbers zutrifft, bei Rückkehr in den Herkunftsstaat (allenfalls schon beim Grenzübertritt) wegen seiner Wehrdienstverweigerung asylrelevante Verfolgung zu erfahren.“
Im Beschwerdefall kann nun (gemäß den Feststellungen und der Beweiswürdigung) weder angenommen werden, dass der Beschwerdeführer in sein Heimatland einreisen und/oder seine Herkunftsregion erreichen kann, ohne mit maßgeblicher Wahrscheinlich dem Risiko ausgesetzt zu sein, vom syrischen Regime als Wehrdienstpflichtiger bzw. als Wehrdienstverweigerer identifiziert, verhaftet und in der Folge für die syrische Armee eingezogen zu werden, noch, dass ein direkter Zugriff des syrischen Regimes auf die Heimatregion des Beschwerdeführers ausgeschlossen ist, zumal der Distrikt XXXX unter gemischter Kontrolle steht und das Regime zumindest in Randbereichen vertreten ist.
Die dem Beschwerdeführer in Syrien drohende Situation ist daher im konkreten Fall ( XXXX ) von asylrelevanter Intensität. Eine Inanspruchnahme des Schutzes durch den syrischen Staat ist für den Beschwerdeführer schon deshalb ausgeschlossen, weil die Verfolgung gerade vom syrischen Staat ausgeht.
Es ist daher unter Beachtung der Berichtslage anzunehmen, dass der Beschwerdeführer in Syrien mit hoher Wahrscheinlichkeit Eingriffe asylrelevanter Intensität mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat und er sich sohin aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne der GFK, konkret aus Gründen der politischen Gesinnung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und in Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in sein Heimatland zurückzukehren.
Alle für den Flüchtlingsbegriff zu prüfenden Elemente (wohlbegründete Furcht, Verfolgung, Vorliegen eines Konventionsgrundes, Aufenthalt außerhalb des Heimatlandes, Fehlen der Möglichkeit oder der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme von Schutz im Heimatland) sind im Beschwerdefall daher gegeben.
Eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative existiert für den Beschwerdeführer schon deshalb nicht, weil die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Widerspruch zum gewährten subsidiären Schutz stehen würde (vgl. VwGH 15.10.2015, Ra 2015/20/0181).
Das Vorliegen eines Asylausschlussgrundes (§ 6 AsylG 2005) oder eines Endigungsgrundes (Art. 1 Abschnitt C GFK) ist im Verfahren nicht hervorgekommen.
3.3. Ergebnis:
Dem Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 18.07.2022 ist daher stattzugeben und ihm gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Nur ergänzend ist anzumerken, dass in der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ein ausdrücklicher Abspruch, dass der Säumnisbeschwerde stattgegeben werde, auch wenn ein solcher Abspruch regelmäßig keine Verletzung in subjektiven Rechten bewirkt, nicht vorzunehmen ist (vgl. zB VwGH 09.11.2022, Ra 2022/11/0168).
Das Bundesverwaltungsgericht verweist darauf, dass der Beschwerdeführer seinen Antrag auf internationalen Schutz nach dem 15.11.2015 stellte, wodurch gemäß § 75 Abs. 24 AsylG 2005 die Regelungen des § 2 Abs. 1 Z 15 und § 3 Abs. 4 AsylG 2005 („Asyl auf Zeit“) im konkreten Fall Anwendung finden. Dementsprechend kommt dem Beschwerdeführer eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung zu, welche sich in eine unbefristete Aufenthaltsberechtigung umändert, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status der Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird.
Zu B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zum Zeitpunkt der Entscheidung an. In diesem Zusammenhang ist die Frage, ob eine aktuelle Verfolgungsgefahr vorliegt, eine Einzelfallentscheidung, die grundsätzlich – wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde – nicht revisibel (vgl. VwGH 07.12.2022, Ra 2022/20/0076).
Die Revision ist nicht zulässig. Es liegt weder einer der vorgenannten Fälle, noch liegen sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal die gegenständliche Entscheidung eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Beurteilung auf der Grundlage der unter II.3. zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes beinhaltet.