Bsw37782/21 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Z. gg Tschechien, Urteil vom 20.6.2024, Bsw. 37782/21.
Spruch
Art 3, 8 EMRK - Kein effektiver strafrechtlicher Schutz für Opfer behaupteten sexuellen Missbrauchs.
Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).
Verletzung von Art 3 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 8 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 25.000,– für immateriellen Schaden; € 1.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
2003 begann die Bf mit dem Studium der Theologie an der Universität Prag, wo sie unter anderem vom Priester V. K. gehaltene Vorlesungen besuchte. Dieser gewann alsbald ihr Vertrauen, sodass sie ihm über einen als Minderjährige erlittenen sexuellen Missbrauch durch einen Priester und die psychischen Folgeerscheinungen berichtete. Zwischen 2008 und 2009 wurde sie von V. K. mehrmals sexuell belästigt, als sie wegen des Ablebens ihres Vaters und ihres Gesundheitszustands psychisch angeschlagen war.
2009 brachte die Bf die Angelegenheit den zuständigen Kirchenbehörden zur Kenntnis, die V. K. zur Aufgabe seiner dienstlichen Funktionen bewegten und für seine Versetzung nach Italien sorgten.
Im November 2019 wurden von der Polizei Ermittlungen gegen V. K. eröffnet, im Zuge derer auch die Bf befragt wurde. Sie gab an, körperliche Kontakte mit V. K. gehabt zu haben, die sie anfänglich als Versuch, ihr zu helfen und über den sexuellen Missbrauch im Kindesalter hinwegzukommen, begriffen hätte, jedoch hätten sich diese nach dem Tod ihres Vaters intensiviert. Im Juni bzw Juli 2008 habe dieser sie an intimen Körperstellen berührt bzw versucht, in sie einzudringen. Bei diesen Anlässen habe sie große Angst verspürt und sich schmutzig bzw schuldig gefühlt. Sie habe V. K. jedoch als Autoritätsperson und spirituellen Vater angesehen und geglaubt, sich fügen zu müssen. Zudem habe sie befürchtet, im Fall einer Weigerung ihr Studium bzw ihre Dissertation nicht abschließen zu können. V. K. habe zu mehrerlei Anlässen ihre Genitalien berührt und sie gebeten, vor ihr zu masturbieren. Nach Vornahme der sexuellen Handlungen habe sie ihm wiederholt mitgeteilt, dazu nicht ihr Einverständnis erteilt zu haben, jedoch sei es ihr nicht möglich gewesen, sich aktiv zu widersetzen.
Am 1.6.2020 stellte die Polizei die Ermittlungen ein. Sich auf das zum Zeitpunkt der von der Bf erhobenen Vorwürfe in Geltung stehende Strafgesetzbuch Nr 140/1961 stützend schloss sie, dass das Verhalten von V. K., wenngleich moralisch verwerflich, keine Straftat dargestellt habe. Die von ihm begangenen Handlungen könnten auch nicht als sexueller Missbrauch iSv § 243 des Strafgesetzbuchs qualifiziert werden, da die Bf zum relevanten Zeitpunkt nicht minderjährig gewesen wäre und sie sich nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu V. K. befunden habe. Es liege auch keine Vergewaltigung vor, da V. K. nicht Rückgriff auf (die Androhung von) Gewalt genommen habe. Zudem habe die Bf ihr fehlendes Einverständnis erst nach und nicht während der sexuellen Handlungen erklärt. Letztere hätten auf der Grundlage des neuen Strafgesetzbuchs Nr 40/2009 als sexuelle Nötigung angesehen werden können, jedoch wäre dieses erst am 1.1.2010 – also nach den gegenständlichen Ereignissen – in Kraft getreten.
Ein von der Bf gegen die Einstellungsentscheidung erhobener Rechtsbehelf wurde von der Prager Staatsanwaltschaft mit der Begründung abgewiesen, die Bf habe sich nicht unter einer Kontrolle in der Form befunden, wie dieser Begriff von den tschechischen Gerichten ausgelegt werde. Von einer solchen sei dann auszugehen, wenn es um die Beziehungen eines Elternteils zu seinem Kind, eines Erwachsenenvertreters zu einer Person mit fehlender Geschäftsfähigkeit oder eines Lehrers zu seiner Schülerin/seinem Schüler gehe. Die Bf sei daher nicht unfähig gewesen, sich zu verteidigen. Ein von ihr dagegen erhobenes Rechtsmittel blieb erfolglos.
Am 18.5.2021 wies das tschechische Verfassungsgericht eine von der Bf erhobene Beschwerde mit der Begründung zurück, nicht jedes unethische und gesellschaftlich inakzeptable Verhalten stelle eine Straftat dar.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
(35) Die Bf beklagte sich über eine restriktive Auslegung der im Strafgesetzbuch Nr 140/1961 vorgesehenen Tatbestandselemente der Verbrechen der Vergewaltigung und des sexuellen Missbrauchs durch die Behörden. Das strafrechtliche Regelwerk sei unzureichend gewesen, um Sexualdelikte zu ahnen, denen sie zum Opfer gefallen sei. Zudem seien ihre vertretbaren Behauptungen, Gegenstand von sexuellen Aggressionen geworden zu sein, nicht effektiv untersucht worden.
(36) Sie behauptete eine Verletzung von Art 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) und von Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens).
Zur behaupteten Verletzung der Art 3 und 8 EMRK
Zulässigkeit
(37) Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK aufgelisteten Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(49) Der GH möchte daran erinnern, dass Vergewaltigung und sexuelle Aggressionen dem Art 3 EMRK [...] unterfallen und auch fundamentale Werte bzw essenzielle Aspekte des Privatlebens iSv Art 8 EMRK ins Spiel bringen (vgl Y./BG, Rz 63–64). Im Einklang mit dieser Rsp ist er der Ansicht, dass die von der Bf behaupteten Tatsachen rund um das Erleiden sexueller Aggressionen ausreichend schwerwiegend sind, um in den Anwendungsbereich von Art 3 EMRK zu kommen. Die von ihr erhobenen Rügen können daher gemeinsam unter Art 3 iVm Art 8 EMRK geprüft werden.
(50) Die einschlägigen allgemeinen Prinzipien sind insb im Fall M. C./BG, Rz 149–152, aufgelistet. Den Staaten kommt gemäß Art 3 und 8 EMRK die positive Verpflichtung zu, strafrechtliche Bestimmungen vorzusehen, die auf effektive Art und Weise jegliche sexuelle Handlung, in die nicht eingewilligt wurde, unter Strafe stellen und ahnden. Dies gilt auch dann, wenn das Opfer keinen physischen Widerstand geleistet hat (vgl M. G. C./RO, Rz 59; Z./BG, Rz 67). Diese Bestimmungen sind im Zuge der Strafverfolgung und bei strafrechtlichen Untersuchungen wirksam anzuwenden (siehe etwa B. V./BE, Rz 55).
(51) Die positiven Verpflichtungen nach den Art 3 und 8 EMRK verlangen in erster Linie die Bereitstellung eines gesetzlichen Regelwerks, welches den adäquaten Schutz von Individuen vor Beeinträchtigungen ihrer physischen und moralischen Integrität vor allem bei so schwerwiegenden Handlungen wie einer Vergewaltigung gestattet. Es müssen wirksame strafrechtliche Bestimmungen vorhanden sein, die auch in der Praxis tatsächlich umgesetzt werden (vgl etwa J. L./IT, Rz 118).
(52) [...] In seinem Urteil im Fall M. C./BG, Rz 154, hat der GH eingeräumt, dass die Staaten bei der Beurteilung, mit welchen Mitteln sie einen adäquaten Schutz gegen eine Vergewaltigung sicherstellen wollen, einen weiten Ermessensspielraum genießen. In diesem Kontext hielt er fest, dass das Erfordernis, wonach das Opfer körperlichen Widerstand leisten müsse, in der Gesetzgebung der europäischen Staaten keinen Platz mehr habe. Zwar enthalte die Definition einer Vergewaltigung in vielen Ländern nach wie vor den Hinweis auf die Verwendung von Gewalt oder die Androhung des Rückgriffs auf Gewalt durch den sexuellen Aggressor, jedoch würden Rsp und Lehre eher das Fehlen einer Zustimmung – und nicht die Anwendung von Gewalt – als Tatbestandselement des Delikts der Vergewaltigung ansehen. Der GH vertrat die Überzeugung, dass ein rigider Ansatz bei der Unterdrückung von Sexualstraftaten – indem beispielsweise verlangt wird, dass in jedem Fall ein Beweis des Vorliegens von physischem Widerstand erbracht werden muss – die Gefahr mit sich bringen werde, dass Urheber gewisser Formen von Vergewaltigungen ungestraft davonkommen könnten. Dies würde darauf hinauslaufen, dass Individuen ein effektiver Schutz ihrer sexuellen Selbstbestimmung vorenthalten werde. Unter Berücksichtigung der aktuellen Normen und Tendenzen auf diesem Gebiet, darunter solche, die das Fehlen eines Einverständnisses als wesentliches Tatbestandselement einer Vergewaltigung und von sexuellen Gewalthandlungen betrachten, kam der GH zu dem Schluss, dass den Staaten die Verpflichtung zukomme, jegliche sexuelle Handlung, in die nicht eingewilligt wurde, unter Strafe zu stellen und effektiv zu ahnden – und zwar auch dann, wenn das Opfer keinen physischen Widerstand leistete (siehe M. C./BG, Rz 157–166).
(54) Vorab ist festzuhalten, dass zum Zeitpunkt der von der Bf angeprangerten Tatsachen [...], nämlich zwischen 2008 und 2009, die Straftaten vom Strafgesetzbuch Nr 140/1961 definiert wurden. Gemäß § 241 leg cit konnte eine Vergewaltigung im Wege des Rückgriffs auf Gewalt oder die Drohung, sofortige Gewalt anzuwenden, begangen werden, um das Opfer zu einer sexuellen Handlung oder zu einem Akt mit sexuellem Bezug zu zwingen, indem die Unfähigkeit des Opfers, sich zu wehren, ausgenutzt wird. Zudem definierte § 243 leg cit das Delikt des sexuellen Missbrauchs, welches weniger hart geahndet wurde, als Ausnutzung der Abhängigkeitssituation einer Person unter 18 Jahren, die sich unter der Kontrolle des Aggressors befindet.
(55) Im vorliegenden Fall kam die Polizei zu dem Ergebnis, dass keine Vergewaltigung stattgefunden habe, da V. K. weder Rückgriff auf Gewalt genommen noch damit gedroht hätte und die Bf ihr fehlendes Einverständnis erst nach Vornahme der sexuellen Handlungen und nicht zuvor ausgedrückt hatte. [In ihrem Vorbringen vor dem GH] stritt die Bf dies auch nicht ab, brachte jedoch vor, dass die nationalen Behörden die von V. K. begangenen Handlungen dennoch als Vergewaltigung qualifizieren hätten müssen, da er ihre Unfähigkeit, sich zu wehren ausgenutzt bzw sie sexuell missbraucht habe, wäre sie doch unter seiner Kontrolle gestanden und hätte er Nutzen aus ihrer Abhängigkeit gezogen. Laut der Bf hätten die Behörden die spezifischen Umstände ihrer Situation in Betracht ziehen sollen, nämlich ihre früheren Erfahrungen mit Missbrauch [als Minderjährige], die Fragilität ihres Gesundheitszustands (der unter anderem wegen des Ablebens ihres Vaters beeinträchtigt gewesen sei) und schließlich die Besonderheit ihrer Beziehung zu V. K. in seiner Eigenschaft als Dissertationsbetreuer und spiritueller Beistand. Dies alles habe es ihr nicht möglich gemacht, gegen die Machenschaften von V. K. aktiv Widerstand zu leisten. Sie unterstreicht in dieser Hinsicht, dass die Behörden in keiner Weise eine Einschätzung ihres psychischen Zustands einerseits und ihrer Fähigkeit, ihren Willen zu bekunden andererseits vorgenommen hätten.
(56) Der GH hat nun zu beurteilen, ob die Behörden im gegenständlichen Fall im Einklang mit ihren positiven Verpflichtungen gemäß den Art 3 und 8 EMRK handelten, um der Bf effektiven Schutz vor nicht mit ihrem Einverständnis erfolgten sexuellen Handlungen [...] zu gewährleisten. [...]
(57) Im vorliegenden Fall scheint die Polizei die Ansicht vertreten zu haben, dass die Bf ihren Widerstand gegen die von V. K. begangenen [sexuellen] Handlungen während des fraglichen Vorgangs ausdrücken hätte sollen, damit diese strafbar gewesen wären. Die Tatsache, dass sie ihr Missfallen wiederholt danach ausdrückte, wie auch die Annahme, V. K. könnte irrtümlicherweise von ihrem Einverständnis [zur Vornahme sexueller Handlungen] ausgegangen sein, scheint für die Behörden nicht von Bedeutung gewesen zu sein. Dies gilt auch für den Umstand, dass die Bf Gründe gehabt haben mochte, passiv zu bleiben oder sich V. K. aufgrund seiner Autoritätsstellung nicht entgegenstellen wollte, ohne freilich den Handlungen zustimmen zu wollen. In der Tat hielten es die Behörden ungeachtet der diesbezüglichen Behauptungen der Bf nicht für notwendig, eine auf dem Kontext beruhende Bewertung der Glaubwürdigkeit ihrer Erklärungen und eine Prüfung aller Begleitumstände vorzunehmen. Insb wäre es zweifellos von Bedeutung gewesen, den psychischen Zustand der Bf in Betracht zu ziehen, um feststellen zu können, ob sie eventuell an einer posttraumatischen Belastungsreaktion aufgrund des [in der Kindheit erlittenen] sexuellen Missbrauchs litt. Überdies wurde von den Behörden auch die Frage nicht ausreichend geprüft, ob sich die Bf gegebenenfalls und in welchem Ausmaß in einer Situation der besonderen Verwundbarkeit und Abhängigkeit gegenüber V. K. befand. Die Staatsanwaltschaft begnügte sich in dieser Hinsicht lediglich mit dem Schluss, dass es der Bf im Sinne der [einschlägigen] Gesetze und der innerstaatlichen Rsp nicht unmöglich gewesen war, sich zu wehren.
(58) Der GH will auch die zum maßgeblichen Zeitpunkt geltende Rsp der innerstaatlichen Gerichte nicht ignorieren, wonach es dem Opfer in gewissen Situationen der Hilflosigkeit wie beispielsweise im Fall des Trinkens von Alkohol, des Konsums von Drogen, einer Krankheit oder einer Behinderung nicht möglich ist, seinen Willen auszudrücken oder sich zur Wehr zu setzen. Nach Ansicht des GH würde ein derartiger Ansatz jedoch nur unzureichend Situationen der ungültigen Einverständniserklärung, die sich aus der Ausnutzung der Verwundbarkeit ergeben bzw – allgemeiner gesagt – der psychologischen Reaktion von Opfern sexueller Aggressionen Rechnung tragen. Im Lichte dieser restriktiven Interpretation der Tatbestandselemente des Verbrechens der [im Strafgesetzbuch Nr 140/1961 definierten] Vergewaltigung entschieden die für die Untersuchung verantwortlich zeichnenden Behörden, diese mit sofortiger Wirkung zu schließen. Im vorliegenden Fall erfolgte eine rechtskräftige Entscheidung über die Angelegenheit bereits in der Vorbereitungsphase des Strafverfahrens, ohne dass die Sache zuvor einem Gericht vorgelegt wurde, da es der Bf nach innerstaatlichem Recht untersagt war, [gegen die Einstellung] einen Rechtsbehelf bei Gericht einzubringen.
(59) In dieser Hinsicht scheint die jüngste Rsp des tschechischen Obersten Gerichtshofs zum neuen Strafgesetzbuch eine angemessenere Antwort in dieser Frage zu geben. (Anm: Danach ist es – um von »Gewalt« iSd § 185 Abs 1 des tschechischen Strafgesetzbuchs zu sprechen – nicht notwendig, dass das Opfer offenkundigen physischen Widerstand leistet, so zum Beispiel, wenn der Aggressor ihm dazu keine Gelegenheit geboten oder es seinen Widerstand aus Erschöpfung, Angst oder Stress aufgegeben hat. Es reicht aus, wenn der Aggressor die Möglichkeit hat, das fehlende Einverständnis des Opfers wahrzunehmen. Sofern es von Stress gelähmt ist oder eine psychische Blockade ihm nicht erlaubt, sich zu äußern, kann die fehlende Zustimmung auf non-verbale Art, durch das spezifische Verhalten oder die passive bzw defensive Körperhaltung ausgedrückt werden.).
(60) Was die Straftat des sexuellen Missbrauchs angeht, wie er im zum damaligen Zeitpunkt in Geltung stehenden Strafgesetzbuch definiert wurde, kamen die innerstaatlichen Behörden im vorliegenden Fall zu dem Schluss, dass die Bf sich nicht unter der Kontrolle von V. K. in dem Sinn befunden hatte, wie dieser Begriff von der Rsp interpretiert wurde. Ihr freier Wille wäre daher nicht eingeschränkt worden, da es sich bei ihr um eine Erwachsene mit voller Rechtsfähigkeit handelte und sie auch nicht an einer Krankheit litt, die sie an der Bekundung ihrer Wünsche gehindert hätte. Die Feststellung der Behörden, wonach sie ein gewisses Abhängigkeitsgefühl zu V. K. entwickelt haben könnte, veranlasste diese nicht dazu, ihre Analyse zu vertiefen. Nach Ansicht des GH war dieser Ansatz, der dem Wesen nach darin bestand, nicht eine Beurteilung der Fakten in ihrem Kontext gesehen vorzunehmen, indem auch der psychische Zustand der Bf konkret mitberücksichtigt wurde, und nicht nur die Tatsache, dass es sich bei ihr um eine Erwachsene handelte, fehlerhaft.
(61) Zudem erwogen die Behörden im gegenständlichen Fall, dass die Handlungen von V. K. auf der Grundlage des nach den strittigen Ereignissen in Kraft getretenen neuen Strafgesetzbuchs als sexuelle Nötigung angesehen werden konnten. Dies wird durch die nachfolgende Rsp [des tschechischen Obersten Gerichtshofs] bestätigt.
(62) Nach Ansicht des GH vermochte der Ansatz der Behörden der Bf im vorliegenden Fall keinen angemessenen Schutz zu garantieren. Der belangte Staat verabsäumte es somit, den ihm auferlegten positiven Verpflichtungen nachzukommen, die – zumindest ab dem vom GH gefällten Urteil M. C./BG aus 2003 – die effektive Anwendung eines Strafrechtssystems verlangt hätten, mit dem das von der Bf behauptete Zustandekommen nicht einvernehmlicher sexueller Handlungen geahndet worden wäre. Der GH erinnert daran, dass er nicht dazu aufgerufen ist, über die strafrechtliche Verantwortung des mutmaßlichen Aggressors zu entscheiden und seine obigen Schlussfolgerungen nicht als eine Ansicht über V. K.s Schuld oder als Aufruf zur Wiederaufnahme der strafrechtlichen Untersuchung [...] verstanden werden können.
(63) Die vorstehenden Ausführungen reichen für den GH aus, um im vorliegenden Fall auf eine Verletzung der dem belangten Staat obliegenden positiven Verpflichtungen unter den Art 3 und 8 EMRK zu schließen (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
€ 25.000,– für immateriellen Schaden; € 1.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
M. C./BG, 4.12.20o3, 39272/98 = NL 2003, 316
M. G. C./RO, 15.3.2016, 61495/11
B. V./BE, 2.5.2017, 61030/08
Y./BG, 20.2.2020, 41990/18
Z./BG, 28.5.2020, 39257/17
J. L./IT, 27.5.2021, 5671/16
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.6.2024, Bsw. 37782/21, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 213) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.