Bsw32483/19 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Nealon und Hallam gg das Vereinigte Königreich, Urteil vom 11.6.2024, Bsw. 32483/19.
Spruch
Art 6 Abs 2 EMRK - Verweigerung einer Entschädigung für Haft nach Justizirrtum.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art 6 Abs 2 EMRK (12:5 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Herr Nealon wurde im Jahr 1997 wegen versuchter Vergewaltigung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, von der mindestens sieben Jahre zu verbüßen waren. Herr Hallam wurde im Jahr 2004 wegen Mordes, Verschwörung zur schweren Körperverletzung und weiteren Gewalttaten verurteilt. Im Jahr 2013 wurden die Verurteilungen der Bf aufgehoben, da ein Justizirrtum vorlag. Es waren aufgrund neuer Tatsachen Zweifel an einigen Beweisen aufgekommen, die der Anklage und Verurteilung zugrunde lagen. In der zweiten Sache war es zu weiteren Analysen der Kleidung des Opfers gekommen, wobei die DNA eines unbekannten Mannes sichergestellt worden war. Die beiden Bf hatten 17 Jahre und drei Monate bzw sieben Jahre und sieben Monate ihrer Strafe verbüßt.
Beide Bf beantragten daraufhin eine Entschädigung wegen eines Justizirrtums. § 133 Abs 1ZA Strafrechtsgesetz von 1988 (im Folgenden: Strafrechtsgesetz) sah die Zahlung einer Entschädigung vor, wenn die Verurteilung einer Person wegen einer Straftat mit der Begründung aufgehoben wurde, dass eine neue oder neu entdeckte Tatsache zweifelsfrei das Vorliegen eines Justizirrtums beweist, es sei denn, die Unkenntnis der unbekannten Tatsache war ganz oder teilweise der betroffenen Person selbst zuzuschreiben. Vor dem Jahr 2014 wurde der Begriff »Justizirrtum« (miscarriage of justice) von den nationalen Gerichten so ausgelegt, dass davon Fälle erfasst waren, die wie folgt eingeordnet werden können:
1. Fälle, in denen die neuen Beweise eindeutig zeigten, dass der Angeklagte der Straftat, aufgrund derer er verurteilt worden war, nicht schuldig war; und
2. Fälle, in denen die neuen Beweise im Vergleich zu den zuvor herangezogenen Beweisen eine Verurteilung auf dieser Grundlage unmöglich machten.
Mit § 133 Strafrechtsgesetz war der GH (Allen/GB) bereits im Jahr 2013 beschäftigt. Hier stellte die GK keine Verletzung von Art 6 Abs 2 EMRK fest. Diesem Urteil lag eine Beschwerde zugrunde, dass die gerichtliche Begründung der Verweigerung der Entschädigung nach der Aufhebung der Verurteilung der Bf Zweifel an der Unschuld aufkommen ließen und daher ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vorgelegen sei. Nach diesem Urteil wurde 2014 in § 133 Strafrechtsgesetz der neue Abs 1ZA eingefügt. Damit wurde klargestellt, dass ein Bf dann Anspruch auf eine Entschädigung hat, wenn die neue oder neu entdeckte Tatsache zweifelsfrei beweist, dass er die Straftat nicht begangen hat.
Die Entschädigungsanträge der beiden Bf wurden jeweils abgelehnt, weshalb der GH zu prüfen hatte, ob diese Ablehnungen mit Art 6 Abs 2 EMRK in Einklang stehen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf behaupteten, aufgrund der Ablehnung ihrer Entschädigungsanträge wegen eines Justizirrtums in ihrem Recht auf Wahrung der Unschuldsvermutung iSd Art 6 Abs 2 EMRK verletzt worden zu sein.
(98) Unter Berücksichtigung der ähnlichen Beschwerdegegenstände hält es der GH für angemessen, die Beschwerden gemeinsam in einer Entscheidung zu behandeln (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 6 Abs 2 EMRK
Zulässigkeit
(120) In der Rechtssache Allen/GB stellte der GH klar, dass er in [...] früheren Fällen die Anwendbarkeit von Art 6 Abs 2 EMRK trotz des Fehlens einer anhängigen strafrechtlichen Anklage bejaht hatte, weil die Entscheidungen über den Anspruch der Bf auf Kostenerstattung und Entschädigung »Folgen und notwendige Begleiterscheinungen« oder »eine unmittelbare Folge« des Abschlusses des Strafverfahrens waren [...]. In weiteren Fällen kam der GH zum Ergebnis, [...] dass Art 6 Abs 2 EMRK auf das Entschädigungsverfahren anwendbar ist.
(121) In der früheren Rsp des GH wurde zwischen Fällen, in denen es um Entschädigungsansprüche eines ehemaligen Angeklagten ging, und Fällen, in denen es um das Recht des Opfers auf Entschädigung durch einen ehemaligen Angeklagten ging, unterschieden [...]. In der ersten Konstellation [...] konnte eine Verbindung zwischen den beiden Verfahren hergestellt werden, mit dem Ergebnis, dass Art 6 Abs 2 EMRK anwendbar war. Im Gegensatz dazu würde in der zweiten Konstellation eine solche Verbindung nur dann bestehen, wenn die Entscheidung über die zivilrechtliche Entschädigung eine Aussage enthielt, die dem ehemaligen Angeklagten eine strafrechtliche Verantwortung zuweist [...].
(122) Der Anwendungsbereich [...] von Art 6 Abs 2 EMRK geht jedoch über diese beiden Kategorien hinaus [...]. Wenn sich die Frage der Anwendbarkeit von Art 6 Abs 2 EMRK im Rahmen eines späteren Verfahrens stellt, ist vom Bf nachzuweisen, dass zwischen dem abgeschlossenen Strafverfahren und dem späteren Verfahren eine Verbindung besteht. [...]
(127) In der Rechtssache Allen/GB prüfte die GK das auf § 133 Strafrechtsgesetz (vor der Änderung 2014) beruhende System und war [...] davon überzeugt, dass der Bf das Bestehen des erforderlichen Zusammenhangs zwischen dem Straf- und dem anschließenden Entschädigungsverfahren nachgewiesen hatte. Dies war darauf zurückzuführen, dass erst die spätere Aufhebung der Verurteilung das Recht auslöste, eine Entschädigung wegen eines Justizirrtums zu beantragen [...]. Um zu prüfen, ob die kumulativen Kriterien des § 133 erfüllt waren, musste [...] das Urteil [...] des Berufungsgerichts berücksichtigt werden. Nur durch die Prüfung dieses Urteils konnte festgestellt werden, ob die Aufhebung der Verurteilung auf neuen Beweisen beruhte und ob sie Grund zur Annahme eines Justizirrtums gab [...].
(128) Das Gesetz aus dem Jahr 2014 fügte einen neuen § 133 Abs 1ZA [mit dem Titel »Justizirrtum«] ein, nach dem eine Entschädigung für einen Bf nur dann in Betracht kommt, wenn durch die neue oder neu entdeckte Tatsache zweifelsfrei nachgewiesen wird, dass er die Straftat nicht begangen hat [...]. [...] Das Entschädigungsverfahren erfordert nach wie vor die Prüfung des Ergebnisses des vorangegangenen Strafverfahrens und insb des Urteils der Strafkammer des Berufungsgerichts. Der GH betont, dass in Entschädigungsverfahren der Schwerpunkt auf den Auswirkungen der neuen oder neu entdeckten Tatsache liegt – dies ist für die Beurteilung der Begründetheit und der Anwendbarkeit des Art 6 Abs 2 EMRK von zentraler Bedeutung. Der GH ist jedoch auch verpflichtet, eine Bewertung der Beweise vorzunehmen, soweit dies erforderlich ist, um zu beurteilen, ob ein über jeden Zweifel erhabener Beweis erbracht werden kann, dass der Bf die Straftat nicht begangen hat. [...]
(129) Der GH sieht keinen Grund, von seiner Schlussfolgerung in der Rechtssache Allen/GB betreffend die Anwendbarkeit von Art 6 Abs 2 EMRK abzugehen, weshalb die vorliegenden Beschwerden nicht nach Art 35 Abs 3 lit a EMRK ratione materiae als unvereinbar mit der Konvention zurückgewiesen werden können.
(130) Der GH hält fest, dass Art 6 Abs 2 EMRK auf den Sachverhalt des vorliegenden Falls anwendbar ist und die Beschwerden nicht aus anderen Gründen unzulässig sind. Die Beschwerden sind daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
In der Sache
Allgemeine Grundsätze
(150) In der Rechtssache Allen/GB beschrieb die GK den in früheren vergleichbaren Fällen verfolgten Ansatz. [...]
(151) Der GH ist dem in der Rechtssache Allen/GB selbst erarbeiteten Ansatz in Bezug auf die drei verschiedenen Stränge seiner Rsp zum zweiten Aspekt (zivilrechtliche Entschädigungsansprüche von Opfern) gefolgt [...]. [Diese Stränge sind] erstens Kostenfragen und Entschädigungsansprüche ehemaliger Angeklagter, bei denen zwischen (a) Verfahren, die auf einen Freispruch folgten, und (b) Verfahren, die auf eine Einstellung folgten, unterschieden wurde [...]; zweitens Fälle, in denen es um zivilrechtliche Entschädigungsansprüche von Opfern ging [...] und drittens Fälle, die Disziplinarverfahren betreffen [...].
(152) Bei der Prüfung der Begründung in einem nach einem Freispruch von den strafrechtlichen Vorwürfen oder einer Einstellung des Strafverfahrens erfolgten Disziplinarverfahren, das mit der auf denselben Sachverhalt gestützten Entlassung eines Arbeitnehmers endete, ist das maßgebliche Kriterium für den GH weiterhin der in der Rechtssache Allen/GB zusammengefasste Ansatz, dh ob die angefochtene Begründung auf die Unterstellung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit hinauslief [...].
(153) In Fällen, in denen zivilrechtliche Entschädigungsansprüche von Opfern geltend gemacht werden, vertritt der GH auch weiterhin die Auffassung, dass unabhängig davon, ob das Strafverfahren mit einer Einstellung oder einem Freispruch endete, die Entlastung von der strafrechtlichen Verantwortung im zivilrechtlichen Entschädigungsverfahren beachtet werden sollte. Dies steht der Feststellung einer zivilrechtlichen Entschädigungspflicht wegen desselben Sachverhalts auf der Grundlage einer weniger strengen Beweislast nicht entgegen, sofern die nationale Entschädigungsentscheidung keine Feststellung enthält, die eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der beklagten Partei unterstellt. [...]
(154) Interessant ist auch die Feststellung, dass [...] ein Freispruch nicht als solcher die Einziehung von Geldern ausschließt, die aus Straftaten stammen, die nicht dem Freigesprochenen, sondern einem Dritten zuzurechnen sind [...].
(155) In Entscheidungen, die nach der Rechtssache Allen/GB ergangen sind und sich auf Kostenfragen und Entschädigungsansprüche eines ehemaligen Angeklagten nach der Einstellung des Strafverfahrens beziehen [...], hat der GH [...] der Frage entscheidende Bedeutung beigemessen, ob die angefochtene Entscheidung über den Anspruch eine Bejahung der strafrechtlichen Schuld zum Inhalt hatte [...].
(156) Fälle, in denen es um Kostenfragen und Entschädigungsansprüche eines ehemaligen Angeklagten nach einem Freispruch geht, sind problematischer [...]. Die vorliegende Rechtssache bietet dem GH die Gelegenheit, diesen Teil seiner Rsp zu überdenken.
(157) In der Rechtssache Sekanina/AT hat der GH in Bezug auf Kostenerstattung und Entschädigung nach einem Freispruch eines Angeklagten [...] entschieden, dass die Äußerung von Zweifeln hinsichtlich der Unschuld eines Angeklagten denkbar ist, solange der Abschluss des Strafverfahrens nicht zu einer Entscheidung in der Sache geführt hat, dass es aber nicht mehr zulässig ist, sich auf solche Verdachtsmomente zu berufen, sobald ein Freispruch rechtskräftig geworden ist [...]. Im vorliegenden Fall hält es die GK jedoch für erforderlich, erneut zu prüfen, ob die Beibehaltung dieser Unterscheidung – und damit die Gewährung eines höheren Schutzniveaus (iSd zweiten Aspekts von Art 6 Abs 2 EMRK) für eine Person, die freigesprochen wurde, als für eine Person, gegen die das Strafverfahren eingestellt wurde, – weiterhin gerechtfertigt ist.
(158) Während eine Verfahrenseinstellung auf den ersten Blick nicht dieselbe entlastende Wirkung zu haben scheint wie ein Freispruch, ist die Realität bei näherer Betrachtung durchaus differenzierter und weniger eindeutig. Ein Strafverfahren kann einerseits eingestellt werden, weil nicht genügend Beweise für eine Anklage vorliegen [...]. Andererseits ist es möglich, dass bei Personen, gegen die genügend Beweise für eine Strafverfolgung (und vielleicht sogar für eine Verurteilung) vorliegen, das Verfahren eingestellt wird oder die Personen wegen eines Formalfehlers freigesprochen werden (siehe G.I.E.M. S.r.l. ua/IT). Es gibt keinen triftigen Grund, warum letztere in einer günstigeren Position sein sollten, nur weil das Verfahren mit einem Freispruch endete.
(159) Darüber hinaus kann die Bedeutung einer Einstellung von Fall zu Fall und auch von Rechtsordnung zu Rechtsordnung Unterschiede aufweisen. In der Rechtssache Lähteenmäki/EE befasste sich der GH mit dem spezifischen Kontext der Einstellung eines Strafverfahrens gemäß Art 202 der estnischen Strafprozessordnung, der eine Straftat voraussetzt, für welche die Schuld des Angeklagten vernachlässigbar ist. Auch wenn die Einstellung nach dieser Vorschrift weder einer Verurteilung noch einem Freispruch gleichkommt, hat sie nach Ansicht des GH dennoch eine gewisse belastende Wirkung. In ähnlicher Weise konnte [...] ein Verfahren nicht wegen Verjährung eingestellt werden, wenn der Richter davon überzeugt war, dass der Angeklagte die Straftat nicht begangen hatte [...]. Darüber hinaus war [in manchen Staaten] die Zustimmung des Angeklagten (und damit sein Verzicht auf eine Beurteilung in der Sache) erforderlich [...]. Andererseits kann die Staatsanwaltschaft in einigen Ländern [...] das Verfahren einstellen, wenn die Beweise nicht ausreichen, um die strafrechtliche Anklage weiterzuverfolgen [...]. In diesem Fall hatte der Angeklagte nicht die Möglichkeit, freigesprochen zu werden, da die Beweise gegen ihn zu schwach waren, um den Fall überhaupt vor Gericht zu bringen. Dennoch würde der in der Rechtssache Sekanina/AT entwickelte Grundsatz nahelegen, dass die Unschuldsvermutung weniger streng gelten würde, wenn der Angeklagte gegen den Staat eine Schadenersatzklage erheben würde, [...] als wenn genügend Beweise für ein Verfahren vorgelegen hätten, dieses aber mit einem Freispruch endete.
(160) Bemerkenswert ist, dass es die GK in der Rechtssache Allen/GB (in der es wie in der Rechtssache Sekanina/AT ebenfalls um eine Entschädigungsklage eines ehemaligen Angeklagten gegen den Staat ging) nicht für angebracht hielt, die klare Unterscheidung zwischen Einstellung und Freispruch, wie im Urteil Sekanina/AT festgelegt, aufrechtzuerhalten. [...]
(161) Nachdem die GK festgestellt hat, dass der Freispruch der Bf in der Rechtssache Allen/GB eher die Merkmale von Fällen aufwies, in denen ein Strafverfahren eingestellt wurde, verneinte sie eine Verletzung von Art 6 Abs 2 EMRK in seinem zweiten Aspekt, da aus der von den nationalen Gerichten verwendeten Sprache nicht abgeleitet werden kann, dass der Freispruch der Bf untergraben wird oder die Bf in einer Weise behandelt wurde, die mit ihrer Unschuld unvereinbar ist [...]. Mit anderen Worten, der GH stützte sich im Wesentlichen auf die im Fall einer Einstellung geltenden Kriterien, wie sie in der Rechtssache Minelli/CH aufgestellt und später in der Rsp [...] angeführt wurden, und stellte fest, dass die angefochtene Begründung nicht die Auffassung widerspiegelte, dass die Bf der Straftaten schuldig war, auf die sich die aufgehobene Verurteilung bezog. Obwohl die Rechtssache Allen/GB keine ausdrückliche Abkehr von der bestehenden Rsp bedeutete, brachte sie doch eine erhebliche Einschränkung hinsichtlich der Art der Umstände mit sich, unter denen der GH bereit wäre, das erhöhte Schutzniveau der Unschuldsvermutung zu gewähren, das eine freigesprochene Person aus dem zweiten Aspekt des Art 6 Abs 2 EMRK ableiten kann. Im Einklang mit dem vorgenannten Ansatz wurden drei ähnliche Beschwerden [...] für unzulässig erklärt. [...]
(162) In der Realität werden wahrscheinlich viele Fälle in diese Grauzone fallen. [...]
(163) Die Differenzierung zwischen einer Einstellung und einem endgültigen Freispruch in der Sache wurde zwar in Rechtssachen, die Kostenfragen und Entschädigungsansprüche ehemaliger Angeklagter betreffen [...], als gegeben angesehen [...]. Eine derartige Unterscheidung wurde jedoch weder bei Rechtssachen mit zivilrechtlichen Entschädigungsansprüchen von Opfern noch bei Rechtssachen, die Disziplinarverfahren betreffen [...], noch bei anderen Rechtssachen des zweiten Aspekts, die sich keinem der drei oben genannten Aspekte zuordnen lassen, vorgenommen [...]. In Fällen, in denen es um zivilrechtliche Schadenersatzansprüche von Opfern geht [...], hat der GH ausdrücklich bekräftigt, dass unabhängig davon, ob das Strafverfahren mit einer Einstellung oder einem Freispruch endete, die Entlastung von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit die Feststellung einer zivilrechtlichen Verpflichtung zur Zahlung von Schadenersatz an das Opfer aufgrund desselben Sachverhalts auf der Grundlage einer weniger strengen
Beweislast nicht ausschließen sollte. Wäre dies nicht der Fall, würde Art 6 Abs 2 EMRK die unerwünschte Wirkung haben, dass ein strafrechtlicher Freispruch den Möglichkeiten des Opfers, eine Entschädigung nach dem Zivilrecht zu fordern, zuvorkommt – dies hätte eine willkürliche und unverhältnismäßige Beschränkung des Rechts auf Zugang zu einem Gericht gemäß Art 6 Abs 1 EMRK zur Folge [...]. Dies wiederum könnte einer Person, die von dem Vorwurf einer Straftat freigesprochen wurde, die aber nach der zivilrechtlichen Beweislast als haftend angesehen werden könnte, den ungerechtfertigten Vorteil verschaffen, sich jeglicher Verantwortung für ihr Handeln zu entziehen [...]. [...]
(164) Der GH ist nicht davon überzeugt, dass in Fällen, in denen es um Ansprüche ehemaliger Angeklagter auf Kostenerstattung und Entschädigung nach einem Freispruch geht [...], ein höheres Schutzniveau für die Unschuldsvermutung aufrechterhalten werden sollte als in Fällen, die nicht in diese enge Kategorie fallen. In der Regel geht es in den Fällen, in denen ehemalige Angeklagte Ansprüche auf Kostenerstattung und Entschädigung geltend machen, um Schäden, für die der Staat verantwortlich ist [...]. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass Art 6 Abs 2 EMRK einer Person, die angeklagt ist, keinen Anspruch auf Entschädigung für die rechtmäßige Untersuchungshaft oder für die Kosten garantiert, wenn das Verfahren später eingestellt wird oder mit einem Freispruch endet. Ebenso wenig garantiert diese Bestimmung einer Person, die von einer Straftat freigesprochen wurde, ein Recht auf Entschädigung für einen wie auch immer gearteten Justizirrtum.
(165) Es ist [...] schwer zu rechtfertigen, dass man sich in einer Kategorie von Fällen auf die Differenzierung zwischen Freispruch und Einstellung des Verfahrens beruft, in anderen jedoch nicht. Offensichtlich gibt es wichtige politische Gründe dafür, dass ein Freispruch etwa die Gewährung von Schadenersatz an ein Opfer oder den Schutz eines gefährdeten Kindes nicht ausschließt. Es gibt aber keinen offensichtlichen rechtlichen Grund dafür, einer kleinen Untergruppe von Fällen des zweiten Aspekts einen verstärkten Schutz zu gewähren. Dies könnte sogar zu miteinander unvereinbaren Ergebnissen von nach einem Freispruch geführten Verfahren führen, in denen einerseits das Opfer Schadenersatz von der freigesprochenen Person verlangt und andererseits die freigesprochene Person vom Staat eine Entschädigung für die Strafverfolgungs- oder Verteidigungskosten fordert.
(166) Die entlastende Wirkung eines Freispruchs kommt in der EMRK selbst zum Ausdruck. Während ein rechtskräftiger Freispruch bedeutet, dass der Angeklagte nicht erneut wegen derselben Straftat angeklagt und verurteilt werden kann [...], verhindert die Einstellung nicht notwendigerweise die Wiederaufnahme des Verfahrens [...]. Einige Vertragsstaaten haben offenbar – in Einklang mit der Rsp (Sekanina/AT) – ihre Entschädigungsregelungen geändert [...]. Der GH ist [...] jedoch nicht mehr davon überzeugt, dass die von den zuständigen Behörden getroffenen Entscheidungen über einen Antrag auf Entschädigung oder auf Erstattung der Verteidigungskosten eines ehemaligen Angeklagten nach einem Freispruch solche Besonderheiten aufweisen, dass sie ein höheres Schutzniveau der Unschuldsvermutung nach Art 6 Abs 2 EMRK rechtfertigen als dasjenige, das für eine Person gilt, in Bezug auf die das Strafverfahren eingestellt wurde.
(167) Der GH ist daher der Auffassung, dass die Beibehaltung dieser Differenzierung nicht mehr erforderlich oder wünschenswert ist.
(168) Somit verletzen die Entscheidungen und Erwägungen der nationalen Gerichte oder Behörden in diesen anschließenden verbundenen Verfahren bei Betrachtung in ihrer Gesamtheit und im Rahmen der ihnen nach innerstaatlichem Recht obliegenden Tätigkeit, unabhängig von der Art des nachfolgenden Verfahrens und unabhängig davon, ob das Strafverfahren mit einem Freispruch oder einer Einstellung endete, Art 6 Abs 2 EMRK in seinem zweiten Aspekt, wenn [...] sie dem Bf eine strafrechtliche Verantwortung zuweisen. Wird einer Person eine strafrechtliche Verantwortung zugewiesen, so ist daraus ableitbar, dass sie nach den Maßstäben des Strafrechts der Begehung einer Straftat schuldig ist und [...] das Strafverfahren anders hätte entschieden werden müssen.
Anwendung auf den vorliegenden Fall
(171) Personen, [...] die von einer strafrechtlichen Anklage freigesprochen wurden oder in Bezug auf die ein Strafverfahren eingestellt wurde, sind davor zu schützen, dass sie von Beamten und Behörden so behandelt werden, als seien sie der ihnen zur Last gelegten Straftat tatsächlich schuldig [...]. Folglich würde in einem Fall wie dem vorliegenden nur dann eine Verletzung von Art 6 Abs 2 EMRK vorliegen, wenn die Verweigerung der Entschädigung unter Bezugnahme auf das oben genannte Kriterium eine strafrechtliche Verantwortung dem Bf zuschreiben würde.
(172) Art 6 Abs 2 EMRK [...] garantiert kein Recht auf Entschädigung wegen eines Justizirrtums. Art 3 7. ZPEMRK sieht ein Recht auf Entschädigung vor, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind [...]. Das Vereinigte Königreich hat jedenfalls das 7. ZPEMRK weder unterzeichnet noch ist es ihm beigetreten [...]. Es [...] versteht sich von selbst, dass Art 6 Abs 2 EMRK nicht so ausgelegt werden kann [...], dass er einen Anspruch auf eine solche Entschädigung gegen Vertragsstaaten begründet, die wie das Vereinigte Königreich das 7. ZPEMRK nicht ratifiziert haben. Es bleibt [den Mitgliedstaaten] überlassen, wie sie den Begriff »Justizirrtum« definieren [...] und damit eine legitime politische Linie ziehen, wer aus der breiteren Gruppe der Personen, deren Verurteilung in einem Rechtsmittelverfahren aufgehoben wurde, für eine Entschädigung in Betracht kommen sollte [...]. Die politische Linie darf bloß nicht so gezogen werden, dass die Verweigerung einer Entschädigung per se einem erfolglosen Bf eine strafrechtliche Schuld unterstellt.
(177) Nach dem novellierten § 133 Abs 1ZA Strafrechtsgesetz obliegt es dem Justizminister zu entscheiden, ob die neue oder neu entdeckte Tatsache, die zur Aufhebung der Verurteilung führte, zweifelsfrei beweist, dass die Person die Straftat nicht begangen hat [...]. Der ursprüngliche Wortlaut des geänderten § 133 Abs 1ZA verlangte, dass die neue oder neu entdeckte Tatsache zweifelsfrei beweist, dass die Person »hinsichtlich der Straftat unschuldig war«. Diese Textpassage wurde während des Gesetzgebungsverfahrens jedoch in »die Straftat nicht begangen hat« geändert. Die Novellierung erfolgte aufgrund von Bedenken hinsichtlich der möglichen Verletzung von Art 6 Abs 2 EMRK nach dem Urteil des GH in der Rechtssache Allen/GB [...].
(178) Der GH hat die Frage zu beantworten, ob die Verweigerung der Entschädigung den Bf eine strafrechtliche Verantwortung zuschrieb [...].
(179) [...] Diese Änderung des § 133 Abs 1ZA Strafrechtsgesetz hat die Bedeutung nicht wesentlich verändert, aber es wird dennoch die Verwendung des Wortes »unschuldig« vermieden, die vom GH [...] als bedenklich erachtet wurde.
(180) Zudem [...] verlangte die Prüfung in § 133 Abs 1ZA Strafrechtsgesetz [...] nur die Feststellung, ob die neue oder neu entdeckte Tatsache über jeden vernünftigen Zweifel hinaus zeigte, dass der Bf die betreffende Straftat nicht begangen hatte. Daher kann nicht gesagt werden, dass die Verweigerung der Entschädigung durch den Justizminister dem Bf eine strafrechtliche Schuld zuschreibt, indem sie die Meinung widerspiegelt, dass er nach strafrechtlichen Maßstäben schuldig ist, die Straftat begangen zu haben, und damit nahelegt, dass das Strafverfahren anders hätte entschieden werden müssen. Die Verneinung der Tatsache, dass nicht mit dem sehr hohen Beweisstandard von über jeden vernünftigen Zweifel erhabenen Beweisen nachgewiesen werden konnte, dass ein Bf eine Straftat nicht begangen hat – in Bezug auf eine neue oder neu entdeckte Tatsache oder auf andere Weise – ist nicht gleichbedeutend mit der positiven Feststellung, dass er die Straftat begangen hat.
(181) Hier ist zu betonen, dass Art 6 Abs 2 EMRK in seinem zweiten Aspekt die Unschuld vor dem Gesetz schützt [...] und nicht eine Vermutung der faktischen Unschuld [...]. Der Justizminister ist nach § 133 Abs 1ZA Strafrechtsgesetz nicht verpflichtet, sich zur Unschuld des Bf vor dem Gesetz zu äußern. Die Ablehnung eines Entschädigungsantrags nach dieser Bestimmung steht nicht im Widerspruch zu seiner fortbestehenden Unschuld in diesem rechtlichen Sinne.
(182) Der GH stellt fest, [...] dass die Ablehnung der Entschädigungsanträge der Bf nach § 133 Abs 1ZA Strafrechtsgesetz im Rahmen eines vertraulichen Zivil- und Verwaltungsverfahrens nicht gegen die Unschuldsvermutung in ihrem zweiten Aspekt verstößt. Mit dieser Schlussfolgerung verkennt der GH nicht die potenziell verheerenden Auswirkungen einer ungerechtfertigten Verurteilung. Es ist jedoch nicht seine Aufgabe, zu bestimmen, wie die Staaten die moralische Verpflichtung, die sie möglicherweise gegenüber zu Unrecht verurteilten Personen haben, materiell umsetzen sollten; vielmehr war es im vorliegenden Fall allein seine Aufgabe, anhand des ihm vorliegenden Sachverhalts festzustellen, ob ein Verstoß gegen Art 6 Abs 2 EMRK aufgrund der Anwendung einer im innerstaatlichen Recht geschaffenen Entschädigungsregelung vorlag, die eindeutig restriktiv konzipiert und angewandt wurde. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen stellt er fest, dass dies nicht der Fall war.
(183) Es liegt somit keine Verletzung von Art 6 Abs 2 EMRK vor (12:5 Stimmen; abweichendes Sondervotum der Richter Ravarani, Bošnjak, Chanturia, Felici und der Richterin Yüksel).
Vom GH zitierte Judikatur:
Minelli/CH, 25.3.1983, 8660/79 = EuGRZ 1983, 475
Nölkenbockhoff/DE, 25.8.1987, 10300/83 = EuGRZ 1987, 405
Englert/DE, 25.8.1987, 10282/83 = EuGRZ 1987, 410
Sekanina/AT, 25.8.1993, 13126/87 = NL 1993/5, 20 = ÖJZ 1993, 816
Allen/GB, 12.7.2013, 25424/09 (GK) = NLMR 2013, 257
Lähteenmäki/EE, 21.6.2016, 53172/10
G.I.E.M. S.r.l. ua/IT, 28.6.2018, 1828/06 ua (GK) = NLMR 2018, 228
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 11.6.2024, Bsw. 32483/19, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 196) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.