Spruch
W184 2257059-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner PIPAL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Syrien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.06.2022, Zl. 1286783408/211508945, zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)
Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die beschwerdeführende Partei, ein männlicher Staatsangehöriger Syriens, brachte nach der illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 12.10.2021 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz ein.
Bei der Erstbefragung gab die beschwerdeführende Partei an, er stamme aus Daraa und gehöre der arabischen Volksgruppe und der Religionsgemeinschaft der Sunniten an. Er habe in Syrien 12 Jahre die Grundschule besucht und sei vor seiner Ausreise als Tischler tätig gewesen. Zum Fluchtgrund befragt, führte die beschwerdeführende Partei an, dass er als Reservist in die Armee einrücken habe müssen. Da er jedoch nicht kämpfen und niemanden töten habe wollen, seien sie aus Angst um ihr Leben aus Syrien geflohen. Überdies gebe es in Syrien nach wie vor Krieg und keine Sicherheit. Im Falle einer Rückkehr würde er eingesperrt werden und er würde in den Krieg eingezogen werden.
Bei der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 20.01.2022 führte die beschwerdeführende Partei an, dass er der arabischen Volksgruppe und der Religionsgemeinschaft der Sunniten angehöre. Er sei verheiratet und habe drei Töchter. Am 29.12.2015 habe er seinen Herkunftsstaat in den Libanon verlassen. Für seine Reise nach Österreich habe er insgesamt 6.000,- Euro aufgewendet. Die Fragen, ob er seit seiner Ausreise nach Syrien gereist sei oder ob er sich längere Zeit in Griechenland aufgehalten habe, wurden verneint. Zu seinen persönlichen Umständen befragt, führte die beschwerdeführende Partei an, dass er 12 Jahre die Schule besucht habe und diese mit Matura abgeschlossen habe. Anschließend habe er sieben Jahre in einer Konditorei gearbeitet und sich in weiterer Folge mit seinem Bruder selbstständig gemacht. Da man ihn zum Militär einziehen habe wollen, habe er fliehen müssen. Nachgefragt, über welche Berufsausbildung bzw. Berufserfahrungen er verfüge, entgegnete die beschwerdeführende Partei, dass er sowohl über Berufserfahrung als Geschäftsführer als auch als Konditor verfüge. Zur Frage, welche Angehörigen seiner Kernfamilie noch im Heimatstaat leben würden, brachte die beschwerdeführende Partei vor, dass er auf die Erstbefragung vom 12.10.2021 verwiesen könne. Er stehe im täglichen WhatsApp-Kontakt zu seiner Familie und es gehe seinen Angehörigen gut. Seine Familie bestreite ihren Lebensunterhalt durch Ersparnisse. Zum Fluchtgrund befragt, gab die beschwerdeführende Partei zu Protokoll, dass ihn das Regime aufgefordert habe, den Reservemilitärdienst zu leisten. Er habe den Militärdienst ableisten müssen, was er jedoch nicht gewünscht habe, da viele Männer sterben würden und er nicht auf Menschen schießen wolle. Nachdem seine Freunde einberufen worden sei, sei er geflohen, bevor man ihn erwischt habe. Die Frage, ob es noch andere Gründe gebe, weshalb er Syrien verlassen habe, wurde von der beschwerdeführenden Partei verneint. Der einzige Grund seiner Flucht sei seine drohende Einberufung zum Militär gewesen. Die Frage, ob er in der Heimat seinen Grundwehrdienst abgeleistet habe, wurde von der beschwerdeführenden Partei bejaht. Sein älterer Bruder habe ebenfalls den Militärdienst abgeleistet. Die weiteren Fragen, ob er persönliche Probleme wegen seiner Religion, seiner Nationalität, seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seiner politischen Gesinnung habe, wurden von der beschwerdeführenden Partei verneint. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst vor dem Militär.
Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme wurden von der beschwerdeführenden Partei eine Heiratsurkunde in Kopie, ein Heiratsnachweis in Kopie, ein Personalausweis (syrische ID-Karte) und ein abgelaufener syrischer Reisepass in Vorlage gebracht.
Mit dem angefochtenen Bescheid wurde folgende Entscheidung über diesen Antrag getroffen:
„I. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.
II. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wird der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.
III. Die befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte wird gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 für 1 Jahr erteilt.“
In der Begründung wurde näher ausgeführt, dass die beschwerdeführende Partei nach Beendigung seines Wehrdienstes zu persönlichen Problemen nichts vorgebracht habe. Angemerkt werde, dass er sich aufgrund seines langen Auslandsaufenthaltes vom Militärdienst freikaufen hätte können, da er angegeben habe, dass seine Reise nach Österreich 6.000,- Euro gekostet habe und er sich fast sechs Jahre in der Türkei aufgehalten habe und dort berufstätig gewesen sei. Er habe es vorgezogen, dieses Geld für die Reise nach Europa auszugeben anstatt sich vom Militärdienst freizukaufen. Dass gegen die beschwerdeführende Partei keine tatsächlichen Fahndungsmaßnahmen bestehen würden, zeige auch der Umstand, dass er gemeinsam mit seiner Familie bis 2015 unbehelligt in Syrien leben habe können. Es sei der beschwerdeführenden Partei möglich gewesen, bis 2015 in Syrien zu leben. Es könne somit auch nicht davon gesprochen werden, dass er sich in dieser Zeit im Verborgenen aufgehalten habe, zumal dies bereits aufgrund der langen Zeitdauer als unplausibel erscheine. Eine Pflicht der beschwerdeführenden Partei zur Beteiligung an völkerrechtswidrigen Kriegshandlungen könne nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Auch ansonsten habe eine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung nicht festgestellt werden können.
Gegen den Spruchpunkt I. dieses Bescheides richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher insbesondere dargelegt wurde, dass die belangte Behörde das Verfahren mit unrichtigen Feststellungen aufgrund eines mangelhaften Ermittlungsverfahrens und einer mangelhaften Beweiswürdigung belastet habe. Die beschwerdeführende Partei sei in Daraa geboren und die belangte Behörde habe es unterlassen zu ermitteln, ob schon aufgrund dessen eine Verfolgung vorliege. Die beschwerdeführende Partei falle unter mehrere Risikoprofile und die Behörde hätte ihm demnach internationalen Schutz gewähren müssen. Die belangte Behörde habe es gänzlich unterlassen, das von der beschwerdeführenden Partei Vorgebrachte einer ordentlichen Beweiswürdigung zu unterziehen, obwohl sie dazu verpflichtet gewesen wäre. Beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Zur Person und den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Partei wird festgestellt:
Die beschwerdeführende Partei ist Staatsbürger Syriens und gehört der Volksgruppe der Araber sowie der sunnitischen Religion an. Er ist in der Provinz Daraa geboren und wohnte vor seiner Ausreise in Damaskus. Er verließ Syrien am 29.12.2015 in den Libanon bzw. in weiterer Folge in die Türkei, wo er ungefähr fünf Jahre wohnhaft war.
Die Provinz Daraa bzw. das Gouvernment Damaskus steht aktuell unter Kontrolle syrischer Streitkräfte.
Die beschwerdeführende Partei hat 12 Jahre die Grundschule besucht und war vor seiner Ausreise als Geschäftsführer und Konditor tätig. Die beschwerdeführende Partei ist verheiratet und hat drei Töchter. Seine Ehefrau und seine drei Töchter sind aktuell in der Türkei aufhältig und die beschwerdeführende Partei steht mit diesen Angehörigen in regelmäßigem Kontakt. Die Mutter sowie die vier Brüder der beschwerdeführenden Partei sind ebenfalls in der Türkei aufhältig. In Syrien sind nach wie vor die beiden Schwestern der beschwerdeführenden Partei wohnhaft.
Die beschwerdeführende Partei ist gesund und strafrechtlich unbescholten.
Die beschwerdeführende Partei befindet sich mit 43 Jahren nicht mehr im wehrfähigen Alter und hat seinen Militärdienst bereits abgeleistet. Sein älterer Bruder hat den Militärdienst in Syrien ebenfalls abgeleistet.
Der nun 43-jährigen beschwerdeführenden Partei droht nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, als Reservist zum Militärdienst bei der syrischen Armee einberufen zu werden. Folglich wird schon aus diesem Grund eine Gefahr, durch das syrische Regime wegen einer Reservedienstverweigerung als oppositionell eingestuft zu werden, nicht festgestellt.
Schließlich kann nicht festgestellt werden, dass die beschwerdeführende Partei einer konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Syrien aus anderen in der Genfer Flüchtlingskonvention enthaltenen Gründen ausgesetzt ist oder eine solche im Falle seiner Rückkehr zu befürchten hätte.
Der beschwerdeführenden Partei droht in Syrien daher aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung keine Verfolgung.
Die beschwerdeführende Partei war in Syrien keiner sonstigen individuell-konkreten, asylrelevanten Gefährdung ausgesetzt.
Zur Lage im Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt:
COVID-19
Letzte Änderung: 08.04.2022
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern
empfiehlt die Staatendokumentation folgende Website der
WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-repo
rts oder der Johns
Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html
#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Am 22.3.2020 wurde der erste Fall einer COVID-19 infizierten Person in Syrien bestätigt (ÖB
29.9.2020). Unbestätigte Berichte deuteten damals darauf hin, dass das Virus schon früher
entdeckt worden war, dies aber vertuscht wurde (Reuters 23.3.2020). Es folgten
weitreichende Maßnahmen (u. a. Ausgangssperren, Verkehrsbeschränkungen,
Schließungen von Bildungseinrichtungen und Geschäften), die zwischenzeitig weitgehend
aufgehoben wurden. Die Pandemie traf ein Land mit einem Gesundheitssystem, das durch
den Konflikt schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dies trifft gerade auch auf die
humanitären Brennpunkte mit hunderttausenden Binnenvertriebenen (IDPs) vor allem im
Nordwesten zu (ÖB 1.10.2021).
Die Covid-19-Pandemie hat das syrische Gesundheitssystem besonders hart getroffen, und
die ohnehin schon angespannte medizinische Versorgungslage zusätzlich verschärft. Die
vierte Welle erreichte das Land im Sommer 2021. Die WHO stufte Syrien aufgrund nicht
vorhandener Kapazitäten im Gesundheitsbereich bereits zu Beginn der Pandemie im
Frühjahr 2020 als Hochrisikoland ein. Impfstofflieferungen im Rahmen von COVAX
verzögerten sich zu Beginn jedoch stark und die Auslieferung in Oppositionsgebiete wurde
zeitweise durch das Regime zurückgehalten. Aufgrund fehlender persönlicher
Schutzausrüstung, völlig unzureichender Test-, Isolations-, Kontroll- und
Versorgungskapazitäten und aktiver Vertuschung der Pandemie durch das Regime gehen
Nichtregierungsorganisationen inzwischen von über einer halben Million tatsächlicher
Infektionen aus. Offizielle WHO-Zahlen geben nur 41.000 gemeldete Infektionen in
Regimegebieten an (Stand Oktober 2021) (AA 29.11.2021). Die offiziell verlautbarten Zahlen
(rund 70.000 Fälle und 3.300 Tote mit Stand Anfang Juli 2021) für die von der Regierung
kontrollierten Landesteile sind sehr niedrig; detto die der Testungen (ÖB 1.10.2021). Eine
britische Studie schätzt, dass nur 1,25 % der Infektionen gemeldet wurden. Aufgrund völlig
unzureichender PCR-Testungen und der Vertuschung von Infektionen, insbesondere seitens
des Regimes, ist von einer, um ein Vielfaches höheren Dunkelziffer in allen Gebieten
auszugehen. Die Positivrate lag Ende September 2021 bei 50,8 %, und selbst in den
offiziellen Zahlen des Regimes war ein Infektionsanstieg von 186 % gegenüber dem
Vormonat zu verzeichnen (AA 29.11.2021).
In Nordwestsyrien war zuletzt ein starker Anstieg mit bis zu 2.000 Neuinfektionen pro Tag
auf insgesamt 88.000 Fälle zu verzeichnen (12,5 % in Flüchtlingslagern). Das NES Forum
registrierte bisher 30.800 Infektionen in Nordostsyrien (Stand: Oktober 2021). Die
Infektionszahlen beim Gesundheitspersonal scheinen deutlich gesunken zu sein, im
Nordwesten sind 3 % infiziert, ein Zehntel der Infektionen des Vorjahres (AA 29.11.2021).
Impfungen schreiten in Syrien nur sehr langsam voran, laut WHO wurden bis Ende Oktober
nur 2,3 % der Bevölkerung vollständig geimpft, 4,1 % einmal. Bisher wurden 950.000
Impfdosen in Syrien verabreicht, davon stammen mehr als 50 % aus dem COVAX Programm,
zwei Drittel der bisher Syrien zugewiesenen Impfdosen sind nicht in der EU anerkannt (AA
29.11.2021). Laut Human Rights Watch waren hingegen zum Berichtszeitpunkt nur etwas
mehr als ein Prozent der Bevölkerung vollständig gegen Covid-19 geimpft (HRW 13.1.2022).
Die Regierung erhielt mit Stand März 2021 geschätzte 120.000 Testsets und andere
Ausrüstung von unterschiedlichen Ländern und soll diese an private Labore verkauft haben,
statt sie im öffentlichen Gesundheitssystem zu verteilen. Es gibt auch Anschuldigungen,
dass die Regierung Lieferungen, die für oppositionelle Gebiete bestimmt waren, für
ähnliche Zwecke beschlagnahmt hat, bzw. sich bemüht Hilfsgüter in die eigenen Gebiete zu
lenken (COAR 10.3.2021).
Ende September 2021 stand Syrien Berichten zufolge vor einem neuen Anstieg der COVID-
19-Infektionen sowohl in den vom Regime kontrollierten Gebieten als auch in den Gebieten
der Opposition. Der Anstieg der Krankheits- und Todesfälle war im dicht besiedelten, von
der Opposition gehaltenen Nordwesten des Landes in der Nähe der türkischen Grenze
besonders alarmierend, wo über vier Millionen Menschen leben, darunter fast eine halbe
Million allein in Notzelten. Der Anstieg ist auf die Delta-Variante zurückzuführen, für die
eine Welle von Besuchern aus dem Ausland im Sommer verantwortlich gemacht wurde (Reuters 22.9.2021). Anfang Jänner 2022 wurde berichtet, dass die Omikron-Variante nun
auch den Nahen Osten erreicht hat (NZZ 9.1.2022).
Die seit Juli 2020 gemeldete stetige Zunahme des betroffenen Gesundheitspersonals
unterstreicht - angesichts des fragilen Gesundheitssystems Syriens mit einer ohnehin schon
unzureichenden Zahl an qualifiziertem Gesundheitspersonal - das Potenzial einer weiteren
Beeinträchtigung der überforderten Gesundheitskapazitäten. Humanitäre Akteure erhalten
weiterhin Berichte, dass das Gesundheitspersonal in einigen Gebieten nicht über
ausreichende persönliche Schutzausrüstung verfügt (UNOCHA/WHO 10.6.2021).
Unterdessen berichten die unterbesetzten medizinischen Fachkräfte, dass sie ihre
Aufgaben unter der Aufsicht der mächtigen Sicherheitsdienste erfüllen müssen, welche die
staatlichen Gesundheitseinrichtungen überwachen. Dies soll abschreckend auf Patienten
wirken, die bereits zögern, sich in einem Land behandeln zu lassen, in dem die Angst vor
dem Staatsapparat groß ist und jede kritische Diskussion über den Umgang mit der
Pandemie als Bedrohung für eine Regierung angesehen werden könnte, die entschlossen
ist, eine Botschaft der Kontrolle zu vermitteln (AJ 5.10.2020). Menschenrechtsaktivisten
zufolge verhaftete das Regime Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs, die mit
internationalen Medien über die COVID-19-Krise sprachen oder dem streng kontrollierten
Narrativ über die Auswirkungen der Pandemie auf das Land widersprachen (USDOS
30.3.2021).
Unterdessen verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage Syriens weiter. In Verbindung mit
dem plötzlichen Zusammenbruch des syrischen Pfunds hat COVID-19 die rapide
Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage Syriens im Sommer 2020 noch verschärft. Die
aktuelle Wirtschaftslage, zusammen mit den durch die Explosion in Beirut am 4.8.2020 in
Mitleidenschaft gezogenen Lieferketten (UNSC 30.9.2020) und dem Verlust von
Arbeitsplätzen aufgrund der Auswirkungen von COVID-19, insbesondere bei Tagelöhnern
oder der Saisonarbeit, in Verbindung mit dem Anstieg der Nahrungsmittelpreise
(UNOCHA/WHO 29.9.2020) haben dazu geführt, dass jetzt geschätzte 12,4 Millionen
Menschen in Syrien von Ernährungsunsicherheit betroffen sind. Das ist ein Anstieg um 4,5
Millionen innerhalb eines Jahres (UNOCHA/WHO 10.6.2021).
Politische Lage
Letzte Änderung: 08.04.2022
Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen
Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.1.2019). Nach seinem Tod im Jahr
2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position (BBC
25.2.2019). Die beiden Assad-Regime hielten die Macht durch ein komplexes Gefüge aus
ba'athistischer Ideologie, Repression, Anreize für wirtschaftliche Eliten und der Kultivierung
eines Gefühls des Schutzes für religiöse Minderheiten (USCIRF 4.2021). Obwohl das Regime
oft als alawitisch und als Beschützer anderer religiöser Minderheiten bezeichnet wird, stellt
die Regierung kein wirkliches Instrument für die politischen Interessen der Minderheiten
dar (FH 3.4.2020).
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst
friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Baʿath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit
massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und
Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen ("Shabiha"). So
entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter
Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und
Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem
in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt
konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016).
Die syrische Verfassung sieht die Baʿath-Partei als die regierende Partei vor und stellt sicher,
dass sie die Mehrheit in allen Regierungsgremien und Vereinigungen der Bevölkerung wie
Arbeiter- und Frauenorganisationen hat (USDOS 30.3.2021). Die Verfassungsreform von
2012 lockerte die Regelungen bezüglich der politischen Partizipation anderer Parteien. In
der Praxis unterhält die Regierung jedoch noch immer einen mächtigen Geheimdienst- und
Sicherheitsapparat zur Überwachung von Oppositionsbewegungen, die sich zu ernst zu
nehmenden Konkurrenten der Regierung Assads entwickeln könnten (FH 4.3.2020). Der
Präsident stützt seine Herrschaft insbesondere auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der
militärischen und zivilen Nachrichtendienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen
Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren,
unterliegen keinen definierten Beschränkungen. So hat sich in Syrien ein politisches System
etabliert, in dem viele Institutionen und Personen miteinander um Macht konkurrieren und
dabei kaum durch Verfassung und bestehenden Rechtsrahmen kontrolliert werden,
sondern v. a. durch den Präsidenten und seinen engsten Kreis. Trotz gelegentlicher interner
Machtkämpfe stehen Assad dabei keine ernst zu nehmenden Kontrahenten gegenüber. Die
Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle seither verteidigt oder sogar weiter
ausgebaut und profitieren durch Schmuggel und Korruption wirtschaftlich erheblich. Durch
diese Entwicklungen der letzten Jahre sind die Schutzmöglichkeiten des Individuums vor
staatlicher Gewalt und Willkür – welche immer schon begrenzt waren – weiterhin deutlich
verringert worden (AA 29.11.2021).
Ausländische Akteure wie Russland, der Iran und die libanesische schiitische Miliz Hizbullah
üben aufgrund ihrer Beteiligung am Krieg und ihrer materiellen Unterstützung für die
Regierung ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den vom Regime kontrollierten
Gebieten aus (FH 4.3.2020).
Zu den Machtverhältnissen in den Gebieten außerhalb der Regimekontrolle siehe die
jeweiligen Abschnitte im Kapitel Sicherheitslage.
Wahlen
Wahlen in Syrien dienen nicht dem Finden von Entscheidungsträgern, sondern der
Aufrechterhaltung der Fassade von demokratischen Prozessen durch den Staat nach Außen.
Sie fungieren als Möglichkeit, relevante Personen in Syrien zu "managen" und Loyalisten
dazu zu zwingen, ihre Hingabe zum Regime zu demonstrieren. Entscheidungen werden von
den Sicherheitsdiensten oder dem Präsidenten auf Basis ihrer Notwendigkeiten getroffen -
nicht durch gewählte Personen (BS 23.2.2022). Im Juli 2020 fanden nach zweimaligem
Verschieben des Wahltermins aufgrund der COVID-19-Pandemie die dritten
Parlamentswahlen seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs statt. Vom Urnengang
ausgeschlossen waren Syrer, die außerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete im
Nordwesten und Nordosten Syriens lebten (COAR 27.7.2020). Die Wahlbeteiligung lag bei
33,7 % (BS 23.2.2022). Die herrschende Ba'ath-Partei von Präsident Bashar al-Assad gewann
wie erwartet die Mehrheit. Die Baʿath-Partei und deren Verbündete schlossen sich zum
Bündnis der "Nationalen Einheit" zusammen (DS 21.7.2020) und erhielten 70% der
Parlamentssitze (Duclos 31.7.2020). Die übrigen Sitze gingen an Parteien, die mit der Baʿath-
Partei verbündet sind, und an nominell unabhängige Kandidaten mit Verbindungen zu
Präsident Assad (COAR 27.7.2020).
Es gab Vorwürfe des Betrugs, der Wahlfälschung und der politischen Einflussnahme.
Kandidaten wurden in letzter Minute von den Wahllisten gestrichen und durch vom Regime
bevorzugte Kandidaten ersetzt, darunter Kriegsprofiteure, Warlords und Schmuggler,
welche das Regime im Zuge des Konflikts unterstützten (TWP 22.7.2020). Der Wahlprozess
soll so strukturiert sein, dass eine Manipulation des Regimes möglich ist. Syrische Bürger
können überall innerhalb der vom Regime kontrollierten Gebiete wählen, und es gibt
kein Al-Jumhuriya.net Liste der registrierten Wähler in den Wahllokalen und somit keinen
Mechanismus zur Überprüfung, ob Personen an verschiedenen Wahllokalen mehrfach
gewählt haben. Aufgrund der Vorschriften bei Reihungen auf Wahllisten sind alternative
KandidatInnen standardmäßig nur ein Zusatz zu den Kandidaten der Baʿath-Partei
(AAN/MEI 24.7.2020). Somit ist die Reihung auf der Liste durch das Regime und die
Nachrichtendienste wichtiger als die Unterstützung durch die Bevölkerung oder Stimmen
(BS 23.2.2022).
Im Mai 2021 wurden in den von der Regierung kontrollierten Gebieten sowie in einigen
syrischen Botschaften Präsidentschaftswahlen abgehalten, bei denen Bashar al-Assad mit
95,1 % (78 % Wahlbeteiligung, ÖB 1.10.2021) gewann und damit für eine weitere
Amtsperiode von sieben Jahren wiedergewählt wurde. Zwei kaum bekannte Personen
waren als Gegenkandidaten angetreten und erhielten 1,5 % und 3,3 % der Stimmen (DS
28.5.2021; vgl. Reuters 28.5.2021). Politiker der Exilopposition waren von der Wahl
ausgeschlossen. Die Europäische Union erkennt die Wahl nicht an, westliche Regierungen
bezeichnen sie als "weder frei noch fair" und als "betrügerisch", und die Opposition nannte
sie eine "Farce" (DS 28.5.2021).
Der politische Prozess gemäß UN-Sicherheitsratsresolution 2254 unter Ägide der Vereinten
Nationen stagniert, nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden Blockadehaltung des jegliche
Zugeständnisse verweigernden Regimes. Dieser Stillstand betrifft neben den
Verhandlungen in Genf auch die von Russland zusammen mit der Türkei und dem Iran ins
Leben gerufenen Gesprächen im sogenannten "Astana-Format" (AA 29.11.2021).
Gebietskontrolle
Durch massive syrische und russische Luftangriffe und das Eingreifen Irans bzw. durch Iran
unterstützter Milizen hat das syrische Regime mittlerweile alle Landesteile außer Teile des
Nordwestens, Nordens und Nordostens von der bewaffneten Opposition zurückerobert. Die
Anzahl der Kampfhandlungen ist nach Rückeroberung weiter Landesteile zurückgegangen,
jedoch besteht die Absicht des syrischen Regimes, das gesamte Staatsgebiet zurückerobern
und "terroristische" Kräfte vernichten zu wollen, unverändert fort. Trotz der großen
Gebietsgewinne durch das Regime besteht die Fragmentierung des Landes in Gebiete, in
denen die territoriale Kontrolle von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt wird, fort.
Dies gilt insbesondere für den Nordwesten und Nordosten des Landes (AA 4.12.2020).
[Anm.: Nähere Informationen finden sich im Kapitel "Sicherheitslage".] Die Präsenz
ausländischer Streitkräfte, die ihren politischen Willen geltend machen, untergräbt
weiterhin die staatliche Souveränität, und Zusammenstöße zwischen bewaffneten
regimefreundlichen Gruppen deuten darauf hin, dass die Regierung nicht in der Lage ist, die
Akteure vor Ort zu kontrollieren. Darüber hinaus hat eine aufstrebende Klasse
wohlhabender Kriegsprofiteure begonnen, ihren wirtschaftlichen Einfluss und den Einfluss
von ihnen finanzierter Milizen zu nutzen, und innerhalb der staatlichen Strukturen nach
legitimen Positionen zu streben (BS 29.4.2020). Das Regime hat zwei Lehren aus dem
Konflikt gezogen: Widerspruch mit allen Mitteln niederzuschlagen und verschiedene
Akteure gegeneinander auszuspielen, um an der Macht zu bleiben. Aber diese Taktik bringt
nicht wirkliche Stabilität oder Sicherheit. Ein permanenter Kampf um ein Minimum an
Kontrolle inmitten eines sich verschlechternden sozioökonomischen Umfelds, in dem seine
Souveränität von internen und externen Akteuren infrage gestellt wird, ist die Folge (BS
23.2.2022).
Extremistische Rebellengruppierungen, darunter vor allem Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS),
haben die Vorherrschaft in Idlib (BS 29.4.2020). Die dortigen Lokalräte werden von
bewaffneten Gruppen beherrscht oder von diesen umgangen (BS 23.2.2022). - Für mehr
Informationen siehe insbesondere Unterkapitel "Nordwest-Syrien" im Kapitel
"Sicherheitslage".
Der sogenannte Islamische Staat (IS) wurde im März 2019 aus seinem Gebiet in Syrien
zurückgedrängt, nachdem kurdische Kräfte seine letzte Hochburg erobert hatten (FH
4.3.2020). Im Nordosten aber auch in anderen Teilen des Landes verlegt sich der IS verstärkt
auf Methoden der asymmetrischen Kriegsführung. Hauptziele sind Einrichtungen und Kader
der SDF sowie der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021).
Nordost-Syrien
2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen
Regierung und der PKK, deren Mitglieder die Partei der Demokratischen Union (Partiya
Yekîtiya Demokrat, PYD) gründeten, gekommen sein. Die PYD, ausgestattet mit einem
bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt die kurdische
Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der Revolution zu
beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen, Büros des
Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrisch-kurdischer
Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine "zweite Front" in
den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution
in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Baʿath-Regime Stück für
Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen Gebieten
zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden Afrin, Ain al-Arab (Kobane) und die Jazira
von der PYD und der YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten militärischen
Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre (Savelsberg 8.2017). Im
März 2016 wurde in dem Gebiet, das zuvor unter dem Namen "Rojava" bekannt war, die
Democratic Federation of Northern Syria ausgerufen, die sich über Teile der Provinzen
Hassakah, Raqqa und Aleppo und auch über Afrin erstreckte (SWP 7.2018; vgl. KAS
4.12.2018a). Afrin im Nordwesten Syriens wird mittlerweile von der Türkei und von mit ihr
alliierten syrischen oppositionellen Milizen kontrolliert (BBC 28.4.2020). - Siehe dazu auch
die Karten zum aktuellen Frontverlauf in den Unterkapiteln "Nordwest-Syrien" sowie
"Sicherheitslage" im Kapitel Sicherheitslage.
Der militärische Arm der PYD, die YPG, ist die dominierende Kraft innerhalb des
Militärbündnisses Syrian Democratic Forces (SDF). Der Krieg gegen den IS forderte
zahlreiche Opfer und löste eine Fluchtwelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus.
Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen
stabilen strategischen Partner verlassen. Die erhoffte Kriegsdividende, für den Kampf gegen
den IS mit einem autonomen Gebiet "belohnt" zu werden, ist bisher ausgeblieben (KAS
4.12.2018a). Die syrische Regierung erkennt weder die kurdische Enklave noch die Wahlen
in diesem Gebiet an (USDOS 30.3.2021). Die Gespräche zwischen der kurdischen
Selbstverwaltung (Syrian Democratic Council; politischer Arm der SDF) und der Regierung
in Damaskus im Hinblick auf die Einräumung einer Autonomie und die Sicherung einer
unabhängigen Stellung der SDF innerhalb der syrischen Streitkräfte sind festgefahren. Die
Zusammenarbeit auf technischer Ebene resp. der Güteraustausch (Raffinierung/Kauf von
Erdöl; Aufkauf von Weizen) hat sich auch verkompliziert (ÖB 1.10.2021). Im Zuge einer
türkischen Militäroffensive, die im Oktober 2019 gestartet wurde, kam es jedoch zu einer
Einigung zwischen beiden Seiten, weil die kurdischen Sicherheitskräfte die syrische
Zentralregierung um Unterstützung in der Verteidigung der kurdisch kontrollierten Gebiete
baten. Die syrische Regierung ist daraufhin in mehrere Grenzstädte eingerückt (DS
15.10.2019). - Siehe dazu auch die Karten mit den aktuellen Regimepositionen im Nordosten
in den Abschnitten "Nordost-Syrien" sowie "Sicherheitslage" im Kapitel Sicherheitslage.
Die syrischen Kurden unter Führung der PYD beanspruchen in den
Selbstverwaltungskantonen ein Gesellschaftsprojekt aufzubauen, das von
basisdemokratischen Ideen, von Geschlechtergerechtigkeit, Ökologie und Inklusion von
Minderheiten geleitet ist. Während Befürworter das syrisch-kurdische Gesellschaftsprojekt
als Chance für eine künftige demokratische Struktur Syriens sehen, betrachten Kritiker es
als realitätsfremd und autoritär (KAS 4.12.2018a). Die PYD hat zwar eine Reihe von
Verwaltungsorganen auf verschiedenen Ebenen eingerichtet, es ist jedoch ein kompliziertes
System mit sich überschneidenden Zuständigkeiten, das es für die Bürger schwierig macht,
sich an der Politik zu beteiligen, wenn sie nicht bereits in die Parteikader integriert
sind. Obwohl es Lippenbekenntnisse zur Integration arabischer Vertreter
in Raqqa und Deir ez-Zour gibt, ist die Dominanz der PYD bei der Entscheidungsfindung
offensichtlich (BS 29.4.2020). Das Ziel der PYD ist nicht die Gründung eines kurdischen
Staates in Syrien, sondern die Autonomie der kurdischen Kantone als Bestandteil eines
neuen, demokratischen und dezentralen Syriens (KAS 4.12.2018a; vgl. BS 29.4.2020). Die
PYD ist weniger gewalttätig in ihrer Repression, übt aber eine strikte Kontrolle in ihrem
Einflussbereich aus (BS 23.2.2022). Zwischen den rivalisierenden Gruppierungen unter den
Kurden gibt es einerseits Annäherungsbemühungen, andererseits kommt es im Nordosten
aus politischen Gründen und wegen der schlechten Versorgungslage zunehmend auch zu
innerkurdischen Spannungen zwischen dem sogenannten Kurdish National Council, der
Masoud Barzanis KDP (Anm.: Kurdistan Democratic Party - Irak) nahesteht und dem ein
Naheverhältnis zur Türkei nachgesagt wird, und der Democratic Union Party (PYD), welche
die treibende Kraft hinter der kurdischen Selbstverwaltung ist, und die aus Sicht des Kurdish
National Council der PKK zu nahe steht (ÖB 1.10.2021). Die PYD [ihrerseits nicht von EU oder
USA verboten, Anm.] gilt nämlich als syrischer Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen
Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (KAS 4.12.2018a).
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 08.04.2022
Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG
o.D.). Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Dynamiken, wie durch die letzte türkischen
Offensive im Nordosten ausgelöst, verlässliche grundsätzliche Aussagen respektive die
Einschätzung von Trends schwierig machen. Dazu kommt das bestehende
Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden,
extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller
Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der
Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft
nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des
Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien
und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale
und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur
Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen
(Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB
1.10.2021).
Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für
Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in
Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des
syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018b). Mitte des Jahres 2016 kontrollierte die
syrische Regierung nur ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der
"wichtigsten" Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt (Reuters 13.4.2016).
Militärisch kontrolliert das syrische Regime den Großteil des Landes mit Ausnahme von
Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens. Ein wesentlicher Grund hierfür
ist die andauernde und massive militärische Unterstützung durch die russische Luftwaffe
und Einheiten des Irans bzw. durch Iran unterstützte Milizen einschließlich Hisbollah, der
bewaffnete oppositionelle Kräfte wenig entgegensetzen können. Die Streitkräfte des
Regimes selbst sind mit Ausnahme einiger Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht
ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt
militärische Kontrolle ausüben. Das Kampfgeschehen konzentriert sich insbesondere auf
den Nordwesten (Gouvernements Idlib sowie Teile von Lattakia, Hama und Aleppo) sowie
im Berichtszeitraum auch auf den Südwesten des Landes (Gouvernement Dara’a). (AA
29.11.2021). Das Wiederaufflammen der Kämpfe und die Rückkehr der Gewalt in den
letzten Monaten geben laut UNHRC (UN Human Rights Council) jedoch Anlass zur Sorge.
Kämpfe und Gewalt nahmen sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des
Landes zu (UNHRC 14.9.2021). Türkische Militäroperationen gegen die PKK umfassten auch
gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze. Am 2.2.2022 fand eine
Luftwaffenoperation mit simultanen Angriffen auf die syrische Stadt Derik sowie die
Gebiete Sinjar und Makhmour im Irak statt (ICG 2.2022).
Mittlerweile leben 66 % der Bevölkerung wieder in den von der Regierung kontrollierten
Territorien (ÖB 1.10.2021). Mehr als zwei Drittel der im Land verbliebenen Bevölkerung lebt
in Gebieten unter Kontrolle des syrischen Regimes. Auch wenn die militärische
Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes erklärtes Ziel des Regimes bleibt, zeichnet sich
eine Rückeroberung weiterer Landesteile durch das Regime derzeit nicht ab. Im
Nordwesten des Landes werden Teile der Gouvernements Lattakia, Idlib und Aleppo durch
die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte Hay'at Tahrir ash-Sham
(HTS) sowie Türkei-nahe bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Die Gebiete im Norden
und Nordosten entlang der Grenze zur Türkei stehen in Teilen unter Kontrolle der Türkei
und ihr nahestehender bewaffneter Gruppierungen in Teilen unter Kontrolle der kurdisch
dominierten Syrian Democratic Forces (SDF), punktuell auch des syrischen Regimes. Auch
in formal vom Regime kontrollierten Gebieten sind die Machtverhältnisse mitunter
komplex, die tatsächliche Kontrolle liegt häufig bei lokalen bewaffneten Akteuren (AA
29.11.2021).
Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als
Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In
Idlib mit seinen über drei Milllionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen
Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch
die von den USA angeführte Koalition gegen des Islamischen Staat (IS) verletzte
internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile
Todesopfer und Zerstörung verursachten (HRW 13.1.2022).
Die Konfliktintensität hat weiter abgenommen; die Sicherheitslage stellt sich jedoch nach
wie vor volatil und instabil dar. Dies trifft auch auf die von der Regierung kontrollierten
Gebiete zu (ÖB 1.10.2021). Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile
abgenommen haben, besteht weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen
zu werden (AA 29.11.2021).
In weiten Teilen des Landeseine besteht eine dauerhafte und anhaltende Bedrohung durch
Kampfmittel. Laut der CoI gab es in Afrin und Ra's al-'Ayn zwischen Juli 2020 und Juni 2021
zahlreiche Sicherheitsvorfälle durch Sprengkörper und Sprengfallen (u.a. IEDs), die häufig
an belebten Orten detonieren und bei denen mindestens 243 Zivilisten ums Leben kamen.
Laut dem UN Humanitarian Needs Overview von 2020 sind in Syrien 11,5 Mio. Menschen
der Gefahr durch Minen und Fundmunition ausgesetzt. 43 % der besiedelten Gebiete
Syriens gelten als kontaminiert. Ca. 25 % der dokumentierten Opfer durch
Minenexplosionen waren Kinder. UNMAS (United Nations Mine Action Service) hat
insgesamt bislang mehr als 12.000 Opfer erfasst. Die Großstädte Aleppo, Raqqa, Homs,
Dara‘a und Deir ez-Zor sowie zahlreiche Vororte von Damaskus sind hiervon nach wie vor
besonders stark betroffen. Erhebliche Teile dieser Städte sind auch mittel- bis langfristig
nicht bewohnbar. Bei einem Drittel der besonders betroffenen Gebiete handelt es sich um
landwirtschaftliche Flächen. Dies hat auch gravierende Auswirkungen auf die
landwirtschaftliche Produktion, die nicht nur die Nahrungs-, sondern auch die
Lebensgrundlage für die in den ländlichen Teilen Syriens lebenden Menschen darstellt.
Trotz eines Memorandum of Understanding zwischen der zuständigen UNMAS und Syrien
behindert das Regime durch Restriktionen, Nicht-Erteilung notwendiger Visa und Vorgaben
weiterhin die Arbeit von UNMAS sowie zahlreicher, auf Minenaufklärung und -Räumung
spezialisierter internationaler NGOs in unter seiner Kontrolle befindlichen Gebieten (AA
29.11.2021).
Der sogenannte Islamische Staat (IS) kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und
des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von
den oppositionellen Syrian Democratic Forces (SDF) erobert (DZ 24.3.2019). Im Oktober
2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem U.S.-
Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet (AA 19.5.2020). Sein Nachfolger Abu
Ibrahim al-Hashimi al-Qurayshi starb mutmaßlich durch Selbstsprengung bei einem USAngriff
auf ihn in Syrien. Sein Nachfolger ist Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi (DS
10.3.2022). Der IS ist zwar zerschlagen, verfügt aber noch immer über militärische
Einheiten, die sich in den Wüstengebieten Syriens und des Irak versteckt halten (DZ
24.3.2019), und ist im Untergrund aktiv (AA 4.12.2020). Nach dem Verlust der territorialen
Kontrolle verlagerte der IS seine Strategie hin zu aufständischen Methoden, wie gezielte
Angriffe, u.a. Autobomben, Überfälle, und Attentate (DIS 29.6.2020). Generell nimmt die
Präsenz des IS in Syrien wieder zu, auch in Landesteilen unter Regimekontrolle. IS-Anschläge
blieben auch im Jahr 2021 auf konstant hohem Niveau. Der Schwerpunkt der Aktivitäten
liegt weiterhin im Nordosten des Landes. Seit Anfang 2020 hat der IS Anschläge in fast allen
Landesteilen durchgeführt und ist weiterhin grundsätzlich in der Lage, dies landesweit zu
tun. Es sind zudem Berichte über zunehmende Anschläge in Regimegebieten, insbesondere
der zentralsyrischen Wüsten- und Bergregion, in Hama und Homs, bekannt geworden.
Mehrere Tausend IS-Kämpfer sowie deren Angehörige befinden sich in Gefängnissen und
Lagern in Nordostsyrien in Gewahrsam der SDF. Der IS verfügt jedoch weiter über
Rückzugsgebiete im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien, bleibt damit als
asymmetrischer Akteur präsent, baut Untergrundstrukturen aus und erreicht damit sogar
erneut temporäre und punktuelle Gebietskontrolle (AA 29.11.2021). Der IS ist im
Regimegebiet stärker, weil die syrische Armee weniger kompetent bei Anti-Terror-
Operationen auftritt als die SDF. Deshalb zieht es der IS laut Fabrice Balanche vor, im
Regimegebiet zu agieren. Der Schätzung des "Institute for the Study of War" zufolge verfügt
der IS über bis zu 15.000 Kämpfer in Syrien und dem Irak. Der Organisation gelingt es, eine
neue Generation zu rekrutieren, die frustriert ist, ohne Hoffnung, ohne Zukunft und ohne
Arbeit (Zenith 11.2.2022).
Mitte 2020 gehörten zu den Zielpersonen des IS vor allem lokale Behörden und Personen,
die mit den Behörden, Kräften und Gruppen, die gegen den IS kämpfen, zusammenarbeiten
oder als mit ihnen kooperierend wahrgenommen werden (DIS 29.6.2020). Der IS profitierte
von einem Sicherheitsvakuum, das dadurch entstand, dass die verschiedenen militärischen
Kräfte ihre Aktivitäten aufgrund der COVID-19-Pandemie reduzierten (USDOS 30.3.2021).
Zum IS-Angriff vom 20.1.2022 in al-Hassakah siehe das Unterkapitel "Nordost-Syrien" im
Kapitel "Sicherheitslage".
Die NGO Syrian Network for Human Rights (SNHR) versucht die Zahlen ziviler Todesopfer zu
erfassen. Getötete Kämpfer werden in dem Bericht nicht berücksichtigt, außer in der Zahl
der aufgrund von Folter getöteten Personen, welche Zivilisten wie auch Kämpfer
berücksichtigt. Betont wird außerdem, dass die Organisation in vielen Fällen Vorkommnisse
nicht dokumentieren konnte, besonders im Fall von "Massakern", bei denen Städte und
Dörfer komplett abgeriegelt wurden. Die hohe Zahl solcher Berichte lässt darauf schließen,
dass die eigentlichen Zahlen ziviler Opfer weit höher als die unten angegebenen sind.
Zudem sind die Möglichkeiten zur Dokumentation von zivilen Opfern auch von der
jeweiligen Konfliktpartei, die ein Gebiet kontrolliert, abhängig (SNHR 1.1.2020; vgl. SNHR
1.1.2021).
"Versöhnungsabkommen"
Letzte Änderung: 22.04.2022
Die sogenannten "Versöhnungsabkommen" sind Vereinbarungen, die Einzelpersonen,
Männern und Frauen, die in ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten leben, die
von der syrischen Regierung, während militärischer Operationen zurückerobert wurden,
auferlegt werden (NMFA 6.2021; vgl. STDOK 8.2017). Der Abschluss der sogenannten
„reconciliation agreements“ folgt in der Regel einem Muster, das mit realer Versöhnung
wenig gemeinsam hat (ÖB 1.10.2021). Diese "Versöhnungsvereinbarungen" sind de
facto Kapitulationsvereinbarungen. Die Regierung hat Mitglieder der bewaffneten
Opposition und bestimmte Gruppen von Zivilisten gezwungen, diese Gebiete zu verlassen
oder den "Versöhnungsprozess" als Bedingung für ihren Verbleib zu durchlaufen (NMFA
6.2021). Im letzteren Fall wird die Person aufgefordert, sich beim Sicherheitsdienst oder
dem Sicherheitskomitee in dem Gebiet zu melden. Die Person wird dann festgenommen,
befragt und gezwungen, eine Erklärung zu unterschreiben, in der sie sich verpflichtet, den
Sicherheitsdienst über jegliche Aktivitäten der Opposition in dem Gebiet, in dem sie oder er
lebt, zu informieren. Männer, die sich dem Militärdienst entziehen wollen, werden nach
Feststellung ihres Status an Militäreinheiten übergeben. Diejenigen, die freigelassen
werden, erhalten ein Dokument. In vielen Fällen, meist kurz nach der Klärung ihres Status,
werden diese Menschen wieder verhaftet, gefoltert und verschwinden gelassen (NMFA
6.2021; vgl. ÖB 1.10.2021).
Die Regierung bietet ein Versöhnungsabkommen in der Regel nach schwerem Beschuss
oder Belagerung an, das an verschiedene Bedingungen geknüpft ist (STDOK 8.2017; vgl. ÖB
1.10.2021). Die Bedingungen dieser Abkommen unterscheiden sich von Fall zu Fall (STDOK
8.2017). Sie beinhalteten oft die Ausweisung von Rebellenkämpfern und deren Familien,
die dann in andere Regionen des Landes (zumeist im Norden) verbracht werden. Sie werden
also auch dazu benutzt, Bevölkerungsgruppen umzusiedeln (ÖB 1.10.2021). Die Wehrpflicht
war bisher meist ein zentraler Bestandteil der Versöhnungsabkommen (AA 13.11.2018).
Manche Vereinbarungen besagen, dass Männer nicht an die Front geschickt werden,
sondern stattdessen bei der örtlichen Polizei eingesetzt werden (STDOK 8.2017). Im
Rahmen von Versöhnungsvereinbarungen gemachte Garantien der Regierung gegenüber
Individuen oder Gemeinschaften werden jedoch nicht eingehalten (EIP 6.2019; vgl. AA
4.12.2020, FIS 14.12.2018). In zuvor jahrelang von der bewaffneten Opposition
kontrollierten Gebieten berichten syrische Menschenrechtsorganisationen weiterhin von
einer Zunahme willkürlicher Befragungen und Verhaftungen durch das syrische Regime.
Zuletzt wurde nach Ablauf einer in den sog. Versöhnungsabkommen ausgehandelten
einjährigen Frist auch aus den ehemaligen Oppositionshochburgen Ost-Ghouta sowie
Dara'a und Quneitra im Süden Syriens ein erneuter Anstieg von Verhaftungen als
oppositionell geltender Personen oder humanitärer Helfer sowie Zwangsrekrutierungen
berichtet. Während ein Versöhnungsabkommen in einer Region geachtet wird, kann dies
bei Überquerung eines Checkpoints bereits missachtet werden, und es kann zu willkürlichen
Verhaftungen kommen (AA 4.12.2020). Berichten zufolge sind Personen in Gebieten, die
erst vor kurzer Zeit durch die Regierung wiedererobert wurden, aus Angst vor Repressalien
zurückhaltend, über die Situation in diesen Gebieten zu berichten (USDOS 30.3.2021).
Nordwest-Syrien
Letzte Änderung: 22.04.2022
Im Nordwesten Syriens gilt das Gebiet Idlib, das Teile des Gouvernements Idlib, Nord-Hama,
Nord-Lattakia und West-Aleppo umfasst, als letzte verbleibende Hochburg der bewaffneten
regierungsfeindlichen Gruppen (BBC 18.2.2020). Während die syrische Regierung die
gesamte Provinz zurückerobern will, versucht Ankara zu verhindern, dass Idlib an Damaskus
fällt, und daraufhin noch mehr Syrer in die Türkei flüchten (ORF 14.3.2021). Idlib ist seit den
Anfängen des Konfliktes eine Oppositionshochburg. Im März 2015 übernahmen
oppositionelle Gruppierungen die Kontrolle über die Provinz (CRS 2.1.2019). Im Mai 2017
wurden durch eine Vereinbarung in Astana zwischen Russland und Iran (als Verbündete des
syrischen Regimes) einerseits, und der Türkei (als Unterstützer der Rebellen) andererseits,
vier Deeskalationszonen eingerichtet, die unter anderem ganz Idlib sowie auch Teile der
Provinzen Lattakia, Aleppo und Hama umfasste. Einheiten der syrischen Regierung führen
jedoch trotz dieser Vereinbarung militärische Operationen in diesem Gebiet durch und
eroberten bis Mitte 2018 etwa die Hälfte der Deeskalationszone im Nordwesten zurück (CRS
2.1.2019; vgl. KAS 6.2020). Mitte September 2018 einigten sich die Türkei und Russland auf
die Schaffung einer entmilitarisierten Zone in Idlib (Reuters 26.10.2018; vgl. UNHRC
31.1.2019).
Viele IS-Kämpfer übersiedelten nach dem Fall von Raqqa 2017 nach Idlib - großteils
Ausländer, die für den Dschihad nach Syrien gekommen waren, und beschlossen, sich
anderen islamistischen Gruppen wie der Nusra-Front anzuschließen, heute als Hay'at Tahrir
ash-Sham (HTS) bekannt. Meistens geschah das über persönliche Kontakte, aber ihre Lage
ist nicht abgesichert. Ausreichend Geld und die richtigen Kontaktleute ermöglichen
derartige Transfers über die Frontlinie (Zenith 11.2.2022). Anfang Januar 2019 drängte die
jihadistische Allianz HTS die pro-türkische National Liberation Front (NLF) zurück (DZ
8.3.2019) und übernahm die Kontrolle über die Provinz Idlib und die Randgebiete
angrenzender Provinzen (DP 10.1.2019). Laut Schätzungen befinden sich mit Stand April
2020 insgesamt etwa 70.000 oppositionelle Kämpfer in Idlib. Auch al-Qaida und der
sogenannte Islamische Staat (IS) sollen dort Netzwerke unterhalten (KAS 4.2020).
Insbesondere ist HTS präsent, ehemals al-Nusra und affiliiert mit al-Qaida. Unter den
Kämpfern befinden sich auch zahlreiche ausländische Kämpfer (Uiguren, Tschetschenen,
Usbeken) (ÖB 1.10.2021) und viele Kämpfer aus anderen Gebieten Syriens, wie Ost-Ghouta
und Dara'a, die nach der Eroberung durch das Regime nach Idlib flohen (KAS 6.2020). Im
Dezember 2021 kontrollierten HTS und andere regierungsfeindliche Gruppen den
Nordwesten des Gouvernorats Idlib, während das Regime die Regionen im Süden des
Gouvernorats kontrollierte, inklusive der M5 Autobahn (Liveuamap 10.3.2022; vgl. ISW
25.3.2021). Es wurde von weiteren Spaltungen innerhalb der verschiedenen HTS-Fraktionen
berichtet (AM 22.12.2021). HTS geht aktuell gegen den IS und al-Qaida vor und reguliert
nun die Anwesenheit ausländischer Jihadisten mittels Ausgabe von Identitätsausweisen für
EinwohnerInnen von Idlib, ohne welche z.B. das Passieren von HTS-Checkpoints
verunmöglicht wird. HTS versucht demnachso, das Stigma der eigenen Vergangenheit sowie
Spekulationen bezüglich des Umstandes, dass die letzten beiden IS-Anführer in Idlib zu
Tode kamen, zu beseitigen (COAR 28.2.2022)
Im Jahr 2019 eskalierte die Regierung von Syrien die Militäroperationen in Idlib, die in den
ersten Monaten 2020 fortgesetzt wurden (USCRS 27.7.2020). Im Februar 2019 kam es zu
Luftangriffen der syrischen Regierung im Großraum Idlib (ISW 7.3.2019) und im März 2019
wieder zu russischen Luftangriffen auf die Provinz (DS 14.3.2019). Im Mai 2019 weiteten die
russische Luftwaffe und syrische Regierungstruppen ihre Boden- und Luftangriffe auf Idlib
und Nord-Hama massiv aus (DS 8.5.2019). Im Dezember 2019 intensivierten das Regime
und seine Unterstützer die Militäroffensive deutlich. Luftangriffe auf zivile Infrastruktur wie
Schulen, Krankenhäuser, Märkte und Flüchtlingslager führten laut den Vereinten Nationen
(UN) zur größten humanitären Katastrophe im Verlauf des Syrien-Konflikts (AA 4.12.2020).
Im Februar 2020 begann die Türkei die sogenannte Militäroperation 'Spring Shield' mit
Vergeltungsschlägen gegen das syrische Regime. Anfang März 2020 vereinbarten Russland
und die Türkei dann ein zeitlich unbegrenztes Zusatzprotokoll zu dem in Kraft bleibenden
Abkommen über die Deeskalationszone Idlib von 2018, das unter anderem eine Waffenruhe
in Idlib, die Einrichtung eines Sicherheitskorridors nördlich und südlich der Fernstraße M4
sowie russisch-türkische Patrouillen vorsieht (AA 19.5.2020). Der Konflikt führte zu
massiven humanitären Verwerfungen mit 2,7 Mio. Binnenvertriebenen (ÖB 1.10.2021). Die
Offensive des syrischen Regimes auf das Gebiet von Idlib hatte eine hohe Zahl von Opfern
unter der Zivilbevölkerung zur Folge (UNSC 28.2.2020). Mehr als eine Million Menschen
wurden alleine zwischen Dezember 2019 und Februar 2020 vertrieben, und es kam zu einer
massiven humanitären Krise (UNOCHA 17.2.2020, vgl. OHCHR 18.2.2020).Entlang der M4
und M5 Autobahnen kam es u.a zu täglichem Beschuss, periodischen Luftangriffen und
internen Machtkämpfen zwischen nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen. Der Beschuss
betraf den Süden Idlibs. Luftangriffe erfolgten in von Zivilisten bewohnten Regionen in
Nord-Idlib (UNOCHA 26.2.2021, 26.1.2021, 6.3.2021).
Ein nach einer neuerlichen Eskalation Ende Februar/Anfang März 2021 zwischen den
Präsidenten Erdogan und Putin vereinbarter Waffenstillstand sorgte für eine Deeskalation.
Es kommt aber immer wieder zu lokal begrenzten militärischen Gefechten zwischen den
erwähnten Konfliktparteien. Die Türkei verstärkte ihre militärische Präsenz, u.a. in Form von
Beobachtungsposten, dehnt die türkische Verwaltung auf die besetzten Gebiete in Syrien
aus und errichtet auch zivile Strukturen. In den letzten Wochen [Anm.: Stand September
2021] war eine Zunahme russischer Luftangriffe und Angriffe der syrischen Regierung auf
Nordwest-Syrien (ÖB 1.10.2021) bzw. eine Intensivierung der Gewalt in der
Deeskalationszone von Idlib festzustellen (UNSC 21.10.2021). Die Artillerieangriffe zielten
immer wieder im Lauf von 2021 auch auf die zivile Infrastruktur wie Schulen und
Krankenhäuser ab (SN4HR 4.7.2021, 21.7.2021; vgl. HRW 8.12.2021, F24 7.3.2021). Im
Herbst/Winter 2021 wurde ebenfalls von zivilen Opfern bei Kampfhandlungen in Nordwest-
Syrien berichtet (MSF 13.12.2021, HRW 8.12.2021, ACLED 27.10.2021, BAMF 25.10.2021, II
10.2021). Anfang Jänner 2022 führten die russischen Sicherheitskräfte in Idlib Luftangriffe
durch, bei denen unter anderem eine Pumpstation getroffen wurde, welche die
Stadt Idlib und angrenzende Dörfer mit Wasser versorgt (RFE/RL 2.1.2022). Insgesamt
nahmen die Gefechte, Luftschläge und Bombardierungen im vergangenen Jahr besonders
im südlichen Idlib zu (BBC 15.3.2022)
Einem Untersuchungsbericht zu Vorgängen im ersten Halbjahr 2020 zufolge hat die Syrian
National Army (SNA) in Afrin und Umgebung möglicherweise Kriegsverbrechen, wie
Geiselnahme, grausame Behandlung, Folter und Vergewaltigung begangen. In der gleichen
Region wurden zahlreiche Zivilisten durch große improvisierte Sprengsätze sowie bei
Granaten- und Raketenangriffen getötet und verstümmelt. Plünderungen und die
Aneignung von Privatland durch die SNA waren weit verbreitet, insbesondere in den
kurdischen Gebieten (UNHRC 15.9.2020). Im Juli 2021 erlebten die Orte in Nordwest-Syrien
und in den Gebieten Ra's al-'Ayn and Tell Abyad die größte Eskalation seit Beginn des
Waffenstillstands im März 2020. Durch Beschuss wurden im Juli 2021 mindestens 42
Zivilisten, davon sieben Frauen und 27 Kinder getötet und zumindest 89 Zivilisten (davon 15
Frauen und 36 Kinder) verletzt (UNOCHA 7.2021). In den Regionen Afrin und Ra's al-'Ayn in
Aleppo werden improvisierte Sprengsätze an Fahrzeugen (VBIEDs) häufig in frequentierten
zivilen Gebieten wie Märkten und belebten Straßen gezündet. Bei sieben derartigen
Angriffen wurde die Tötung und Verstümmelung von mindestens 243 Frauen, Männern und
Kindern dokumentiert - die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist jedoch
wesentlich höher (UNHRC 14.9.2021).
Türkische Militäroperationen in Nordsyrien
Letzte Änderung: 22.04.2022
Operation "Schutzschild Euphrat" (türk. "Fırat Kalkanı Harekâtı")
Seit August 2016 ist die Türkei im Rahmen der Operation "Euphrates Shield" in Syrien aktiv.
Die Operation zielte auf zum damaligen Zeitpunkt vom sogenannten Islamischen Staat (IS)
gehaltene Gebiete, sollte jedoch auch dazu dienen, die kurdischen
Volksverteidigungseinheiten (YPG) davon abzuhalten, ein autonomes Gebiet entlang der
syrisch-türkischen Grenze zu errichten. Die Türkei sieht die kurdische Partei der
Demokratischen Union (PYD) und die YPG als Bedrohung der türkischen Sicherheit (CRS
2.1.2019).
Operation "Olivenzweig" (türk. "Zeytin Dalı Harekâtı")
Im März 2018 nahmen Einheiten der türkischen Armee und der mit ihnen verbündeten
Freien Syrischen Armee (FSA) im Rahmen der Operation "Olive Branch" die zuvor kurdisch
kontrollierte Stadt Afrin ein (Bellingcat 1.3.2019). Bis März 2018 hatte die türkische
Offensive Berichten zufolge den Tod Dutzender Zivilisten und laut den Vereinten Nationen (UN) die Vertreibung Zehntausender zur Folge. Von der Türkei unterstützte bewaffnete
Gruppierungen, die mit der FSA in Zusammenhang stehen, beschlagnahmten, zerstörten
und plünderten das Eigentum kurdischer Zivilisten in Afrin (HRW 17.1.2019). Seit der
Offensive regiert in Afrin ein Mosaik von türkisch-unterstützten zivilen Institutionen und
unterschiedlichsten Rebelleneinheiten, die anfällig für innere Machtkämpfe sind (Bellingcat
1.3.2019). Laut UN ist die Menschenrechtssituation in Orten wie Afrin, Ra's al-ʿAin und Tall
Abyad schlecht - Gewalt und Kriminalität seien weit verbreitet (UN News 18.9.2020).
Operation "Friedensquelle" (türk. "Barış Pınarı Harekâtı")
Nachdem der ehemalige US-Präsident Donald Trump Anfang Oktober 2019 ankündigte, die
US-amerikanischen Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion abzuziehen, startete
die Türkei am 9.10.2019 eine Luft- und Bodenoffensive im Nordosten Syriens. Im Zuge
dessen riefen die kurdischen Behörden eine Generalmobilisierung aus. Einerseits wollte die
Türkei mit Hilfe der Offensive die YPG und die von der YPG geführten Syrian Democratic
Forces (SDF) aus der Grenzregion zur Türkei vertreiben, andererseits war das Ziel der
Offensive einen Gebietsstreifen entlang der Grenze auf syrischer Seite zu kontrollieren, in
dem rund zwei der ungefähr 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei leben,
angesiedelt werden sollen (CNN 11.10.2019). Der UN zufolge wurden ebenfalls innerhalb
einer Woche bis zu 160.000 Menschen durch die Offensive vertrieben und es kam zu vielen
zivilen Todesopfern (UN News 14.10.2019). Es gab Befürchtungen, dass es aufgrund der
Offensive zu einem Wiedererstarken des sogenannten Islamischen Staates (IS) komme
(TWP 15.10.2019). Medienberichten zufolge seien in dem Gefangenenlager ʿAyn Issa 785
ausländische IS-Sympathisanten auf das Wachpersonal losgegangen und geflohen (DS
13.10.2019). Nach dem Beginn der Operation kam es außerdem zu einem Angriff durch ISSchläferzellen auf die Stadt Raqqa. Die geplante Eroberung des Hauptquartiers der syrischkurdischen Sicherheitskräfte gelang den Islamisten jedoch nicht (DZ 10.10.2019). Auch im Zuge der türkischen Militäroperation „Friedensquelle“ im Nordosten von Syrien Anfang
Oktober 2019 kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und
Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB 1.10.2021).
Die syrische Armee von Präsident Bashar al-Assad ist nach einer Einigung mit den SDF am
14.10.2019 in mehrere Grenzstädte eingerückt, um sich der "türkischen Aggression"
entgegenzustellen, wie Staatsmedien berichten (DS 15.10.2019). Laut der Vereinbarung
übernehmen die Einheiten der syrischen Regierung in einigen Grenzstädten die
Sicherheitsfunktionen, die Administration soll aber weiterhin in kurdischer Hand sein (TWP
15.10.2019). Das Regime ist jedenfalls in allen größeren Städten im Nordosten präsent (AA
4.12.2020).
Nach Vereinbarungen zwischen der Türkei, den USA und Russland richtete die Türkei eine
"Sicherheitszone" in dem Gebiet zwischen Tall Abyad und Ra's al-ʿAyn ein (SWP 1.1.2020;
vgl. AA 19.5.2020), die 120 Kilometer lang und bis zu 14 Kilometer breit ist (AA 19.5.2020).
Siehe dazu auch das Unterkapitel "Nordost-Syrien" und "Nordwest-Syrien" im Kapitel
"Sicherheitslage".
Operation "Frühlingsschild" (türk. "Bahar Kalkanı Harekâtı")
Ab Ende Februar 2020 rückten die Regierungstruppen auch im Osten Idlibs vor, und die
Frontlinien verschoben sich rasch. Die Vereinten Nationen bezeichneten die Luftangriffe der
Regierung und der regierungsnahen Kräfte im Nordwesten im Februar 2020 als "eines der
höchsten Ausmaße seit Beginn des Konflikts [...] Zu den täglichen Zusammenstößen mit
nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen gehörten gegenseitiger Artilleriebeschuss und
Zusammenstöße am Boden mit einer hohen Zahl von Opfern" (UNSC 23.4.2020). Die
Offensive führte zu direkten Kämpfen zwischen Kräften der syrischen Regierung und
türkischen Streitkräften, und bei einem Luftangriff der Regierungskräfte und Russlands auf
einen türkischen Konvoi im Februar 2020 wurden in Idlib 33 türkische Soldaten getötet. Dies
veranlasste die Türkei, die Operation "Spring Shield" einzuleiten, um die Offensive der
syrischen Regierung im Gouvernement Idlib zu stoppen (CC 17.2.2021).
Es kommt in den türkisch-besetzten Gebieten zu internen Kämpfen zwischen von der Türkei
unterstützten bewaffneten Gruppen. Obwohl die Türkei versucht hat, die Ordnung
innerhalb der von ihr unterstützten oppositionellen Syrian National Army (SNA)
aufrechtzuerhalten, kommt es immer wieder zu Gewaltausbrüchen. Zusammenstöße
zwischen den Fraktionen der SNA finden oft aufgrund von Konkurrenz um Ressourcen und
Einfluss statt (TCC 18.2.2021). In den von der Türkei beherrschten Gebieten, vor allem im
nördlichen Teil der Provinz Aleppo, kommt es vermehrt zu Anschlägen seitens der
kurdischen Selbstverteidigungskräfte (YPG). Die sehr komplexe Gemengelage an
(bewaffneten) Akteuren, u.a. YPG und Türkei-nahe Rebellengruppen, die sich auch
untereinander bekämpfen, führt zu einer sehr konfliktgeladenen Situation in der Provinz
Aleppo und vor allem in deren nördlichem Teil (ÖB 1.10.2021).
Nordost-Syrien
Letzte Änderung: 22.04.2022
Mit Stand Ende Dezember 2021 befanden sich die Gouvernorate al-Hassakah und ar-Raqqa
sowie Teile von Deir Ez-Zour nördlich des Flusses Euphrat und Teile des Gouvernements
Aleppo um Manbij und Kobanê sowie das Gebiet um Tal Rifa'at unter der Kontrolle der
kurdisch geführten SDF [Anm.: Syrian Democratic Forces - Syrische Demokratischen Kräfte]
Der Rückzug der USA aus den Gebieten östlich des Euphrat im Oktober 2019 ermöglichte es
der Türkei, sich in das Gebiet auszudehnen und ihre Grenze tiefer in Syrien zu verlegen, um
eine Pufferzone gegen die Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) zu schaffen [Anm.: s.
Abschnitt zu den türkischen Militäroperationen] (CMEC 2.10.2020). Aufgrund der
türkischen Vorstöße sahen sich die SDF dazu gezwungen, mehrere tausend syrische
Regierungstruppen aufzufordern, in dem Gebiet Stellung zu beziehen, um die Türkei
abzuschrecken, und den Kampf auf eine zwischenstaatliche Ebene zu verlagern (ICG
18.11.2021). Regimekräfte sind seither in allen größeren Städten in Nordostsyrien präsent
(AA 4.12.2020). Entgegen früheren Ankündigungen bleiben die USA weiterhin militärisch
präsent. Russland weitete seine Präsenz aus (ÖB 1.10.2021). Die kurdischen, sogenannten
"Selbstverteidigungseinheiten" (Yekîneyên Parastina Gel - YPG) stellen einen wesentlichen
Teil der Kämpfer und v. a. der Führungsebene der SDF, welche in Kooperation mit der
internationalen Anti-IS-Koalition militärisch gegen die Terrororganisation sog. Islamischer
Staat (IS) in Syrien vorgehen. Die Türkei unterstellt sowohl den Streitkräften der YPG als
auch der Partei PYD (Democratic Union Party) Nähe zur von der EU als Terrororganisation
gelisteten PKK (Kurdische Arbeiterpartei) und bezeichnet diese daher ebenfalls als
Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (AA 4.12.2020). Siehe dazu
auch die Karte von Februar 2022 von Zenith mit den militärischen Akteuren im Unterkapitel
"Sicherheitslage".
Das militärische Eingreifen der Türkei entlang der syrisch-türkischen Grenze im Herbst 2019
hat sich destabilisierend auf die in den vorangegangenen Jahren vergleichsweise stabilere
Lage in Nordostsyrien ausgewirkt (AA 4.12.2020). Die Türkei stützte sich bei der
Militärinvasion auch auf Rebellengruppen, die in der Syrian National Army (SNA)
zusammengefasst sind; seitens dieser Gruppen kam es zu gewaltsamen Übergriffen, insb.
auf die kurdische Zivilbevölkerung sowie Christen und Jesiden (Ermordungen, Plünderungen
und Vertreibungen). Aufgrund des Einmarsches wuchs die Zahl der intern vertriebenen
Menschen im Nordosten auf über eine halbe Million an (ÖB 1.10.2021). Nach wie vor
kommt es trotz der am 22.10.2019 in Sotschi zwischen Russland und der Türkei
vereinbarten Waffenruhe immer wieder zu lokalen Auseinandersetzungen und
Kampfhandlungen am Rande der türkisch kontrollierten Zone zwischen pro-türkischen
Milizen und Einheiten der SDF, insbesondere an den Rändern der türkisch kontrollierten
Zone im Raum um Tal Tamar rund 30 km südlich von Ra's al-'Ayn sowie südlich von Tal Abyad
(AA 4.12.2020; vgl. USDOD 4.11.2021). Von Tal Abyad und Ra's Al-'Ayn aus hält der Beschuss
kurdischer Stellungen laut Fabrice Balanche an, ebenso die Angriffe im äußersten
Nordosten der von den SDF gehaltenen Gebiete, nahe der Grenze zum Irak. Die Türkei will
das Vertrauen in die Autonomieverwaltung in Nordost-Syrien zerstören. Die Offensive
fordert bislang zwar nur wenige Todesopfer. Aber es geht der Türkei darum, Angst zu
schüren, Menschen zur Flucht zu drängen und Investitionen zu blockieren. Vor vier Jahren
war Kobane demnach noch eine dynamische Stadt, in welcher der Wiederaufbau lief. Die
Menschen kamen aus Irakisch-Kurdistan zurück, weil es Arbeitsplätze gab. Jetzt ist Kobane
laut Balanche eine sterbende Stadt. Wegen des türkischen Beschusses haben die Menschen
Angst und fliehen. Die Türkei profitiert auch von der Destabilisierung durch IS-Angriffe
(Zenith 11.2.2022).
SDF, YPG und YPJ [Anm.: Frauenverteidigungseinheiten] sind nicht nur mit türkischen
Streitkräften und verschiedenen islamistischen Extremistengruppen in der Region
zusammengestoßen, sondern gelegentlich auch mit kurdischen bewaffneten Gruppen, den
Streitkräften des Assad-Regimes, Rebellen der Freien Syrischen Armee und anderen (AN
17.10.2021). Spannungen zwischen Arabern und Kurden, mit der Türkei sowie Angriffe des
IS stellen im Nordosten weiterhin ein großes Sicherheitsrisiko dar (AA 4.12.2020; siehe dazu
auch weiter unten). Die kurdisch kontrollierten Gebiete im Nordosten Syriens umfassen
auch den größten Teil des Gebiets, das zuvor unter der Kontrolle des Islamischen Staats (IS)
in Syrien stand (ICG 11.10.2019; vgl. EASO 7.2021). Raqqa war de facto die Hauptstadt des
IS gewesen (ICG 18.11.2021), und die Region gilt als "Hauptschauplatz für den Aufstand des
IS" (ICG 11.10.2019; vgl. EASO 7.2021). Die Entwicklungen im Nordosten haben bis dato
noch nicht zu dem befürchteten, großflächigen Wiedererstarken des IS geführt (ÖB
1.10.2021), jedoch setzten der IS und seine Schläferzellen 2021 ihre Angriffe in den von den
Demokratischen Kräften Syriens (SDF) kontrollierten Gebieten fort und verübten mehrere
Anschläge und Attentatsversuche (SOHR 26.12.2021).
Die SDF leiteten mit Unterstützung der internationalen Koalition gegen den IS regelmäßige
Sicherheitskampagnen ein, die sich gegen IS-Zellen und Personen richteten, die beschuldigt
wurden, "mit diesen Zellen zu verkehren" (SOHR 26.12.2021; vgl. USDOD 4.11.2021). Im
Nordosten aber auch in anderen Teilen des Landes verlegt sich der IS verstärkt auf
Methoden der asymmetrischen Kriegsführung. Hauptziele sind Einrichtungen und Kader der
SDF sowie der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021; vgl. ICG 18.11.2021, COAR 28.5.2021) und
Einrichtungen der Selbstverwaltung (COAR 28.5.2021). Es wurde auch von Angriffen auf
Mitarbeiter der Ölfelder in Deir ez-Zour berichtet (AM 29.12.2021). SOHR dokumentierte
im Jahr 2021 [Anm.: bis zum 26.12.2021] neben 135 getöteten Angehörigen der SDF,
Asayish [Anm.: die internen Sicherheitskräfte der Selbstverwaltung], der YPG, YPJ und
anderer von den SDF unterstützten militärischen Formationen auch 93 zivile Todesopfer bei
IS-Anschlägen (SOHR 26.12.2021). Dem IS gelang es unterdessen, das arabische Viertel von
al-Hassakah zu infiltrieren, und die dortige Bevölkerung meldete dies nicht der Polizei
(Zenith 11.2.2022).
Am 20.1.2022 griffen Kämpfer des IS das Sina'a-Gefängnis in al-Hassakah an (ANI
26.1.2022). Im Sina'a-Gefängnis befanden sich geschätzte 3.500 inhaftierte IS-Kämpfer wie
auch rund 700 Minderjährige, darunter 150 ausländische Staatsbürger, die von ihren Eltern
in das selbsternannte Kalifat gebracht worden waren. Vertreter der SDF gaben an, dass ISKämpfer, die sich in einem Teil des Gefängnisses verschanzt hatten, Minderjährige als
menschliche Schutzschilde verwendet hätten (NYT 25.1.2022). Bei den meisten Gefangenen
handelte es sich um prominente IS-Anführer, die in den vergangenen Jahren administrative
und militärische Positionen in den vom IS kontrollierten Gebieten in Syrien innegehabt
hatten (AM 26.1.2022). Unter den insgesamt rund 5.000 Insassen des überfüllten
Gefängnisses befanden sich nach Angaben von Angehörigen jedoch auch Personen, die
aufgrund von fadenscheinigen Gründen festgenommen worden waren, nachdem sie sich
der Zwangsrekrutierung durch die SDF widersetzt hatten, was die SDF jedoch bestritten (AJ
26.1.2022).
Der Angriff löste tödliche Zusammenstöße zwischen den SDF und den IS-Kämpfern aus.
Vielen Häftlingen gelang die Flucht, während sich andere im Gefängnis verbarrikadierten
und Geiseln nahmen (ANI 26.1.2022). Die Kämpfe zwischen der von den USA unterstützten
kurdisch geführten Miliz und IS-Kämpfern weiteten sich auf Stadtteile rund um das
Gefängnis im Nordosten Syriens aus. US-Truppen begannen am 24.1.2022, aus der Luft und
auch am Boden einzugreifen. US-Angaben zufolge war der Kampf die größte Konfrontation
zwischen den US-amerikanischen Streitkräften und dem IS, seit die Gruppe 2019 das
(vorübergehend) letzte Stück des von ihr kontrollierten Gebiets in Syrien verloren hatte
(NYT 25.1.2022). Nach Angaben der Vereinten Nationen mussten schätzungsweise 45.000
Einwohner von al-Hassakah aufgrund der Kämpfe aus ihren Häusern fliehen, und die SDF
riegelte große Teile der Stadt ab (MEE 25.1.2022; NYT 25.1.2022). Während der
Kampfhandlungen erfolgten auch andernorts in Nordost-Syrien Angriffe des IS. In den zehn
Tagen andauernden Gefechten starben laut SDF über 500 Menschen, Dreiviertel davon ISKämpfer
(TWP 24.2.2022). Die geflohenen BewohnerInnen durften danach zurückkehren,
wobei es jedoch auch im Zuge der Kampfhandlungen und der Suche nach verschanzten ISKämpfern
zu Zerstörungen von Privathäusern und Geschäften gekommen war (MPF
8.2.2022). Mit Stand 4.2.2022 war noch nicht bekannt, wieviele Insassen des Sina'a-
Gefängnis - einschließlich der Minderjährigen - sich noch in Händen der SDF befanden (HRW
4.2.2022). Rund 550 mutmaßliche IS-Kämpfer waren von den SDF mit Stand 25.1.2022
wieder gefangen genommen worden (MEE 25.1.2022).
Während vorhergehende IS-Angriffe von kurdischen Quellen als unkoordiniert eingestuft
wurden, erfolgte die Aktion in al-Hassakah durch drei bestens koordinierte IS-Zellen. Die
Tendenz geht demnach Richtung seltenerer, aber größerer und komplexerer Angriffe,
während dezentralisierte Zellen häufige, kleinere Attacken durchführen. Der IS nützt dabei
besonders die große Not der in Lagern lebenden Binnenvertriebenen im Nordosten Syriens
aus, z.B. durch die Bezahlung kleiner Beträge für Unterstützungsdienste. Der IS ermordete
auch einige Personen, welche mit der Lokalverwaltung (bezüglich IS) zusammenarbeiteten
(TWP 24.2.2022). Der IS verübte zuletzt mehrere koordinierte und ausgeklügelte Anschläge
in Syrien und im Irak, was von einem Vertreter einer US-basierten Forschungsorganisation
als Indiz dafür gesehen wird, dass die vermeintlich verstreuten Schläferzellen des IS wieder
zu einer ernsthaften Bedrohung werden (NYT 25.1.2022).
Für weitere Informationen über die Aktivitäten des IS in Syrien siehe besonders das Kapitel
"Sicherheitslage".
Die kurdischen Sicherheitskräfte kontrollieren weiterhin knapp 30 Lager mit 11.000
internierten IS-Kämpfern (davon 500 aus Europa) sowie die Lager mit Familienangehörigen;
der Großteil davon in al-Hol mit knapp 60.000 Insassen (85 % syrische und irakische
Staatsangehörige sowie 9.000 aus anderen Ländern inkl. Österreich) (ÖB 1.10.2021). Das
Ziel des IS ist es, diese zu befreien, aber auch seinen Anhängern zu zeigen, dass man dazu
in der Lage ist, diese Personen herauszuholen. Die Kurden möchten gemäß Fabrice Balanche
nicht länger ohne Unterstützung und unter Lebensgefahr für den Westen deren Terroristen
in Schach halten (Zenith 11.2.2022). Human Rights Watch dokumentierte nach eigenen
Angaben die Bedingungen in den Unterkünften für ausländische Insassen in al-Hol und Roj,
die einer grausamen, erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung gleichkamen, und
kritisierte die unbefristete und willkürliche Inhaftierung (HRW 23.3.2021). Hinzukommen
steigende Spannungen innerhalb der Lager. Allein in al-Hol gab es im Jahr 2021 mehr als 90
Morde und 40 Mordversuche (OHCHR 9.3.2022).
Auf der folgenden Karte sind die militärischen Akteure der Region wie auch militärische und
infrastrukturelle Maßnahmen, welche zur Absicherung der kurdischen "Selbstverwaltung"
(Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) nötig wären, eingezeichnet:
Quelle: The Washington Institute for Near East Policy 15.3.2022
Türkische Angriffe und eine Finanzkrise destabilisieren den Nordosten Syriens. Die Grenze
zu Irakisch-Kurdistan und damit eine wichtige Handelsroute für Nordost-Syrien wurde
geschlossen (Zenith 11.2.2022). Nach den Präsidentschaftswahlen im Mai 2021 kam es in
verschiedenen Teilen des Gebiets zu Protesten, unter anderem wurde gegen den niedrigen
Lebensstandard und die Wehrpflicht der SDF (al-Sharq 27.8.2021) sowie steigende
Treibstoffpreise protestiert (AM 30.5.2021). In arabisch besiedelten Gebieten im
Gouvernement Hassakah und Manbij (Gouvernement Aleppo) starben Menschen, nachdem
Asayish in die Proteste eingriffen (al-Sharq 27.8.2021; vgl. AM 30.5.2021). Angesichts der
IS-Befreiungsaktion in al-Hassakah übten die USA Druck auf die Autonomieregion Kurdistan
im Irak aus, die Grenze wieder zu öffnen (Zenith 11.2.2022).
Für weitere Informationen zum Gouvernement Deir ez-Zour, das sich z.T. unter Kontrolle der
SDF befindet, s. auch Abschnitt "Provinz Deir ez-Zour/Syrisch-irakisches Grenzgebiet".
Provinz Deir ez-Zour / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet
Letzte Änderung: 22.04.2022
Dem sogenannten Islamischen Staat (IS) war es nach Kämpfen mit der Nusra-Front und
gegnerischen arabischen Stämmen im Juli 2014 gelungen, die Provinz Deir ez-Zour fast
vollständig einzunehmen. 2017 führte die syrische Armee mit Unterstützung Russlands und
des Iran größere Militäroperationen durch, die zur Rückeroberung der Stadt Deir ez-Zour
führten. Bis Ende 2017 verlor der IS den größten Teil seines Territoriums auf der Westseite
des Euphrat. Auf der östlichen Seite des Flusses waren die Syrian Democratic Forces (SDF)
bis Anfang 2019 in heftige Kämpfe mit dem IS verwickelt. Der IS kontrollierte damals noch
ein kleines Stück Land nahe der syrisch-irakischen Grenze (EASO 5.2020). Im März 2019
wurde das letzte vom IS gehaltene Gebiet, das Dorf Baghouz, von den SDF eingenommen
(EASO 5.2020; vgl. DZ 24.3.2019). In den Wochen davor hatten bereits Tausende IS-Kämpfer
aufgegeben und sich den SDF-Truppen gestellt. Gleichzeitig sind mehr als 70.000 Flüchtlinge
aus dem IS-Gebiet in dem von Kurden kontrollierten Lager Al-Hol untergekommen, wo
Hilfsorganisationen von einer dramatischen humanitären Lage berichten (DZ 24.3.2019
- dazu sowie zu den Sicherheitsaspekten siehe auch Unterkapitel "Nordost-Syrien" des
Kapitels "Sicherheitslage").
Das Gouvernement Deir Ez-Zour ist grob in zwei Kontrollbereiche unterteilt. Der westliche
Teil des Gouvernements - d.h. vor allem die Gebiete westlich des Euphrat - wird von der
syrischen Regierung und ihren iranischen und russischen Verbündeten kontrolliert. Dieses
Gebiet umfasst die wichtigsten Städte (Deir Ez-Zour, Mayadin und Al-Bukamal) und die
logistische Route, die die von der Regierung kontrollierten Gebiete mit der syrischirakischen
Grenze verbindet. Der östliche Teil des Gouvernements - die meisten Gebiete
östlich des Euphrat - wird von den kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräften
(SDF) und ihren Verbündeten in der US-geführten Koalition kontrolliert (JfS 6.1.2021). Die
wichtigsten Ölfelder Syriens befinden sich in dem von den SDF kontrollierten östlichen Teil
des Gouvernement Deir Ez-Zour, in dem hauptsächlich US-Truppen präsent sind (WI
17.8.2017, EASO 7.2021).
Die Bemühungen der Regierung Syriens, in den 2017 vom IS zurückeroberten Gebieten die
Kontrolle zu übernehmen, sind begrenzt, was der lokalen regierungsfreundlichen Miliz
National Defense Force (NDF) freie Hand ließ und zu Kriegsverbrechen und
Menschenrechtsverletzungen führte, darunter Plünderungen und die gewaltsame
Aneignung von zivilem Eigentum (WI 4.9.2020). Das vom Regime kontrollierte Deir ez-Zor
wird von einem komplizierten Geflecht lokaler und nicht-lokaler Sicherheitskräfte
bewacht, von denen viele auch wichtige soziale und wirtschaftliche Funktionen in ihren
Städten erfüllen. Stammesmilizen, die mit den lokalen Nationalen Verteidigungskräften
(NDF) verbündet sind, Geheimdienstoffiziere und ihre Milizen, Freiwillige und
Wehrpflichtige der Republikanischen Garde und der Syrischen Arabischen Armee (SAA)
aus dem Westen sowie eine Vielzahl ausländischer und syrischer Milizen, die unter
anderem mit dem Iran verbündet sind, bemannen Außenposten und verwalten Städte im
gesamten Gouvernement. Die Spannungen zwischen den lokalen Sicherheitskräften und
der von Damaskus aus kommandierten SAA haben in den Jahren nach der Befreiung der
Provinz vom IS stetig zugenommen (MEI 19.4.2021). Nach März 2019 ist die Präsenz der
Regierung von Syrien in den westlichen Teilen des Gouvernements Deir Ez-Zour begrenzt
geblieben, was zu iranisch-russischer Konkurrenz um Ressourcen und Land geführt hat (WI
4.9.2020).
Der IS ist zwar zerschlagen, verfügt aber noch immer über militärische Einheiten, die sich in
den Wüstengebieten Syriens und des Irak versteckt halten (DZ 24.3.2019; vgl. DIS 29.6.2020,
AM 17.6.2021) und von denen nach wie vor eine Gefahr ausgeht (FAZ 22.3.2019; vgl. AA
4.12.2020). Schläferzellen des IS sind in Syrien weiterhin aktiv, sowohl in syrischen Städten
als auch in ländlichen Gebieten, und besonders in den von der Regierung kontrollierten
Gebieten (DIS 29.6.2020). Generell nimmt die Präsenz des IS in Syrien wieder zu (AA
4.12.2020; vgl. AM 17.6.2021). Das Gebiet von Deir ez-Zour gilt als Kerngebiet der ISAktivität
in Syrien, vor allem die Gebiete im Süden von Bosaira in Richtung Diban (BBC
27.10.2019). Das Tal des Mittleren Euphrat und die Wüstengebiete im Gouvernement Deir
Ez-Zour werden als IS-Unterstützungsgebiet beschrieben, das seine Mitglieder nutzen
können, um Sicherheitsoperationen zu umgehen und Waffen, Ausrüstung und Personal
über die syrisch-irakische Grenze zu bringen (USDOD 3.11.2020). Der sogenannte IS nutzt
die Gebiete in der syrischen Wüste im Gouvernement Deir ez-Zour als sicheren Zufluchtsort
und als Basis für Angriffe auf die Streitkräfte der Regierung und die Syrian Democratic Forces
(SDF) (UNSC 3.2.2021; vgl. AM 29.12.2021) sowie auf iranische Milizen und russische
Streitkräfte. Auch wurde von Angriffen auf Arbeiter der Ölfelder in Deir ez-Zour berichtet
(AM 29.12.2021).
Die Sicherheitslage in Deir Ez-Zour wird durch Angriffe des IS gegen Regierungstruppen und
zuletzt heftigen Kämpfen mit diesen (NPA 13.11.2021, Asharq 30.8.2021, USDOS
16.12.2021), wie auch Angriffen des IS gegen die SDF und Operationen der SDF gegen den
IS, z.T. unter Beteiligung von US-Streitkräften (MEMO 29.12.2021, K24 23.9.2021, BAMF
20.12.2021, USDOD 3.11.2021), die Stammesproteste in den von den SDF kontrollierten
Teilen von Deir Ez-Zour (AM 30.5.2021; vgl. AM 22.2.2021) und durch die mit dem Iran
zusammenhängenden Sicherheitsvorfälle (hauptsächlich US-amerikanische und israelische
Luftangriffe) in den von der Regierung Syriens kontrollierten Teilen des Gouvernements
beeinträchtigt (AnA 13.1.2021, ACLED 13.10.2021, AC 18.5.2021; vgl. EASO 7.2021).
Für weitere Informationen zum Gebiet unter Kontrolle der SDF siehe auch Abschnitt
"Nordost-Syrien". Bezüglich der verschiedenen militärischen Akteure siehe auch Karten im
Kapitel "Sicherheitslage".
Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien
Letzte Änderung: 22.04.2022
Mit großer militärischer Unterstützung der russischen Luftwaffe und iranischer
Bodentruppen hat das Assad-Regime mittlerweile etwa zwei Drittel des Landes wieder
unter seine Kontrolle gebracht (KAS 8.2020; vgl. ÖB 1.10.2021). Im März 2021 kontrollierte
die Regierung den größten Teil des Landes, darunter die Großstädte Damaskus, Aleppo,
Homs und Hama sowie fast alle Hauptstädte der Gouvernements/Provinzen (ISW
26.4.2021). Ausländische Akteure und regierungstreue Milizen üben erheblichen Einfluss
auf Teile des Gebiets aus, das nominell unter der Kontrolle der Regierung steht (AM 23.2.2021; SWP 3.2020; FP 15.3.2021; EUI 13.3.2020). Die syrische Regierung hat nur begrenzten Einfluss auf ausländische militärische oder paramilitärische Organisationen, die in Syrien operieren, darunter russische Streitkräfte, die libanesische Hizbullah, der iranischen Revolutionswächter (IRGC) und regierungsnahe Milizen wie die National Defence Force (NDF) (USDOS 30.3.2021). Auch in formal vom Regime kontrollierten Gebieten sind die Machtverhältnisse mitunter komplex. Die tatsächliche Kontrolle liegt häufig bei lokalen bewaffneten Akteuren. Für alle Gebiete gilt weiter, dass eine pauschale Lagebeurteilung nicht möglich ist. Auch innerhalb einzelner Regionen unterscheidet sich die Lage von Ort zu Ort und von Betroffenen zu Betroffenen (AA 29.11.2021).
Die Sicherheitslage zwischen militärischer Situation und Menschenrechtslage
Die Regierung ist nicht in der Lage, alle von ihr kontrollierten Gebiete zu verwalten und
bedient sich verschiedener Milizen, um einige Gebiete und Kontrollpunkte in Aleppo,
Lattakia, Tartus, Hama, Homs und Deir ez-Zour zu kontrollieren (DIS/DRC 2.2019). Gebiete
in denen es viele Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten gab, wie Ost-Ghouta,
Damaskus oder Homs, werden nun auch verstärkt durch die Geheimdienste überwacht
(Üngör 15.12.2021). Unabhängig von militärischen Entwicklungen kam es im
Berichtszeitraum laut Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen zu massiven
Menschenrechtsverletzungen durch verschiedene Akteure in allen Landesteilen,
insbesondere auch in Gebieten unter Kontrolle des Regimes (AA 29.11.2021). Dazu gehören
Verschwindenlassen, Entführungen und willkürliche Verhaftungen durch Sicherheitsdienste
oder Milizen (AA 19.5.2020; vgl. UNHRC 14.8.2020). Regierungsnahe Milizen sind zwar
nominell loyal gegenüber dem Regime, können aber die Bevölkerung in den von ihnen
kontrollierten Gebieten oft frei ausbeuten (FH 16.9.2021). In ehemals vom IS kontrollierten
Gebieten im Gouvernement Deir ez-Zour sollen sich Milizen an Kriminalität und Erpressung
von Zivilisten beteiligt haben (AM 21.12.2020, ICG 13.2.2020). In Gebieten wie Daraʿa, der
Stadt Deir ez-Zour und Teilen von Aleppo und Homs sind Rückkehrer mit ihre Macht
missbrauchenden regimetreuen Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des
sogenannten IS, mit schweren Zerstörungen, oder einer Kombination aus allen drei
Faktoren konfrontiert (ICG 13.2.2020). Seit Anfang 2020 hat der IS Anschläge in fast allen
Landesteilen durchgeführt und ist weiterhin grundsätzlich in der Lage, dies landesweit zu
tun (AA 29.11.2021).
Gleichzeitig stellt sich im Zentralraum, insbesondere in den größeren Städten und deren
Einzugsgebieten wie Damaskus, Aleppo (allerdings nicht im Umland von Aleppo), Homs und
Hama, die (militärische) Sicherheitslage als relativ stabil dar. Im Osten der Provinz Homs ist
der IS aktiv; es kommt immer wieder zu Anschlägen und Überfällen auf Einheiten/Konvois
der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021). Der Westen des Landes, insbesondere Tartus und
Lattakia, war im Verlauf des Konflikts vergleichsweise weniger von aktiven Kampfhandlungen betroffen (AA 19.5.2020; vgl. ÖB 1.10.2021). Im Hinterland von Lattakia kommt es immer wieder zu einem Übergreifen des Konflikts von Idlib aus (ÖB 1.10.2021).
Die Streitkräfte des Regimes sind mit Ausnahme einiger Eliteeinheiten technisch sowie
personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze
nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben. Trotz des absoluten Rückgangs der Anzahl von
Kampfhandlungen in Folge der Rückeroberung weiter Landesteile ist nicht von einer
nachhaltigen Befriedung des Landes auszugehen (AA 29.11.2021).
Anfang des Jahres 2020 kam es in Damaskus und Damaskus-Umland zu wiederholten
Anschlägen, bei denen bestimmte Personen (Zivilisten oder Militärpersonal) mittels
Autobomben ins Visier genommen wurden (TSO 10.3.2020) und auch 2021 wurde von
gelegentlichen Anschlägen berichtet (COAR 25.10.2021). Darunter war z.B. die
Bombenexplosion eines Militärbusses am 20.10.2022 in einem dicht besiedelten Gebiet von
Damaskus, bei welcher 14 Personen getötet wurden (HRW 13.1.2022).
Israel führt immer wieder Luftangriffe auf Militärstützpunkte, die (auch) von den iranischen
Revolutionsgarden und verbündeten Milizen genützt werden, durch. Die Luftangriffe
wurden 2020 zunehmend auf Ziele in ganz Syrien ausgeweitet (ÖB 1.10.2021; vgl. AA
4.12.2020, UNHCR 14.8.2020). Im November 2021 wurde von zwei israelischen Angriffen
auf Ziele in der Umgebung von Damaskus berichtet (NPA 3.11.2021). Im Dezember 2021
führte Israel zwei Luftschläge auf den Hafen von Lattakia durch, welche mutmaßlich
Warenlager von Iran-nahen Milizen zum Ziel hatten und erhebliche Sachschäden
verursachten (Times of Israel 28.12.2021; vgl. MEE 7.12.2021). Der Hafen von Latakia ist der
wichtigste Hafen der syrischen Regierung (MEE 7.12.2021). Über ihn wird ein Großteil der
syrischen Importe in das vom Krieg zerrüttete Land gebracht (Times of Israel 28.12.2021).
Rund 25 km vom Hafen entfernt liegt die russische Luftwaffenbasis Hmeymim [Khmeimim].
Russland verfügt außerdem über ein umfangreiches Marinekontingent, das im syrischen
Hafen Tartus stationiert ist und die russischen Luft- und Bodenoperationen im Land
unterstützt (RFE/RL 14.9.2021; JP 7.12.2021).
Rechtsschutz / Justizwesen
Gebiete unter der Kontrolle des syrischen Regimes
Letzte Änderung: 22.04.2022
Die syrische Verfassung sieht Demokratie (Art. 1, 8, 10, 12), Achtung der Grund- und
Bürgerrechte (Art. 33-49), Rechtsstaatlichkeit (Art. 50-53), Gewaltenteilung sowie freie,
allgemeine und geheime Wahlen zum Parlament (Art. 57) vor. Faktisch haben diese
Prinzipien in Syrien jedoch nie ihre Wirkung entfaltet, da die Baath-Partei durch einen von
1963 bis 2011 geltenden, extensiv angewandten Ausnahmezustand wichtige
Verfassungsregeln außer Kraft setzte. Zwar wurde der Ausnahmezustand 2011 beendet,
aber mit Ausbruch des bewaffneten Konflikts in Syrien umgehend im Jahr 2012 durch eine
genauso umfassende und einschneidende „Anti-Terror-Gesetzgebung“ ersetzt. Sie führte
zu einem Machtzuwachs der Sicherheitsdienste und massiver Repression, mit der das
Regime auf die anfänglichen Demonstrationen und Proteste sowie den späteren
bewaffneten Aufstand großer Teile der Bevölkerung antwortete. Justiz und Gerichtswesen
sind von grassierender Korruption und Politisierung durch das Regime geprägt. Laut
geltender Verfassung ist der Präsident auch Vorsitzender des Obersten Justizrates (AA
29.11.2021).
Das Justizsystem Syriens besteht aus Zivil-, Straf-, Militär-, Sicherheits- und religiösen
Gerichten sowie einem Kassationsgericht. Gerichte für Personenstandsangelegenheiten
regeln das Familienrecht (SLJ 5.9.2016). Die Unabhängigkeit syrischer Straf-, Zivil- oder
Verwaltungsgerichte ist unverändert nicht gewährleistet, diese werden regelmäßig vom
Regime für politische Zwecke missbraucht. Zudem ist Korruption weit verbreitet. Vor allem
vor Strafgerichten ist eine effektive Verteidigung in Fällen mit politischem Hintergrund
praktisch nicht möglich. Immer wieder werden falsche Geständnisse durch Folter und
Drohungen durch die Anklage erpresst und seitens der Gerichte weitestgehend vorbehaltlos
akzeptiert. Die CoI (die von der UNO eingesetzte Independent International Commission of
Inquiry on the Syrian Arab Republic) kommt vor diesem Hintergrund in ihrem Bericht vom
März 2021 zu der Einschätzung, dass ein Recht auf ein ordentliches und faires Verfahren vor
syrischen nationalen Gerichten nicht gewährleistet ist und diese daher kein effektives Mittel
zur Gewährleistung von Recht und Gerechtigkeit sind (AA 29.11.2021). In Syrien
vorherrschend und von langer Tradition ist die Diskrepanz zwischen dem geschriebenen
Recht und der Implementierung der Gesetze in der Praxis. Die in den letzten Jahren noch
zugenommene und weit verbreitete Korruption hat diese Diskrepanz noch zusätzlich
verstärkt. Die Rechtsstaatlichkeit ist schwach ausgeprägt, wenn nicht mittlerweile gänzlich
durch eine Situation der Straffreiheit untergraben, in der Angehörige von
Sicherheitsdiensten ohne strafrechtliche Konsequenzen und ohne jegliche zivile Kontrolle
operieren können (ÖB 1.10.2021). Richter und Staatsanwälte müssen im Grunde
genommen der Ba'ath-Partei angehören und sind in der Praxis der politischen Führung
verpflichtet (FH 4.3.2020).
Tausende von Gefangenen wurden monatelang oder jahrelang ohne Kontakt zur Außenwelt
("incommunicado") festgehalten, bevor sie ohne Anklage oder Gerichtsverfahren
freigelassen wurden, während viele andere im Gefängnis starben (USDOS 30.3.2021).
Anti-Terror-Gerichte (CTC)
2012 wurde in Syrien ein Anti-Terror-Gericht (Counter Terrorism Court - CTC) eingerichtet.
Dieses soll Verhandlungen aufgrund "terroristischer Taten" gegen Zivilisten und
Militärpersonal führen, wobei die Definition von Terrorismus im entsprechenden Gesetz
sehr weit gefasst ist (SJAC 9.2018). Anklagen gegen Personen, die vor das CTC gebracht
werden, beinhalten: das Finanzieren, Fördern und Unterstützen von Terrorismus;
Teilnahme an Demonstrationen; das Schreiben von Stellungnahmen auf Facebook; die
Kontaktierung von Oppositionellen im Ausland; Waffenschmuggel an bewaffnete
Oppositionelle; das Liefern von Nahrungsmitteln, Hilfsgütern und Medizin in von der
Opposition kontrollierte Gebiete (NMFA 5.2020).
Das Syrian Network for Human Rights (SN4HR) und andere Quellen betonen, dass sowohl
der Gerichtsprozess im CTC als auch die Gesetzgebung, auf deren Basis dieser Gerichtshof
agiert offenkundig internationales Menschenrecht und fundamentale rechtliche Standards
verletzen. Diese Verletzungen beinhalten: willkürliche Verhaftungen, unter Folter
erzwungene Geständnisse als Beweismittel, geschlossene Gerichtssitzungen unter
Ausschluss der Medien, das Urteilen des Gerichts über Zivilisten, Minderjährige und
Militärangehörige gleichermaßen, die Ernennung der Richter durch den Präsidenten, die
Nicht-Zulässigkeit von ZeugInnen der/des Angeklagten, usw. (NMFA 6.2021, vgl. USDOS
30.3.2021). Das normale juristische Prozedere gilt bei keinem der Fälle vor den CTCs. Eine
Berufung gegen Urteile ist nicht möglich (BS 23.2.2022).
Mangels Definition von "Terrorismus" und mit "Terrorismus" als Generalvorwurf gegen jede
Form von abweichender Meinung werden die Anti-Terrorismus-Gerichte als "politisch"
kategorisiert (BS 23.3.2022): Sie dienen insbesondere dem Zweck, politische Gegner und
Personen, die sich für politischen Wandel und Menschenrechte einsetzen, auszuschalten.
Demnach sollen seit Errichtung dieser Gerichte bis Oktober 2020 schätzungsweise
mindestens 90.560 Fälle vor diesen Gerichten verhandelt worden sein. Dabei sollen
mindestens 20.641 Gefängnisstrafen und mehr als 2.147 Todesurteile verhängt worden
sein, davon der Großteil in Abwesenheit der Angeklagten. Vor diesen Gerichten sei
Angeklagten in Verfahren, die oftmals nur wenige Minuten dauern, ein Rechtsbeistand
verwehrt; sie würden nach glaubhaften Aussagen ehemaliger Häftlinge oftmals gezwungen,
Geständnisse ohne Kenntnis des Textes blind zu unterschreiben. Viele der von diesen
Gerichten Verurteilten erhielten laut SNHR Haftstrafen zwischen 10 und 20 Jahren,
politische Dissidenten häufig bis zu 30 Jahre. In letzteren Fällen sei es wiederholt auch zu
außergerichtlichen Hinrichtungen gekommen (AA 29.11.2021). 10.000 Fälle sind demnach
noch anhängig (BS 23.2.2022).
DIe „Terrorismus-Gerichte“ sind außerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens tätig.
Versteckte Internierungslager, in denen unmenschliche Bedingungen vorherrschen, sind
weit verbreitet. Auch Kinder und Frauen werden in diesen Internierungszentren
festgehalten. Im Mai 2018 veröffentlichte die syrische Regierung Listen mit tausenden
Namen von in Internierungslagern verstorbenen Bürgern. Eine Aufklärung dieser Todesfälle
steht aus (ÖB 1.10.2021).
Das Eigentum von Personen, die wegen gewisser Delikte verurteilt wurden, kann vom Staat
im Rahmen des zur Terrorismusbekämpfung erlassenen Gesetzes Nr. 19 konfisziert werden.
Durch mehrere Dekrete wurde die Regierung 2019 zur Konfiszierung des Eigentums von
„Terroristen“ ermächtigt. Als Terroristen werden vor allem auch viele Oppositionelle
gelistet. Umfasst ist auch das Eigentum der Familien der Verurteilten und in einigen Fällen
sogar ihrer Freunde (ÖB 1.10.2021).
Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen
Letzte Änderung: 25.04.2022
Anmerkung:
In den folgenden Kapiteln kann aufgrund der Vielzahl an bewaffneten Gruppen nur auf die
Rekrutierungspraxis eines Teils der Organisationen eingegangen werden.
Darin wird der Begriff „Militärdienst“ als Überbegriff für Wehr- und Reservedienst
verwendet. Wo es die Quellen zulassen, wird versucht, klar zwischen Wehr- und
Reservedienst bzw. zwischen Desertion und Wehrdienstverweigerung zu unterscheiden.
Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst
Letzte Änderung: 25.04.2022
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung
eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB 29.9.2020). Laut
Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das
Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR
12.5.2007). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene
Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 29.11.2021).
Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus
medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind.
Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch
genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren
sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie
sind. Beobachtet wurde, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen weniger stark in
Anspruch nimmt. Die im März 2020 und Mai 2021 vom Präsidenten erlassenen
Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das
Militärstrafgesetzbuch, darunter Fahnenflucht; die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt
davon unberührt (ÖB 1.10.2021).
Auch Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet
und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien
zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Laut Berichten und Studien
verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der
Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse
(AA 29.11.2021).
Palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der
Wehrpflicht, dienen jedoch in der Regel in der Palästinensischen Befreiungsarmee
(Palestinian Liberation Army - PLA) unter palästinensischen Offizieren. Diese ist jedoch de
facto ein Teil der syrischen Armee (AA 13.11.2018; vgl. FIS 14.12.2018).
Zusätzlich gibt es die Möglichkeit eines freiwilligen Militärdienstes. Frauen können ebenfalls
freiwillig Militärdienst leisten (CIA 17.8.2021; vgl. FIS 14.12.2018).
Die syrische Regierung arbeitet daran, Milizen zu demobilisieren oder sie in ihre regulären
Streitkräfte zu integrieren, während sie gleichzeitig militärische Operationen durchführt
(CIA 17.8.2021).
Die Umsetzung
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der
Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter
erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank
erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung
von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der
Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17
Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen
Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den
Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches
Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen
durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen
verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend
ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-
tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand
werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft
in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen
damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere
Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).
Rekrutierungskampagnen werden aus allen Gebieten unter Regimekontrolle gemeldet,
besonders auch aus wiedereroberten Gebieten (EUAA 11.2021). Die Regierung hat in
vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel
Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und
Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den
Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen
mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden
und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020).
Ein „Herausfiltern“ von Militärdienstpflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an
einem der zahlreichen Checkpoints ist weit verbreitet (FIS 14.12.2018). In Homs führt die
Militärpolizei beispielsweise stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch.
Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu
werden (EB 3.6.2020). Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn
junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an
Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für
den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch
Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind
oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der
Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Während manche Quellen davon ausgehen,
dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z.B. dem Umland von Damaskus,
Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen
stattfinden (DIS 5.2020; vgl. EB 3.6.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun
weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden(DIS 5.2020).
Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert,
wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch
digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das
Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht. Generell werden
die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An-
oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017). Berichten zufolge wurden
Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert
(FIS 14.12.2018).
Reservedienst
Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach
Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst
als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven
Dienst einberufen werden (TIMEP 22.8.2019; vgl. STDOK 8.2017). Es liegen einzelne
Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die
betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z.B. für Ärzte, Panzerfahrer,
Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung). Die
Behörden ziehen vornehmlich Männer bis zu einem Alter von 27 Jahren ein, während Ältere
sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise
angehoben und auch Männer bis zu einem Alter von 55 oder sogar 62 Jahren, abhängig vom
Rang, eingezogen, bzw. konnten Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee
nicht verlassen (ÖB 29.9.2020; vgl. FIS 14.12.2018, vgl. NMFA 5.2020). Die Altersgrenze
hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen
der Regierung ab als von allgemeinen Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß
der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen
berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018
bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-
jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein,
wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020).
Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung
Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter
Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (AA
29.11.2021). Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des
Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019).
Glaubhaften Berichten zufolge gibt es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische
Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 4.12.2020).
Vor 2011 lag die Dauer der Wehrpflicht zwischen eineinhalb und zweieinhalb Jahren. Seit
2011 leisten die meisten Reservisten und Militärangehörigen ihren Dienst auf unbestimmte
Zeit (NMFA 6.2021), nachdem die syrische Regierung die Abrüstung von Rekruten einstellte
(DIS 5.2020; vgl. ÖB 7.2019). Nachdem die Regierung große Teile des Gebiets von
bewaffneten Oppositionellen zurückerobert hatte, wurde mit der Entlassung der ältesten
Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren (DIS 5.2020, vgl. NMFA
6.2021). Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000
Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten
daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren
Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr
gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später
eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue
Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte, und so die vorherige
Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut
International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Im November 2020 erließ
die Armeeführung der syrischen Regierung zwei Verwaltungserlässe, mit denen der
Militärdienst für bestimmte Kategorien von Offizieren und Ärzten, die bis Januar 2021 zwei,
bzw. siebeneinhalb Jahre als Reservisten gedient haben, faktisch beendet wird
(COAR 24.11.2020).
Ende März 2020 beendeten zwei Erlässe mit 7. April 2020 den
Militärdienst für bestimmte Kategorien von ehemals Wehrpflichtigen, welche nach dem
Wehrdienst nicht abgerüstet worden waren, sowie von einberufenen Reservisten. Zwei
weitere Erlässe - Berichten zufolge im November 2020 - beendeten den Einsatz und die
Einberufung bestimmter Profile von Reservisten (EUAA 11.2021).
Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch weiterhin über den verpflichtenden
Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020, vgl. NMFA 6.2021). Gleichzeitig werden Berichten aus dem
Jahr 20201 zufolge weiterhin neue Rekruten und Reservisten eingezogen, und
Rekrutierungskampagnen werden aus allen Gebieten unter Regimekontrolle gemeldet,
besonders auch aus wiedereroberten Gebieten. Alle Eingezogenen können laut European
Union Agency for Asylum (EUAA) potenziell an die Front abkommandiert werden. Ihr Einsatz
hängt vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der
Eingezogenen sowie ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab. Eingezogene Männer aus "versöhnten" Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Disloyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EUAA 11.2021). [Anm.: In welcher Relation die Zahl der Reservisten zu den Wehrpflichtigen steht, geht aus dem Bericht nicht hervor.]
Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs
ohne Ableistung des Wehrdiensts
Letzte Änderung: 25.04.2022
Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum
Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS
5.2020; vgl. FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen,
welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche
Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit
vorübergehenden Erkrankungen können den Wehrdienst aufschieben, wobei die
Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020). Diese Ausnahmen sind
theoretisch immer noch als solche definiert, in der Praxis gibt es jedoch mittlerweile mehr
Beschränkungen und es ist unklar, wie die entsprechenden Gesetze derzeit umgesetzt
werden (FIS 14.12.2018). Es scheint, dass es schwieriger wird, einen Aufschub zu erlangen,
je länger der Konflikt andauert (STDOK 8.2017; vgl. FIS 14.12.2018). Das Risiko der Willkür
ist immer gegeben (STDOK 8.2017; vgl. DRC/DIS 8.2017).
Seit einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im Juli 2019 ist die Aufschiebung des
Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich und kann durch Befehl
des Oberbefehlshabers beendet werden (ÖB 29.9.2020). Es gibt Beispiele, wo Männer sich
durch die Bezahlung von Bestechungsgeldern vom Wehrdienst freigekauft haben, was
jedoch keineswegs als einheitliche Praxis betrachtet werden kann. So war es vor dem
Konflikt gängige Praxis, sich vom Wehrdienst freizukaufen, was einen aber nicht davor
schützt – manchmal sogar Jahre danach – trotzdem eingezogen zu werden (STDOK 8.2017).
Auch berichtet eine Quelle, dass Grenzbeamte von Rückkehrern trotz entrichteter
Befreiungsgebühr Bestechungsgelder verlangen könnten (DIS 5.2020).
Befreiungsgebühr für Syrer mit Wohnsitz im Ausland
Das syrische Militärdienstgesetz erlaubt es syrischen Männern und registrierten
Palästinensern aus Syrien im Militärdienstalter (18-42 Jahre) und mit Wohnsitz im Ausland,
eine Gebühr ("badal an-naqdi") zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit und nicht
wieder einberufen zu werden. Bis 2020 konnten Männer, die sich mindestens vier
aufeinanderfolgende Jahre außerhalb Syriens aufgehalten haben, einen Betrag von 8.000
US-Dollar zahlen, um vom Militärdienst befreit zu werden (NMFA 6.2021 vgl. DIS 5.2020,
vgl. EB 9.2.2019), wobei noch weitere Konsulargebühren anfallen (EB 9.2.2019). Im
November 2020 wurde die Dauer des erforderlichen Auslandaufenthalts auf ein Jahr
reduziert, und die Gebühr auf 10.000 USD erhöht. Wer zwei, drei, vier oder mehr Jahre im
Ausland wohnhaft ist, muss 9.000, 8.000 bzw. 7.000 USD bezahlen, um befreit zu werden.
Wer außerhalb Syriens lebt und als Reservist einberufen wird, kann eine Befreiung erhalten,
indem er 5.000 USD bezahlt (NMFA 6.2021). Für außerhalb Syriens geborene Syrer im
wehrpflichtigen Alter, welche bis zum 19. Lebensjahr im Ausland lebten, gilt bis zum Alter
von 25 Jahren eine Befreiungsgebühr von 2.500 USD (DIS 5.2020; vgl. AA 13.11.2018). Ein
Besuch von bis zu drei Monaten in Syrien wird dabei nicht als Unterbrechung des
Aufenthalts einer Person in dem fremden Land gewertet. Für jedes Jahr, in welchem ein
Wehrpflichtiger weder eine Befreiungsgebühr bezahlt, noch den Wehrdienst aufschiebt
oder sich zu diesem meldet, fallen zusätzliche Gebühren an. Eine Quelle berichtet, dass auch
Männer, die Syrien illegal verlassen haben, durch die Zahlung der Gebühr von 8.000 USD
vom Militärdienst befreit werden können (DIS 5.2020). Diese müssen ihren rechtlichen
Status allerdings zuvor bei einer syrischen Auslandsvertretung bereinigen (DIS 10.2019). Das
deutsche Auswärtige Amt berichtet dagegen, dass nicht bekannt sei, ob diese Regelung
auch für syrische Männer gilt, die seit Beginn des Bürgerkriegs ins Ausland geflüchtet sind
(AA 13.11.2018).
Informationen über den Prozess der Kompensationszahlung können auf den Webseiten der
syrischen Botschaften in Ländern wie Deutschland, Ägypten, Libanon und der Russischen
Föderation aufgerufen werden. Bevor die Zahlung durchgeführt wird, kontaktiert die
Botschaft das syrische Verteidigungsministerium, um eine Genehmigung zu erhalten. Dabei
wird ermittelt, ob die antragstellende Person sich vom Wehrdienst freikaufen kann (NMFA
5.2020). Laut z.B. der syrischen Botschaft in Berlin müssen u.a. entweder ein Reisepass oder
Personalausweis sowie eine Bestätigung des Ein- und Ausreise vorgelegt werden (SB Berlin
o.D.). Offiziell ist dieser Prozess relativ einfach, jedoch dauert er in Wirklichkeit sehr lange,
und es müssen viele zusätzliche Kosten aufgewendet werden, unter anderem
Bestechungsgelder für die Bürokratie. Beispielsweise müssen junge Männer, die mit der
Opposition in Verbindung standen, aber aus wohlhabenden Familien kommen,
wahrscheinlich mehr bezahlen, um vorab ihre Akte zu bereinigen (Balanche 13.12.2021).
Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts
Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74
und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die
Ableistung des Militärdienstes überschritten und den Militärdienst nicht abgeleistet haben,
aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit
sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in Syrischen Pfund
leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des
Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine
einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die
Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2.000 USD oder das Äquivalent in Syrischen
Pfund nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird als ganzes Jahr
gerechnet (SANA 8.11.2017; vgl. SLJ 10.11.2017, PAR 15.11.2017). Eine Änderung des
syrischen Wehrpflichtgesetzes (Art. 97) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu
beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur
Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in
Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens
nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren
unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern. Im Februar
2021 veröffentlichte das Ministerium für Medien und Information ein Video des Chefs der
Abteilung für die Befreiung vom Militärdienst der syrischen Armee, in dem dieser die
sofortige Beschlagnahme von Vermögenswerten ohne vorherige Benachrichtigung
ankündigte, sofern die Zahlung des Ersatzgeldes nicht bis spätestens drei Monate nach
Vollendung des 43. Lebensjahres erfolge. Eine Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten
bzw. gerichtlich überprüfen zu lassen, fehlt laut Human Rights Watch. Außerdem wird
dadurch ein zusätzliches Rückkehrhindernis geschaffen (AA 29.11.2021).
Geistliche und Angehörige von religiösen Minderheiten
Christliche und muslimische Geistliche können weiterhin aus Gewissensgründen vom
Militärdienst befreit werden, wobei muslimische Führer dafür eine Abgabe bezahlen
müssen (USDOS 12.5.2021). Es gibt Berichte, dass in einigen ländlichen Gebieten
Mitgliedern von religiösen Minderheiten die Möglichkeit geboten wurde, sich lokalen
regierungsnahen Milizen anzuschließen, anstatt ihren Wehrdienst abzuleisten. In den
Städten gab es diese Möglichkeit im Allgemeinen jedoch nicht und Mitglieder von
Minderheiten wurden unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund zum Militärdienst
eingezogen (FIS 14.12.2018). Obwohl die Wehrpflicht laut Verfassung auch für die drusische
Gemeinschaft gilt, wurde sie von der Regierung im Gegenzug für die Unterstützung durch
die Gemeinschaft weitgehend ausgeklammert. Seit Mai 2020 waren die syrischen
Sicherheitskräfte jedoch bestrebt, diejenigen zu verfolgen, die vor dem Militärdienst
geflohen waren. Im Februar 2021 wurden in Sweida schätzungsweise 20.000 Personen zum
Militärdienst gesucht, die unter dem Schutz bewaffneter Gruppierungen standen (COAR
24.11.2020).
Amnestien mit folgendem Militärdienst
Letzte Änderung: 25.04.2022
Seit 2011 hat der syrische Präsident für Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen,
Wehrdienstverweigerer und Deserteure eine Reihe von Amnestien erlassen, die
Straffreiheit vorsahen, wenn sie sich innerhalb einer bestimmten Frist zum Militärdienst
melden (STDOK 8.2017; vgl. TIMEP 6.12.2018, SHRC 24.1.2019, AA 4.12.2020, DIS 5.2020).
Über die Umsetzung und den Umfang der Amnestien für Wehrdienstverweigerer und
Deserteure ist nur sehr wenig bekannt (DIS 5.2020). Menschenrechtsorganisationen und
Beobachter haben die Amnestien wiederholt als intransparent und unzureichend kritisiert
(STDOK 8.2017; vgl. EB 3.4.2020), sowie als bisher wirkungslos (AA 4.12.2020; vgl. DIS
5.2020) und als ein Propagandainstrument der Regierung (DIS 5.2020; vgl. EB 3.4.2020). Im
Laufe des Jahres 2019 häuften sich Berichte über Regimekräfte, die gegen frühere
Amnestievereinbarungen verstießen, indem sie Razzien und Verhaftungskampagnen
durchführten, die sich auf Zivilisten und ehemalige Angehörige bewaffneter
Oppositionsfraktionen in Gebieten konzentrierten, die zuvor Versöhnungsvereinbarungen
mit dem Regime unterzeichnet hatten (USDOS 11.3.2020; vgl. DIS 5.2020). Es gibt auch
Hinweise darauf, dass die Namen von Personen, die sich im Rahmen einer Amnestie
gemeldet haben, fast sofort auf Listen gesetzt werden, um zum Militärdienst einberufen zu
werden (DIS 5.2020, vgl. NMFA 6.2021). Einer Quelle zufolge respektiere die syrische
Regierung Amnestien nun eher als früher (DIS 5.2020). Das Narrativ der Amnestie oder der
milden Behandlung ist höchst zweifelhaft: Es spielt nicht nur eine Rolle, ob zum Beispiel
Familienmitglieder für die FSA (Freie Syrische Armee) oder unter den Rebellen gekämpft
haben, sondern das Regime hegt auch ein tiefes Misstrauen bezüglich des Herkunftsgebiets.
Es spielt eine große Rolle, woher man kommt, ob man aus Gebieten mit vielen
Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten geflohen ist, zum Beispiel Ost-Ghouta,
Damaskus oder Homs (Üngör 15.12.2021). Auch wenn Assad allen gesagt hat, dass es eine
Amnestie geben wird, kann er nicht kontrollieren, was vor Ort passiert, und Vergeltung ist
ein weitverbreitetes Phänomen (Balanche 13.12.2021).
Am 2.5.2021 erließ Präsident Assad mit Gesetzesdekret Nr. 13/2021 erneut eine
Generalamnestie, die für Verbrechen, die vor diesem Datum begangen wurden, gilt (SANA
2.5.2021a). Dabei handelt es sich bereits um die 18. Amnestie seit Ausbruch des syrischen
Bürgerkriegs im Frühjahr 2011 (SD 10.5.2021). Sie wurde kurz vor den syrischen
Präsidentschaftswahlen Ende Mai 2021 erlassen (SD 10.5.2021; vgl. Reuters 11.5.2021). Das
Dekret betrifft unterschiedliche Straftaten, darunter Straftaten in Zusammenhang mit der
Anti-Terrorismus-Gesetzgebung von 2012, aber nicht jene "terroristischen" Straftaten, die
Tote zur Folge hatten (MEE 2.5.2021; vgl. SANA 2.5.2021b). "Terrorismus" ist ein Begriff, mit
dem die Regierung die Aktivitäten von Rebellen und oppositionellen Aktivisten beschreibt
(MEE 2.5.2021). Straftäter im Bereich Drogenhandel und Schmuggel sowie
Steuerhinterziehung können ebenfalls von der Amnestie profitieren. Auch Deserteure
können die Amnestie nutzen, wenn sie sich innerhalb von drei Monaten bei Aufenthalt in
Syrien und innerhalb von sechs Monaten bei Aufenthalt im Ausland stellen (MEE 2.5.2021;
vgl. SANA 2.5.2021b). Durch das Dekret werden Strafen gänzlich oder teilweise erlassen,
oder auch Haftstrafen durch eine Strafzahlung ersetzt (SD 10.5.2021). [Anm:
Wehrdienstverweigerung und Überlaufen zum Feind werden von dem Dekret nicht erfasst.
Die Verpflichtung zum Wehrdienst wird durch das Dekret nicht aufgehoben.]
Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutze das Regime Schlupflöcher in den
Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach Einreise wieder auf
Einberufungslisten zu setzen AA 29.11.2021).
Am 10.10.2020 erließ die sog. „Selbstverwaltung“ in Nordost-Syrien eine
„Generalamnestie“ für Strafgefangene. Bereits am 15.10.2020 sollen 631 Häftlinge auf
Grundlage des Dekrets entlassen worden sein, darunter auch mutmaßliche ISSympathisanten.
Strafen für bestimmte Vergehen sollen zudem halbiert werden (AA
4.12.2020).
Zu Amnestien der syrischen Regierung für Reservepflichtige siehe Unterkapitel "Die syrischen
Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst".
Wehrdienstverweigerung / Desertion
Letzte Änderung: 25.04.2022
Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen
bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der
Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl
von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der
bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte
des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten zehntausende Soldaten und
Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der
zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und
relativ wenige werden derzeit deswegen verhaftet (Landinfo 3.1.2018).
In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die
Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder
gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu
entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die
nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche
militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer
zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder
regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der
Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des
Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt
(AA 29.11.2021).
Rückkehrüberlegungen syrischer Männer werden auch durch ihren Militärdienststatus
beeinflusst (DIS/DRC 2.2019). Laut Berichten und Studien verschiedener
Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der
Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse
(AA 29.11.2021).
Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern
In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon
aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird.
Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im
Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im
besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis. Ob die Entrichtung einer "Befreiungsgebühr" wirklich dazu führt, dass man nicht eingezogen wird, hängt vom Profil der Person ab. Dabei sind junge, sunnitische Männer im wehrfähigen Alter am stärksten im Verdacht der Behörden, aber sogar aus Regimesicht untadelige Personen wurden oft verhaftet (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt "ihr Land zu verteidigen".
Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das
syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium
das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit
geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation
einnehmen kann (Balanche 13.12.2021).
Syrische Männer im wehrpflichtigen Alter können sich nach syrischem Recht durch Zahlung
eines sogenannten Wehrersatzgeldes von der Wehrpflicht freikaufen. Diese Regelung findet
jedoch nur auf Syrer Anwendung, die außerhalb Syriens leben. Das Wehrersatzgeld ist nach
einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 gestaffelt nach der Anzahl der
Jahre des Auslandsaufenthalts und beträgt 10.000 USD (ein Jahr), 9.000 USD (zwei Jahre),
8.000 USD (drei Jahre) bzw. 7.000 USD (vier Jahre). Bei einem Aufenthalt ab fünf Jahren
kommen pro Jahr weitere 200 USD Strafgebühr hinzu. Laut der Einschätzung verschiedener
Organisationen dient die Möglichkeit der Zahlung des Wehrersatzgeldes für Auslandssyrer
maßgeblich der Generierung ausländischer Devisen (AA 29.11.2021).
Für nähere Informationen siehe auch das Unterkapitel "Befreiung, Aufschub,
Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des
Wehrdiensts".
Im Dezember 2019 trat eine Bestimmung in Kraft, wonach wehrfähige Männer, welche den
Wehrdienst bis zu einem Alter von 42 Jahren nicht abgeleistet haben, eine
Befreiungsgebühr von 8.000 USD bezahlen müssen, um einer Beschlagnahmung ihres
Vermögens, bzw. des Vermögens ihrer Ehefrauen oder Kinder zu entgehen (DIS 5.2020, vgl.
AA 29.11.2021).
Gesetzliche Lage und aktuelle Handhabung
Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Art. 98-99 ist
festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und
bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA
29.11.2021). Während manche die Ergreifung eines Wehrdienstverweigerers mit
garantierter Folter und Todesurteil gleichsetzen (Landinfo 3.1.2018), sagen andere, dass
Betroffene sofort eingezogen würden (DIS 5.2020; vgl. Landinfo 3.1.2018). Quellen
berichten jedoch auch, dass gefasste Wehrdienstverweigerer riskieren, von den syrischen
Behörden vor der Einberufung inhaftiert zu werden (DIS 5.2020). Die Konsequenzen hängen
offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018; vgl. DIS 5.2020). Berichten zufolge betrachtet
die Regierung Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende
Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder
Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen (STDOK
8.2017).
Gemäß Art. 101 wird Desertion mit fünf Jahren Haft oder mit fünf bis zehn Jahren Haft
bestraft, wenn der Deserteur das Land verlässt. Die Todesstrafe ist gemäß Art. 102 bei
Überlaufen zum Feind und gemäß Art. 105 bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes
vorgesehen (AA 29.11.2021). Eine Quelle berichtet, dass Deserteure zwar in früheren
Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre
Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden
Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt
(DIS 5.2020). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei
Familien von "high profile"-Deserteuren der Fall sein, also z.B. solche Deserteure, die
Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben
(Landinfo 3.1.2018; vgl. DIS 5.2020). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs,
Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020). In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten zudem viele Deserteure und Überläufer, denen durch die "Versöhnungsabkommen" Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020).
Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und
Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012)
der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vgl. DIS 5.2020). Dazu kommen Ressentiments der
in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land
verlassen haben und sich damit "gerettet" haben, während die verbliebenen jungen
Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021).
Bzgl. Konfiszierungsmöglichkeiten im Rahmen des Anti-Terror-Gesetzes siehe Kapitel
"Grundversorgung und Wirtschaft".
Im Rahmen sog. lokaler „Versöhnungsabkommen“ in den vom Regime zurückeroberten
Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus dem Libanon hat das Regime
Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde
jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten.
Ein Monitoring durch VN oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht
möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als
Flüchtlinge identifiziert werden. Sowohl in Ost- Ghouta als auch in den südlichen
Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.11.2021) Zudem sind in den "versöhnten Gebieten" Männer im entsprechenden Alter auch mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert. In manchen dieser Gebiete drohte die Regierung auch, dass die Bevölkerung keinen Zugang zu humanitärer Hilfe erhält, wenn diese nicht den Regierungseinheiten beitreten (FIS 14.12.2018).
Zu den "Versöhnungsabkommen" siehe auch Abschnitt "Versöhnungsabkommen" im Kapitel
"Sicherheitslage".
Die Informationslage bezüglich wehrpflichtiger Rückkehrer ist widersprüchlich: Nach
Einschätzung von Human Rights Watch nutze das Regime Schlupflöcher in den
Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach Einreise wieder auf
Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern,
die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar in
den Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021). Einem Experten sind hingegen keine
Berichte von Wehrdienstverweigerern bekannt, die aus dem Ausland in Gebiete unter
Regierungskontrolle zurückgekehrt sind. Ihm zufolge kann nicht mit Sicherheit gesagt
werden, was in so einem Fall passieren würde. Laut einem Experten wäre es
aber wahnsinnig, als Wehrdienstverweigerer aus Europa ohne Sicherheitsbestätigung und
politische Kontakte zurückzukommen. Wenn keine "Befreiungsgebühr" bezahlt wurde,
müssen zurückgekehrte Wehrdienstverweigerer ihren Wehrdienst ableisten. Wer die
Befreiungsgebühr entrichtet hat und offiziell vom Wehrdienst befreit ist, wird nicht
eingezogen. Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit
sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist
der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert,
sondern mit oder ohne mangelhaftem Training direkt an die Front geschickt
wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für das Sich-Entziehen vom Wehrdienst ist oft Haft
und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei
Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt
wurden (als "Kanonenfutter"), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör
wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann
das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch
Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder
sogar schlechter). Selbst für privilegierte Leute mit guten Verbindungen zum Regime ist es
nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst
jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch
nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee
unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour
würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und
danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021).
Rekrutierung von Minderjährigen durch verschiedene Organisationen
Letzte Änderung: 25.04.2022
Das Gesetz N. 11/2013 kriminalisiert alle Formen von Rekrutierung und Einsatz von Kindern
unter 18 Jahren durch die Syrischen Streitkräfte und bewaffnete Oppositionsgruppen.
Allerdings hat die Regierung keine Bemühungen gezeigt, den Einsatz von Kindersoldaten
durch Regierungs- und regierungstreue Milizen, bewaffnete Oppositionsgruppen und
terroristische Organisationen zu verfolgen. Die Regierung berichtete nicht von der
Untersuchung, Verfolgung oder Verurteilung von verdächtigten Menschenhändlern, noch
wurden Regierungsmitarbeiter, die an Menschenhandel, inklusive der Rekrutierung von
Kindern, beteiligt waren untersucht, verfolgt oder verurteilt. Die Regierung führt weiterhin
Verhaftungen und Inhaftierungen durch und misshandelte Opfer von Menschenhandel
schwer - inklusive Kindersoldaten - und bestrafte diese für illegale Taten, zu denen sie von
Menschenhändler gezwungen wurden. Sie hat regelmäßig Kinder für die vermeintliche
Verbindung zu bewaffneten Gruppen inhaftiert, vergewaltigt, gefoltert und exekutiert. Sie
hat keine Bemühungen gezeigt, diesen Kindern irgendwelche Schutzdienste zur Verfügung
zu stellen. Die Regierung schützte Kinder auch nicht vor der Rekrutierung und dem Einsatz
durch bewaffnete Oppositionsgruppen und Terrororganisationen. (USDOS 1.7.2021).
Die Rekrutierung und der Einsatz von Kindersoldaten ist Regierungslinie ("government
policy or pattern"). (USDOS 1.7.2021). Der UN-Sicherheitsrat konnte die Rekrutierung von
insgesamt 1.423 Kindern zwischen 1.7.2018 und 30.6.2020 in 11 von 14 Gouvernements
verifizieren, 73 % der Fälle wurden im Nordwesten Syriens (Idlib, Aleppo und Hama)
bestätigt und 26 % im Nordosten (Raqqa, Hassakah und Der az-Zour). Zum Zeitpunkt der
Rekrutierung waren 250 Kinder (18 %) unter 15 Jahre alt (UNSC 23.4.2021). In ihrem 2021
Bericht über Kinder und bewaffneten Konflikt verifizierten die UN die Rekrutierung und den
Einsatz von 813 Kindern (777 Buben, 36 Mädchen) von Jänner bis Dezember 2020 durch: -
Hay’at Tahrir ash-Sham (390); syrische bewaffnete oppositionelle Gruppen (früher als Freie
Syrische Armee - FSA) bekannt) (170); - die Kurdischen Volksverteidigungseinheiten und
Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) (119) unter dem Schirm der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF); - regierungstreue Milizen (42); - Ahrar ash-Sham (31), Nur ad-
Din az-Zanki (3) und die Armee des Islam (Jaysh al-Islam) (3), alle dem Namen nach unter
dem Schirm der oppositionellen Syrischen Nationalen Armee (SNA) operierend; - die
Patriotische Revolutionäre Jugendbewegung (YDG-H) (30); - die Internen Sicherheitskräfte
(13); - Hurras ad-Din (6); - IS (sog. Islamischer Staat) (4); - syrische Regierungskräfte (2). Die
Fälle wurden vor allem in Idlib (477) und Aleppo (119) verifiziert. Von 813 Kindern wurden
99% (805) in Kampfhandlungen eingesetzt (UNGASC 6.5.2021). In Idlib werden von HTS
Kinder für Kampfhandlungen eingesetzt, ebenso durch den sog. Islamischen Staat (IS), die
Opposition und in geringerer Anzahl von regierungsnahen Milizen (ÖB 10.2021).
Die Regierung und regimenahe Milizen führten weiterhin Zwangsrekrutierungen von
Kindersoldaten und deren Einsatz durch, was dazu führte, dass Kinder extremer Gewalt und
Vergeltungsschlägen durch oppositionelle Kräfte ausgesetzt waren. Manche bewaffneten
Gruppen, die für die syrische Regierung kämpfen, wie die Hizbollah und regierungstreue
Milizen, die als National Defence Forces oder „Shabiha“ bekannt sind,
rekrutieren zwangsweise Kinder im Alter von sechs Jahren . Der Iran rekrutierte im Iran
minderjährige Afghanen - darunter auch Zwölfjährige - unter Androhung von Abschiebung
nach Afghanistan sowie iranische Minderjährige für schiitische Milizen in Syrien (USDOS
1.7.2021).
Jabhat an-Nusra und der sogenannte IS haben Kinder auch als menschliche Schutzschilder,
Selbstmordattentäter, Scharfschützen und Henker eingesetzt. Kämpfer haben auch Kinder
für Zwangsarbeit oder als Informanten eingesetzt, wodurch diese Vergeltungsschlägen und
extremer Bestrafung ausgesetzt waren (USDOS 1.7.2021).
2014 haben die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und die Frauenverteidigungseinheiten
(YPJ) – Kernbestandteile der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) - die Geneva Call
Verpflichtungserklärung zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten und der
Vermeidung ihrer Rekrutierung unterzeichnet. Im Juni 2019 gelobten die SDF wieder, die
Rekrutierung von Kindern zu stoppen, indem sie einen Aktionsplan mit den UN zur
Beendigung und Vorbeugung der Rekrutierung und Einsatz von Kindern unter 18
unterschrieben (STJ 2.6.2021, ÖB 10.2021). Im September 2018 erließen die SDF einen
Befehl, der die Rekrutierung von Minderjährigen verbietet und für Alterskontrollen der
aktuellen Mitglieder der SDF sorgt (HRW 11.9.2018; cf. EB 7.12.2019). Zudem kündigte die
sog. Selbstverwaltung am 30.8.2020 an, ein Büro für den Schutz von Kindern in bewaffneten
Konflikten einzurichten. Das Büro und seine Außenstellen sollen seit Oktober 2020 operativ
sein und Berichte und Beschwerden über die Zwangsrekrutierung Minderjähriger durch die
SDF entgegennehmen. Laut den VN und dem SNHR wurden zwischen Januar 2014 und
September 2020 mindestens 911 Kinder durch die YPG zwangsrekrutiert (AA 29.11.2021).
2019 wurden 30 rekrutierte Kinder vom Dienst bei den SDF entlassen. Mit Stand Juni 2020
wurde die Entlassung von 51 Mädchen berichtet (UNGASC 9.6.2020). Trotz dieser Schritte
gab es Berichte von breiten Rekrutierungskampagnen durch die SDF und die Inhaftierung
und zwangsweise Einziehung von Jugendlichen, sowie die Rekrutierung von Kindern
zwischen 13 und 16 Jahren vom al-Hol Camp, darunter viele Waisen (EMHRM 18.9.2019).
Obwohl die Auflistung von Kindersoldaten in Nordost-Syrien im Vergleich zu den Vorjahren
zurückgegangen ist, beinhalten bewaffnete Einheiten weiterhin Minderjährige, die gerade
mal 16 Jahre alt sind (STJ 2.6.2021). Die Praxis der Rekrutierung Minderjähriger scheint nach
wie vor nicht eingestellt worden zu sein (AA 29.11.2021).
Nicht-staatliche bewaffnete Gruppierungen (regierungsfreundlich und
regierungsfeindlich)
Letzte Änderung: 25.04.2022
Manche Quellen berichten, dass die Rekrutierung durch regierungsfreundliche Milizen im
Allgemeinen auf freiwilliger Basis geschieht. Personen schließen sich häufig auch aus
finanziellen Gründen den National Defense Forces (NDF) oder anderen regierungstreuen
Gruppierungen an (FIS 14.12.2018; vgl. DRC/DIS 8.2017). Andere Quellen berichten von der
Zwangsrekrutierung von Kindern im Alter von sechs Jahren durch Milizen, die für die
Regierung kämpfen, wie die Hizbollah und die NDF (auch als "shabiha" bekannt) (USDOS
1.7.2021). In vielen Fällen sind bewaffnete regierungstreue Gruppen lokal organisiert,
wobei Werte der Gemeinschaft wie Ehre und Verteidigung der Gemeinschaft eine zentrale
Bedeutung haben. Dieser soziale Druck basiert häufig auf der Zugehörigkeit zu einer
bestimmten Religionsgemeinschaft. Ein weiterer Hauptgrund für das Eintreten in diese
Gruppierungen ist, dass damit der Wehrdienst in der Armee umgangen werden kann. Die
Mitglieder können so in ihren oder in der Nähe ihrer lokalen Gemeinden ihren Einsatz
verrichten und nicht in Gebieten mit direkten Kampfhandlungen. Die syrische Armee hat
jedoch begonnen, diese Milizen in ihre eigenen Strukturen zu integrieren (FIS 14.12.2018),
indem sie Mitglieder der Milizen, welche im wehrfähigen Alter sind, zum Beitritt in die
syrische Armee zwingt (MEI 18.7.2019). Dadurch ist es unter Umständen nicht mehr
möglich, durch den Dienst in einer lokalen Miliz die Rekrutierung durch die Armee oder den
Einsatz an einer weit entfernten Front zu vermeiden (FIS 14.12.2018). Auch aufgrund der
deutlich höheren Bezahlung der Milizmitglieder stießen die laufenden Bemühungen,
Milizen in die syrische Armee zu integrieren, auf erheblichen Widerstand (MEI 18.7.2019).
Regierungstreue Milizen haben sich außerdem an Zwangsrekrutierungen von gesuchten
Wehrdienstverweigerern beteiligt (FIS 14.12.2018).
Was die oppositionellen Milizen in Syrien betrifft, so ist die Grenze zur Zwangsrekrutierung
ebenfalls nicht klar. Nötigung und sozialer Druck, sich den Milizen anzuschließen, sind in
von oppositionellen Gruppen gehaltenen Gebieten hoch (STDOK 8.2017). Anders als die
Regierung und die Syrian Democratic Forces (SDF), erlegen bewaffnete oppositionelle
Gruppen wie SNA (Syrian National Army) und HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) Zivilisten in von
ihnen kontrollierten Gebieten keine Wehrdienstpflicht auf (NMFA 6.2021).
Nordost-Syrien
Letzte Änderung: 25.04.2022
Wehrpflichtsgesetz der „Demokratische Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien“
Im Nordosten des Landes hat die von der kurdischen Partei PYD dominierte „Demokratische
Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien“ 2014 ein Wehrpflichtgesetz verabschiedet,
welches vorsieht, dass jede Familie einen „Freiwilligen“ im Alter zwischen 18 und 40 Jahren
stellen muss, der für den Zeitraum von sechs Monaten bis zu einem Jahr in der YPG dient.
Laut verschiedener Menschenrechtsorganisationen wird dieses Gesetz auch mit Gewalt
durchgesetzt. Berichten zufolge kommt es auch zu Zwangsrekrutierungen von Jungen und
Mädchen (AA 29.11.2021). Einer anderen Quelle zufolge dauert der Wehrdienst sechs
Monate mit Ausnahme des Zeitraums Mai 2018 bis Mai 2019, als dieser zwölf Monate
umfasste (EUAA 11.2021).
Es wurden auch mehrere Fälle von willkürlichen Verhaftungen zum Zwecke der
Rekrutierung dokumentiert, obwohl die Wehrpflicht aufgrund der Ausbildung
aufgeschoben wurde oder einige Jugendliche aus medizinischen oder anderen Gründen
vom Wehrdienst befreit wurden. Selbst einige Beschäftigte im Bildungssektor sind von
diesen Verhaftungen und Zwangsrekrutierungen nicht ausgenommen, obwohl sie im Besitz
von Dokumenten für eine Befreiung sind (EB 12.7.2019). Laut Medienberichten waren
insbesondere Lehrer von Zwangsrekrutierungsmaßnahmen betroffen (AA 29.11.2021).
Die Sanktionen für die Wehrdienstverweigerung ähneln denen im von der Regierung
kontrollierten Teil und umfassen Haftstrafen sowie eine Verlängerung des Wehrdienstes. Es
kommt zu Überprüfungen von möglichen Wehrpflichtigen an Checkpoints und auch zu
Ausforschungen (ÖB 29.9.2020). Im Fall von Verweigerung aus Gewissensgründen oder im
Fall einer Verhaftung wegen Wehrdienstverweigerung erhöht sich der Wehrdienst auf 15
Monate. Spät eintreffende Wehrdienstpflichtige müssen einen Monat länger Wehrdienst
leisten (EUAA 11.2021).
Laut UNHCR kann die Weigerung, den YPG beizutreten, Berichten zufolge schwerwiegende
Konsequenzen haben, einschließlich Entführung, Inhaftierung und Misshandlung der
inhaftierten Personen sowie Zwangsrekrutierung, weil die Verweigerung des Kampfes als
Ausdruck der Unterstützung des sogenannten Islamischen Staates oder als Opposition zu
PYD/YPG interpretiert werden kann (UNHCR 3.11.2017). Hingegen dürften die
Autonomiebehörden eine Verweigerung nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen
Gesinnung sehen (ÖB 29.9.2020). Mehrfach ist es dazu gekommen, dass Männer von der
YPG rekrutiert wurden, die älter als 30 Jahre waren. Dabei handelte es sich um Personen,
die PYD-kritisch politisch aktiv waren, und die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die
Rekrutierung abgestraft werden sollten (Savelsberg 3.11.2017).
Frauen können freiwilligen Militärdienst in den kurdischen Einheiten [YPJ -
Frauenverteidigungseinheiten] leisten (AA 29.11.2021), wobei es gleichzeitig Berichte von
Zwangsrekrutierungen von Frauen (AA 29.11.2021; vgl. SNHR 26.1.2021) und
minderjährigen Mädchen gibt (Savelsberg 3.11.2017; vgl. HRW 11.10.2019, UNGASC
20.6.2019). Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen kurdische Frauen, die der YPG
zunächst freiwillig beitraten, daran gehindert wurden, diese wieder zu verlassen (IWPR
29.3.2018; vgl. Savelsberg 3.11.2017).
Proteste gegen die Wehrpflicht
Das Gesetz stößt bei den Bürgern in den von den SDF kontrollierten Gebieten auf heftige
Ablehnung. Sie haben mehrfach gegen die Zwangsrekrutierungen demonstriert,
insbesondere viele junge Männer, welche die vom Regime kontrollierten Gebiete verlassen
hatten, um dem Militärdienst zu entgehen (EB 12.7.2021).
Im Jahr 2021 hat die Wehrpflicht besonders in den östlichen ländlichen Gouvernements
Deir ez-Zour und Raqqa Proteste ausgelöst. Lehrer haben sich besonders gegen die
Einberufungskampagnen der Syrian Democratic Forces (SDF) gewehrt. Proteste im Mai 2021
richteten sich außerdem gegen die unzureichende Bereitstellung von Dienstleistungen und
die Korruption oder Unfähigkeit der autonomen Verwaltungseinheiten. Sechs bis acht
Menschen wurden am 1.6.2021 in Manbij (Menbij) bei einem Protest getötet, dessen
Auslöser eine Reihe von Razzien der SDF auf der Suche nach wehrpflichtigen Männern war.
Am 2. Juni einigten sich die SDF, der Militärrat von Manbij und der Zivilrat von Manbij mit
Stammesvertretern und lokalen Persönlichkeiten auf eine deeskalierende Vereinbarung,
die vorsieht, die Rekrutierungskampagne einzustellen, während der Proteste
festgenommene Personen freizulassen und eine Untersuchungskommission zu bilden, um
diejenigen, die auf Demonstranten geschossen hatten, zur Rechenschaft zu ziehen (COAR
7.6.2021).
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 25.04.2022
Die Menschenrechtslage in Syrien hat sich trotz eines messbaren Rückgangs der
gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht verbessert (AA 29.11.2021). Laut UNMenschenrechtsrat erlaubt die Situation in Syrien unter Einbeziehung der Menschenrechtslage keine nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen (UNHRC 13.8.2021). Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) vom 8.2.2022 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht von z.B. Angriffen auf die Zivilbevölkerung über Folter bis hin zur Beschlagnahmung des Eigentums von Vertriebenen (UNHRC 8.2.2022). Human Rights Watch (HRW) bezeichnet einige Angriffe der russisch-syrischen Allianz als Kriegsverbrechen, die möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen (HRW 13.1.2022).
In dem seit mehr als neun Jahren andauernden Bürgerkrieg gab es nach Schätzungen bereits
rund eine halbe Million Tote (Welt 30.6.2020; vgl. BBC 12.7.2020). Das Regime wurde durch
den Erfolg seiner von Russland und Iran unterstützten Kampagnen so gefestigt, dass es
keinen Willen zeigt, integrative oder versöhnende demokratische Prozesse einzuleiten. Dies
zeigt sich am Fehlen freier und fairer Wahlen sowie in den gewaltsamen Maßnahmen zur
Unterdrückung der Rede- und Versammlungsfreiheit. Bewaffnete Akteure aller Fraktionen,
darunter auch die Regierung, versuchen ihre Herrschaft mit Gewalt durchzusetzen und zu
legitimieren (BS 29.4.2020).
Es gibt erhebliche Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, eine schwache Unterscheidung
zwischen Staat und Wirtschaftseliten mit einem in sich geschlossenen Kreis wirtschaftlicher
Möglichkeiten (BS 29.4.2020). Konfessionelle und ethnische Zugehörigkeit, der
Herkunftsort, der familiäre Hintergrund, etc. entscheiden über den Zugang zu Leistungen
und Privilegien - oder deren Vorenthaltung. Dieser Umstand hat sich im Laufe der
Konfliktjahre vertieft (BS 23.2.2022).
Das Regime bezeichnete Meinungsäußerungen routinemäßig als illegal, und Einzelpersonen
konnten das Regime weder öffentlich noch privat kritisieren, ohne Repressalien befürchten
zu müssen. Das Regime übt strikte Kontrolle über die Verbreitung von Informationen, auch
über die Entwicklung der Kämpfe zwischen dem Regime und der bewaffneten Opposition
und die Verbreitung des COVID-19-Virus, aus und verbietet die meiste Kritik am Regime und
die Diskussion über konfessionelle Probleme, einschließlich der Rechte von und Spannungen zwischen religiösen und ethnischen Minderheiten (USDOS 30.3.2021).
Die Verfassung bestimmt die Ba'ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher, dass
sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden hat. Das Gesetz erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung erlaubt nur regierungsnahen Gruppen, offizielle Parteien zu gründen, und zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien, auch jenen, die mit der Ba'ath-Partei in der National Progressive Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet, um Mitglieder von Menschenrechts- und Studentenorganisationen zu verhaften (USDOS
30.3.2021).
Weiterhin besteht in keinem Teil des Landes ein umfassender und langfristiger Schutz vor
willkürlicher Verhaftung und Repression durch die zahlreichen Sicherheitsdienste, Milizen
und sonstige regimenahe Institutionen. Dies gilt auch für Landesteile insbesondere im
äußersten Westen des Landes sowie der Hauptstadt Damaskus, in denen traditionell
Bevölkerungsteile leben, die dem Regime näher stehen. Selbst bis dahin als regimenah
geltende Personen können aufgrund allgegenwärtiger staatlicher Willkür grundsätzlich
Opfer von Repressionen werden (AA 19.5.2020). Im Rahmen der systematischen Gewalt,
die von allen bewaffneten Akteuren gegenüber der Zivilbevölkerung angewandt wurde,
wurden insbesondere Frauen Opfer sexueller Gewalt. Regierungstruppen und der
Regierung zurechenbare Milizkräfte übten bei Hausdurchsuchungen, im Rahmen von
Internierungen sowie im Rahmen von Kontrollen an Checkpoints Vergewaltigungen und
andere Formen sexueller Gewalt an Frauen und teilweise auch Männern aus (ÖB
1.10.2021).
In Gebieten, die von der Regierung zurückerobert werden, kommt es zu
Beschlagnahmungen von Eigentum, großflächigen Zerstörungen von Häusern und
willkürlichen Verhaftungen (SNHR 26.1.2021; vgl. SHRC 24.1.2019, HRW 13.1.2022).
Syrische Sicherheitskräfte und regierungsnahe Milizen nehmen weiterhin willkürlich
Menschen im ganzen Land fest, lassen sie verschwinden und misshandeln sie, auch
Personen in zurückeroberten Gebieten, die sogenannte Versöhnungsabkommen
unterzeichnet haben (HRW 13.1.2022; vgl. AA 4.12.2020, SNHR 26.1.2021). Berichten
zufolge zögern Personen in Gebieten, die erst vor kurzer Zeit durch die Regierung
wiedererobert wurden, aus Angst vor Repressalien oft, über die Situation in diesen
Gebieten zu berichten (USDOS 11.3.2020). Zwangsdeportationen von Hunderttausenden
Bürgern haben ganze Städte und Dörfer entvölkert (BS 29.4.2020).
Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als
regimekritisch wahrgenommen werden, unterliegen einem besonders hohen Folterrisiko.
Auch Kollektivhaft von Angehörigen - auch Kindern - oder Nachbarn ist dokumentiert,
fallweise auch wegen als regimefeindlich geltenden Personen im Ausland (AA 29.11.2021).
Frauen mit familiären Verbindungen zu Oppositionskämpfern oder Abtrünnigen werden
z.B. als Vergeltung oder zur Informationsgewinnung festgenommen (UNHRC 31.1.2019).
Außerdem werden Personen festgenommen, die Kontakte zu Verwandten oder Freunden
unterhalten, die in von der Opposition kontrollierten Gebieten leben (UNHRC 31.1.2019;
vgl. UNHCR 7.5.2020, SNHR 26.1.2021).
Tausende Menschen starben seit 2011 im Gewahrsam der syrischen Regierung an Folter
und entsetzlichen Haftbedingungen (HRW 14.1.2020). Die Methoden der Folter, des
Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine
Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konfliktes, sondern waren bereits zuvor
gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien
(SHRC 24.1.2019). Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen
Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der
bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden. Es muss davon ausgegangen
werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen
verübt wird (AA 29.11.2021).
Die syrischen Regimekräfte und ihre Sicherheitsapparate setzen ihre systematische Politik
der Inhaftierung und des Verschwindenlassens von Zehntausenden von Syrern fort. Trotz
der Verringerung des Tempos der Inhaftierungen und des gewaltsamen Verschwindenlassens im Jahr 2020 konnte keine wirkliche Veränderung im Verhalten des Regimes beobachtet werden, sei es in Bezug auf die Freilassung der Inhaftierten oder die Aufdeckung des Schicksals der Verschwundenen (SHRC 1.2021). Dem Syrian Network for Human Rights (SNHR) zufolge beläuft sich die Zahl von Inhaftierten und Verschwundenen mit Stand September 2021 auf rund 150.000. Für das erste Halbjahr 2021 dokumentierte SNHR 972 Fälle willkürlicher oder unrechtmäßiger Verhaftungen, darunter mindestens 45 Kinder und 42 Frauen. Willkürliche Verhaftungen blieben eine gezielte Vergeltungsmaßnahme u. a. für Kritik am Regime. Das Regime macht in diesen Fällen wie auch bei Verhaftungen von Wehrdienstverweigerern regelmäßig Gebrauch von der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) (AA 29.11.2021).
Willkürliche Verhaftungen gehen primär von Polizei, Geheimdiensten und staatlich
organisierten Milizen aus. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten. Es findet keine
zuverlässige und für die Betroffenen verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt. Die
Dokumentation von Einzelfällen – insbesondere auch bei Rückkehrenden – zeigt, dass es
trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen
anderen Dienst kommen kann. Laut UNO ist in derartigen Fällen ein zentralisiertes Muster
von Verlegungen in den Raum Damaskus erkennbar. In nur wenigen Fällen werden
Betroffene in reguläre Haftanstalten oder an die Justiz überstellt. Häufiger werden die
Festgenommenen in Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, zu
denen Familienangehörige und Anwälte in der Regel keinen oder nur eingeschränkten
Zugang haben. In vielen Fällen bleiben die Personen hiernach verschwunden.
Unterrichtungen über den Tod in Haft erfolgen häufig nicht oder nur gegen Zahlung von
Bestechungsgeldern, eine Untersuchung der tatsächlichen Todesumstände erfolgt in aller
Regel nicht. Oft werden die Familien unter Androhung von Gewalt und Repressionen zu
Stillschweigen verpflichtet. Die VN und IKRK haben unverändert keinen Zugang zu
Gefangenen in Haftanstalten des Militärs und der Sicherheitsdienste und erhalten keine
Informationen zum Verbleib von Verschwundenen (UNHRC 11.3.2021).
Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten
beschuldigt werden, sind willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten, darunter auch
der Einsatz von chemischen Waffen; Massaker und Vergewaltigungen als Kriegstaktik;
Einsatz von Kindersoldaten sowie übermäßige Einschränkungen der Bewegungs-,
Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, inklusive Zensur. Die Regierung überwacht
die Kommunikation im Internet, inklusive E-Mails, greift in Internet- und Telefondienste ein
und blockiert diese. Die Regierung setzt ausgereifte Technologien und Hunderte von
Computerspezialisten für Überwachungszwecke ein (USDOS 30.3.2021).
Nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen
In ihrem Bericht von März 2021 betont der Bericht der UN-Kommission zu Syrien (CoI), dass
das in absoluten Zahlen größere Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen durch das
Regime und seine Verbündeten ausdrücklich nicht andere Konfliktparteien entlaste.
Vielmehr ließen sich auch für bewaffnete Gruppierungen (u.a. Free Syrian Army, Syrian
National Army, Syrian Democratic Forces) und terroristische Organisationen (u.a. HTS -
Hay'at Tahrir ash-Sham, bzw. Jabhat an-Nusra, IS - Islamischer Staat) über den
Konfliktzeitraum hinweg zahlreiche Menschenrechtsverstöße unterschiedlicher Schwere
und Ausprägung dokumentieren. Hierzu zählten für alle Akteure willkürliche Verhaftungen,
Praktiken wie Folter, grausames und herabwürdigendes Verhalten und sexualisierte Gewalt
sowie Verschwindenlassen Verhafteter. Insbesondere in den Fällen der Free Syrian Army,
HTS bzw. Jabhat al-Nusra, sowie IS werden auch Hinrichtungen berichtet (UNHRC
11.3.2021).
Bewaffnete terroristische Gruppierungen, wie die mit al-Qaida in Verbindung stehende
Gruppe Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS), sind für weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen, darunter rechtswidrige Tötungen und Entführungen, rechtswidrige Inhaftierungen, extreme körperliche Misshandlungen, Tötungen von Zivilisten bei Angriffen, die als wahllos beschrieben wurden, und Zwangsräumungen von Häusern auf der Grundlage der konfessionellen Identität, verantwortlich (USDOS 30.3.2021).
Aufgrund des militärischen Vorrückens der Regime-Kräfte und nach Deportationen von
Rebellen aus zuvor vom Regime zurückeroberten Gebieten, ist Idlib in Nordwestsyrien seit
Jahren Rückzugsgebiet vieler moderater, aber auch radikaler, teils terroristischer Gruppen
der bewaffneten Opposition geworden. Die HTS hat neben der militärischen Kontrolle über
den Großteil des verbleibenden Oppositionsgebiets der „Deeskalationszone“ Idlib dort auch
lokale Verwaltungsstrukturen unter dem Namen „Errettungsregierung“ aufgebaut. Auch
unterhält die HTS ein eigenes Gerichtswesen, welches die Scharia anwendet, sowie eigene
Haftanstalten (AA 29.11.2021). In der Region Idlib war 2019 ein massiver Anstieg an
willkürlichen Verhaftungen und Fällen von Verschwindenlassen zu verzeichnen, nachdem
HTS dort die Kontrolle im Jänner 2019 übernommen hatte. Frauen wurden bzw. sind in den
von IS und HTS kontrollierten Gebieten massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte
ausgesetzt. Angehörige sexueller Minderheiten wurden exekutiert (ÖB 1.10.2021).
In Idlib verhaftet Hay'at Tahrir al-Sham AktivistInnen, MitarbeiterInnen humanitärer
Organisationen sowie HTS kritische ZivilistInnen. Im ersten Halbjahr waren laut Syrian
Network for Human Rights mindestens 57 Personen Ziel willkürlicher Verhaftungen durch
HTS. In einigen Fällen verhängte HTS die Todesstrafe ((HRW 13.1.2021)). Berichtet werden
zudem Verhaftungen von Minderjährigen, insbesondere Mädchen. Als Gründe werden
„unmoralisches Verhalten“ wie beispielsweise das Reisen ohne männliche Begleitung oder
unangemessene Kleidung angeführt. Mädchen soll zudem in vielen Fällen der Schulbesuch
untersagt worden sein. HTS zielt darüber hinaus auch auf religiöse Minderheiten ab. So hat
sich HTS laut der CoI im März 2018 zu zwei Bombenanschlägen auf den schiitischen Friedhof
in Bab al-Saghir bekannt, bei dem 44 Menschen getötet und 120 verletzt wurden (AA
29.11.2021) Die HTS greift in vermehrtem Ausmaß in alle Aspekte zivilen Lebens ein, z.B.
durch Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Frauen, Vorschreiben von
Kleidungsvorschriften und Frisuren sowie durch die wahllose Einhebung von Steuern und
Geldbußen. Sie beschlagnahmte auch viele Häuser und Immobilien von ChristInnen (HRW
13.1.2021).
Versuche der Zivilgesellschaft, sich gegen das Vorgehen der HTS zu wehren, werden zum
Teil brutal niedergeschlagen. Mitglieder der HTS lösten 2020 mehrfach Proteste gewaltsam
auf, indem sie auf die Demonstrierenden schossen oder sie gewaltsam festnahmen. Laut
der CoI gibt es weiterhin Grund zur Annahme, dass es in Idlib unverändert zu Verhaftungen
und Entführungen durch Mitglieder der HTS, auch unter Anwendung von Folter, kommt (AA
29.11.2021)
Nach der territorialen Niederlage des sogenannten Islamischen Staats (IS) im Nordosten
Syriens müssen die kurdisch geführten Behörden und die US-geführte Koalition noch
Entschädigungen für zivile Opfer leisten, Unterstützung bei der Ermittlung des Schicksals
der vom IS Entführten anbieten und sich angemessen mit der Notlage von mehr als 60.000
syrischen und ausländischen Männern, Frauen und Kindern befassen, die auf unbestimmte
Zeit als IS-Verdächtige und als deren Familienmitglieder unter schlechten Bedingungen in
geschlossenen Lagern und Gefängnissen festgehalten werden (HRW 13.1.2022).
In den von der Türkei besetzten Gebieten verletzen die Türkei und lokale syrische
Gruppierungen ungestraft die Rechte der Zivilbevölkerung und schränken ihre Freiheiten
ein. Im Zuge der türkischen Militäroperation „Friedensquelle“ im Nordosten von Syrien
Anfang Oktober 2019 kam und kommt es Berichten zufolge zu willkürlichen Tötungen von
Kurden durch Kämpfer der – mit den türkischen Truppen affiliierten – Milizen der Syrian
National Army (SNA) sowie zu Plünderungen und Vertreibungen von Kurden, Jesiden und
Christen (ÖB 1.10.2021). In der ersten Jahreshälfte 2021 verhaftete die SNA laut SNHR
(Syrian Network for Human Rights) willkürlich 162 Personen. Mit Dezember 2019 hatten die
türkischen Behörden und die mit der ihre verbündete bewaffnete Gruppe - die Syrian
National Army (SNA) - mindestens 63 syrische Staatsbürgerinnen verhaftet und
illegalerweise in die Türkei verbracht. Dort stehen sie wegen Anklagen vor Gericht, die
lebenslange Haftstrafen nach sich ziehen könnten. Fünf der 63 SyrerInnen wurde bereits im
Oktober 2020 zu lebenslanger Haft verurteilt. In der ersten Jahreshälfte 2021 verhaftete die
SNA laut SNHR (Syrian Network for Human Rights) willkürlich 162 Personen (HRW
13.1.2022). Die Festnahme syrischer Staatsangehöriger in Afrin und Ra's al 'Ayn sowie deren
Verbringung in die Türkei durch die SNA könnte laut CoI das Kriegsverbrechen einer
unrechtmäßigen Deportation darstellen (AA 29.11.2021).
Elemente der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), einer Koalition aus syrischen Kurden,
Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten, zu der auch Mitglieder der Kurdischen
Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehören, sollen für Menschenrechtsverletzungen
verantwortlich sein, darunter willkürliche Inhaftierungen, Folter, Korruption und
Einschränkungen der Versammlungsfreiheit (USDOS 30.3.2021). Es gibt vereinzelte Berichte
über Festnahmen von Journalisten, Mitgliedern von Menschenrechtsorganisationen und
Oppositionsparteien und Personen, die sich weigerten mit den kurdischen Gruppen zu
kooperieren (USDOS 11.3.2020; vgl. HRW 10.9.2018, SNHR 26.1.2021). Die SDF führen
Massenverhaftungen von ZivilistInnen, darunter AktivistInnen, JournalistInnen und
LehrerInnen, durch. In der ersten Jahreshälfte 2021 belief sich die Zahl der Verhafteten laut
Syrian Network for Human Rights auf 369 Personen (HRW 13.1.2022). Die
menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt
jedoch erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des
syrischen Regimes oder islamistischer und dschihadistischer Gruppen befinden (AA
4.12.2020).
2. Beweiswürdigung:
Zur Person der beschwerdeführenden Partei:
Die Feststellungen zur Herkunftsprovinz, zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, zur Muttersprache sowie zum Familienstand und zu den Kindern der beschwerdeführenden Partei basieren auf den in diesem Zusammenhang im bisherigen Verfahren konsistenten und kohärenten Angaben der beschwerdeführenden Partei, die auch die belangte Behörde dem angefochtenen Bescheid zugrunde legte.
Die Identität der beschwerdeführenden Partei geht aus in Vorlage gebrachten syrischen Dokumenten hervor und wurde auch von der belangten Behörde nicht in Abrede gestellt.
Dass die Herkunftsregion der beschwerdeführenden Partei aktuell unter Kontrolle der syrischen Regierung steht, ergibt sich aus einer Nachschau unter https://syria.liveuamap.com/, cartercenter.org in Verbindung mit den aktuellen Länderfeststellungen zu Syrien.
Die Feststellungen zur Ausreise der beschwerdeführenden Partei aus Syrien und der Asylantragstellung in Österreich basieren auf seinen glaubhaften Angaben im Verfahren und dem Akteninhalt.
Zum Fluchtgrund:
Hinsichtlich der von der beschwerdeführenden Partei behaupteten Befürchtung, er müsse im Falle seiner Rückkehr in den Heimatstaat zum Reservedienst einrücken, ist darauf hinzuweisen, dass Reservisten in Syrien laut den Länderberichten bis zum Erreichen des 42. Lebensjahres in den aktiven Dienst einberufen werden können, wobei einzelne Berichte vorliegen, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat. Die beschwerdeführende Partei ist 43 Jahre alt und befindet sich daher nicht mehr im wehrfähigen Alter; er weist außerdem seinen eigenen Angaben zufolge keine besonderen militärischen Fähigkeiten auf. Überdies vermochte die beschwerdeführende Partei keine hinreichenden Gründe darzulegen, weshalb es seinem Bruder im Gegensatz zu ihm selbst möglich war, den Militärdienst in Syrien zu absolvieren.
Nach den Länderberichten werden manche Personen wieder zum aktiven Dienst einberufen, andere wiederum nicht, was von vielen verschiedenen Faktoren abhängt. Es ist sehr schwierig, eine genaue Beurteilung darüber zu treffen, ob jemand tatsächlich zum Reservedienst einberufen wird. Die Behörden ziehen jedoch vornehmlich Männer bis zum 27. Lebensjahr ein, während Ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich jedoch nicht um Zwangsrekrutierungen handelte.
Die beschwerdeführende Partei hat jedenfalls weder im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme noch im Beschwerdevorbringen behauptet, dass er früher bei seinem regulären Militärdienst eine besondere Fähigkeit erworben oder eine besondere Position eingenommen hat, noch lässt sich aus seinen Angaben im Verfahren konkludent ableiten, dass er aktuell über wesentliche Fähigkeiten verfügt, die ihn für die abermalige Einberufung bzw. Einziehung zum syrischen Militär besonders attraktiv macht. Vor dem Hintergrund der individuellen Eigenschaften der beschwerdeführenden Partei sowie der Länderberichte, die eine entsprechend systematische und generelle Einberufung von ehemaligen Reservisten, die das Wehrdienstalter von 42 Jahren überschritten haben, nicht dokumentieren, ist daher im gegenständlichen Fall nicht von einer wahrscheinlich drohenden Einberufung als Reservist auszugehen.
Die vom BFA ins Treffen geführte Vorgangsweise, sich vom Militärdienst freizukaufen, stimmt mit den aktuellen Länderberichten überein, wonach grundsätzlich die Möglichkeit besteht, sich durch Zahlung einer Befreiungsgebühr vom Ableisten des Militärdienstes freizukaufen. Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vgl. FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind.
Hierbei ist zwischen dem Freikaufen vom Wehrdienst durch die Bezahlung von Bestechungsgeldern und der (gesetzlich vorgesehenen) Möglichkeit der Zahlung einer Befreiungsgebühr zu unterscheiden. Betreffend die etwaige Bezahlung von Bestechungsgeldern ist anzumerken, dass diese den Länderberichten zufolge nicht als einheitliche Praxis betrachtet werden kann. Zwar war es vor dem Konflikt gängige Praxis, sich vom Wehrdienst freizukaufen; dies schützt jedoch nicht davor – manchmal auch noch Jahre später – trotzdem zum Wehrdienst eingezogen zu werden (Länderinformationsblatt, Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen, Unterkapitel Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahres ohne Ableistung des Wehrdienstes). Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Zahlung von Bestechungsgeldern zur endgültigen Befreiung der beschwerdeführenden Partei vom Militärdienst geführt hätte.
Aus den Länderfeststellungen geht jedoch hervor, dass es das syrische Militärdienstgesetz syrischen Männern und registrierten Palästinensern aus Syrien im Militärdienstalter (18-42 Jahre) und mit Wohnsitz im Ausland erlaubt, eine Gebühr ("badal an-naqdi") zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit und nicht wieder einberufen zu werden. Bis 2020 konnten Männer, die sich mindestens vier aufeinanderfolgende Jahre außerhalb Syriens aufgehalten haben, einen Betrag von 8.000 US-Dollar zahlen, um vom Militärdienst befreit zu werden (NMFA 6.2021; vgl. DIS 5.2020, vgl. EB 9.2.2019), wobei noch weitere Konsulargebühren anfallen (EB 9.2.2019). Im November 2020 wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 31 (Rechtsexperte 14.9.2022) die Dauer des erforderlichen Auslandsaufenthalts auf ein Jahr reduziert, und die Gebühr auf 10.000 USD erhöht. Wer zwei, drei, vier oder mehr Jahre im Ausland wohnhaft ist, muss 9.000, 8.000 bzw. 7.000 USD bezahlen, um befreit zu werden. Wer außerhalb Syriens lebt und als Reservist einberufen wird, kann eine Befreiung erhalten, indem er 5.000 USD bezahlt (NMFA 6.2021). Aus den Länderfeststellungen geht zwar weiters hervor, dass das Risiko der Willkür immer gegeben ist (STDOK 8.2017; vgl. DRC/DIS 8.2017), es ist jedoch im gesetzlichen Rahmen durchaus gestattet und naheliegend, dass sich die beschwerdeführende Partei, die mehr als fünf Jahre in der Türkei wohnhaft war und insgesamt 6.000,- für die schlepperunterstützte Ausreise aufwendete, gegen die Zahlung einer Gebühr vom Militärdienst freikaufen könnte.
Das Bundesverwaltungsgericht geht somit in einer Gesamtwürdigung der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens davon aus, dass die beschwerdeführende Partei Syrien verließ, ohne einer individuellen Gefährdung ausgesetzt gewesen zu sein.
Im gesamten Verfahren sind keine Hinweise auf sonstige gefahrenerhöhende Umstände hervorgekommen, aufgrund derer die beschwerdeführende Partei in Syrien aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen könnte, von der syrischen Regierung verfolgt zu werden.
Aus den aktuellen Länderberichten ergibt sich überdies auch nicht, dass jedem Rückkehrer, der Syrien unrechtmäßig verlassen hat und im Ausland einen Asylantrag gestellt hat, eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird bzw. dieser bei einer Rückkehr eine allgemein asylrelevante Verfolgung zu befürchten hätte (VwGH 11.11.2020, Ra 2020/18/0147).
Die Tatsache, dass eine Person Syrien verlassen hat, bedeutet normalerweise - für sich genommen - nicht, dass für sie eine hinreichend große Gefahr besteht, um eine begründete Furcht vor Verfolgung festzustellen. In den meisten Fällen, in denen eine begründete Furcht vor Verfolgung glaubhaft gemacht wird, steht diese im Zusammenhang mit Umständen, die anderen in diesem Leitfaden behandelten Profilgruppen zuzuordnen sind, insbesondere der Gruppe der „Vermeintlich regierungsfeindlichen Personen“ (EASO, Leitfaden Syrien, November 2021, S. 11). Es ist im Verfahren jedenfalls entgegen dem Beschwerdevorbringen nicht hervorgekommen, aus welchem Grund die beschwerdeführende Partei als politischer Gegner der syrischen Streitkräfte eingestuft werden könnte.
Es ist daher nicht wahrscheinlich, dass der beschwerdeführenden Partei Sanktionen wegen einer (unterstellten) oppositionellen politischen Gesinnung drohen. Auch EASO geht in seinem Leitfaden zu Syrien vom November 2021 davon aus, dass der Umstand, dass eine Person Syrien verlassen hat, sowie der Umstand, dass eine Person aus einem Gebiet stammt, das mit der regierungsfeindlichen Opposition in Verbindung gebracht wird, für sich allein nicht ausreichen, damit eine hinreichend große Gefahr besteht, um eine begründete Furcht vor Verfolgung festzustellen (ebenso EASO, Leitfaden Syrien, Februar 2023, S. 53 unten). Ebenso wenig genügt eine Asylantragstellung in Österreich für die Asylzuerkennung, weil nicht anzunehmen ist, dass die Antragstellung den syrischen Behörden bekannt ist, zumal es den österreichischen Behörden untersagt ist, diesbezüglich Daten an die syrischen Behörden weiterzuleiten.
Konkrete Gründe, aufgrund derer anzunehmen wäre, dass die beschwerdeführende Partei die Aufmerksamkeit der syrischen Regierungsbehörden auf sich gelenkt haben könnte, brachte er selbst nicht vor und konnten auch im Verfahren nicht ermittelt werden.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Abweisung der Beschwerde:
Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:
Das Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ist im vorliegenden Fall in der Fassung nach dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 29/2020 anzuwenden. Die maßgeblichen Bestimmungen lauten:
§ 3 (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.
(4) Einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, kommt eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter. Mit Rechtskraft der Aberkennung des Status des Asylberechtigten erlischt die Aufenthaltsberechtigung.
(4a) Im Rahmen der Staatendokumentation (§ 5 BFA-G) hat das Bundesamt zumindest einmal im Kalenderjahr eine Analyse zu erstellen, inwieweit es in jenen Herkunftsstaaten, denen im Hinblick auf die Anzahl der in den letzten fünf Kalenderjahren erfolgten Zuerkennungen des Status des Asylberechtigten eine besondere Bedeutung zukommt, zu einer wesentlichen, dauerhaften Veränderung der spezifischen, insbesondere politischen, Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind, gekommen ist.
(4b) In einem Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 1 Z 1 gilt Abs. 4 mit der Maßgabe, dass sich die Gültigkeitsdauer der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, richtet.
(5) Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist unter Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen (VwGH 23.02.2016, Ra 2015/20/0113; 24.03.2011, 2008/23/1443).
§ 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 umschreibt Verfolgung als jede Verfolgungshandlung im Sinn des Art. 9 Statusrichtlinie 2011/95/EU, worunter - unter anderem - Handlungen fallen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist. Dazu gehören insbesondere das durch Art. 2 EMRK geschützte Recht auf Leben und das in Art. 3 EMRK niedergelegte Verbot der Folter.
Dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen stehen muss, ergibt sich schon aus der Definition des Flüchtlingsbegriffs in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wonach als Flüchtling im Sinn dieses Abkommens anzusehen ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen. Auch Art. 9 Abs. 3 der Statusrichtlinie verlangt eine Verknüpfung zwischen den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen einerseits und den Verfolgungsgründen andererseits (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0080). Dafür reicht es nach der jüngeren Ansicht des UNHCR aus, dass der Konventionsgrund ein (maßgebend) beitragender Faktor ist, er muss aber nicht als einziger oder überwiegender Grund für die Verfolgung oder das Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen nachgewiesen werden (VwGH 13.01.2015, Ra 2014/18/0140).
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN).
Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann die Gefahr der Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 in Verbindung mit Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention nicht nur aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende „Gruppenverfolgung“, hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. VwGH vom 10. 12.2014, Ra 2014/18/0078, mwN).
Im vorliegenden Fall ist auf Grund der Sachverhaltsfeststellungen davon auszugehen, dass die beschwerdeführende Partei eine drohende Verfolgung, die in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK steht, nicht glaubhaft machen konnte. Als Flüchtling im Sinn dieses Abkommens ist nur anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Die beschwerdeführende Partei verließ den Herkunftsstaat wegen des Krieges und erhielt auch bereits subsidiären Schutz in Österreich. Eine Gefahr aufgrund einer politisch oppositionellen Gesinnung konnte die beschwerdeführende Partei jedoch nicht glaubhaft machen.
Auch für eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgungsgefahr in Syrien für alle Rückkehrer aus Europa, die einen Asylantrag stellten, gibt es keine ausreichenden Hinweise. Die einschlägigen Länderberichte sprechen davon, dass die Behandlung eines Rückkehrers durch die Behörden davon abhängt, ob die Person für oder gegen das Regime ist. Die beschwerdeführende Partei stellt aber keine besonders exponierte Person dar und behauptete auch selbst nicht, dass er gegen die syrische Regierung aufgetreten wäre.
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides ist daher als unbegründet abzuweisen.
Zu dem Antrag auf Durchführung einer Verhandlung wird ausgeführt:
Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.
Den Umfang der Verhandlungspflicht aufgrund dieser Bestimmung umschrieb der Verwaltungsgerichtshof in seinem grundlegenden Erkenntnis vom 28.05.2014, Ra 2014/20/0017, worin die Kriterien für die Annahme eines geklärten Sachverhaltes zusammengefasst wurden, folgendermaßen (seither ständige Rechtsprechung; vgl. zum grundrechtlichen Gesichtspunkt auch VfGH 26.02.2018, E 3296/2017; 24.11.2016, E 1079/2016; 14.03.2012, U 466/11, U 1836/11):
„Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht muss die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstanziiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.“
Im vorliegenden Fall liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 21 Abs. 7 erster Fall BFA-VG und die dazu von der ständigen Rechtsprechung aufgestellten Kriterien vor. Der Sachverhalt ist aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt. In einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren wurde der beschwerdeführenden Partei ausreichend Parteiengehör eingeräumt, und auch die Beschwerde zeigt nicht plausibel auf, inwieweit eine neuerliche Einvernahme zu einer weiteren Klärung der Sache führen könnte.
Im gegenständlichen Fall ist dem angefochtenen Bescheid ein umfassendes Ermittlungsverfahren durch das BFA vorangegangen. Für die in der Beschwerde behauptete Mangelhaftigkeit des Verfahrens ergeben sich aus der Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes keine Anhaltspunkte. Vielmehr wurde den Grundsätzen der Amtswegigkeit, der freien Beweiswürdigung, der Erforschung der materiellen Wahrheit und des Parteiengehörs entsprochen. Der Sachverhalt wurde daher nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens unter schlüssiger Beweiswürdigung festgestellt.