JudikaturBVwG

W202 2277840-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
20. September 2023

Spruch

W202 2277840-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Bernhard SCHLAFFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.08.2023, Zl. XXXX , zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Vater der Beschwerdeführerin (BF), XXXX , geb. XXXX , hatte am 08.08.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Mit Bescheid vom 15.10.2015, Zl XXXX , wies die belangte Behörde unter Spruchpunkt I. den Antrag des Vaters der BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG, BGBl I Nr. 100/2005 idgF (AsylG) ab. Unter Spruchpunkt II. wurde ebenso der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen. Unter Spruchpunkt III. wurde dem Vater der BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt und eine Rückkehrentscheidung erlassen. Es erging darüber hinaus die Feststellung zur Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan. Für die freiwillige Ausreise wurden dem BF 14 Tage ab Rechtskraft eingeräumt (Spruchpunkt IV.).

Dagegen erhob der Vater der BF Beschwerde, wobei er die Beschwerde gegen die Abweisung in Spruchpunkt I. (Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten) in der mündlichen Verhandlung am 18.2.2016 zurückzog.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 08.03.2016 wurde dem Vater der Beschwerdeführerin der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt. Weiters wurde ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 08.03.2017 erteilt.

Die Mutter der BF, XXXX , geb. am XXXX , stellte am 18.02.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.04.2022 wurde der Antrag der Mutter der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) abgewiesen. Unter Spruchpunkt II. wurde ausgesprochen, dass der Mutter der Beschwerdeführerin der Status der subsidiär Schutzberechtigen gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG zuerkannt wird und wurde ihr gemäß § 8 Abs. 4 AsylG unter Spruchpunkt III. eine befristete Aufenthaltsbewilligung bis zum 17.07.2022 erteilt.

Gegen Spruchpunkt I (Nichtzuerkennung von Asyl) erhob die Mutter der BF Beschwerde, die mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.07.2022, Zl. W218 2254700-1/9E, als unbegründet abgewiesen wurde.

2. Die BF wurde am XXXX in Österreich geboren und stellte durch ihren Vater als gesetzlichen Vertreter am 12.06.2023 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz und führte dabei an, dass die BF keine eigenen Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen habe.

3. Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Antrag der BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Ziffer 13 AsylG 2005 abgewiesen. Gem. § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde der BF im Familienverfahren, abgeleitet von ihrem Vater, dem der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt worden war, der Status der subsidiär Schutzberechtigten erteilt und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr gewährt.

4. Gegen Spruchpunkt I. (Nichtzuerkennung von Asyl) erhob die BF Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Der BF drohe in Afghanistan aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Mädchen und Frauen in Afghanistan und wegen ihrer „westlichen Orientierung“ asylrelevante Verfolgung. Frauen würden aufgrund der bestehenden Berufsverbote in die Armut getrieben und bestehe zudem ein erhöhtes Risiko der Ausbeutung von Frauen und Mädchen und ergebe sich aus den Länderberichten ein besorgniserregender Anstieg an Kinderhandel. Die Taliban-Führer würden nach Einschätzung von UNHCR eine weitreichende und systematische geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen und Mädchen institutionalisieren.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die BF wurde am XXXX in Österreich als leibliche Tochter von XXXX und XXXX geboren. Die BF ist Angehörige der Volksgruppe der Paschtunen und der sunnitischen Religionsgemeinschaft zugehörig. Die Eltern der BF lebten vor der Ausreise nach Europa in der Provinz Paktia und die BF war selbst nie in Afghanistan.

Die BF ist gesund.

Der Vater der BF wurde vom BFA im Jahr 2016 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Der Mutter der BF wurde vom BFA der Status der subsidiär Schutzberechtigten im Jahr 2022 zuerkannt. Der Status von Asylberechtigten kommt ihnen nicht zu.

Der BF wurde mit Bescheid vom 29.03.2023 gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten, abgeleitet im Familienverfahren nach ihrem Vater, zuerkannt.

II.1.2. Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aktuelle, konkret gegen ihre Person gerichtete Bedrohung oder Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Gesinnung durch staatliche Organe oder durch Privatpersonen zu erwarten hätte.

II.1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Stand 21.03.2023, Schreibfehler teilweise korrigiert):

„[...] 3. Politische Lage

Letzte Änderung: 21.03.2023

Die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan haben sich mit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 grundlegend verändert (AA 20.07.2022). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das Islamische Emirat Afghanistan (USIP 17.08.2022; vgl. VOA 01.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen. Seit ihrer Machtübernahme hat die Gruppe jedoch nur vage erklärt, dass sie im Einklang mit dem „islamischen Recht und den afghanischen Werten“ regieren wird, und hat nur selten die rechtlichen oder politischen Grundsätze dargelegt, die ihre Regeln und Verhaltensweisen bestimmen (USIP 17.08.2022). Die Verfassung von 2004 ist de facto ausgehebelt. Ankündigungen über die Erarbeitung einer neuen Verfassung sind bislang ohne sichtbare Folgen geblieben. Die Taliban haben begonnen, staatliche und institutionelle Strukturen an ihre religiösen und politischen Vorstellungen anzupassen (AA 20.07.2022).

Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan übernahmen die Taliban rasch die Staatsgewalt (USIP 17.08.2022; vgl. AA 20.07.2022) und erklärten Haibatullah Akhundzada zu ihrem obersten Führer (Afghan Bios 07.07.2022a; vgl. REU 07.09.2021a; VOA 19.08.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 08.09.2021; vgl. DIP 04.01.2023). Innerhalb weniger Wochen kündigten sie „Interims“-Besetzungen für alle Ministerien bis auf ein einziges an, wobei die Organisationsstruktur der vorherigen Regierung beibehalten wurde (USIP 17.08.2022; vgl. AA 20.07.2022) - das Ministerium für Frauenangelegenheiten blieb unbesetzt und wurde später aufgelöst (USIP 17.08.2022; vgl. HRW 04.10.2021). Alle amtierenden Minister waren hochrangige Taliban-Führer; es wurden keine externen politischen Persönlichkeiten ernannt, die überwältigende Mehrheit war paschtunisch, und alle waren Männer. Seitdem haben die Taliban die interne Struktur verschiedener Ministerien mehrfach geändert und das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters wiederbelebt, das in den 1990er-Jahren als strenge „Sittenpolizei“ berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.08.2022). Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (ICG 24.08.2021; vgl. USDOS 12.04.2022a), wobei weibliche Angestellte aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben (BBC 19.09.2021; vgl. GD 20.09.2021). Die für die Wahlen zuständigen Institutionen, sowie die Unabhängige Menschenrechtskommission, der Nationale Sicherheitsrat und die Sekretariate der Parlamentskammern wurden abgeschafft (AA 20.07.2022).

Der Ernennung einer aus 33 Mitgliedern bestehenden geschäftsführenden Übergangsregierung im September 2021 folgten zahlreiche Neuernennungen und Umbesetzungen auf nationaler, Provinz- und Distriktebene in den folgenden Monaten, wobei Frauen weiterhin gar nicht und nicht-paschtunische Bevölkerungsgruppen nur in geringem Umfang berücksichtigt wurden (AA 20.07.2022) Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 08.09.2021; vgl. REU 07.09.2021b, Afghan Bios 05.04.2022).

Stellvertretende vorläufige Premierminister sind Abdul Ghani Baradar (AJ 07.09.2021; vgl. REU 07.09.2021b, Afghan Bios 16.02.2022) der die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten in Doha vertrat und das Abkommen mit ihnen am 29.02.2021 unterzeichnete (AJ 07.09.2021; vgl. VOA 29.02.2020) und Abdul Salam Hanafi (REU 07.09.2021b; vgl. Afghan Bios 07.07.2022b) der unter dem ersten Taliban-Regime Bildungsminister war (Afghan Bios 07.07.2022b; vgl. UNSC o. D. a.). Im Oktober 2021 wurde Maulvi Abdul Kabir zum dritten stellvertretenden Premierminister ernannt (Afghan Bios 30.05.2022; vgl. 8am 05.10.2021, UNGA 28.01.2022).

Weitere Mitglieder der vorläufigen Taliban-Regierung sind unter anderem Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerkes (Afghan Bios 04.08.2022a; vgl. JF 05.11.2021) als Innenminister (REU 07.09.2021b; vgl. Afghan Bios 22.12.2022) und Amir Kahn Mattaqi als Außenminister (REU 07.09.2021b; vgl. Afghan Bios 04.08.2022a), der die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinten Nationen vertrat und im ersten Taliban-Regime unter anderem den Posten des Kulturministers innehatte (Afghan Bios 04.08.2022a; vgl. UNSC o. D. b. ). Der Verteidigungsminister der vorläufigen Taliban-Regierung ist Mohammed Yaqoob (REU 07.09.2021b; vgl. Afghan Bios 04.08.2022b) dem 2020 der Posten des militärischen Leiters der Taliban verliehen wurde (Afghan Bios 04.08.2022b; vgl. RFE/RL 29.08.2020). Auch hohe Beamte auf subnationaler Ebene, darunter Provinzgouverneure, Polizeichefs, Abteilungsleiter, Bürgermeister und Distriktgouverneure, wurden in weiterer Folge ernannt (UNGA 28.01.2022; vgl. 8am 05.10.2021).

Nach ihrer Machtübernahme kündigten hochrangige Taliban-Führer eine weitreichende Generalamnestie an, die Repressalien für Handlungen vor der Machtübernahme durch die Taliban untersagte, auch gegen Beamte und andere Personen, die mit der Regierung vor dem 15.08.2021 in Verbindung standen (USDOS 12.04.2022a; vgl. UNGA 28.01.2022). Es wird jedoch berichtet, dass diese Amnestie nicht konsequent eingehalten wurde, und es kam zu willkürlichen Verhaftungen, gezielten Tötungen und Angriffen auf ehemalige afghanische Regierungsmitarbeiter (ANI 20.07.2022; vgl. USDOS 12.04.2022a, UNGA 28.01.2022).

Sah es in den ersten sechs Monaten ihrer Herrschaft so aus, als ob das Kabinett unter dem Vorsitz des Premierministers die Regierungspolitik bestimmen würde, wurden die Minister in großen und kleinen Fragen zunehmend vom Emir, Haibatullah Akhundzada, überstimmt (USIP 17.08.2022). Diese Dynamik wurde am 23.03.2022 öffentlich sichtbar, als der Emir in letzter Minute die lange versprochene Rückkehr der Mädchen in die Oberschule kippte (USIP 17.08.2022; vgl. RFE/RL 24.03.2022, UNGA 15.06.2022), was Experten als ein Zeichen für eine Spaltung der Gruppe in Bezug auf die künftige Ausrichtung der Herrschaft in Afghanistan bezeichnen (GD 06.07.2022). Seitdem sind die Mädchenbildung und andere umstrittene Themen ins Stocken geraten, da pragmatische Taliban-Führer dem Emir nachgeben, der sich von ultrakonservativen Taliban-Klerikern beraten lässt. Ausländische Diplomaten haben begonnen, von „duellierenden Machtzentren“ zwischen den in Kabul und Kandahar ansäßigen Taliban zu sprechen (USIP 17.08.2022), und es gibt auch Kritik innerhalb der Taliban, beispielsweise als im Mai 2022 ein hochrangiger Taliban-Beamter als erster die Taliban-Führung offen für ihre repressive Politik in Afghanistan kritisierte (RFE/RL 03.06.2022a). Doch der Emir und sein Kreis von Beratern und Vertrauten in Kandahar kontrollieren nicht jeden Aspekt der Regierungsführung. Mehrere Ad-hoc-Ausschüsse wurden ernannt, um die Politik zu untersuchen und einen Konsens zu finden, während andere Ausschüsse Prozesse wie die Versöhnung und die Rückkehr politischer Persönlichkeiten nach Afghanistan umsetzen. Viele politische Maßnahmen unterscheiden sich immer noch stark von einer Provinz zur anderen des Landes. Die Taliban-Beamten haben sich, wie schon während ihres Aufstands, als flexibel erwiesen, je nach den Erwartungen der lokalen Gemeinschaften. Darüber hinaus werden viele Probleme nach wie vor über persönliche Beziehungen zu einflussreichen Taliban-Figuren gelöst, unabhängig davon, ob deren offizielle Position in der Regierung für das Problem verantwortlich ist (USIP 17.08.2022).

Die Taliban haben die Umstrukturierung staatlicher Einrichtungen auch 2022 fortgesetzt und ehemaliges Regierungspersonal durch Taliban-Mitglieder ersetzt, wobei sie häufig versuchten, verschiedenen Gruppen entgegenzukommen und durch diese Ernennungen interne Spannungen zu lösen. Im Januar verkleinerten die Behörden die frühere unabhängige Kommission für Verwaltungsreform und öffentlichen Dienst und legten sie mit dem Büro für Verwaltungsangelegenheiten zusammen. Am 07.04.2022 kündigte das Justizministerium der Taliban die Abschaffung der Abteilung für politische Parteien an und schloss damit die Registrierung von politischen Parteien aus. Am 04.05.2022 wurden die Unabhängige Menschenrechtskommission, die Kommission für die Überwachung der Umsetzung der Verfassung und die Sekretariate von Ober- und Unterhaus des Parlaments aufgelöst (UNGA 15.06.2022).

Bisher hat noch kein Land die Regierung der Taliban anerkannt (TN 30.10.2022; vgl. RFE/RL 01.05.2022), dennoch sind Vertreter aus Indien, China, Usbekistan, der Europäischen Union, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten in Kabul präsent (TN 30.10.2022). [...]

4. Sicherheitslage

Letzte Änderung: 21.03.2023

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.05.2021; vgl. UNGA 02.09.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 01.07.2021; vgl. AJ 02.07.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimroz - am 06.08.2021 (AAN 15.08.2021). Innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGA 02.09.2021).Am 15.08.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland, und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.08.2021; vgl. REU 16.08.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.08.2021; vgl. AAN 15.08.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren war nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.08.2021), auch wurde die weitverbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.08.2021).

Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.08.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes deutlich zurückgegangen - mit weniger zivilen Opfern (UNGA 28.01.2022, vgl. UNAMA 7.2022) und weniger sicherheitsrelevanten Vorfällen im restlichen Verlauf des Jahres 2021 (USDOS 12.04.2022a). So sind nach Angaben der UN konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) seit der Eroberung des Landes durch die Taliban deutlich zurückgegangen (UNGA 28.1.2022). Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften hat sich auch die Zahl der zivilen Opfer erheblich verringert (UNGA 28.01.2022; vgl. UNAMA 7.2022). Für den Zeitraum zwischen 15.08.2021 und 15.06.2022 dokumentierte UNAMA 2.106 zivile Opfer, die überwiegend durch Angriffe mit IEDs, die dem Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) zugeschrieben werden, und durch nicht explodierte Sprengkörper (UXO) verursacht wurden. Des weiteren wurden 257 außergerichtliche Tötungen und 313 willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen festgestellt, die zu einem großen Teil ehemalige Angehörige der afghanischen Streitkräfte (ANDSF) und der ehemaligen Regierung betreffen, aber auch Personen, die beschuldigt werden, dem ISKP oder der National Resistance Front (NRF) anzugehören (UNAMA 7.2022). Insbesondere die ländlichen Gebiete sind sicherer geworden, und die Menschen können in Gegenden reisen, die in den letzten 15-20 Jahren als zu gefährlich oder unzugänglich galten, da sich die Sicherheit auf den Straßen durch den Rückgang der IEDs verbessert hat (NYT 15.09.2021; vgl. DIS 12.2021).

Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Machtübernahme der Taliban folgend:

19.08.2021 - 31.12.2021: 985 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 91% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.01.2022)

01.01.2022 - 21.05.2022: 2.105 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 467% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 15.06.2022)

22.05.2022 - 16.08.2022: 1.642 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 77,5% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 14.09.2022)

17.08.2022 - 13.11.2022: 1.587 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 23% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 07.12.2022)

Trotz des Rückgangs der Gewalt sahen sich die Taliban-Behörden mit mehreren Herausforderungen konfrontiert, darunter eine Zunahme der Angriffe auf deren Mitglieder (UNGA 28.01.2022) und verstärkte Aktivitäten der bewaffneten Opposition. UNAMA registrierte 22 bewaffnete Gruppen, die behaupten, in elf Provinzen zu operieren (UNGA 07.12.2022). So kam es auch in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 zu Kämpfen zwischen NRF und den Taliban. Zusammenstöße gibt es in den Provinzen Panjsher (Afintl 15.08.2022; vgl. AJ 14.09.2022, 8am 13.10.2022, AMU 13.12.2022), Takhar (8am 14.08.2022; vgl. AaNe 21.08.2022, 8am 23.10.2022), Baghlan (8am 17.08.2022; vgl. KP 21.08.2022, Afintl 12.12.2022), Khost (8am 13.08.2022), Kapisa (AaNe 24.08.2022; vgl. 8am 21.11.2022a) und Badakhshan (Afintl 11.10.2022a; AMU 13.12.2022, Afintl 26.12.2022).

Die Aktivitäten des ISKP haben sich seit der Machtübernahme der Taliban verstärkt (UNGA 28.01.2022; vgl. UNGA 15.06.2022, UNGA 14.09.2022, UNGA 07.12.2022), und auch wenn diese im Lauf des Jahres 2022 wieder abnahmen, so blieben die Opferzahlen weiterhin erheblich (UNGA 07.12.2022). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara sowie auf Hindus, Sikhs, Sufis aber auch die Taliban (UNGA 14.09.2022; vgl. HRW 12.01.2023).

Zu mehreren größeren Anschlägen gegen religiöse Ziele bekannte sich niemand, darunter ein Selbstmordattentat in der Gazargah-Moschee in Herat City am 02.09.2022, bei dem 20 Menschen getötet wurden, darunter ein pro-Taliban-Kleriker, und 22 weitere verletzt wurden; die Detonation eines improvisierten Sprengsatzes in Kabul am 23.09.2022, bei der vier Zivilisten getötet und 52 verwundet wurden; und ein Selbstmordattentat am 05.10.2022 in der Moschee des Innenministeriums, bei dem neun Menschen getötet und 30 verletzt wurden (UNGA 07.12.2022).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3% der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind, und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 79,7% bzw. 70,7% der Befragten an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.01.2022).

Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt, diesmal ausschließlich in Kabul. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 03.02.2023). [...]

4.1. Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Letzte Änderung: 21.03.2023

Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräften abzusehen (AA 20.07.2022; vgl. USDOS 12.04.2022a), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.08.2021a; vgl. DW 20.08.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 01.11.2021; vgl. NYT 29.08.2021) unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.08.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Iris-Scans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.03.2022).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.08.2021; vgl. BBC 20.08.2021a, 8am 14.11.2022). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 09.01.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.08.2021). [...]

5. Regionen Afghanistans

Letzte Änderung: 27.02.2023

[...] Afghanistan verfügt über 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.230 Quadratkilometern (CIA 29.12.2022) leben ca. 34,3 (NSIA 4.2022) bis 38,3 Millionen Menschen (CIA 29.12.2022). Afghanistan befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban (ICG 12.08.2022; vgl. AA 20.07.2022) und grenzt an sechs Länder: China (91 km), Iran (921 km) Pakistan (2.670 km), Tadschikistan (1.357 km), Turkmenistan (804 km), Usbekistan (144 km) (CIA 29.12.2022).

[...]

6. Zentrale Akteure

6.1. Taliban

Letzte Änderung: 21.03.2023

Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe, die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.08.2022; vgl. USDOS 12.04.2022a). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das „Islamische Emirat Afghanistan“ (USIP 17.08.2022; vgl. VOA 01.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.08.2022).

Nach der US-geführten Invasion, mit der das ursprüngliche Regime 2001 gestürzt wurde, gruppierten sich die Taliban jenseits der Grenze in Pakistan neu und begannen weniger als zehn Jahre nach ihrem Sturz mit der Rückeroberung von Gebieten (CFR 17.08.2022). Nachdem die Vereinigten Staaten ihre verbleibenden Truppen im August 2021 aus Afghanistan abzogen, eroberten die Taliban mit einer raschen Offensive die Macht in Afghanistan (CFR 17.08.2022; vgl. USDOS 12.04.2022a). Am 15.08.2021 floh der bisherige afghanische Präsident Ashraf Ghani aus Afghanistan, und die Taliban nahmen Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (BBC 15.08.2022; vgl. AI 29.03.2022).

Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.08.2022; vgl. Rehman A./PJIA 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 07.07.2022a; vgl. CFR 17.08.2022, Rehman A./PJIA 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022a; vgl. Afghan Bios 07.07.2022a, REU 07.09.2021a).

Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 unterstand die militärische Befehlskette der Kommission für militärische Angelegenheiten der Taliban. Diese Einrichtung wurde von Mullah Yaqoob, der 2020 zum Leiter der militärischen Operationen der Taliban ernannt wurde, sowie Sirajuddin Haqqani, dem Anführer des Haqqani-Netzwerks, dominiert (EUAA 8.2022a, RFE/RL 06.08.2021). Die Kommission für militärische Angelegenheiten funktionierte ähnlich wie ein Ministerium, mit „Vertretern auf Zonen-, Provinz- und Distriktebene“ (VOA 05.09.2021; vgl. EUAA 8.2022a).

In der Befehlskette von der untersten Ebene aufwärts untersteht jeder Taliban-Befehlshaber auf Distriktebene einem Provinzkommando. Drei oder mehr Provinzkommandos bilden Berichten zufolge einen von sieben regionalen „Kreisen“. Diese „Kreise“ werden von zwei stellvertretenden Leitern der Kommission für militärische Angelegenheiten beaufsichtigt, von denen einer für die „westliche Zone“ der militärischen Führung der Taliban (die 21 Provinzen umfasst) und der andere für die „östliche Zone“ (13 Provinzen) zuständig war (RFE/RL 06.08.2021; vgl. EUAA 8.2022a). Nach Einschätzung des United States Institute of Peace (USIP) wurde diese Aufteilung der Zuständigkeiten für militärische Angelegenheiten zwischen Yaqoob und Haqqani offenbar durch ihre jeweilige Ernennung zum Innen- und Verteidigungsminister der Taliban im September 2021 gefestigt (USIP 09.09.2021; vgl. EUAA 8.2022a).

Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban, sich von „einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität“ zu entwickeln (EUAA 8.2022a; vgl. NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022a; vgl. DW 11.10.2021), und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022a; vgl. REU 10.09.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022a; vgl. DW 11.10.2021).

Haqqani-Netzwerk

Das Haqqani-Netzwerk hat seine Wurzeln im Afghanistan-Konflikt der späten 1970er-Jahre. Mitte der 1980er-Jahre knüpfte Jalaluddin Haqqani, der Gründer des Haqqani-Netzwerks, eine Beziehung zum Führer von Al-Qaida, Usama bin Laden (UNSC o. D.c; vgl. FR24 21.08.2021). Jalaluddin schloss sich 1995 der Taliban-Bewegung an (UNSC o. D.c; vgl. ASP 01.09.2020), behielt aber seine eigene Machtbasis an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan (UNSC o. D. c). Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 übernahm Jalaluddins Sohn, Sirajuddin Haqqani, die Kontrolle über das Netzwerk (UNSC o. D.c, vgl. VOA 04.08.2022). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.08.2021; vgl. UNSC o. D. c). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom, auch wenn es den Taliban angehört (FR24 21.08.2021).

Es befehligt eine Truppe von 3.000 bis 10.000 traditionellen bewaffneten Kämpfern in den Provinzen Khost, Paktika und Paktia (VOA 30.08.2022). Berichten zufolge kontrolliert die Gruppe inzwischen auch mindestens eine Eliteeinheit und überwacht die Sicherheit in Kabul und in weiten Teilen Afghanistans (VOA 30.08.2022; vgl. UNSC 26.05.2022).

Das Netzwerk unterhält Verbindungen zu Al-Qaida und, zumindest zeitweise bis zur Machtübernahme der Taliban, dem Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) (VOA 30.08.2022; vgl. UNSC 26.05.2022). Es wird angemerkt, dass nach der Machtübernahme und der Eskalation der ISKP-Angriffe kein Raum mehr für Unklarheiten in der strategischen Konfrontation der Taliban mit ISKP bestand und es daher nicht im Interesse der Haqqanis lag, solche Verbindungen zu pflegen (UNSC 26.05.2022). Zudem wird vermutet, dass auch enge Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst (VOA 30.08.2022; vgl. DT 07.05.2022) und den Tehreek-e Taliban (TTP), den pakistanischen Taliban, bestehen (UNSC 26.05.2022). [...]

6.2. Anti-Taliban-Widerstandsgruppen / Opposition

Letzte Änderung: 21.03.2023

Eine formelle, organisierte politische Opposition im Land ist nicht vorhanden (AA 20.07.2022; vgl. FH 24.02.2022a). Eine Reihe ehemaliger politischer Akteure, sowohl aus ehemaligen Regierungskreisen als auch aus der ehemaligen politischen Opposition, befinden sich im Ausland. Einige prominente Politiker, wie der ehemalige Vorsitzende des Hohen Rates für Nationale Versöhnung, Abdullah Abdullah, und der ehemalige Präsident Hamid Karzai, befinden sich weiterhin in Kabul. Ihr Aktionsradius ist äußerst eingeschränkt, ihre öffentlichen Äußerungen sind von großer Zurückhaltung geprägt. Die ehemalige Bürgermeisterin von Maidan Shar, Zarifa Ghafari, ist eine der wenigen Politikerinnen, die seit der Machtübernahme temporär nach Kabul zurückgekehrt ist (AA 20.07.2022).

Der Informationsfluss in Afghanistan ist insbesondere im Hinblick auf oppositionelle Bewegungen stark eingeschränkt, und die Taliban zensieren die Berichterstattung. Dies macht die Einschätzung eines definitiven Bildes der Situation oft sehr schwierig (BAMF 10.2022; vgl. RFE/RL 13.05.2022a).

In Afghanistan gibt es eine Reihe verschiedener Gruppierungen, die sich der Taliban-Herrschaft widersetzen, wobei sich deren Führung oft im Ausland aufhält (Migrationsverket 29.04.2022; vgl. EUAA 8.2022a). Auch wenn diese ähnliche oder identische Ziele verfolgen würden, findet zwischen diesen Gruppierungen wenig bis gar keine Koordinierung bzw. Zusammenarbeit statt (Migrationsverket 29.04.2022; vgl. SIGA 07.04.2022, VOA 28.04.2022b). Auch gibt es zwischen den Gruppierungen Rivalitäten darüber, welche Gruppierung „am fähigsten ist, den Anti-Taliban-Widerstand anzuführen“ (SIGA 07.04.2022).Aktuell gehen Experten nicht davon aus, dass die bewaffneten Gruppen, die in Afghanistan aktiv sind und gegen die Taliban kämpfen, eine tatsächliche Gefahr für das Regime darstellen (FR24 15.08.2022; vgl. BAMF 10.2022, SIGA 07.04.2022, AA 20.07.2022). Auch wenn die Unterstützung der Taliban innerhalb der Bevölkerung Afghanistans eher gering ist, so wird Stabilität bewaffneten Auseinandersetzungen vorgezogen, womit auch die Unterstützung der bewaffneten Gruppen als mäßig einzuschätzen ist (FR24 15.08.2022; vgl. BAMF 10.2022). [...]

6.2.1. National Resistance Front (NRF)

Letzte Änderung: 01.03.2023

Im Panjsher-Tal, rund 145 km von Kabul entfernt (DIP 20.08.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 die National Resistance Front (NRF) (AA 20.07.2022; vgl. LWJ 06.09.2021, ANI 06.09.2021), die von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghanischer Geheimdienst], und Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird (LWJ 06.09.2021; vgl. ANI 06.09.2021). Die NRF erklärt, dass sie demokratische Wahlen anstreben und das afghanische Volk selbst über die Zukunft des Landes entscheiden soll (REU 30.11.2022; vgl. Afintl 30.06.2022).

Die NRF besteht Berichten zufolge aus Zivilisten, ehemaligen ANDSF-Mitarbeitern (SIGAR 30.04.2022; vgl. RFE/RL 13.05.2022b) und ehemaligen Mitgliedern der Regierung sowie politischen Opposition (UNGA 28.01.2022). Die meisten Mitglieder der Gruppe sind ethnische Tadschiken (RFE/RL 19.05.2022; vgl. AJ 17.10.2022).Auch wenn Berichten zufolge die NRF die bekannteste bzw. die am weitesten entwickelte Anti-Taliban-Widerstandsgruppe ist (VOA 28.04.2022b; vgl. ISW 13.01.2023), herrscht weiterhin Unklarheit darüber, welche Gruppen mit ihr verbündet sind (Migrationsverket 29.04.2022). Im April 2022 wurde geschätzt, dass die Gruppierung über einige Tausend Kämpfer verfügt (VOA 28.04.2022b), wobei die NRF im August verkündete, über 4.000 Kämpfer unter ihrem Kommando stehen (8am 31.08.2022; vgl. BAMF 10.2022). Die NRF besteht auch aus mehreren regionalen Einheiten, deren Kommandeure loyal zu Massoud sind (VOA 28.04.2022b; vgl. REU 30.11.2022). Unter den Kämpfern sind auch Einheiten der ehemaligen afghanischen Armee (BBC 16.05.2022; vgl. BAMF 10.2022). So soll sich beispielsweise die Spezialeinheit „Afghan National Army Special Operations Command“ (ANASOC) der NRF angeschlossen haben (BAMF 10.2022). Eine afghanische NGO und ein Analyst aus Kabul weisen jedoch darauf hin, dass die große öffentliche Aufmerksamkeit, welche die NRF in den Medien und auf anderen Kanälen erfährt, nicht die begrenzte Anzahl von Anhängern widerspiegelt, die die Gruppe in Afghanistan hat (Migrationsverket 29.04.2022; vgl. EUAA 8.2022a).

Auch wenn der NRF international gut vernetzt ist, vor allem in den USA (BAMF 10.2022; vgl. VOA 01.11.2021), beschwert sich Massoud über fehlende internationale Unterstützung (BAMF 10.2022; vgl. BBC 12.07.2022, AC 11.08.2022). In einer nicht zu bestätigenden Erklärung Ende März 2022 erklärte die NRF, dass sie in mehr als zwölf Provinzen aktiv sei, auch im Süden und Osten des Landes (SIGA 07.04.2022; vgl. NYSUN 16.01.2023, ObRF 17.06.2022), unter anderem in den Provinzen Panjsher, Baghlan, Takhar, Nangarhar, Kapisa, (ObRF 17.06.2022) Parwan und Badakhshan (SE 20.12.2022). Im Juni gab ein Sprecher der NRF an, dass sie hauptsächlich Waffen verwenden, die aus Tadschikistan und Usbekistan über die Grenze geliefert werden würden, jedoch litt die Gruppierung Berichten zufolge unter einen Mangel an Munition (Afintl 31.12.2022; vgl. EUAA 8.2022a).

Medien berichten von mehreren Angriffen, die vor allem auf Kontrollpunkte und Außenposten der Taliban abzielen und dem NRF zugeschrieben werden (NYT 04.03.2022), wobei von verstärkten Kämpfen im Jänner/Februar (ACLED/APW 4.2022b; vgl. 8am 25.05.2022, 8am 17.01.2022) sowie im Mai 2022 berichtet wurde (RFE/RL 19.05.2022; vgl. 8am 05.05.2022). Aus dem Panjsher-Tal wurde berichtet, dass Angriffe auf Taliban-Stellungen regelmäßig stattfanden und Dutzende von Menschen, sowohl Taliban-Kämpfer (VOA 14.09.2022; vgl. Telegraph 12.05.2022) als auch Mitglieder der Widerstandsbewegung, getötet worden waren (VOA 14.09.2022; vgl. AMU 14.09.2022, AN 18.10.2022).

Auch in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 gehen die Kämpfe zwischen NRF und den Taliban weiter. Zusammenstöße gibt es in den Provinzen Panjsher (Afintl 15.08.2022; vgl. AJ 14.09.2022, 8am 13.10.2022, AMU 13.12.2022),Takhar (8am 14.08.2022; vgl. AaNe 21.08.2022, 8am 23.10.2022), Baghlan (8am 17.08.2022; vgl. KP 21.08.2022, Afintl 12.12.2022), Khost (8am 13.08.2022), Kapisa (AaNe 24.08.2022; vgl. 8am 21.11.2022a) und Badakhshan (Afintl 11.10.2022a; AMU 13.12.2022, Afintl 26.12.2022).

Im Oktober konnte die NRF laut Medienberichten erstmals einen Distrikt in der Provinz Badakhshan erobern (Afintl 11.10.2022a; vgl. AaNe 10.10.2022), wobei anderen Berichten zufolge die Taliban die Kontrolle über den Distrikt kurz danach wieder übernehmen konnten (AMU 04.10.2022), bzw. nach Angaben der Taliban sie diesen nie verloren (Afintl 04.10.2022). [...]

6.2.2. Weitere Widerstandsbewegungen

Letzte Änderung: 01.03.2023

Afghanistan Islamic National and Liberation Movement

Das „Afghanistan Islamic National and Liberation Movement“ gab seine Gründung Mitte Februar 2022 bekannt. Es wird angenommen, dass es die bislang einzige Anti-Taliban-Bewegung ist, die zum größten Teil aus Paschtunen besteht. Sie wird von Abdul Matin Suleimankhel angeführt, einem Kommandeur der ehemaligen ANA Special Operations Corps (SIGA 07.04.2022; vgl. VOA 14.09.2022). Mitte März gab die Gruppierung an, dass sie über „Tausende Kämpfer“ in mehr als zwei Dutzend Provinzen verfügen würde, wobei sich ihre Aktivitäten offenbar hauptsächlich auf die von Paschtunen bewohnten südlichen und östlichen Teile des Landes konzentrieren (Helmand, Kandahar, Paktika und Nangarhar) (SIGA 07.04.2022). Experten zufolge sind die Kapazitäten und Fertigkeiten der Gruppe begrenzter als von ihr behauptet (SIGA 07.04.2022; vgl. VOA 28.04.2022b). Eine Explosion, die sich am 27.03.2022 in Helmand ereignete, wird der Gruppierung zugeschrieben (SIGA 07.04.2022).

Afghanistan Freedom Front (AFF)

Die AFF erklärte ihre Gründung am 11.03.2022 (SIGA 07.04.2022; vgl. VOA 28.04.2022b). Zwar gab die Gruppierung ihre Führungspersönlichkeiten nicht offiziell bekannt, jedoch wird vermutet, dass General Yasin Zia, ein ehemaliger Verteidigungsminister und Generalstabschef, zu den Anführern der Gruppe gehört (VOA 28.04.2022b). Eigenen Angaben zufolge zählt die AFF „Tausende Kämpfer“ und ist „in allen 34 Provinzen Afghanistans aktiv“, wobei diese Behauptungen nicht durch andere Quellen belegt werden können. Die Gruppe veröffentliche regelmäßig Videos von Anschlägen, die sei für sich reklamiert, unter anderem in den Provinzen Kapisa, Parwan, Takhar, Baghlan, Sar-e Pul, Badakhshan und Kandahar, wobei auch hier eine unabhängige Überprüfung dieser Behauptungen schwierig ist (SIGA 07.04.2022). Die AFF scheint aus einzelnen Milizen zu bestehen, die sich an der Front zusammengeschlossen haben (BAMF 10.2022). So wurden im August 2022 Videos von drei Gruppen in den Provinzen Farah (BAMF 10.2022; vgl. 8am 20.08.2022), Ghor und Faryab gepostet, die ihren Kampf gegen die Taliban als Teil der AFF ankündigten (BAMF 10.2022). Ein Angriff der AFF auf eine Polizeistation in Takhar am 23.03.2022 wurde von den Taliban bestätigt (SIGA 07.04.2022).

Weitere Gruppierungen

Zu den anderen Widerstandsgruppen, die ihre Präsenz angekündigt haben, gehören die Turkestan Freedom Tigers, die Berichten zufolge am 07.02.2022 einen kleinen Angriff auf einen Kontrollpunkt der Taliban in der Nähe der Stadt Sheberghan (Provinz Jawzjan) verübt haben (ISW 13.01.2023), der National Resistance Council (dem angeblich eine Reihe prominenter Anti-Taliban-Persönlichkeiten aus dem Exil wie Ata Mohammad Noor und Abdul Rashid Dostum angehören), die Liberation Front of Afghanistan, die Unknown Soldiers of Hazaristan, die angeblich aus Hazara bestehende Freedom and Democracy Front und eine Gruppe namens Freedom Corps (angeblich in Teilen der Provinz Takhar aktiv) (SIGA 07.04.2022; vgl. VOA 28.04.2022b). Über die Führung und die Fähigkeiten dieser Gruppen ist wenig bekannt (VOA 28.04.2022b). Andere Gruppen schienen in der Zwischenzeit aktiv zu sein und zu operieren, obwohl von ihnen reklamierte Angriffe und Fähigkeiten zuweilen infrage gestellt wurden (SIGA 07.04.2022). [...]

6.3 Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Letzte Änderung: 02.03.2023

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf die Jahre 2014/2015 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 05.03.2015, MEE 27.08.2021). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP), wobei „Khorasan“ die historische Bezeichnung einer Region ist, welche Teile des heutigen Iran, Zentralasiens, Afghanistans und Pakistans umfasst (EB 03.01.2023; vgl. MEE 27.08.2021). Zu seinen Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (MEE 27.08.2021; vgl. AAN 01.08.2017).

Seit 2020 ist Sanaullah Ghafari (auch Al-Muhajir) Anführer des ISKP. Er stammt aus dem Raum Kabul und gilt als Experte für die urbane Kriegsführung (CTC Sentinel 1.2022; vgl. FR24 10.02.2022). Zu den weiteren Führungspersönlichkeiten gehören Berichten zufolge Mawlawi Rajab Salahuddin (alias Mawlawi Hanas) als stellvertretender Anführer, Qari Saleh (Leiter des Geheimdienstes) und Qari Fateh (Leiter der militärischen Operationen). Über die weitere Führungsriege des ISKP ist weniger bekannt. Während Ghafari als effektiver Anführer gilt, der die Gruppe fest im Griff hat, wurde vermutet, dass die verschiedenen ISKP-Einheiten angesichts der geografischen Entfernung und der unterschiedlichen ethnischen Zugehörigkeit der ISKP-Mitglieder wie in der Vergangenheit Schwierigkeiten haben könnten, sich untereinander abzustimmen (UNSC 26.05.2022).

Die Aktivitäten des Islamischen Staats Provinz Khorasan (ISKP) konzentrieren sich traditionell auf Kabul und die östlichen Provinzen des Landes (UNGA 28.01.2022; vgl. EUAA 8.2022a), insbesondere Kunar und Nangarhar, wo die Gruppe weiterhin stark vertreten ist (ACLED/APW 4.2022a; vgl. EUAA 8.2022a). Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des Islamischen Staates in Ostafghanistan (AAN 16.12.2020) nach jahrelangen Militäroffensiven der US-Streitkräfte und intensivierten Talibanangriffen zusammengebrochen (SIGAR 30.01.2020), wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten (UNSC 27.05.2020). Im Zuge der Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden jedoch gemäß einem Sprecher des Pentagons „Tausende“ (MEE 27.08.2021) bzw. „Hunderte“ ISKP-Kämpfer aus Gefängnissen befreit (GD 31.08.2021).

Im Mai 2022 schätzten die Vereinten Nationen die Stärke des ISKP auf 1.500 bis 4.000 Kämpfer ein (UNSC 26.05.2022). Seit der Machtübernahme der Taliban ist die Zahl der Mitglieder der Bewegung gestiegen, was auch durch die im Zuge der Machtübernahme freigelassenen ISKP-Mitglieder begünstigt wurde (EUAA 8.2022a). Auch gibt es Berichte, wonach usbekische und tadschikische Taliban im Norden übergelaufen wären (UNSC 26.05.2022), und, dass der ISKP eine kleine Anzahl von Kämpfern unter ehemaligen ANDSF-Mitgliedern rekrutiert hat, die über nützliche Kampftechniken und nachrichtendienstliche Fähigkeiten verfügen (CTC Sentinel 1.2022).

Während die Aktivitäten des ISKP in der Zeit der Friedensverhandlungen von US-Vertretern mit den Taliban darauf abzielten, „Chaos und Verwirrung“ unter den verschiedenen politischen Akteuren zu stiften, wurde berichtet, dass der ISKP nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 „sein Hauptaugenmerk auf die Untergrabung der Legitimität der Taliban richtete“ (EUAA 8.2022a). Seitdem haben die Aktivitäten des ISKP zugenommen (ACLED/APW 4.2022a), und seine Anhänger überfallen Berichten zufolge Taliban-Sicherheitskonvois sowie Kontrollpunkte und führen Angriffe auf Zivilisten durch (EUAA 8.2022a). Auch wurde beobachtet, dass die Taliban gegen den ISKP nicht mit derselben Härte vorgingen wie gegen die NRF (National Resistance Front) (RUSI 04.01.2022; vgl. EUAA 8.2022a), wobei ein guter Grund dafür darin liegen dürfte, dass die Hauptstützpunkte des ISKP in besonders abgelegenen Gebieten liegen - in den oberen Tälern von Kunar und in Nuristan. Die Durchführung einer „vernichtenden Operation“ würde die Taliban dort vor größere Herausforderungen stellen als in Panjsher (RUSI 04.01.2022). Dennoch versuchen die Taliban Berichten zufolge, den Druck auf den ISKP aufrechtzuerhalten (VOA 20.03.2022). So versuchen sie, durch die Errichtung von Kontrollpunkten und die Durchführung von Hausdurchsuchungen (SIGAR 30.04.2022) im Hauptwirkungsbereich des ISKP (Nangarhar) bzw. in städtischen Zentren, die von den Angriffen des ISKP betroffen waren (vor allem Kabul und Jalalabad), gegen die Gruppe vorzugehen (RUSI 04.01.2022).

Auch in anderen Teilen des Landes wurden ISKP-Aktivitäten registriert (UNGA 14.09.2022; vgl. UNGA 07.12.2022). Einer Quelle zufolge liegt ein Grund für die größere geografische Reichweite der ISKP darin, dass es für den ISKP angesichts der schwachen Taliban-Präsenz entlang des Straßennetzes des Landes nun einfacher sei, auf den Straßen zu reisen, ohne kontrolliert zu werden (Migrationsverket 29.04.2022; vgl. EUAA 8.2022a). Darüber hinaus war die Gruppe nicht mehr mit Anti-Terror-Operationen unter der Führung externer Kräfte konfrontiert und konnte die begrenzten Ressourcen und die schwache Kontrolle der Taliban in einigen Teilen Afghanistans ausnutzen (CTC Sentinel 1.2022; vgl. EUAA 8.2022a).

Einem Analysten zufolge hat der ISKP klare Ambitionen, sich weiter in Gebiete im Norden des Landes auszudehnen, um die dort vorherrschenden ethnischen Spannungen auszunutzen (EUAA 8.2022a; vgl. Migrationsverket 29.04.2022, Landinfo 09.03.2022). Derselbe Analyst erklärte im März 2022 außerdem, dass es keine Anzeichen dafür gäbe, dass der ISKP in der Lage sei, die Taliban kurzfristig herauszufordern (EUAA 8.2022a; vgl. Landinfo 09.03.2022).

Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die Angriffe des ISKP seit der Machtübernahme der Taliban folgend:

19.08.2021 - 31.12.2021:152 Angriffe in 16 Provinzen (20 Angriffe in fünf Provinzen im Jahr davor) (UNGA 28.01.2022)

01.01.2022 - 21.05.2022: 82 Angriffe in elf Provinzen (192 Angriffe in sechs Provinzen im Jahr davor) (UNGA 15.06.2022)

22.05.2022 - 16.08.2022: 48 Angriffe in elf Provinzen (113 Angriffe in 8 Provinzen im Jahr davor) (UNGA 14.9.2022)

17.08.2022 - 13.11.2022: 30 Angriffe in 6 Provinzen (121 Angriffe in 14 Provinzen im Jahr davor (UNGA 07.12.2022)

Auch wenn die Angriffe des ISKP im Laufe des Jahres 2022 abnahmen, so blieben die Opferzahlen weiterhin erheblich (UNGA 07.12.2022). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara sowie auf Hindus, Sikhs, Sufis und die Taliban (UNGA 14.09.2022; vgl. HRW 12.01.2023). Während des Jahres kam es auch zu einer Vielzahl von Angriffen auf unterschiedliche Ziele, die nicht eindeutig zugeordnet werden konnten, in die der ISKP jedoch möglicherweise involviert war (UNGA 28.01.2022; vgl. UNGA 15.06.2022, UNGA 14.09.2022, UNGA 07.12.2022).

Beispiele für Angriffe des ISKP seit der Machtübernahme der Taliban

Der ISKP bekannte sich zu Selbstmordanschlägen auf eine sunnitische Moschee in Kabul am 03.10.2021 (UNGA 28.01.2022; vgl. REU 04.10.2021) und auf zwei schiitische Moscheen in den Städten Kunduz am 08.10.2021 (UNGA 28.01.2022; vgl. TN 09.10.2021) und Kandahar am 15.10.2021 (UNGA 28.01.2022; vgl. KP 16.10.2021) sowie zu einem Anschlag auf ein Militärkrankenhaus in Kabul am 02.11.2021 (UNGA 28.01.2022; vgl. 8am 03.11.2021).

Im April 2022 führte der ISKP Anschläge in einem Erholungsgebiet in Herat am 01.04.2022 (UNGA 15.06.2022), auf eine schiitische Moschee in Mazar-e Sharif (UNGA 15.06.2022; vgl. DW 21.04.2022) sowie auf eine Madrassa in Kunduz am 22.04.2022 durch (UNGA 15.06.2022; vgl. PAN 23.04.2022). Außerdem gab es am 28.04.2022 Angriffe auf zwei Kleinbusse in Mazar-e Sharif (UNGA 15.06.2022; vgl. AJ 28.04.2022) und auf einen Kleinbus in Kabul am 30.04.2022 (UNGA 15.06.2022; vgl. FR24 01.05.2022).

Am 22.05.2022 kam zu Anschlägen auf eine Zeremonie zum Jahrestag des Todes von Mullah Akhtar Mohammad Mansour Kabul und am 25.05.2022 auf drei Kleinbusse in Mazar-e Sharif (UNGA 14.09.2022; vgl. AJ 25.05.2022). Am 18.06.2022 griff der ISKP einen Sikh-Tempel in Kabul an (UNGA 14.09.2022; vgl. TN 18.06.2022) und am 04.07.2022 einen Bus mit Taliban-Sicherheitskräften in Herat (UNGA 14.09.2022; vgl. Afintl 05.07.2022).

Im August kam es zu einer Reihe von Angriffen durch den ISKP in Kabul. Am 08.08.2022 beispielsweise wurden bei einem Bombenanschlag auf eine schiitische Moschee in Kabul mindestens acht Menschen getötet (VOA 05.08.2022; vgl. REU 05.08.2022). In der Vorwoche führten die Sicherheitskräfte der Taliban eine Razzia gegen eine ISKP-Zelle in der afghanischen Hauptstadt durch, bei der sie vier Kämpfer töteten und einen weiteren bei dem anschließenden Feuergefecht gefangen nahmen. Die Taliban sagten in einer Erklärung nach der Razzia, dass der ISKP „Anschläge auf unsere schiitischen Landsleute während der laufenden Muharram-Rituale“ geplant hatten (VOA 05.08.2022). Am 11.08.2022 wurde ein prominenter afghanischer Geistlicher bei einem Selbstmordanschlag durch den ISKP getötet (BBC 11.08.2022; vgl. VOA 11.08.2022). Am 18.08.2022 kam es zu einem weiteren Anschlag auf eine Moschee in Kabul, bei dem mindestens 21 Personen getötet und 33 verletzt wurden. Auch hier war ein prominenter afghanischer Geistlicher unter den Opfern (AP 18.08.2022; vgl. BBC 18.08.2022).

Des Weiteren beansprucht der ISKP einen Selbstmordanschlag auf die russische Botschaft in Kabul am 05.09.2022 für sich (UNGA 07.12.2022; vgl. KP 06.09.2022). Zu Angriffen auf Sicherheitskräfte der Taliban, bei denen auch Zivilisten getötet wurden, kam es am 10.10.2022 in Laghman (UNGA 07.12.2022; vgl. Afintl 11.10.2022b) und am 27.10.2022 in Herat (UNGA 07.12.2022; vgl. 8am 27.10.2022).

Am 22.10.2022 haben die Taliban eine Zelle des ISKP in Kabul ausgehoben, dabei gab es mehrere Explosionen und Schusswechsel. Sechs Mitglieder des ISKP wurden dabei getötet. Nach Angaben der Taliban waren sie in die Anschläge auf die Wazir Akbar Khan Moschee und die Bildungseinrichtung im September beteiligt (REU 22.10.2022; vgl. VOA 22.10.2022).

Bei einer Explosion außerhalb des Militärflughafens von Kabul wurden am 01.01.2023 mehrere Menschen getötet oder verletzt (REU 01.01.2023; vgl. RFE/RL 01.01.2023). Nach Angaben der Taliban war für den Angriff der ISKP verantwortlich. Am 05.01.2023 kam es zu Razzien in Kabul und Nimroz, die gegen die Verantwortlichen der Attacke gerichtet waren. Acht ISKP-Mitglieder wurden getötet und neun weitere verhaftet (AP 05.01.2023; vgl. AJ 05.01.2023). [...]

6.4 Al-Qaida und weitere bewaffnete Gruppierungen

Letzte Änderung: 02.03.2023

Al-Qaida

Laut einem Bericht der Vereinten Nationen vom Mai 2022 bleiben die Verbindungen zwischen Al- Qaida und den Taliban eng (UNSC 26.05.2022). Am 01.08.2022 gab der US-Präsident bekannt, dass der Anführer von Al-Qaida, Ayman Mohammed Rabie al-Zawahiri, bei einem Drohnenangriff in der Innenstadt von Kabul getötet wurde (BBC 02.08.2022; vgl. VOA 02.08.2022). Die Taliban-Führung gab an, sie habe keine Informationen darüber, dass al-Zawahiri nach Kabul gezogen sei und sich dort aufgehalten habe, während er sich nach Angaben von US-Beamten in einer Wohnung von Sirajuddin Haqqani [Anm.: dem Innenminister der Taliban-Übergangsregierung] aufhielt (FR24 04.08.2022; vgl. GD 05.08.2022). Es wird berichtet, dass Al-Qaida Verbindungen zum Haqqani-Netzwerk unterhält (VOA 30.08.2022; vgl. UNSC 26.05.2022). Experten sind der Ansicht, dass die Verbindungen der Taliban zu Al-Qaida offenbar hauptsächlich auf individuellen Verbindungen beruhen, was jedoch nicht bedeutet, dass es keine Verbindungen auf der Ebene der Taliban-Führung gibt (ODI/Rahmatullah, A./Jackson, A 9.2022).

Nach Angaben der Vereinten Nationen agiert Al-Qaida vor allem in ihren historischen Verbreitungsgebieten im Süden und Osten Afghanistans, wobei sich Berichten zufolge einige Mitglieder in weiter westliche Gebiete (Farah und Herat) verlegt haben. Al-Qaida verfügte über „einige Dutzend“ Kämpfer, die ihrer Kernorganisation angehörten, und ihre operativen Fähigkeiten bschränkten sich auf die Beratung und Unterstützung der Taliban (UNSC 26.05.2022).

Berichten zufolge hält sich „Al-Qaeda inthe Indian Subcontinent“ (AQIS), eine der Kernorganisation von Al-Qaida untergeordnete Organisation, auch innerhalb Afghanistans auf (UNSC 26.05.2022), wobei die Anzahl ihrer Kämpfer auf ca. 180 bis 400 geschätzt wird (UNSC 26.05.2022; vgl. CRS 19.04.2022), die in Helmand, Kandahar, Ghazni, Nimroz, Paktika und Zabul stationiert sein sollen und Personen aus mehreren süd- und südostasiatischen Ländern umfasst (UNSC 26.05.2022; vgl. VOA 20.03.2022). Ihr Anführer Osama Mahmood und sein Stellvertreter Atif Yahya Ghouri sollen sich beide in Afghanistan aufhalten (VOA 20.03.2022).

Tehreek-e Taliban Pakistan (TTP)

Die TTP, auch bekannt als pakistanische Taliban, ist eine militante Gruppe, deren Ziele sich gegen die pakistanische Regierung richten. Sie hat sich jedoch auch in der Vergangenheit mit den afghanischen Taliban an Operationen gegen die afghanische Regierung in Afghanistan beteiligt (CRS 19.04.2022). Die Vereinten Nationen schätzen im Mai 2022, dass die Gruppe über 3.000 bis 4.000 bewaffnete Kämpfer in den afghanisch-pakistanischen Grenzgebieten verfügt (UNSC 26.05.2022), während ein unabhängiger afghanischer Analyst schätzte, dass die TTP rund 10.000 Mitglieder in Afghanistan hat (EUAA 8.2022a). Die Gruppe operiert von Stützpunkten in Afghanistan aus und ist zunehmend in Pakistan präsent; im Jahr 2021 eskalierte sie ihre Angriffe gegen pakistanische Sicherheitskräfte und chinesische Einrichtungen in Pakistan. Nach der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan erneuerte der TTP-Führer Noor Wali Mehsud öffentlich sein Treuegelöbnis gegenüber dem obersten Führer der afghanischen Taliban.

Darüber hinaus signalisierte Al-Qaida, dass sie weiterhin mit der TTP zusammenarbeitet (CRS 19.04.2022). Nach dem Treuegelöbnis der Gruppe konnte man nach Angaben eines unabhängigen afghanischen Analysten beobachten, dass sich die TTP-Mitglieder in den afghanischen Großstädten „frei bewegen“ konnten, im Gegensatz zur Situation vor der Machtübernahme, als die TTP Zufluchtsorte in abgelegenen Gebieten hatte (EUAA 8.2022a). Auch ein weiterer Experte stellte fest, dass die Rückkehr der afghanischen Taliban die Macht die Gruppierung gestärkt hat. Nachdem die afghanischen Taliban Hunderte von TTP-Mitgliedern aus den Gefängnissen in Kabul freigelassen hatten (CEIP 21.12.2021), startete die TTP zahlreiche Anschläge und Operationen in Pakistan (UNSC 26.05.2022). Mitte Februar 2022 griff das pakistanische Militär mit Artillerie TTP-Stellungen in den Distrikten Naray und Sarkano (Provinz Kunar) an, nachdem TTP-Mitglieder pakistanische Grenzposten angegriffen hatten. Nach den pakistanischen Angriffen schickte die Taliban-Regierung Berichten zufolge Verstärkung in das Gebiet (ISW 13.01.2023). Anfang Juni 2022 kündigte die TTP nach geheimen Gesprächen zwischen TTP- und pakistanischen Militärvertretern einen Waffenstillstand mit Pakistan für die Dauer von drei Monaten an. Diese Gespräche waren von den afghanischen Taliban vermittelt worden (USIP 21.06.2022).

Eastern Turkistan Islamic Movement

Das Eastern Turkistan Islamic Movement (ETIM), auch bekannt als „Turkistan Islamic Party“ (TIP), strebt die Schaffung eines unabhängigen islamischen Staates für die turksprachigen Uiguren an, die im Westen Chinas leben (CRS 19.04.2022). Laut einem Bericht der Vereinten Nationen ist die ETIM weiterhin in Afghanistan aktiv, und die Schätzungen zur Größe der Gruppe reichen von einigen Dutzend bis zu 1.000 Mitgliedern (UNSC 26.05.2022). Nach der Machtübernahme durch die Taliban wurden Berichten zufolge einige ETIM-Mitglieder aus der Provinz Badakhshan in Provinzen verlegt, die weiter von der chinesischen Grenze entfernt sind (UNSC 26.05.2022; vgl. RFE/RL 05.10.2021), unter anderem in die Provinz Nangarhar (RFE/RL 05.10.2021), als Teil der Versuche der Taliban, einerseits die Gruppe zu schützen und andererseits ihre Aktivitäten einzuschränken (UNSC 26.05.2022).

Jamaat Ansarullah

Jamaat Ansarullah ist eine Gruppe, die eng mit Al-Qaida verbunden ist. Im Jahr 2021 kämpfte sie an der Seite der Taliban in der Provinz Badakhshan. Als sich die Beziehungen zwischen Tadschikistan und der Taliban-Regierung im Herbst 2021 verschlechterten, wurden Ansarullah-Kämpfer an der Seite von Taliban-Spezialkräften entlang der tadschikischen Grenze in den Provinzen Badakhshan, Takhar und Kunduz eingesetzt. Nach Angaben der Vereinten Nationen soll die Gruppe aus 300 Kämpfern bestehen, die zumeist tadschikische Staatsangehörige sind. Die Jamaat Ansarullah ist in den Provinzen Badakhshan und Kunduz präsent. Ihr Anführer ist Sajod, der Sohn des ehemaligen Anführers der Gruppe, Damullo Amriddin (UNSC 26.05.2022). [...]

7. Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 21.03.2023

Unter der vorherigen Regierung beruhte die afghanische Rechtsprechung auf drei parallelen und sich überschneidenden Rechtssystemen oder Rechtsquellen: dem formellen Gesetzesrecht, dem Stammesgewohnheitsrecht und der Scharia (Hakimi A./Sadat M. 2020). Informelle Rechtssysteme zur Schlichtung von Streitigkeiten waren weit verbreitet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Dies ist nach wie vor der Fall, auch wenn die Taliban seit ihrer Machtübernahme versucht haben, einige lokale Streitbeilegungspraktiken zu kontrollieren (FH 24.02.2022a).

Nachdem sie die gewählte Regierung im August 2021 abgesetzt hatten, übernahmen die Taliban die vollständige Kontrolle über das Justizsystem des Landes (FH 24.02.2022a) und setzten die Verfassung von 2004 außer Kraft (UNGA 28.01.2022). Viele Richter wurden aus ihren Ämtern entlassen, und Angehörige des Islamischen Emirats Afghanistan (IEA) mit unterschiedlichem Hintergrund praktizieren nun Rechtsstaatlichkeit (IOM 12.01.2023; vgl. FH 24.02.2022a). Es wurden ein Justizminister und ein Oberster Richter und Leiter des Obersten Gerichtshofs durch die Taliban ernannt. Am 16.12.2021 erließ die Taliban-Führung ein Dekret zur Ernennung von 32 Direktoren, Abteilungsleitern, Richtern und anderen wichtigen Beamten im Zusammenhang mit dem Obersten Gerichtshof. Am 25.12.2021 wurde ein Generalstaatsanwalt ernannt, der sich zur Rechenschaftspflicht und Unabhängigkeit seines Amts nach der Scharia verpflichtet (UNGA 28.01.2022).

Im Jahr 2022 setzt sich die Umstellung des Justizwesens und des Rechtsrahmens der ehemaligen Republik weiter fort, wobei Bedenken hinsichtlich der vorherrschenden Unklarheit über die anwendbaren Gesetze bestehen. Am 21.08.2022 wies der Taliban-Generalstaatsanwalt die Staatsanwälte an, laufende Ermittlungen an Taliban-Gerichte zu übertragen; der stellvertretende Oberste Richter für die Verwaltung des Obersten Gerichtshofs gab an, dass die Richter auch Ermittlungsaufgaben nach dem Scharia-Recht übernehmen würden. Diese Maßnahme führt zu einer höheren Arbeitsbelastung der Gerichte, zu Verzögerungen bei Gerichtsverfahren und zu einer Verlängerung der ohnehin schon langen Untersuchungshaftzeiten. Angesichts der damit einhergehenden Zunahme der Gefangenenpopulation und eines Ersuchens des Büros für Gefängnisverwaltung im Juni 2022 wies Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada Ende September 2022 den Obersten Gerichtshof an, Richtergruppen für jede Provinz zu ernennen, um die Prüfung der Fälle von Untersuchungshäftlingen zu beschleunigen (UNGA 07.12.2022).

Die Zulassung von Strafverteidigern ist noch nicht abgeschlossen, und Frauen sind nach wie vor von diesem Verfahren ausgeschlossen. Das Taliban-Justizministerium teilte mit, dass bis zum 10.11.2022 1.275 von 1.332 geprüften Anwälten die Anforderungen erfüllt hätten und 947 eine neue Zulassung erhalten hätten, während vor August 2021 schätzungsweise 6.000 Strafverteidiger, darunter 1.500 Frauen, praktiziert hatten. Nach Angaben der Taliban-Justizbehörden haben die Gerichte über 13.000 Fälle verhandelt, und bei den Justizministerien im ganzen Land sind 97.700 Zivilklagen eingegangen, von denen seit August 2021 nur 2.339 von Gerichten bearbeitet wurden (UNGA 07.12.2022).

Gesetze aus der Zeit vor der Machtergreifung sollen nach Angaben der Taliban-Führung weiterhin gelten, unterliegen aber einem Islamvorbehalt (d. h., sie werden auf die Vereinbarkeit mit dem islamischen Recht überprüft); sie werden in der Praxis nicht oder nur in Teilen angewendet. So wird u. a. in von Taliban veröffentlichten Dekreten darauf Bezug genommen. Die Gerichte und Staatsanwaltschaften wurden mit den Taliban nahestehenden Rechtsgelehrten besetzt, die weder die Voraussetzungen noch das Ziel haben, die Gesetze aus der Zeit vor der Machtergreifung anzuwenden. Hinzu kommen die teilweise beschränkten Durchgriffsmöglichkeiten der Taliban-Regierung in Kabul auf die Verwaltungen und Sicherheitskräfte der Provinz- und Distriktebene. Umfang und Qualität des repressiven Verhaltens der Taliban gegen die Bevölkerung hängt deswegen stark von individuellen und lokalen Umständen ab (AA 20.07.2022). Sowohl das afghanische Zivilgesetzbuch wie auch das schiitische Personenstandsrecht sind nominell weiterhin in Kraft, auch wenn es Änderungen gibt. Während beispielsweise Fälle des schiitischen Personenstandsrechts früher von den Gerichten der Regierung behandelt wurden, verweisen die Taliban diese Fälle an die schiitischen Religionsämter, die unabhängig und nicht von der Regierung geleitet werden (IOM 12.01.2023).

Nach Angaben eines in Afghanistan praktizierenden Rechtsanwaltes stellt sich die Lage der Gesetze in Afghanistan als schwierig und uneinheitlich dar. Auch wenn die Taliban stets behaupteten, dass die afghanischen Gesetze unislamisch wären, so haben sie nicht im Detail erklärt, welche Bestimmungen welcher Gesetze gegen die Grundsätze der Scharia verstoßen würden. Sie haben weder erklärt, dass alle früheren Gesetze nicht mehr gelten, noch, dass diese weiterhin in Kraft sind und gelten. Auch in der Praxis gibt es unterschiedliche Standards in den verschiedenen Instanzen. Einige Gerichte wenden die früheren Gesetze, einschließlich des Zivilgesetzbuches an, andere wiederum nicht (RA KBL 04.10.2022).

Aus verschiedenen Provinzen gibt es anhaltende, im Einzelfall nur schwer verifizierbare Berichte über öffentliche Strafmaßnahmen, die auch Körperstrafen wie Steinigung und Auspeitschung einschließen. Vereinzelt kommt es auch zur Zurschaustellung von Kriminellen sowie Personen, die den moralischen Vorstellungen der Taliban zuwiderhandeln (keine Teilnahme am Gebet, Vorwurf des Ehebruchs). Auf nationaler Ebene wurde im April 2022 erstmals eine Körperstrafe (Peitschenhiebe) wegen Drogen- und Alkohol-Konsums durch den Obersten Gerichtshof verhängt. Das von den Taliban neu-gegründete Ministerium für die Förderung von Tugend und Verhinderung von Laster (sog. Tugendministerium) spielt mit quasi-polizeilichen Befugnissen eine besondere Rolle bei der Einschränkung von zahlreichen Persönlichkeitsrechten im Alltag (AA 20.07.2022).Am 07.12.2022 kam es zur ersten öffentlichen Hinrichtung durch die Taliban seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan (AI 07.12.2022). [...]

8. Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 21.03.2023

Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.08.2022), und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Miliz-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen. Es zeichnet sich ab, dass die Taliban mit Ausnahme der Luftwaffe (hier sollen laut afghanischen Presseangaben fast die Hälfte der ehemaligen Soldaten zurückgekehrt sein) von den bisherigen Kräften nur vereinzelt Fachpersonal übernehmen wollen. Der Geheimdienst (General Directorate for [Anm.: auch „of“] Intelligence, GDI) (AA 20.07.2022; vgl. CPJ 01.03.2022), ein Nachrichtendienst, der früher als „National Directorate of Security“ (NDS) bekannt war (CPJ 01.03.2022), wurde dem Innenministerium der Taliban unterstellt. Das Innenministerium der Taliban-Regierung hat wiederholt angekündigt, Polizisten, u. a. im Bereich der Verkehrspolizei, zu übernehmen (AA 20.07.2022).

Die Institutionalisierung des Sicherheitsapparats nahm im Jahr 2022 zu. Ende August berichteten die Vereinten Nationen, dass 150.000 Armeeangehörige und fast 200.000 Polizisten in Afghanistan rekrutiert worden seien (UNGA 07.12.2022). Sprecher des Taliban-Innenministeriums gaben die Größe der Armee im August mit 100.000 bis 150.000 (Afintl 23.08.2022) bzw. im Oktober mit 150.000 Mann an (ATN 28.10.2022), mit weiterem Ausbaupotenzial (ATN 28.10.2022; vgl. Afintl 23.08.2022).

Im Oktober 2022 wurden mehrere Sicherheitskommissionen eingesetzt, darunter eine Reformkommission des Taliban-Innenministeriums mit neun Unterausschüssen, die Mitarbeiter mit kriminellem Hintergrund ausschließen sollen, sowie eine Kommission für die Einstufung von Militärangehörigen, die den „Dschihad“- und Bildungshintergrund von Armeeangehörigen bewerten soll (UNGA 07.12.2022). Bereits im März gab eine von den Taliban eingerichtete „Säuberungskommission“ bekannt, dass insgesamt ca. 4.000 Taliban-Kämpfer aufgrund krimineller Aktivitäten, Verbindungen zum Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISKP) oder anderer Vergehen entlassen wurden (AA 20.07.2022). Darüber hinaus wurden mindestens 52 Ernennungen in den Taliban-Sicherheitsministerien bekannt gegeben, bei denen es sich größtenteils um Umbesetzungen handelte, darunter vier stellvertretende Minister, ein neuer Luftwaffenkommandeur, sieben Korpskommandeure und 13 Provinzpolizeichefs; 27 Ernennungen im Verteidigungsbereich, die am 26.10.2022 bekannt gegeben wurden, folgten auf den Besuch des Taliban-Verteidigungsministers Yaqoob in Kandahar (UNGA 07.12.2022).

18. Religionsfreiheit

Letzte Änderung: 21.03.2023

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 15% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 29.12.2022; vgl. USDOS 02.06.2022, AA 20.07.2022). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha‘i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus (CIA 29.12.2022; vgl. USDOS 02.06.2022). Der letzte bislang in Afghanistan lebende Jude hat nach der Machtübernahme der Taliban das Land verlassen (AA 20.07.2022; vgl. USCIRF 8.2022, USDOS 02.06.2022). Die Zahl der Ahmadiyya-Muslime im Land geht in die Hunderte (USDOS 02.06.2022).

Es existieren keine verlässlichen Schätzungen zur Größe der hauptsächlich in Kabul und Kandahar ansäßigen Baha’i-Gemeinschaft in Afghanistan. Im Mai 2007 befand der Oberste Gerichtshof, dass der Glaube der Baha’i eine Abweichung vom Islam und eine Form der Blasphemie sei. Auch wurden alle Muslime, die den Baha’i-Glauben annehmen, zu Abtrünnigen erklärt (USDOS 02.06.2022).

Baha’i gelten (vielen) Muslimen als Ungläubige, nicht (immer) jedoch als Konvertiten und wurden keines dieser beiden Vergehen angeklagt. Baha’i wie auch Christen leben weiterhin in ständiger Angst vor Enttarnung und zögern, ihre religiöse Identität zu offenbaren (USDOS 02.06.2022).

Bereits vor der Machtübernahme der Taliban waren die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslime durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt (AA 20.07.2022). Nach Angaben der US-Kommission für internationale Religionsfreiheit (USCIRF) sind Angehörige religiöser Gruppen auch weiterhin stark von Verfolgung durch die Taliban bedroht (USCIRF 8.2022). Ende 2021 haben auch Salafisten, die wie die Taliban Sunniten sind, jedoch der wahhabitischen Schule angehören (RFE/RL 22.10.2021), die Taliban beschuldigt, ihre Gotteshäuser zu schließen und ihre Mitglieder zu verhaften bzw. zu töten (FH 24.02.2022a; vgl. RFE/RL 22.10.2021). Trotz ständiger Versprechungen, alle in Afghanistan lebenden ethnischen und religiösen Gemeinschaften zu schützen, war die Taliban-De-facto-Regierung nicht in der Lage, religiöse Minderheiten vor Angriffen des Islamischen Staates Provinz Khorasan (ISKP) zu schützen und ihnen Sicherheit zu bieten. Während einige religiöse Minderheiten vom Aussterben bedroht sind, müssen andere aus Angst vor Repressalien ihren Glauben im Verborgenen ausüben. Obwohl sich die Taliban öffentlich zu Wandel und Inklusion bekennen, regieren sie Afghanistan weiterhin auf ähnliche Weise wie von 1996 bis 2001 (USCIRF 8.2022).

In einigen Gebieten Afghanistans (unter anderem Kabul) haben die Taliban alle Männer zur Teilnahme an den Gebetsversammlungen in den Moscheen verpflichtet und/oder Geldstrafen gegen Einwohner verhängt, die nicht zu den Gebeten erschienen sind (RFE/RL 19.01.2022b) bzw. gedroht, dass Männer, die nicht zum Gebet in die Moschee gehen, strafrechtlich verfolgt werden könnten (BAMF 10.01.2022; vgl. RFE/RL 19.01.2022b). Laut Meldungen vom 21.11.2022 haben die Taliban angekündigt, sich dem Thema für die Freitagspredigten in den Moscheen verstärkt zu widmen. Kein Vorbeter hat in Zukunft das Recht, eine Rede nach eigenem Ermessen zu halten, der Inhalt der Predigten soll mit der Ideologie der Taliban in Einklang stehen (8am 21.11.2022b). [...]

19. Ethnische Gruppen

Letzte Änderung: 21.03.2023

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 34,3 (NSIA 4.2022) und 38,3 Millionen Menschen (8am 30.03.2022; vgl. CIA 29.12.2022). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 29.12.2022), da die Behörden des Landes nie eine nationale Volkszählung durchgeführt haben. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass keine der ethnischen Gruppen des Landes eine Mehrheit bildet, und die genauen prozentualen Anteile der einzelnen Gruppen an der Gesamtbevölkerung Schätzungen sind und oft stark politisiert werden (MRG 05.01.2022).

Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42%), Tadschiken (ca. 27%), Hazara (ca. 9-20%) und Usbeken (ca. 9%), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2%) (AA 20.07.2022).

Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 12.04.2022a).

Die Taliban gehören mehrheitlich der Gruppe der Paschtunen an. Seit der Machtübernahme der Taliban werden nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert. So gibt es in der Taliban-Regierung z. B. nur wenige Vertreter der usbekischen und tadschikischen Minderheit sowie lediglich einen Vertreter der Hazara (AA 20.07.2022).

Die Taliban haben wiederholt erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Aber selbst auf lokaler Ebene werden Minderheiten, mit Ausnahmen in ethnisch von Nicht-Paschtunen dominierten Gebieten vor allem im Norden, kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt, da diese v. a. paschtunischen Taliban-Mitgliedern vorbehalten sind (AA 20.07.2022). So waren zum Beispiel am 20.12.2021 alle 34 Provinzgouverneure überwiegend Paschtunen, während andere ethnische Gruppen kaum vertreten waren (UNGA 28.01.2022). Darüber hinaus lässt sich keine klare, systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die Taliban-Regierung feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren (AA 20.07.2022). [...]

20. Relevante Bevölkerungsgruppen

20.1. Frauen

Letzte Änderung: 10.03.2023

Bereits vor Machtübernahme der Taliban war die afghanische Regierung nicht willens oder in der Lage, die Frauenrechte in Afghanistan vollumfänglich umzusetzen, allerdings konnten Mädchen grundsätzlich Bildungseinrichtungen besuchen, Frauen studieren und weitgehend am Berufsleben teilnehmen, wenn auch nicht in allen Landesteilen gleichermaßen (AA 20.07.2022). Es gab eine Reihe von Gesetzen, Institutionen und Systemen, die sich mit den Rechten von Frauen und Mädchen in Afghanistan befassten. So hatte beispielsweise das Ministerium für Frauenangelegenheiten mit seinen Büros in der Hauptstadt und in jeder der 34 Provinzen des Landes die Aufgabe, „die gesetzlichen Rechte der Frauen zu sichern und zu erweitern und die Rechtsstaatlichkeit in ihrem Leben zu gewährleisten“ (AI 7.2022).

In weniger als einem Jahr haben die Taliban die Rechte von Frauen und Mädchen in Afghanistan ausgehöhlt. Kurz nachdem sie die Kontrolle über die Regierung des Landes übernommen hatten, erklärten die Taliban, sie würden sich für die Rechte von Frauen und Mädchen im Rahmen der Scharia einsetzen (AI 7.2022; vgl. UN Women 15.08.2022, AA 20.07.2022). Dennoch haben sie die Rechte von Frauen und Mädchen auf Bildung, Arbeit und Bewegungsfreiheit eingeschränkt sowie das System zum Schutz und zur Unterstützung von Frauen und Mädchen, die vor häuslicher Gewalt fliehen, zerstört, Frauen und Mädchen werden wegen Verstößen gegen die diskriminierenden Vorschriften der Taliban willkürlich inhaftiert und zu einem Anstieg der Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratungen in Afghanistan beigetragen. Frauen, die friedlich gegen diese Beschränkungen und Maßnahmen protestiert haben, wurden belästigt, bedroht, verhaftet, sind gewaltsam verschwunden oder wurden gefoltert (AI 7.2022). In den 15 Monaten seit ihrer Machtübernahme haben die Taliban eine Vielzahl an Dekreten und Anordnungen zur Kontrolle des Verhaltens und der Bewegungsfreiheit von Frauen erlassen (HRW 12.01.2023; vgl. AA 20.07.2022, Rukhshana 28.11.2022). Die verschiedenen Anordnungen und Dekrete der Taliban werden willkürlich umgesetzt, einige wurden verschriftlicht, andere mündlich weitergegeben, und alle werden interpretiert, je nachdem wer das Sagen hat (Rukhshana 28.11.2022). Menschenrechtsorganisationen beschuldigen die Taliban, sie würden versuchen, Frauen aus dem öffentlichen Leben und in den häuslichen Bereich zu drängen (RFE/RL 03.01.2023).

Darüber hinaus haben die Taliban Mechanismen zur Überwachung der Menschenrechte, wie die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission, aufgelöst (AIHRC 26.05.2022; vgl. OHCHR 10.10.2022) und spezialisierte Gerichte für geschlechtsspezifische Gewalt und Unterstützungsdienste für die Opfer abgeschafft (OHCHR 10.10.2022).

Ab Mitte Jänner 2022 werden sukzessive Vertreterinnen der seit August 2021 vor allem in Kabul aktiven Protestbewegung durch die Sicherheitskräfte der Taliban festgenommen (AA 20.07.2022; vgl. HRW 12.01.2023), und es gibt Berichte über Haftbedingungen, u. a. zu Misshandlungen und sexuellen Übergriffen, auch wenn diese schwer zu verifizieren sind (AA 20.07.2022). Die Taliban-Behörden reagierten auch vermehrt mit Gewalt auf Demonstranten und setzten scharfe Munition ein, um diese aufzulösen (HRW 12.10.2022; vgl. GD 02.10.2022). Berichte über Verhaftungen von Menschenrechtsaktivistinnen setzten sich über das Jahr 2022 hindurch fort (AI 16.11.2022; vgl. HRW 20.10.2022, Rukhshana 04.08.2022, VOA 21.01.2022). So wurden beispielsweise Ende 2022 mehrere Frauen aufgrund der Teilnahme an Protesten gegen das Universitätsverbot verhaftet (BBC 22.12.2022; vgl. RFE/RL 22.12.2022).

Im Mai 2022 erließen die Taliban beispielsweise einen neuen Erlass, der eine strenge Kleiderordnung für Frauen festschreibt. Sie dürfen das Haus nicht „ohne Not“ verlassen und müssen, wenn sie es dennoch tun, den sogenannten „Scharia-Hijab“ tragen, bei dem das Gesicht ganz oder bis auf die Augen bedeckt ist. Die Anordnung macht den Mahram (den „Vormund“) einer Frau - ihren Vater, Ehemann oder Bruder - rechtlich verantwortlich für die Überwachung ihrer Kleidung, mit der Androhung, ihn zu bestrafen, wenn sie ohne Gesichtsverschleierung aus dem Haus geht (AAN 15.06.2022; vgl. USIP 23.12.2022, HRW 12.01.2023).

Die Taliban schränkten in weiterer Folge auch die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen zunehmend repressiv ein. Zunächst ordneten sie an, dass Frauen und Mädchen auf Langstreckenreisen von einem Mahram begleitet werden müssen (AI 7.2022; vgl. Rukhshana 28.11.2022, AA 20.07.2022, HRW 12.01.2023). Während des Jahres 2022 untersagten die Taliban Frauen auch den Zutritt zu Turnhallen, öffentlichen Bädern und Parks (RFE/RL 16.12.2022). Frauen und Mädchen erklärten gegenüber Amnesty International, dass angesichts der zahlreichen und sich ständig weiterentwickelnden Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit jedes Auftreten in der Öffentlichkeit ohne einen Mahram ein ernsthaftes Risiko darstelle. Sie sagten auch, dass die Mahram-Anforderungen ihr tägliches Leben fast unmöglich machten (AI 7.2022; vgl. Rukhshana 28.11.2022). Die zunehmende Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Frauen hat ihre Möglichkeiten, Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung zu erhalten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, Schutz zu suchen und Gewaltsituationen zu entkommen, erheblich beeinträchtigt (OHCHR 10.10.2022; vgl. DROPS/WPS 30.09.2022).

Anm.: Mahram kommt von dem Wort „Haram“ und bedeutet „etwas, das heilig oder verboten ist“. Im islamischen Recht ist ein Mahram eine Person, die man nicht heiraten darf, und es ist erlaubt, sie ohne Kopftuch zu sehen, ihre Hände zu schütteln und sie zu umarmen, wenn man möchte. Nicht-Mahram bedeutet also, dass es nicht Haram ist, sie zu heiraten, von einigen Ausnahmen abgesehen. Das bedeutet auch, dass vor einem Nicht-Mahram ein Hijab getragen werden muss (Al-Islam TV 30.10.2021; vgl. GIWPS 8.2022). [...]

20.1.1. Politische Partizipation und Berufstätigkeit von Frauen

Letzte Änderung: 10.03.2023

Nach der Machtübernahme der Taliban äußerten viele Experten ihre besondere Besorgnis über Menschenrechtsverteidigerinnen, Aktivistinnen und führende Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, Richterinnen und Staatsanwältinnen, Frauen in den Sicherheitskräften, ehemalige Regierungsangestellte und Journalistinnen, die alle in erheblichem Maße Schikanen, Gewaltandrohungen und manchmal auch Gewalt ausgesetzt waren und für die der zivile Raum stark eingeschränkt wurde. Viele waren deshalb gezwungen, das Land zu verlassen (UNOCHA 17.01.2022; vgl. HRW 24.01.2022). Frauen wurde jeder Posten im Kabinett der Taliban verweigert, das Ministerium für Frauenangelegenheiten ist nicht mehr tätig, und der frühere Sitz des Ministeriums in Kabul wurde in das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters umgewandelt, das in den 1990er-Jahren als „Sittenpolizei“ berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.08.2022) und für seine diskriminierende Behandlung von Frauen und Mädchen berüchtigt ist (AI 7.2022).

Im Allgemeinen scheinen die Taliban Frauen die Arbeit zu gestatten, wenn sie nach der Politik der Taliban nicht durch Männer ersetzt werden können oder wenn die Stelle nicht als „Männerarbeit“ angesehen wird (AI 7.2022) und im Einklang mit ihrer Interpretation der Scharia steht (AA 20.07.2022). Dennoch dürfen viele Frauen seit der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan nicht mehr arbeiten. Die Taliban haben keine landesweite Politik zum Thema Frauen und Arbeit erlassen, und die Möglichkeiten der Frauen zu arbeiten, sind in den verschiedenen Regionen des Landes sehr unterschiedlich. Dennoch haben sich in den Anweisungen der Taliban zu diesem Thema einige Muster herauskristallisiert. Die meisten weiblichen Regierungsangestellten wurden angewiesen, zu Hause zu bleiben, mit Ausnahme derjenigen, die in bestimmten Bereichen wie Gesundheit und Bildung arbeiten (AI 7.2022).Auch in der Privatwirtschaft waren die Möglichkeiten der Frauen, weiter zu arbeiten, je nach Region, Branche und Arbeitsplatz unterschiedlich. Von Amnesty International befragte Frauen sagten jedoch, sie hätten beobachtet, dass in der Privatwirtschaft viele Frauen in hochrangigen Positionen entlassen worden seien (AI 7.2022).

Viele der Frauen, die weiterhin arbeiten, empfinden dies aufgrund der von den Taliban vorgeschriebenen Einschränkungen in Bezug auf ihre Kleidung und ihr Verhalten als schwierig und belastend (AI 7.2022). So müssen seit Mai 2022 Nachrichtensprecherinnen vor der Kamera ihr Gesicht verhüllen, sodass nur noch ihre Augen zu sehen sind (AI 7.2022; vgl. GD 19.05.2022). Mehrere Frauen, die im öffentlichen und privaten Sektor arbeiten, gaben an, dass sie stichprobenartig von Mitgliedern der Taliban in Hinblick auf ihre Kleidung und ihr Verhalten kontrolliert wurden (AI 7.2022). Auch die Vorgabe der Taliban, nach welcher sich Frauen in der Öffentlichkeit nur in Begleitung eines Mahram bewegen dürfen, hat Auswirkungen auf ihr Berufsleben (AI 7.2022; vgl. WPS 26.09.2022).

Die von den Taliban verhängten Arbeitsbeschränkungen haben zu einer verzweifelten Situation für viele Frauen geführt, welche die einzigen Lohnempfängerinnen ihrer Familien waren, was durch die humanitäre und wirtschaftliche Krise in Afghanistan noch verschärft wird (AI 7.2022). Experten erwarten, dass die strengen Beschränkungen der Taliban für Frauen, die außerhalb ihres Hauses arbeiten, auch die verheerende wirtschaftliche und humanitäre Krise in Afghanistan verschärfen wird (RFE/RL 03.01.2023). So schätzt das United Nations Development Programme (UNDP), dass die Einschränkungen der Erwerbstätigkeit von Frauen zu wirtschaftlichen Verlusten von 1 Milliarde USD führen werden, das entspricht rund 5% des afghanischen BIP (AA 20.07.2022; vgl. UNDP 01.12.2021).

Am 24.12.2022 erließen die Taliban-Behörden ein Dekret, das Frauen die Arbeit in NGOs verbietet (OHCHR 27.12.2022; vgl. GD 26.12.2022). Fünf führende NGOs haben daraufhin ihre Arbeit in Afghanistan eingestellt. Care International, der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC) und Save the Children erklärten, sie könnten ihre Arbeit „ohne unsere weiblichen Mitarbeiter“ nicht fortsetzen. Auch das International Rescue Committee stellte seine Dienste ein, während Islamic Relief erklärte, es stelle den Großteil seiner Arbeit ein (BBC 26.12.2022; vgl. GD 26.12.2022). [...]

20.1.2. Bildung für Frauen und Mädchen

Letzte Änderung: 10.03.2023

Nachdem die Taliban im August 2021 die Macht in Afghanistan übernommen hatten, verhängten sie ein Verbot der Sekundarschulbildung für Mädchen (HRW 27.04.2022; vgl. Rukhshana 23.07.2022). Am 23.03.2022, als die Schülerinnen der weiterführenden Schulen zum ersten Mal nach sieben Monaten wieder in die Klassenzimmer zurückkehrten, gab die Taliban-Führung bekannt, dass die Mädchenschulen geschlossen bleiben würden (HRW 12.01.2023; vgl. BBC 21.12.2022, HRW 20.12.2022). In der Provinz Balkh blieben die weiterführenden Schulen für Mädchen jedoch geöffnet, allerdings wurde offenen Schulen in Balkh und anderswo mit der Schließung gedroht, wenn sie sich weigerten, die immer strengeren Kleidervorschriften einzuhalten (HRW 27.04.2022). Neben der Provinz Balkh blieben Mädchenschulen auch in den Provinzen Kunduz, Jawzjan, Sar-e-pul, Faryab, and Daikundi geöffnet (AMU 01.01.2023).

Nachdem im Februar 2022 einige öffentliche Universitäten in Afghanistan wiedereröffneten, nahmen zunächst auch einige Studentinnen wieder am Unterricht teil (GD 03.02.2022; vgl. AJ 26.02.2022). Andere Universitäten, beispielsweise in Zabul, Uruzgan (GD 03.02.2022) und in Panjsher, blieben weiterhin geschlossen (AJ 26.02.2022). Der Unterricht an Universitäten war für Frauen in weiterer Folge durch zahlreiche Einschränkungen gekennzeichnet (BBC 21.12.2022; vgl. AI 7.2022). So fand der Unterricht für weibliche und männliche Studenten getrennt und in verschiedenen Schichten statt (TN 26.02.2022; vgl. AJ 26.02.2022), und Frauen mussten sich an die islamische Kleiderordnung [nach Verständnis der Taliban] halten, d. h. eine Burka und eine schwarze Abaya im arabischen Stil tragen (GD 03.02.2022; vgl. AJ 26.02.2022, AI 7.2022). Im September 2022 konnten Tausende Frauen Aufnahmeprüfungen für die Universitäten ablegen (BBC 21.12.2022; vgl. 8am 24.12.2022). Jedoch waren Fächer wie Ingenieurwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, Tiermedizin und Landwirtschaft für Frauen blockiert und Journalismus stark eingeschränkt (BBC 21.12.2022).

Ende Dezember 2022 verkündeten die Taliban schließlich ein Verbot für Frauen, Universitäten zu besuchen (HRW 20.12.2022; vgl. RFE/RL 22.12.2022). Der Bildungsminister der Taliban verteidigte die Entscheidung und gab an, dass das Verbot notwendig sei, um eine Vermischung der Geschlechter an den Universitäten zu verhindern, und weil er glaube, dass einige der unterrichteten Fächer gegen die Grundsätze des Islam verstießen. Auch sagte er, dass die Studentinnen die islamischen Vorschriften ignoriert hätten, u. a. über die vorgeschriebene Kleidung, und auf Reisen nicht von einem männlichen Verwandten begleitet worden seien (RFE/RL 22.12.2022: vgl. FR24 22.12.2022). Proteste gegen die Entscheidung der Taliban, den Frauen den Zugang zu Universitäten zu verwehren, wurden mit Gewalt beendet und mehrere Personen wurden festgenommen (RFE/RL 22.12.2022; vgl. RFE/RL 24.12.2022, BBC 22.12.2022).

Damit kann ein afghanisches Mädchen höchstens die 6. Klasse, das letzte Jahr der Grundschule, absolvieren. Bedenken wachsen, dass die Taliban die Bildung von Mädchen komplett verbieten könnten, da folgend auf das Verbot für Frauen, Universitäten zu besuchen, nun auch über Entlassungen von Lehrerinnen berichtet wird, die Mädchen in den ersten sechs Schuljahren unterrichten (NPR 22.12.2022). Die Taliban teilten in einem Brief des Taliban-Bildungsministers am 08.01.2023 jedoch mit, dass staatliche Mädchenschulen bis einschließlich der 6. Klasse und private Lernzentren für denselben Altersbereich weiterarbeiten sollen, ebenso alle Koranschulen (Madrassas) für Mädchen ohne Altersbeschränkung. Auch wies der Minister die Behörden in Provinzen an, wo solche Einrichtungen geschlossen wurden, diese wieder zu öffnen. Es wird jedoch auch darauf verwiesen, dass Mädchenschulen ab der 6. Klasse „bis auf weiteres“ nicht zugelassen sind (Ruttig T. 11.01.2023). [...]

20.1.3. Frauenhäuser, sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt, Zwangsehe

Letzte Änderung: 10.03.2023

Geschlechtsspezifische Gewalt ist ein allgegenwärtiges Problem in Afghanistan. Sie ist das Ergebnis komplexer Ungleichheiten und kultureller Praktiken, die in Verbindung mit Armut und mangelndem Bewusstsein dazu führen, dass Frauen den Männern untergeordnet werden und keine Unterstützung erhalten oder selbst aktiv werden können (UNPF 27.12.2021). Seit dem Sommer 2021 werden in Afghanistan, einem Land mit einer der höchsten Raten von Gewalt gegen Frauen weltweit, viele der grundlegendsten Rechte von Frauen eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt. Afghanische Frauen haben auch eine deutliche Verschlechterung des Zugangs zu koordinierten, umfassenden und hochwertigen Dienstleistungen für Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt zu verzeichnen. Gleichzeitig ist die Nachfrage nach diesen Diensten höher als je zuvor (AI 7.2022; vgl. UNAMA 29.12.2022, UNPF 24.10.2022). Zuvor hatten viele Frauen und Mädchen zumindest Zugang zu einem Netz von Unterkünften und Diensten, einschließlich kostenloser Rechtsberatung, medizinischer Behandlung und psychosozialer Unterstützung. Das System hatte zwar seine Grenzen, aber es half jedes Jahr Tausenden von Frauen und Mädchen. Diejenigen, die in die Schutzräume kamen, blieben je nach ihren besonderen Bedürfnissen oft monatelang oder sogar jahrelang dort und erhielten eine Ausbildung in beruflichen Fähigkeiten oder andere Möglichkeiten, ein langfristiges Einkommen zu erzielen. In einigen Fällen wurden die Überlebenden auch dabei unterstützt, eine neue Unterkunft zu finden (AI 7.2022).

Als die Taliban die Macht in Afghanistan übernahmen, brach das Netz zur Unterstützung von Überlebenden geschlechtsspezifischer Gewalt - einschließlich rechtlicher Vertretung, medizinischer Behandlung und psychosozialer Unterstützung - zusammen (AI 7.2022). Schutzräume für Frauen wurden geschlossen (AA 20.07.2022; vgl. AI 7.2022, UNPF 24.10.2022), und viele wurden von Taliban-Mitgliedern geplündert und in Beschlag genommen. In einigen Fällen belästigten oder bedrohten Taliban-Mitglieder Mitarbeiter. Als die Unterkünfte geschlossen wurden, waren die Mitarbeiter gezwungen, viele überlebende Frauen und Mädchen zu ihren Familien zurückzuschicken. Andere waren gezwungen, bei Mitarbeitern der Unterkünfte, auf der Straße oder in anderen schwierigen Situationen zu leben (AI 7.2022; vgl. RFE/RL 26.09.2021). Die neue, von den Taliban geführte Regierung Afghanistans hat sich noch nicht zu ihrer Politik in Bezug auf Frauenhäuser geäußert. Da die Taliban die Frauenhäuser jedoch zuvor als „Bordelle“ gebrandmarkt hatten, befürchten Aktivisten, dass die militante islamistische Gruppe sie verbieten wird (RFE/RL 26.09.2021).

Anfang Dezember 2021 verkündeten die Taliban ein Verbot der Zwangsverheiratung von Frauen in Afghanistan (AP 03.12.2021; vgl. AJ 03.12.2021, AI 7.2022). In dem Erlass wurde kein Mindestalter für die Eheschließung genannt, das bisher auf 16 Jahre festgelegt war. Die Taliban-Führung hat nach eigenen Angaben afghanische Gerichte angewiesen, Frauen gerecht zu behandeln, insbesondere Witwen, die als nächste Angehörige ein Erbe antreten wollen. Die Gruppe sagt auch, sie habe die Minister ihrer Regierung aufgefordert, die Bevölkerung über die Rechte der Frauen aufzuklären (AP 03.12.2021; vgl. AJ 03.12.2021). Berichten zufolge sind Frauen und Mädchen allerdings einem erhöhten Risiko von Kinder- und Zwangsheirat sowie der sexuellen Ausbeutung ausgesetzt (AA 20.07.2022; vgl. RFE/RL 14.12.2022). NGOs führen dies auf Faktoren zurück, von denen viele direkt auf Einschränkungen durch bzw. das Verhalten der Taliban zurückzuführen sind. Zu den häufigsten Ursachen für Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratung seit August 2021 gehören die wirtschaftliche und humanitäre Krise, fehlende Bildungs- und Berufsperspektiven für Frauen (AI 7.2022), das Bedürfnis der Familien, ihre Töchter vor der Heirat mit einem Taliban-Mitglied zu schützen (AI 7.2022; vgl. RFE/RL 14.12.2022), Familien, die Frauen und Mädchen zwingen, Taliban-Mitglieder zu heiraten und Taliban-Mitglieder, die Frauen und Mädchen zwingen, sie zu heiraten (AI 7.2022). [...]

20.2. Kinder

Letzte Änderung: 21.03.2023

Die afghanische Bevölkerung ist eine der jüngsten und am schnellsten wachsenden der Welt - mit rund 41% der Bevölkerung (27,5 Millionen Afghanen) unter 14 Jahren (UNPF 2022; vgl. CIA 29.12.2022) und einem Bevölkerungswachstum von 2,3% (CIA 29.12.2022). Das Durchschnittsalter in Afghanistan liegt zwischen 18,4 (WoM 03.01.2023) und 19,5 Jahren (CIA 29.12.2022) und die Geburtenrate liegt im Jahr 2020 bei 4,6 Kindern pro Frau (WoM 03.01.2023; vgl. CIA 29.12.2022). Nach dem Zivilrecht liegt die Volljährigkeit für Bürger bei 18 Jahren, für Frauen liegt sie bei 16 Jahren, wenn es um die Heirat geht. Das islamische Recht definiert die Volljährigkeit als den Zeitpunkt, an dem man Anzeichen der Pubertät zeigt, und die Pubertät wird in der Regel als Heiratsalter angesehen, insbesondere für Mädchen (USDOS 02.06.2022).

Berichten zufolge sind Früh- und Zwangsverheiratungen weiterhin weit verbreitet (USDOS 12.04.2022a; vgl. AA 20.07.2022). Anfang Dezember 2021 verkündeten die Taliban ein Verbot der Zwangsverheiratung in Afghanistan (AP 03.012.2021; vgl. AJ 03.12.2021, AI 7.2022). In dem Erlass wurde kein Mindestalter für die Eheschließung genannt, das bisher auf 16 Jahre festgelegt war (AP 03.12.2021; vgl. AJ 03.12.2021). Berichten zufolge sind Mädchen allerdings einem erhöhten Risiko von Kinder- und Zwangsheirat sowie der sexuellen Ausbeutung ausgesetzt (AA 20.07.2022; vgl. RFE/RL 14.12.2022). NGOs führen dies auf Faktoren zurück, von denen viele direkt auf Einschränkungen durch und das Verhalten der Taliban zurückzuführen sind. Zu den häufigsten Ursachen für Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratung seit August 2021 gehören die wirtschaftliche und humanitäre Krise, fehlende Bildungs- und Berufsperspektiven für Mädchen (AI 7.2022), das Bedürfnis der Familien, ihre Töchter vor der Heirat mit einem Taliban-Mitglied zu schützen (AI 7.2022; vgl. RFE/RL 14.12.2022), Familien, die Frauen und Mädchen zwingen, Taliban-Mitglieder zu heiraten und Taliban-Mitglieder, die Frauen und Mädchen zwingen, sie zu heiraten (AI 7.2022).

Kinder litten bis zur Machtübernahme der Taliban besonders unter dem bewaffneten Konflikt und wurden Opfer von Zwangsrekrutierung, vor allem vonseiten der Taliban. Die Taliban-Führung hat sich wiederholt gegen die Rekrutierung von Kindern ausgesprochen und nach eigenen Angaben im Rahmen der sog. „Säuberungskommission“ 155 Minderjährige aus den Reihen der Kämpfer entlassen (AA 20.07.2022). In den Jahren vor der Machtübernahme der Taliban haben bewaffnete Kräfte und Gruppen in Afghanistan Berichten zufolge Tausende von Kindern sowohl für Kampf- als auch für Unterstützungsaufgaben rekrutiert, darunter auch für sexuelle Zwecke (HRW 07.06.2021). Die Taliban rekrutierten Kindersoldaten aus Madrassas [Anm.: religiöse Schulen] in Afghanistan und in Pakistan, welche eine militärische Ausbildung und religiöse Indoktrination bieten, und boten Familien manchmal Geldzahlungen oder Schutz als Gegenleistung dafür, dass sie ihre Kinder in diese Schulen schicken. UNAMA verifizierte die Rekrutierung von 40 Jungen durch die Taliban, die [ehemalige] ANP und regierungsnahe Milizen in der ersten Jahreshälfte 2021 (USDOS 12.04.2022a). Unbestätigten Berichten zufolge werden auch weiterhin Minderjährige als Wachpersonal und an Checkpoints eingesetzt (AA 20.07.2022).

Weiterhin fortbestehende Probleme sind sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen, Kinderarbeit und Prostitution, gerade auch unter Minderjährigen. UNICEF hat eine Zunahme von Kinderarbeit, Zwangsverheiratungen Minderjähriger und dem Verkauf von Kindern beobachtet (AA 20.07.2022).

2021 verifizierten die Vereinten Nationen 2.577 schwere Verstöße gegen 2.430 Kinder (1.579 Jungen, 798 Mädchen, 53 Geschlecht unbekannt), wobei der Großteil der Fälle die erste Jahreshälfte 2021 betrifft (UNGA 23.6.2022).

Kinder sind von extremem Hunger, Ausbeutung und dem Verlust ihrer Bildungsmöglichkeiten bedroht, insbesondere Mädchen. Bei Mädchen ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie hungrig zu Bett gehen, fast doppelt so hoch wie bei Jungen, und fast jedes zweite Mädchen geht nicht zur Schule, im Vergleich zu jedem fünften Jungen. Die Eltern sind gezwungen, verzweifelte Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Kinder zu ernähren. Sie nehmen sie von der Schule, schicken sie zum Arbeiten und verkaufen in einigen Fällen ihre Kinder, um Schulden zu begleichen oder Geld für den Kauf von Lebensmitteln für ihre anderen Kinder zu bekommen (STC 15.08.2022). Im Jahr 2023 werden in Afghanistan schätzungsweise vier Millionen Menschen an akuter Unterernährung leiden, darunter 875.227 Kinder mit schwerer akuter Unterernährung bzw. 2,347.802 Kinder mit mittelschwerer akuter Unterernährung sowie 804.365 schwangere und stillende Frauen mit akuter Unterernährung. Nur 16% der Kinder im Alter von 6-23 Monaten erhalten ein Minimum an akzeptabler Nahrung (IPC 30.01.2023). Die Nachfrage nach Behandlungsmöglichkeiten für Unterernährung ist in den letzten Monaten des Jahres 2022 sprunghaft angestiegen (WB 10.11.2022). Die Zahl der gefährlich unterernährten Kinder, die in die mobilen Kliniken von Save the Children in Afghanistan eingeliefert werden, ist seit Januar dieses Jahres um 47% gestiegen, wobei einige Babys sterben, bevor sie überhaupt behandelt werden können (STC 31.10.2022).

Bacha Bazi

Während das Eingestehen oder Diskutieren von Sex zwischen Männern in der heutigen Zeit ein großes Tabu ist und gleichgeschlechtliche Beziehungen illegal sind, ist Sex zwischen Männern ein offenes Geheimnis in Afghanistan. Die Einstellung zu Homosexualität - ebenso wie die sexuelle Gewalt gegen Männer und Jungen - ist stark von Bacha Bazi („Jungenspiel“) geprägt, einer seit Langem bestehenden Missbrauchspraxis - im Unterschied zu einvernehmlichen gleichgeschlechtlichen Beziehungen - bei der feminisierte, vorpubertäre Jungen von Kriegsherren, Polizeikommandeuren und anderen mächtigen Männern in einer Art sexueller Sklaverei gehalten werden (HRW 1.2022, vgl.: USDOL 28.09.2022). Dieses Phänomen wurde von der früheren Regierung und ihren Verbündeten in den USA weitgehend geduldet; die frühere Taliban-Regierung unternahm Schritte, um diese Praxis in einigen Bereichen zu beenden, obwohl sie sie unter einflussreichen Persönlichkeiten duldete (HRW 1.2022).

Außerhalb dieser Praxis werden Jugendliche und vulnerable erwachsene Männer häufig zur Zielscheibe sexueller Gewalt, und die Behörden fügen den Opfern oft noch mehr Schaden zu und unternehmen kaum Anstrengungen, die Täter zu bestrafen. Aktivisten, die solche Gewalt anprangerten, waren manchmal Repressalien ausgesetzt (HRW 1.2022). Da es nicht genügend Heime für Jungen gab, nahmen die Behörden missbrauchte Jungen, darunter viele Opfer von Bacha Bazi, in Rehabilitationszentren für Jugendliche in Gewahrsam, weil ihnen Gewalt drohte, wenn sie zu ihren Familien zurückkehrten, und keine andere Unterkunft zur Verfügung stand (USDOS 12.04.2022a). [...]

20.2.1. Schulbildung in Afghanistan

Hilfsorganisationen warnen davor, dass dem öffentlichen Bildungssektor in Afghanistan aufgrund der Geschlechterpolitik der Taliban und des Mangels an ausländischen Geldern der Zusammenbruch droht. Ausländische Geber lehnen die Bildungspolitik der Taliban, insbesondere den Ausschluss von Mädchen von höheren Schulen, ab. Nach Angaben der Vereinten Nationen hatte der jahrzehntelange Konflikt in Afghanistan verheerende Auswirkungen auf das Schulsystem. Im Jänner und Februar 2022 zahlte das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) afghanischen Lehrern ein Unterstützungsgehalt von 100 Dollar pro Person, stellte die Zahlungen jedoch ein, nachdem die Taliban ihre Zusage, im März wieder Sekundarschulen für Mädchen zu eröffnen, nicht eingehalten hatten. Hochrangige Taliban-Vertreter, wie der Minister für höhere Bildung, haben sich öffentlich über moderne Bildung beschwert und eine strenge Islamisierung des afghanischen Bildungssystems versprochen (VOA 16.09.2022). Darüber hinaus wandeln die Taliban öffentliche Schulen zunehmend in religiöse Seminare um (VOA 16.09.2022; vgl. RFE/RL 25.06.2022) und überarbeiten den Lehrplan (VOA 16.09.2022; vgl. 8am 17.12.2022, DIP 21.12.2022).

Die Umgestaltung des afghanischen Bildungssystems ist eines der Hauptziele der Taliban, seit sie wieder an der Macht sind. Sie haben Mädchen den Besuch von höheren Schulen untersagt, die Geschlechtertrennung und eine neue Kleiderordnung an öffentlichen Universitäten durchgesetzt und versprochen, den nationalen Lehrplan zu überarbeiten (RFE/RL 25.06.2022). Später wurde Frauen der Besuch von Universitäten komplett verboten (HRW 20.12.2022; vgl. RFE/RL 22.12.2022). Die Taliban haben außerdem Pläne für den Aufbau eines ausgedehnten Netzes von Madrassas in den 34 Provinzen des Landes bekanntgegeben. Kritiker sagen, das Ziel der Taliban sei es, alle Formen der modernen säkularen Bildung zu verbieten, die in Afghanistan nach dem Sturz des ersten Taliban-Regimes durch die US-geführte Invasion im Jahr 2001 aufgebaut wurden. Bereits während der ersten Herrschaft der Taliban von 1996 bis 2001 verbot die Gruppe die säkulare Bildung und ersetzte sie durch eine religiöse Schulbildung. Mädchen durften nicht zur Schule gehen, und Frauen konnten keine Universität besuchen. Die von den Taliban geführten Koranschulen förderten militante Ideologien und lehrten Jungen, den Koran auswendig zu rezitieren. Während ihres fast 20-jährigen Aufstands haben die Taliban ihre Madrassas in den meisten ländlichen Gebieten unter ihrer Kontrolle wieder eingerichtet. Sie bombardierten oder verbrannten auch säkulare Schulen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten (RFE/RL 25.06.2022).

Das afghanische Medium Hasht-e Subh veröffentlichte im Dezember 2022 den endgültigen Plan der Taliban zur Änderung der Lehrpläne. Demzufolge werden nicht nur mehrere Lehrbücher und Fächer aus dem Lehrplan gestrichen, sondern auch zahlreiche Vorschläge unterbreitet, die den Inhalt der Lehrbücher weitgehend verändern und den Lehrplänen der früheren Taliban-Herrschaft in den späten 1990er-Jahren ähneln. In den Lehrbüchern sollen alle Bilder von Lebewesen entfernt werden; besonders bedenklich sind für die Taliban Darstellungen von kleinen Mädchen und Menschen beim Sport sowie Bilder von Anatomie in Biologie-Lehrbüchern. Ebenfalls verboten ist jede positive Erwähnung von Demokratie und Menschenrechten, die Förderung von Frieden, Frauenrechten und Bildung, die Vereinten Nationen (dem Bericht zufolge eine „böse Organisation“), die Erwähnung von Musik, Fernsehen, Partys und Feiern, einschließlich Geburtstagen, nicht-muslimische Persönlichkeiten wie Wissenschaftler oder Erfinder (Thomas Edison wird als Beispiel genannt), die Erwähnung von Minen und deren Gefahren (wegen ihrer Verbindung zu den Taliban), Radio („koloniale Medien“), Bevölkerungsmanagement und die Erwähnung von Wahlen. Selbst historische und literarische Persönlichkeiten Afghanistans, die die Taliban ablehnen, wie berühmte Dichter und schiitische Persönlichkeiten, werden aus dem Lehrplan gestrichen. Alte afghanische Kulturtraditionen, vom Attan-Tanz und Nawruz bis hin zu einheimischen Musikinstrumenten und der farbenfrohen traditionellen Kleidung der Frauen, sollen aus den Lehrbüchern gestrichen werden. Andere Traditionen können zwar erwähnt werden, aber nur um zu erklären, warum sie schändlich sind; so sollen die Lehrer beispielsweise die „Hässlichkeit“ der riesigen Buddhas von Bamyan hervorheben und die Zerstörung solcher Idole durch die Taliban feiern. „Nicht-islamische Überzeugungen“ wie „Liebe zu allen Menschen“ sollten weggelassen werden. Mitglieder des Taliban-Revisionsausschusses erklären, dass der Zweck des Lehrplans darin besteht, „die ideologischen Interessen der Taliban aufrechtzuerhalten und zu erweitern“, und nach Einschätzung von Hasht-e Suhb „versuchen die Taliban, eine Ideologie zu kultivieren, die in Konflikt mit anderen Religionen und Kulturen steht“. In ihren eigenen Worten empfiehlt das Taliban-Komitee, dass die „Saat des Hasses gegen westliche Länder in die Köpfe der Schüler gepflanzt werden sollte“ (8am 17.12.2022; vgl. DIP 21.12.2022). [...]

21. Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung: 21.03.2023.

Afghanistan befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban; Widerstandsgruppen gelingt es bislang nicht oder nur vorübergehend, effektive territoriale Kontrolle über Gebiete innerhalb Afghanistans auszuüben. Dauerhafte Möglichkeiten, dem Zugriff der Taliban auszuweichen, bestehen daher gegenwärtig nicht. Berichte über Verfolgungen machen deutlich, dass die Taliban aktiv versuchen „Ausweichmöglichkeiten“ im Land zu unterbinden (AA 20.07.2022).

Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August war der Reiseverkehr zwischen den Städten im Allgemeinen ungehindert möglich (USDOS 12.04.2022a). Die Taliban schränken die Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes kaum direkt ein. Allerdings können Kontrollpunkte, die dazu dienen, mutmaßliche Gegner zu verhaften und die Taliban-Vorschriften durchzusetzen, die Bewegungsfreiheit erschweren (FH 24.02.2022a). So wird berichtet, dass zwischen dem Flughafen von Kabul und der Stadt Kabul bewaffnete Taliban Kontrollpunkte besetzen und die Straßen patrouillierten (VOA 12.05.2022; vgl. NPR 09.06.2022). Die Bewegungsfreiheit von Frauen ist eingeschränkt, da das Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern vorschreibt, wie weit sie ohne Begleitung reisen dürfen. Frauen, deren Kleidung nicht den Richtlinien des Ministeriums entspricht, kann der Zutritt zu Fahrzeugen untersagt werden (FH 24.02.2022a). Seit dem 26.12.2021 ist es afghanischen Frauen untersagt, ohne einen Mahram Fernreisen zu unternehmen. Innerhalb besiedelter Gebiete konnten sich Frauen freier bewegen, obwohl es immer häufiger Berichte über Frauen ohne Mahram gab, die angehalten und befragt wurden (USDOS 12.04.2022a). Das Taliban-Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern hat es Fahrern verboten, allein reisende Frauen mitzunehmen (RFE/RL 19.01.2022b; vgl. DW 26.12.2021). [...]

25. Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 13.03.2023

Zwei Jahrzehnte lang investierten die Vereinigten Staaten und andere Geber Hunderte von Millionen US-Dollar in die Entwicklung eines Systems der Primär- und Krankenhausversorgung für die Bevölkerung Afghanistans, die lange Zeit unter einer geringen Lebenserwartung, erschütternden Todesraten bei Geburten und einer sehr hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit litt. Durch die Unterstützung des Gesundheitsministeriums und Partnerschaften mit internationalen und nationalen NGOs wurden gemeindebasierte Kliniken eröffnet und ein grundlegendes Paket von Gesundheitsdiensten angeboten, Tausende von praktizierenden Gesundheitshelfern geschult und die Überwachung und das Management verbessert. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit sowie die Müttersterblichkeitsrate wurden halbiert. Aufgrund des extrem schlechten Gesundheitszustands der Afghanen zu Beginn der Initiativen gehörten die Gesundheitsindikatoren in Afghanistan jedoch auch 2021 noch zu den schlechtesten der Welt (JHU 11.2022).

Nach Angaben der World Health Organization (WHO) und des International Committee of the Red Cross (ICRC) steht das afghanische Gesundheitssystem nach der Machtübernahme der Taliban und dem Rückzug der Hilfe der westlichen Staaten am Rande des Zusammenbruchs (ICRC 13.08.2022; vgl. WHO 24.01.2022). Die allgemeine humanitäre Krise schränkt die Kapazität des Gesundheitswesens und der Gesundheitsdienste erheblich ein (UNOCHA 1.2023).

In den öffentlichen Krankenhäusern, die unter direkter Aufsicht der afghanischen Regierung stehen, sind seit dem Regimewechsel sowohl die Qualität der Versorgung als auch die Zahl der Mitarbeiter erheblich zurückgegangen (IOM 12.01.2023). Ärzte und Krankenschwestern arbeiten länger, und Gehälter werden häufig nicht gezahlt (IOM 12.01.2023; vgl. NH 17.01.2023), weshalb viele Mitarbeiter das Land verlassen haben (IOM 12.01.2023, vgl. UNOCHA 1.2023). Die Kapazität des Gesundheitspersonals im öffentlichen Sektor ist gering (HC 31.12.2022; vgl. UNOCHA 1.2023) auch aufgrund der Einschränkungen von Frauen im Hinblick auf Beschäftigung und Bewegung (UNOCHA 1.2023). Die südlichen, östlichen und westlichen Regionen Afghanistans verfügen noch über eine ausreichende medizinische Versorgung, da die Krankenhäuser in diesen Regionen von IOM (südliche und westliche Regionen) und der Transkulturellen Psychosozialen Organisation Health Net (TPO) (östliche Regionen) unterstützt werden. In den zentralen und nördlichen Provinzen fehlt es an finanziellen Mitteln, und die Leistungen sind unzureichend. Die größten Engpässe in der medizinischen Versorgung bestehen derzeit bei PSA (Persönliche Schutzausrüstung), Sauerstoff und anderen medizinischen Dienstleistungen (IOM 12.01.2023).

Am 25.12.2022 erließ das Wirtschaftsministerium der Taliban einen Erlass, der Mitarbeiterinnen von internationalen NGOs die Arbeit verbot (OHCHR 27.12.2022; vgl. GD 26.12.2022), was jedoch nicht für den Gesundheitssektor gilt, und das Gesundheitsministerium der Taliban hat den NGOs im Gesundheitssektor geraten, ihre Dienste wieder aufzunehmen (WHO 16.01.2023). In weiterer Folge haben mit dem 28.12.2022 14 Organisationen die Bereitstellung von Gesundheitsdiensten vorübergehend eingestellt (HC 31.12.2022). Aufgrund der Aussetzung des Betriebs der Gesundheitspartner werden rund 1,5 Millionen Menschen keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu lebenswichtigen Gesundheitsdiensten haben (WHO 16.01.2023; vgl. HC 31.12.2022). Davon betroffen sind auch gemeindenahe Aktivitäten (z. B. MHTs, Gesundheitserziehung/-sensibilisierung, MHPSS, MCH), während die von weiblichem Personal durchgeführten Schulungs- und Aufsichtsmaßnahmen eingestellt wurden (HC 31.12.2022).

Eine Analyse der unterversorgten Gebiete zeigt, dass 13,2 Millionen Menschen in 34 Provinzen in Gegenden leben, in denen die medizinische Grundversorgung nicht innerhalb einer Stunde zu Fuß erreichbar ist. Ebenso konzentrieren sich die am besten qualifizierten Gesundheitsfachkräfte in den Städten und den gut ausgestatteten Provinzen. Gleichzeitig können Bevölkerungsverschiebungen und die Abwanderung in städtische Zentren die bestehenden Gesundheitsdienste in städtischen Gebieten überlasten. Der Anteil der Haushalte, die angaben, keine funktionierende Gesundheitseinrichtung in der Nähe zu haben, stieg von 19% im Jahr 2021 auf 30% im Jahr 2022, ein Anstieg, der in erster Linie auf die fehlende Gesundheitsinfrastruktur in ländlichen Gebieten zurückzuführen ist. Dies kann eine Reihe von Faktoren widerspiegeln, darunter der Mangel an medizinischem Personal, die fehlende Finanzierung oder die mangelnde Versorgung. Obwohl es in den städtischen Zentren zahlreiche Gesundheitseinrichtungen gibt, gab die städtische Bevölkerung häufig an, dass Medikamente oder Behandlungen für sie zu teuer seien (UNOCHA 1.2023).

In Afghanistan gibt es derzeit Ausbrüche von Infektionskrankheiten wie Masern, akute wässrige Diarrhöe (AWD), Dengue-Fieber (IOM 12.01.2023; vgl. WHO 16.01.2023), Cholera, Malaria, Polio (IOM 12.01.2023) und Keuchhusten (WHO 16.01.2023), die das ohnehin fragile Gesundheitssystem zusätzlich belasten (HC 31.12.2022). Infektionskrankheiten wie AWD und Cholera sind die Folge von und ein Katalysator für schlechte humanitäre Bedingungen, einschließlich schlechter sanitärer Einrichtungen, Wasserqualität und -menge, Unterernährung, geringerer Schulbesuch, schlechter Gesundheitszustand und geringeres Einkommen. Besonders betroffen sind Kinder in ländlichen Haushalten, was teilweise auf Unterschiede in der sanitären Infrastruktur zurückgeführt werden kann (UNOCHA 1.2023).

Aufgrund der zunehmenden Ernährungsunsicherheit hat die Mangelernährung in Afghanistan im Jahr 2022 stark zugenommen, auch die Fälle von Unterernährung bei Kindern unter fünf Jahren. In diesem Jahr wurden mehr als 46.000 Kinder mit Komplikationen eingeliefert, das ist die höchste Zahl der letzten drei Jahre und ein Anstieg um 46% gegenüber 2021. Allein im Dezember 2022 wurden 3.010 unterernährte Kinder mit medizinischen Komplikationen in von der WHO unterstützten Zentren aufgenommen und behandelt (WHO 16.01.2023).

Auch die in Afghanistan häufig vorkommenden Stromausfälle stellen eine Gefahr für die medizinische Versorgung dar. Afghanistan importiert nach wie vor 80% seines Stroms aus den zentralasiatischen Nachbarländern und Iran, was das Land insbesondere in den kalten Wintermonaten anfällig für weitreichende Stromengpässe macht. Für Krankenhäuser und Kliniken kann die Stromversorgung den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten. Die Mitarbeiter des Gesundheitswesens bemühen sich, die Stromversorgung aufrechtzuerhalten, angefangen bei den Kühlschränken für lebensrettende Medikamente bis hin zu den Brutkästen für Frühgeborene, bei denen ein Temperaturabfall drastische Auswirkungen auf die Gesundheit der Neugeborenen haben kann. Privatkliniken mussten Tausende von Dollar in Generatoren und Sonnenkollektoren investieren, um zu gewährleisten, dass die Patientenversorgung nicht durch die Stromausfälle beeinträchtigt wird. Sie sind im Vorteil, da sie die Kosten für die zusätzliche Ausrüstung auf die Gebühren für wohlhabendere Patienten aufschlagen können. Staatliche Krankenhäuser, die allen Patienten eine kostenlose Behandlung anbieten, haben kaum einen solchen Spielraum (NH 17.01.2023).

COVID-19

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation, bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://covi d19.who.int/region/emro/country/afoder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.m aps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Mit Stand Februar 2023 wurden 208.627 COVID-19-Fälle offiziell bestätigt und 12.684.950 Impfdosen verabreicht (JHU 06.02.2023). Seit Beginn der Pandemie hat sich COVID-19 über das ganze Land ausgebreitet. Die erste Welle erstreckte sich Berichten zufolge von Ende April bis Juni 2020; die zweite Welle begann im Oktober 2020 und dauerte bis Ende Dezember 2020; die dritte Welle begann Berichten zufolge im April 2021 und dauerte bis Mitte August 2021. Die vierte Welle endete im März 2022 (Asady/Sediqi/Habibi 28.06.2022). Im Sommer 2022 sah sich Afghanistan einem weiteren Anstieg der COVID-19 Fälle ausgesetzt, und innerhalb von zwei Monaten wurden mehr als 11.700 Fälle registriert. Es wurde berichtet, dass trotz der Zunahme an Erkrankungen die Menschen keine Angst mehr haben würden und keine Präventivmaßnahmen ergreifen (PAN 08.09.2022).

Bis zur Machtübernahme der Taliban waren landesweit insgesamt 38 COVID-19-Krankenhäuser in Betrieb, die alle von internationalen Gebern finanziert wurden. Daneben wurden im Rahmen der COVID-19-Notfallmaßnahmen auch Krisenreaktionsteams (Rapid Response Teams, RRTs) und Bezirkszentren (District Centers, DCs) eingerichtet, um Risikokommunikationsveranstaltungen durchzuführen, Proben von Verdachtsfällen zu sammeln, Kontaktpersonen ausfindig zu machen und Ratschläge für leichte und mittelschwere Fälle zu geben, die zu Hause behandelt werden sollten. Diese Maßnahmen trugen entscheidend dazu bei, die Belastung der für COVID-19 zuständigen Krankenhäuser zu verringern, sodass sie sich auf die Behandlung schwerer und kritischer Fälle konzentrieren konnten. Nach dem Zusammenbruch der vorherigen Regierung wurden alle Finanzmittel und Unterstützungen für die COVID-19-Notfallmaßnahmen gekürzt, und die meisten Krankenhäuser mussten ihren Betrieb einstellen, weil es an Mitteln, Ärzten, Medikamenten und sogar Heizmaterial mangelte. Der Mangel an Gesundheitspersonal für die Entnahme von Proben verdächtiger Personen und der Mangel an Kits für labordiagnostische Tests sind in den meisten Distrikten Afghanistans nach wie vor die größten Herausforderungen. Das hohe Maß an finanzieller Unsicherheit in mehreren Teilen des Landes hat große und direkte negative Auswirkungen auf die Bereitstellung und Abdeckung von Gesundheitsdiensten für die breite Öffentlichkeit. Viele Menschen, die ihre erste Impfung mit dem COVID-19-Impfstoff erhalten haben, konnten die nächste Dosis nicht erhalten, weil der Impfstoff knapp oder nicht verfügbar war (Asady/Sediqi/Habibi 28.06.2022). [...]

26. Rückkehr

Letzte Änderung: 15.03.2023

[Anmerkung: Zur Situation rückkehrender Geflüchteter aus Österreich liegen nur vereinzelt Erkenntnisse vor, da Rückführungen aus Österreich und anderen EU-Mitgliedstaaten gegenwärtig ausgesetzt sind]

Im Jahr 2022 kehrten laut UNHCR mit Stand Dezember 6.148 Flüchtlinge freiwillig nach Afghanistan zurück, wobei 94% aus Pakistan kamen. Der Rest kehrte aus Iran, Russland, Tadschikistan oder Aserbaidschan zurück. Als Hauptgründe für ihre Rückkehr werden die hohen Lebenshaltungskosten und der Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten in den Aufnahmeländern sowie der Wunsch, wieder mit ihrer Familie zusammenzukommen, und die empfundene bessere Sicherheitslage in Afghanistan genannt (UNHCR 04.12.2022).

Nach Angaben von UNHCR befinden sich Rückkehrende aus dem Ausland in einer wirtschaftlichen Notlage und wenden negative Bewältigungsstrategien an (Einsparung von Lebensmitteln, Aufnahme von Schulden, Kinderarbeit, -verkauf). Die Taliban haben in öffentlichen Verlautbarungen im Ausland lebende Afghaninnen und Afghanen aufgefordert, nach Afghanistan zurückzukehren. Außerhalb offizieller Kommunikation verbreiten Taliban-Vertreter bzw. ihnen nahestehende Kommentatoren das Narrativ, dass ehemalige Regierungsmitglieder bzw. Angestellte, aber auch Personen, die mit ausländischen Regierungen gearbeitet haben, Verräterinnen und Verräter am Islam und an Afghanistan seien. Auch in den Sozialen Medien werden diese immer wieder als Verräter bzw. „verwestlicht“ bezeichnet, die aufgrund ihrer Ablehnung für „islamische Werte“ ins Ausland gegangen seien. Nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen sind aus Europa Rückkehrende sowie Personen, die mit dem (westlichen) Ausland assoziiert werden, unmittelbar bedroht (AA 20.07.2022).

Rückkehrende dürften nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke verfügen, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern. Die Taliban haben internationale Organisationen der humanitären Hilfe um Unterstützung bei der Versorgung und Umsiedlung Binnenvertriebener gebeten, die selbst in der Regel nicht über ausreichend Mittel zur Rückkehr verfügen (AA 20.07.2022).

Eine Studie von IOM, bei der Afghanen interviewt wurden, die zwischen Jänner 2018 und Juli 2021 aus der Türkei oder der EU nach Afghanistan zurückkehrten, berichtet, dass die Rückkehrer weiterhin mit erheblichen wirtschaftlichen und ernährungsbedingten Herausforderungen konfrontiert sind. Der größte Anteil der Befragten (45%) gab an, arbeitslos zu sein, während 40% sagten, sie arbeiteten für einen Tageslohn, und fast 90% der Befragten gaben an, dass sich ihre wirtschaftliche Situation im ersten Halbjahr 2022 verschlechtert habe (IOM 05.09.2022).

IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der Freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.08.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden (IOM 12.01.2023). Das Reintegrations- und Entwicklungshilfeprojekt (RADA), das 2017 ins Leben gerufen wurde, hat das Ziel, „eine geordnete, sichere, regelmäßige und verantwortungsvolle Migration und Mobilität von Menschen zu erleichtern, unter anderem durch die Umsetzung geplanter und gut verwalteter Maßnahmen“. Es unterstützt Gemeinden mit einer hohen Anzahl an Rückkehrern durch Projekte wie den Bau von Bewässerungskanälen. Die Beratungstätigkeit des Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) durch IOM wurde mit der Machtübernahme der Taliban eingestellt. Auch ist die Bereitstellung von sofortiger Aufnahmeunterstützung am Flughafen Kabul derzeit ausgesetzt (IOM 12.01.2023).

Am 30.08.2021 gab Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid in einem Interview an, dass viele aus Angst aufgrund von Propaganda aus Afghanistan ausgereist wären und die Taliban seien nicht glücklich darüber, dass Menschen Afghanistan verlassen, obwohl jeder, der über Dokumente verfüge, zur Ausreise berechtigt sein sollte. Auf die Frage, ob afghanische Asylwerber in Deutschland oder Österreich mit abgelehnten Asylanträgen, die möglicherweise auch Straftaten begangen haben, wieder aufgenommen würden, antwortete Mujahid, dass sie aufgenommen würden, wenn sie abgeschoben und einem Gericht zur Entscheidung über das weitere Vorgehen vorgeführt würden (KrZ 30.08.2021). Es war nicht klar, ob sich Mujahid mit dieser Aussage auf Rückkehrer im Allgemeinen oder nur auf Rückkehrer bezog, die Straftaten begangen haben (EASO 01.01.2022). Nach Einschätzung von UNAMA besteht die Möglichkeit, dass im Ausland straffällig gewordene Rückkehrende, wenn die Tat einen Bezug zu Afghanistan aufweist, in Afghanistan zum Opfer von Racheakten z. B. von Familienmitgliedern der Betroffenen werden können; auch eine erneute Verurteilung durch das von Taliban kontrollierte Justizsystem ist nicht ausgeschlossen, wenn der Fall den Behörden bekannt würde (AA 20.07.2022).

Die Taliban haben am 16.03.2022 eine Kommission unter Leitung des Taliban-Ministers für Bergbau und Petroleum Delawar ins Leben gerufen, die Mitglieder der ehemaligen wirtschaftlichen und politischen Elite überzeugen soll, nach Afghanistan zurückzukehren. Im Rahmen dieser Bemühungen sollen inzwischen 200 mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten nach Afghanistan zurückgekehrt sein, darunter auch ehemalige Minister und Parlamentarier. Die Taliban-Regierung trifft widersprüchliche Aussagen darüber, ob es den Rückkehrern gestattet sein wird, sich politisch zu engagieren (AA 20.07.2022).

Einem afghanischen Menschenrechtsexperten zufolge gab es unter Taliban-Sympathisanten und einigen Taliban-Segmenten ein negatives Bild von Afghanen, die Afghanistan verlassen hatten. Menschen, die Afghanistan verlassen hatten, würden als Personen angesehen, die keine islamischen Werte vertraten oder auf der Flucht vor Dingen seien, die sie getan haben. Auf der anderen Seite haben die Taliban den Pässen für afghanische Arbeiter, die im Ausland arbeiten, Vorrang eingeräumt, da dies ein Einkommen für das Land bedeuten würde. Auf einer Ebene mögen die Taliban also den wirtschaftlichen Aspekt verstehen, aber sie wissen auch, dass viele derjenigen Afghanen, die ins Ausland gehen, nicht mit ihnen einverstanden sind. Ein afghanischer Rechtsprofessor beschrieb zwei Darstellungen der Taliban über Personen, die Afghanistan verlassen, um in westlichen Ländern zu leben. Einerseits jene, die Afghanistan aufgrund von Armut, nicht aus Angst vor den Taliban, verlassen und auf eine bessere wirtschaftliche Lage in westlichen Ländern hoffen. Die andere Darstellung bezog sich auf die „Eliten“ die das Land verließen. Sie würden nicht als „Afghanen“, sondern als korrupte „Marionetten“ der „Besatzung“ angesehen, die sich gegen die Bevölkerung stellten. Dieses Narrativ könnte beispielsweise auch Aktivisten, Medienschaffende und Intellektuelle einschließen und nicht nur ehemalige Regierungsbeamte. Der Quelle zufolge sagten die Taliban oft, dass ein „guter Muslim“ nicht gehen würde und dass viele, die in den Westen gingen, nicht „gut genug als Muslime“ seien. Zwei Anthropologen an der Zayed-Universität beschrieben ein ähnliches Narrativ, nämlich, dass Menschen, die das Land verlassen wollen, nicht als „die richtige Art von Mensch“ bzw. nicht als „gute Muslime“ wahrgenommen werden. Sie unterschieden jedoch die seit Langem bestehende Tradition der paschtunischen Männer, ins Ausland zu gehen, um dort zu arbeiten, von anderen Afghanen, die weggehen und sich in nicht-muslimischen Ländern aufhalten - was nicht „der richtige Weg“ sei. Sie erklärten ferner, dass in ländlichen paschtunischen Gebieten eine Person, die nach Europa oder in die USA gehen will, im Allgemeinen mit Misstrauen betrachtet wird, ebenso wie Personen mit westlichen Kontakten (EASO 01.01.2022). [...]

27. Dokumente

Letzte Änderung: 15.03.2023

Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan wies bereits vor der Machtübernahme der Taliban gravierende Mängel auf und stellte aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden konnte nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Personenstandsurkunden wurden oft erst viele Jahre später, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen, nachträglich ausgestellt. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kamen sehr häufig vor (AA 16.07.2020).

Aktuell (mit Stand Jänner 2023) kann keine Tazkira in Papierform beantragt werden, jedoch ist es in allen Provinzen Afghanistans möglich, eine eTazkira (elektronischer Personalausweis) zu erhalten. Allerdings wird dieser Prozess manchmal wegen technischer Probleme in verschiedenen Provinzen für eine Weile unterbrochen und dann wieder aufgenommen (RA KBL 26.01.2023). Die Ausstellung von Reisepässen wurde hingegen vor einigen Monaten aufgrund technischer Probleme ausgesetzt, wie die Passbehörde mitteilte (RA KBL 26.01.2023; vgl. KP 08.10.2022). Im Dezember riefen Bürger Kabuls die Taliban dazu auf, die Erstellung von Reisepässen wieder aufzunehmen, da es beispielsweise Kranken ohne Reisepässe nicht möglich war, ins Ausland zu reisen und sich behandeln zu lassen (TN 11.12.2022; vgl. PAN 09.01.2023). Vor Kurzem wurde jedoch die Ausstellung von Reisepässen in Herat, Panjsher, Nangarhar, Logar und Takhar für Personen, die die Gebühr bereits bezahlt haben und im Besitz einer Bankquittung sind, wiederaufgenommen. In Ausnahmefällen ist es möglich, dass Studenten, die ein Stipendium erhalten, und Patienten mit schweren Krankheiten (nach einer ärztlichen Untersuchung) einen Reisepass erhalten, auch wenn dies nicht der großen Nachfrage entspricht und in einem organisierten Verfahren erfolgt (RA KBL 26.01.2023). Um eine eTazkira zu erhalten, muss der Antragsteller das Online-Antragsformular ausfüllen. Benötigt wird dafür eine Tazkira in Papierform (falls der Antragsteller keine Tazkira in Papierform besitzt, ist eine Geburtsurkunde für Antragsteller unter 18 Jahren erforderlich. Für Personen über 18 Jahren ist die Tazkira (entweder elektronisch oder in Papierform) eines der Hauptverwandten des Antragstellers (Vater, Bruder, Schwester, Onkel, Cousin, Großvater) erforderlich. In diesem Fall müssen zwei andere Personen als die Hauptverwandten des Antragstellers die Identität des Antragstellers bescheinigen). Zusätzlich ist ein Lichtbild des Antragsstellers notwendig. Nach dem Ausfüllen des Online-Antragsformulars muss der Antragsteller zu einem bestimmten Termin im eTazkira-Ausstellungszentrum erscheinen, um die biometrischen Daten erfassen zu lassen und die Gebühr zu entrichten (RA KBL 26.01.2023).

Für den Erhalt eines Reisepasses gelten dieselben Voraussetzungen wie für eine eTazkira. Es muss ein Formular online ausgefüllt werden und nach Vorlage eines Identitätsdokumentes (eTazkira, Tazkira in Papierform oder Geburtsurkunde) sowie eines Lichtbildes und der Unterschrift werden die Fingerabdrücke des Antragsstellers biometrisch erfasst. Falls der Antragssteller bereits einen Reisepass besessen hat, so ist dieser ebenso vorzulegen bzw. sind Informationen zu diesem notwendig. Nach dem Ausfüllen des Online-Antragsformulars muss der Antragsteller die Gebühr entrichten und zu einem bestimmten Termin zur biometrischen Untersuchung in der Passabteilung erscheinen. Die Gebühr für einen Reisepass liegt bei 10.000 AFN (RA KBL 26.01.2023).

Die Beantragung sowohl von eTazkira als auch von Reisepässen ist derzeit in allen Provinzen über Online-Portale möglich. Einzelpersonen können eine eTazkira bei der Beantragung erhalten, aber die Ausstellung von Reisepässen ist im Moment ausgesetzt, außer in den oben genannten Ausnahmefällen. Wenn Einzelpersonen einen Reisepass beantragen, wird der Antrag im System registriert und zu einem bestimmten Zeitpunkt bearbeitet, wenn die Ausstellung des Reisepasses wiederaufgenommen wird. Generell sind die Bearbeitung von Passanträgen und die Ausstellung von Pässen jedoch sehr begrenzt (RA KBL 26.01.2023).

Die Reisepässe sehen immer noch genauso aus wie früher. Beamte haben jedoch erklärt, dass neue eTazkira mit einigen Änderungen im Layout ausgestellt werden. Auf der Titelseite von eTazkiras steht nicht mehr „Innenministerium“, sondern „Nationale Behörde für Statistik und Information“ in persischer Sprache. Außerdem wird auf der Rückseite von eTazkiras das Datum des Ablaufs der Gültigkeit hinzugefügt, das vorher nicht vorhanden war (RA KBL 26.01.2023). [...]“

2. Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich aus den vorliegenden Verfahrensakten der belangten Behörde und des Bundesverwaltungsgerichts.

Die Feststellungen zur Identität der BF bzw. ihrer Eltern sowie ihren Aufenthaltsberechtigungen ergeben sich aus den Angaben des gesetzlichen Vertreters der BF vor dem BFA und in der Beschwerde und Auszügen aus dem GVS-System. Die Identität der BF steht auf Grund der vorgelegten Geburtsurkunde fest. Die Länderfeststellungen basieren auf dem Länderinformationsblatt Afghanistan, Version 9, aus der Staatendokumentation des BFA, wozu die gesetzliche Vertretung beim BFA hätte Einsicht und Stellung nehmen können, worauf jedoch verzichtet wurde.

Zu den Fluchtgründen der BF:

Im Rahmen der Asylantragstellung für die BF wurden seitens ihres gesetzlichen Vertreters keine eigenen Fluchtgründe für diese vorgebracht, sondern darauf verwiesen, dass sich der Antrag auf die Gründe des Vaters bzw. der Mutter beziehe. In der Beschwerde wird eine Verfolgung der BF aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der Frauen und Kinder, ihrer „westlichen Orientierung“ behauptet.

Hinsichtlich der behaupteten westlichen Orientierung der BF ist zunächst anzumerken, dass die BF erst vier Monate alt ist und als Kleinkind bzw. Säugling einer derartigen Bedrohung oder Verfolgung im Entscheidungszeitpunkt nicht ausgesetzt wäre. Es ist darauf zu verweisen, dass sich aufgrund der Entwicklungsphase der BF keine Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, manifestieren kann. Es kann daher für die BF auch zu keiner Lebensführung kommen, die zu einem solch wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, dass von ihr nicht erwartet werden könnte, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Auch ein Schulbesuch bzw. die Absolvierung einer Ausbildung sind im Entscheidungszeitpunkt des Gerichts nicht konkret relevant, sondern allenfalls künftig. Schließlich sind die allgemein gehaltenen Ausführungen zur Situation von alleinstehenden Frauen in Afghanistan für die BF – in ihrer Eigenschaft als Kleinkind bzw. Baby – nicht relevant.

Es wird nicht verkannt, dass die Eltern der BF anstreben mögen, der BF einen freien Zugang zu Bildung zu ermöglichen und sie zu einem selbstbewussten, emanzipierten Mädchen zu erziehen. Ausführungen zur Erziehungsabsicht der Eltern vermögen es jedoch nicht, eine individuelle, konkrete und aktuelle Betroffenheit der BF im Hinblick auf aktuelle Gewalthandlungen ableitbar zu machen.

Aus dem lediglich allgemein gehaltenen Vorbringen zur Situation von Mädchen bzw. Frauen in Afghanistan ist eine aktuelle, individuelle und konkrete Betroffenheit der BF im Hinblick auf Gewalthandlungen nicht ableitbar. Das Vorbringen, der BF drohe als Mädchen, sobald sie älter sei, möglicherweise eine asylrelevante Verfolgung, ist zudem nicht verfahrenserheblich, da nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr relevant sein kann; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; VwGH 19.10.2000, 98/20/0233). Eine solche aktuelle Verfolgungsgefahr hat die BF aber nicht vorgebracht und somit auch nicht glaubhaft gemacht.

Zudem hat der VwGH in seiner Entscheidung vom 05.03.2020, Ra 2018/19/0576, ausgeführt, dass Benachteiligungen und Risiken für Kinder, insbesondere auch durch Kinderarbeit, Unterernährung oder sexuelle Übergriffe, in Afghanistan vorkommen würden, diesen jedoch nicht zu entnehmen sei, dass Kinder generell von asylrelevanter Verfolgung bedroht wären. Auch den aktuellen Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat kann eine generelle Verfolgung von Kleinkindern aus Gründen der GFK nicht entnommen werden. Mangels einer konkreten und individuellen Bedrohung sind daher keine konkreten Hinweise auf eine asylrelevante Bedrohung der BF hervorgekommen.

Schließlich ist nicht ersichtlich, dass der BF in Afghanistan aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Paschtunen konkrete und individuelle physische oder psychische Gewalt droht.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen (zulässigen) Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU) verweist).

Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005) offensteht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG 2005) gesetzt hat.

Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0080, mwN).

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr“, wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287).

Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN).

Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN). Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, 98/01/0370; VwGH 22.10.2002, 2000/01/0322).

Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (vgl. VwGH 15.03.2001, 99/20/0036). Eine inländische Fluchtalternative ist nur dann gegeben, wenn sie vom Asylwerber in zumutbarer Weise in Anspruch genommen werden kann. Herrschen am Ort der ins Auge gefassten Fluchtalternative - nicht notwendigerweise auf Konventionsgründen beruhende – Bedingungen, die eine Verbringung des Betroffenen dorthin als Verstoß gegen Art. 3 EMRK erscheinen lassen würden, so ist die Zumutbarkeit jedenfalls zu verneinen (vgl. VwGH 16.12.2010, 2007/20/0913). Grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet zu sein behauptet, können die Annahme begründen, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht (mehr) länger bestehe. Allerdings reicht eine bloße – möglicherweise vorübergehende – Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, jedoch keine wesentliche Veränderung der Umstände im Sinne des Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK mit sich brachten, nicht aus, um diese zum Tragen zu bringen (VwGH 21.01.1999, 98/20/0399; VwGH 03.05.2000, 99/01/0359).

Um die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu erreichen, müssen konkrete, gegen den Asylwerber selbst gerichtete Verfolgungshandlungen glaubhaft gemacht werden (VwGH 10.03.1994, 94/19/0056). In diesem Zusammenhang hat der Betroffene die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr schlüssig darzustellen (EGMR 07.07.1987, Nr. 12877/87, Kalema/Frankreich).

Die Verfolgung aus dem Grund der politischen Gesinnung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK liegt in jenen Fällen vor, in denen der ungerechtfertigte Eingriff an die politische Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung der betroffenen Person anknüpft. Zur Begründung asylrechtlich relevanter Verfolgung kommt es nicht darauf an, ob der Asylwerber selbst die politische Gesinnung teilt, die ihm von den Behörden des Heimatstaates unterstellt wird, sondern lediglich darauf, ob die Verfolgungsmaßnahmen auf eine dem Asylwerber eigene bestimmte politische Gesinnung zurückgeführt werden (VwGH 30.09.1997, 96/01/0871). Als politisch kann alles qualifiziert werden, was für den Staat, für die Gestaltung - 58 - bzw. Erhaltung der Ordnung des Gemeinwesens und des geordneten Zusammenlebens der menschlichen Individuen in der Gemeinschaft von Bedeutung ist (VwGH 12.09.2002, 2001/20/0310).

Bei der „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ gemäß Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK handelt es sich um einen Auffangtatbestand, der sich in weiten Bereichen mit den Gründen Rasse, Religion und Nationalität überschneidet, jedoch weiter gefasst ist als diese (VwGH 20.10.1999, 99/01/0197).

Gemäß Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie 2004/83/EG (in der Neufassung 2011/95/EU diesbezüglich unverändert) gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn

• die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und

• die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Generell wird eine soziale Gruppe durch Merkmale konstituiert, die der Disposition der betreffenden Personen entzogen sind, beispielsweise das Geschlecht. Frauen stellen beispielsweise eine „besondere soziale Gruppe“ im Sinne der GFK dar (vgl. etwa Köfner/Nicolaus, Grundlagen des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Band II [1986] 456).

Nach den vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur aktuellen Lage von Frauen in Afghanistan ergeben sich keine ausreichenden Anhaltspunkte dahingehend, dass alle afghanischen Frauen gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Fall ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, im gesamten Staatsgebiet Afghanistans einer systematischen asylrelevanten (Gruppen-) Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die Intensität von solchen Einschränkungen und Diskriminierungen kann bei Hinzutreten weiterer maßgeblicher individueller Umstände, insbesondere einer diesen traditionellen und durch eine konservativ-religiöse Auslegung geprägten gesellschaftlichen Zwängen nach außen hin offen widerstrebenden Wertehaltung einer Frau, jedoch Asylrelevanz erreichen.

Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, wie in der Beweiswürdigung dargelegt, dass die behauptete Furcht der BF, in ihrem Herkunftsstaat Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, aktuell nicht begründet ist.

Aus dem lediglich allgemein gehaltenen Vorbringen zur Situation von Mädchen in Afghanistan ist eine individuelle und konkrete Betroffenheit der Beschwerdeführerin im Hinblick auf Gewalthandlungen nicht ableitbar. Eine der minderjährigen BF selbst drohende Verfolgung wurde nicht substantiiert behauptet. Auch sind im Übrigen keine konkreten Anhaltspunkte für eine Bedrohung der erst wenige Monate alten BF hervorgekommen. Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft. Wie schon in den Sachverhaltsfeststellungen und der Beweiswürdigung ausgeführt, haben sich im gesamten Verfahren keine Anhaltspunkte gefunden, die zu einem anderen Ergebnis als im angefochtenen Bescheid führen würden. Im Falle der BF liegen schließlich auch jene (kumulierten) Maßnahmen iSd Beschlusses des VwGH vom 14.09.2022, EU 2022/0017-1, im Entscheidungszeitpunkt nicht vor.

Daher war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abzuweisen.

Zum Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung:

Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-Verfahrensgesetz kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht.

Der Verwaltungsgerichtshof sprach in seinem Erkenntnis vom 28.05.2014, 2014/20/0017 und -0018, aus, dass eine mündliche Verhandlung unterbleiben kann, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungsrelevante Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Ferner muss die Verwaltungsbehörde die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungs-gericht diese tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung in seiner Entscheidung teilen. Auch darf im Rahmen der Beschwerde kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten ebenso außer Betracht zu bleiben hat, wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt.

Im gegenständlichen Fall hat das Bundesverwaltungsgericht keinerlei neue Beweismittel beigeschafft und sich für seine Feststellungen über die Person der Beschwerdeführerin und zur Lage in Afghanistan auf jene der angefochtenen Bescheide gestützt. Die Beschwerde ist der Richtigkeit dieser Feststellungen und der zutreffenden Beweiswürdigung der Behörde nicht substanziiert entgegengetreten (VwGH vom 20.12.2016, Ra 2016/01/0102) und hat keine neuen Tatsachen vorgebracht. Die Beschwerde hat die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zwar beantragt aber es nicht konkret aufzuzeigen unternommen, dass eine solche Notwendigkeit im vorliegenden Fall bestehen würde (vgl. zuletzt etwa VwGH 04.12.2017, Ra 2017/19/0316-14). Wie dargelegt, wurde den Argumenten im angefochtenen Bescheid im Rahmen des Beschwerdeschriftsatzes nicht substantiiert entgegengetreten und es wurde auch in der Beschwerde kein konkretes Vorbringen hinsichtlich eines potentiell asylrelevanten Sachverhaltes erstattet.

Das Bundesverwaltungsgericht konnte daher im vorliegenden Fall von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgehen; es war nach den oben dargestellten Kriterien nicht verpflichtet, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Die gegenständliche Entscheidung weicht nicht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab; zudem fehlt es auch nicht an einer Rechtsprechung und die zu lösende Rechtsfrage wird in dieser auch nicht uneinheitlich beantwortet. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde im Rahmen der Erwägungen wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

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