Bsw22321/19 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Wick gg Deutschland, Urteil vom 4.6.2024, Bsw. 22321/19.
Spruch
Art 6 Abs 1 EMRK - Fehlender Rechtsschutz bei Verlegung von einem Gefängnis ins andere.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: Der Bf stellte keinen Antrag auf Zuspruch einer gerechten Entschädigung. Der GH ist daher nicht dazu aufgerufen, ihm eine solche zuzusprechen.
Text
Begründung:
Sachverhalt:
2007 wurde der bereits vorbestrafte Bf vom Landgericht Berlin wegen Vergewaltigung und Körperverletzung zu einer achtjährigen Haftstrafe verurteilt. Zugleich ordnete es seine Sicherungsverwahrung an. Nachdem der Bf im Gefängnis Berlin-Tegel gegenüber einem Mithäftling extrem gewalttätig geworden war, wurde er von den anderen Häftlingen isoliert und im Hochsicherheitstrakt untergebracht. Ein Psychologe diagnostizierte bei ihm eine massive Persönlichkeitsstörung.
Mit Urteil vom 31.10.2013 wurde der Bf vom Landgericht Berlin wegen des Vorfalls im Gefängnis zu einer neunjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und erneut in Sicherungsverwahrung genommen. In der Folge wurde der Bf wegen bedrohlichen Verhaltens gegenüber Mithäftlingen regelmäßig für die Dauer von jeweils einigen Monaten in andere Haftanstalten überstellt.
Beginnend mit 2017 kam es zu folgenden drei Gerichtsverfahren: Das erste betraf einen Antrag des Bf auf Aufhebung besonderer Sicherungsmaßnahmen in Form von Isolationshaft und Videoüberwachung, die von der Haftanstalt Weiterstadt wegen Drohungen gegenüber Justizwachebeamt*innen verhängt worden waren. Er wurde sodann in die JVA Lübeck verlegt. Am 6.9.2017 erklärte das Landgericht Darmstadt den Antrag für unzulässig, da dieser aufgrund der inzwischen erfolgten Verlegung des Bf nach Lübeck gegenstandslos geworden sei. Dagegen erhobene Rechtbehelfe des Bf einschließlich einer Beschwerde an das BVerfG blieben erfolglos.
Das zweite Verfahren betraf einen beim Landgericht Lübeck am 1.8.2017 eingebrachten Antrag des Bf auf Aufhebung von der JVA Lübeck getroffener besonderer Sicherungsmaßnahmen. Mit Schreiben vom 18.9.2017 wandte er sich neuerlich an das Landgericht Lübeck mit dem Ersuchen, es möge seine Verlegung von der JVA Lübeck in ein anderes Gefängnis verbieten und aussprechen, dass er dort dauerhaft untergebracht sei. Begründend führte er aus, er unterhalte soziale Kontakte in der Region und seine wiederholten Überstellungen von einer Strafvollzugsanstalt in die andere würden ihn daran hindern, eine gerichtliche Entscheidung hinsichtlich seiner Haftbedingungen zu erhalten.
Am 26.9.2017 teilte das Landgericht Lübeck dem Bf mit, dass er in die JVA Lübeck nur zeitweilig verlegt worden sei und folglich die Haftanstalt Weiterstadt zur Entscheidung über seine Anträge zuständig sei. Am 10.10.2017 wies das Landgericht Lübeck den Antrag des Bf auf Aufhebung der besonderen Sicherungsmaßnahmen mit einer ähnlichen Begründung ab. Am selben Tag erklärte es die Anträge des Bf vom 18.9.2017 für unzulässig, da die JVA Lübeck ohnehin keine Verlegung angeordnet habe und sie im Übrigen zur Entscheidung über diese Frage nicht befugt sei. Was den Antrag des Bf auf dauerhafte Unterbringung in der JVA Lübeck angehe, sei dieser gegenstandslos geworden, da die Verlegung dorthin ja bereits stattgefunden habe. Gegen die Entscheidung des Landgerichts Lübeck eingelegte Rechtsmittel sowie eine Anrufung des BVerfG blieben alle erfolglos.
Das dritte Verfahren betraf das Vorgehen des Bf gegen seine Verlegung aus der JVA Lübeck. Nachdem er am 16.10.2017 von seiner bevorstehenden Überstellung in die Haftanstalt Bruchsal erfahren hatte, wandte er sich an das Landgericht Lübeck und ersuchte es, seine Verlegung mittels einstweiliger Verfügung zu verbieten. Da der Antrag dem zuständigen Richter erst am 17.10.2017 vorgelegt wurde und die Verlegung des Bf nach Bruchsal bereits stattgefunden hatte, erklärte dieser den Antrag für gegenstandslos. Mit Beschluss vom 18.12.2017 wies das Landgericht Darmstadt einen Antrag des Bf auf Rückverlegung in die JVA Lübeck mit der Begründung ab, dieser hätte sich mit seinem Begehren an die Gefängnisleitung selbst wenden sollen. Eine Beschwerde an das BVerfG blieb erfolglos.
Mit Beschluss vom 5.6.2020 stellte das Landgericht Berlin fest, dass die Strafvollzugsbehörden dem Bf im Zuge der Anhaltung auf höchster Sicherheitsstufe keine angemessene und ausreichende Behandlung zukommen lassen hatten. Alle Haftanstalten, in denen er untergebracht gewesen sei, hätten eingeräumt, dass er eine Sozialtherapie und eine Therapie für sexuelle Delinquenten absolvieren hätte müssen und dass seine Anhaltebedingungen den Anforderungen dieser Therapien entgegengestanden wären. Zudem sei der Bf in einer großen Zahl von Gefängnissen für jeweils nur einige Monate angehalten worden, sodass es unmöglich gewesen sei, die notwendigen Therapien durchzuführen. Zu kritisieren sei insb die Tatsache, dass der Bf regelmäßig von einem Gefängnis in das andere verlegt worden sei, obwohl klar sein hätte müssen, dass er dem ordentlichen Strafvollzugsregime nicht mehr unterfalle.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf rügte eine Verletzung seines Rechts auf Zugang zu einem Gericht gemäß Art 6 Abs 1 EMRK.
Zur behaupteten Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK
(64) Laut dem Bf hätten ihn die wiederholten Überstellungen von einer Strafvollzugsanstalt in die andere daran gehindert, gerichtliche Entscheidungen betreffend die Überstellungen und die Rechtmäßigkeit seiner [von der Haftanstalt Weiterstadt angeordneten] Isolationshaft bzw Videoüberwachung zu erhalten, was sein Recht auf Zugang zu einem Gericht verletzt hätte. [...]
Zulässigkeit
Zur Anwendbarkeit von Art 6 Abs 1 EMRK
(69) Die vom Bf erhobene Rüge betrifft zum einen die Verhängung besonderer Sicherungsmaßnahmen gegen ihn und zum anderen die Überstellung von einem Gefängnis in ein anderes.
(70) Der strafrechtliche Aspekt von Art 6 Abs 1 EMRK kommt folglich nicht ins Spiel, da die Beschwerde des Bf die Vollstreckung eines Strafurteils und nicht eine strafrechtliche Anklage betrifft. Es bleibt zu prüfen, ob Art 6 Abs 1 EMRK unter seinem zivilrechtlichen Aspekt anwendbar ist.
(73) Im Kontext des Gefängnislebens hat der GH bereits festgehalten, dass gewisse Einschränkungen der Rechte von Häftlingen wie auch die Auswirkungen, die solche mit sich bringen können, dem Begriff der zivilrechtlichen Ansprüche unterfallen. So hat er etwa Art 6 Abs 1 EMRK auf gewisse Disziplinarverfahren im Zuge des Strafvollzugs in Gefängnissen für anwendbar erachtet, ferner die Überwachung von bestimmten Häftlingen in italienischen Gefängnissen unter erhöhter Sicherheitsstufe, wie auch Restriktionen, denen Häftlinge in der Sicherheitszelle unterworfen sind. Die fraglichen Angelegenheiten betrafen ein einjähriges Verbot des Erhalts von Besuchen, eine Beschränkung der monatlichen Besuche durch Familienmitglieder, eine Einschränkung von Besuchen auf eine Stunde pro Woche in Form der Unterredung in einer verglasten Gesprächskabine, eine beständige Kontrolle des Brief- und Telefonverkehrs, eine Beschränkung der Bewegung im Freien und die fehlende Möglichkeit von Häftlingen, Studien bzw Prüfungen zu absolvieren.
Zum Verfahren betreffend besondere Sicherheitsmaßnahmen
(74) Der GH ist der Ansicht, dass der vorliegende Fall, was den Teil des Beschwerdepunkts des Bf zur Verhängung besonderer Sicherungsmaßnahmen über ihn betrifft, Ähnlichkeiten mit den vorzitierten Fällen aufweist. Die dem Bf auferlegten Einschränkungen waren daher vergleichbar mit jenen, die Gegenstand dieser Beschwerden waren. In der Tat hat die Isolierung eines Häftlings eine Beraubung jeglichen sozialen Kontakts mit anderen Häftlingen wie auch die Unmöglichkeit zur Folge, in der Gefängniseinrichtung an gemeinsamen Aktivitäten mitzuwirken. Die Videoüberwachung stellt übrigens eine beträchtliche Einschränkung des Rechts von Häftlingen auf ein Intimleben dar. Im vorliegenden Fall hatten die besonderen Sicherungsmaßnahmen daher unmittelbare und bedeutende Auswirkungen auf das Sozial- und Privatleben des Bf und griffen daher in seine zivilrechtlichen Ansprüche ein. Art 6 Abs 1 EMRK ist daher in dieser Hinsicht anwendbar, was auch von der Regierung nicht bestritten wird.
Zum Verfahren betreffend die Überstellung von einem Gefängnis ins andere
(75) Was den Teil der Beschwerde hinsichtlich der Überstellung von einem Gefängnis ins andere betrifft, stellt sich zuerst die Frage, ob das diesbezügliche innerstaatliche Verfahren eine Streitigkeit über ein »Recht« des Bf im Sinne der Konvention betraf. Dazu ist seitens des GH festzuhalten, dass das deutsche Recht Häftlingen nicht das Recht einräumt, ihre Haftstrafe in einer bestimmten Gefängniseinrichtung zu verbüßen. Gemäß den einschlägigen innerstaatlichen Bestimmungen [...] fällt die Entscheidung über die Überstellung eines Häftlings den zuständigen Gefängnisbehörden zu, die [...] in dieser Hinsicht einen Ermessensspielraum genießen.
(76) Der GH erinnert daran, bereits geurteilt zu haben, dass die bloße Existenz eines Ermessenselements im Wortlaut einer Gesetzesbestimmung für sich nicht die Existenz eines »Rechts« iSd Konvention ausschließt. Art 6 Abs 1 EMRK findet in der Tat dann Anwendung, wenn das Gerichtsverfahren eine Entscheidung mit sich bringt, bei der die zuständigen Gerichte über einen gewissen – jedoch keinen unbegrenzten – Ermessensspielraum verfügen und diese Entscheidung sich auf die Rechte einer/eines Bf auswirkt. Der GH merkt an, dass ein Häftling [...] gemäß § 109 StVG gegen jede Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiet des Strafvollzugs eine gerichtliche Entscheidung beantragen kann. Darunter fällt auch eine solche über die Überstellung von einem Gefängnis in das andere. Aus Gründen des Ermessensspielraums, den die Behörden im Bereich der Überstellung von Häftlingen genießen, erstreckt sich die gerichtliche Kontrolle folglich auch auf die Frage, ob dieser Beurteilungsspielraum unter den Umständen des Falls ermessensfehlerfrei, also auf vernünftige Weise, ausgeübt wurde. Da der Ermessensspielraum der Strafvollzugsbehörden im vorliegenden Fall insoweit nicht unbegrenzt war, kommt der GH zu der Ansicht, dass die fragliche Prozedur nach innerstaatlichem Recht eine Streitigkeit über ein »Recht« des Bf im Sinne der Konvention zum Gegenstand hatte.
(77) Was den »zivilrechtlichen« Charakter dieses Rechts angeht, erinnert der GH daran, in Angelegenheiten betreffend Art 8 EMRK bereits geurteilt zu haben, dass die Überstellung eines Häftlings an verschiedene, an isolierten Orten gelegene Gefängniseinrichtungen einen Eingriff in dessen Recht auf Achtung des Privatlebens darstellen kann (vgl Stanislav Lutsenko/UA (Nr 2), Rz 57 sowie İlerde ua/TR, Rz 212–214). Der GH hat übrigens bereits im Bereich des Art 6 EMRK festgehalten, dass gewisse Einschränkungen der Rechte von Häftlingen, die sich eindeutig auf die Persönlichkeitsrechte beziehen, zivilrechtlichen Charakter haben (vgl, mutatis mutandis, Enea/IT, Rz 103 [...]). Obwohl im vorliegenden Fall nicht behauptet wird, dass sich die Gefängniseinrichtungen, wohin der Bf überstellt wurde, an einem isolierten Ort befunden hätten, können sich nach Ansicht des GH die Anzahl und die Häufigkeit von Überstellungen eines Häftlings von einem Gefängnis ins andere – ebenso wie der Ort, wohin dieser überstellt wird – auf gewisse Aspekte seines Privatlebens auswirken. Insb können wiederholte Überstellungen zu vorgerückter Zeit negative Einflüsse auf die soziale Wiedereingliederung eines Häftlings haben, vor allem wenn es um die Zweckmäßigkeit und die Erfolgschancen einer Therapie geht. Dies war übrigens auch der Fall beim Bf. So geht aus der Entscheidung des Landgerichts Berlin vom 5.6.2020 hervor, dass dieser therapeutischen Maßnahmen unterzogen werden sollte, jedoch keines der Gefängnisse diese Maßnahmen umsetzte, da der Bf dort jeweils nur für einige Monate untergebracht war. Der Bf gab übrigens auch seinen Wunsch kund, in der JVA Lübeck bleiben zu dürfen, da er in der dortigen Region soziale Kontakte unterhalte, die eventuell zu seiner sozialen Wiedereingliederung beitragen könnten. Der GH ist daher der Ansicht, dass die Verfahren betreffend die wiederholten und überhastet vorgenommenen Überstellungen des Bf von einem Gefängnis in das andere im vorliegenden Fall dessen zivilrechtliche Ansprüche ins Spiel brachten.
Art 6 Abs 1 EMRK ist somit anwendbar.
(78) [...] Die gegenständliche Rüge ist somit mit dem zivilrechtlichen Aspekt des Art 6 Abs 1 EMRK vereinbar ratione materiae.
Zur Einrede der Regierung wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs
(79) Laut der Regierung habe der Bf nicht alle ihm [...] zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe ausgeschöpft. [...] Er hätte in jedem der drei strittigen Verfahren auf entsprechende Hinweise der Gerichte reagieren müssen und seine Anträge entweder abändern bzw zurückziehen oder neue Anträge einbringen sollen. [...]
(81) [...] Im vorliegenden Fall betreffen die von den Parteien bezüglich der Einrede der Regierung geäußerten Vorbringen nicht die Verhinderung oder die Wiedergutmachung einer Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK, sondern die Existenz einer Verletzung dieser Konventionsbestimmung selbst. Es geht daher um die Frage, ob der Bf konkreten und effektiven Zugang zu einem Gericht zwecks Einforderung seiner Rechte hatte. Der GH wird daher diese Vorbringen im Zuge der meritorischen Überprüfung der Beschwerde untersuchen.
(82) Im vorliegenden Fall hat der Bf in jedem der drei Verfahren alle ihm zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe ausgeschöpft und den Weg zum BVerfG beschritten. Zudem erläuterte er die relevanten Fakten und brachte seine Rüge dem Wesen nach in jedem Stadium der von ihm angestrengten Verfahren vor.
(83) Der GH verwirft daher die von der Regierung erhobene Einrede wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs.
Zur Opfereigenschaft des Bf
(84) [...] Angesichts der positiven Entscheidung des Landgerichts Berlin vom 5.6.2020 im Hinblick auf den Bf stellt sich die Frage, ob sich dieser noch als Opfer einer Verletzung seines Rechts auf Zugang zu einem Gericht ansehen kann. [...] Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls ist der GH der Ansicht, dass diese Frage mit dem Gegenstand der Rüge des Bf so eng verknüpft ist, dass sie im Zuge ihrer meritorischen Prüfung untersucht werden soll.
Ergebnis
Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK aufgelisteten Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
In der Sache
(86) Dem Bf zufolge hätten die wiederholten Überstellungen von einem Gefängnis in das andere sein Recht auf Zugang zu einem Gericht verletzt. Die Überstellungen hätten immer dann stattgefunden, bevor die von ihm angerufenen Gerichte in der Sache über seine jeweiligen Begehren absprechen hätten können. Die Strafvollzugsbehörden hätten ihm niemals mitgeteilt, ob er dauerhaft oder zeitweise verlegt werde. Der Mangel an Klarheit betreffend seinen strafvollzugsrechtlichen Status habe ihn daran gehindert, in Erfahrung zu bringen, von welchem Rechtsbehelf er Gebrauch machen und welches Gericht er zwecks Geltendmachung seiner Rechte anrufen solle. Er bezieht sich insb auf die Entscheidung des Landgerichts Berlin vom 5.6.2020, welches die zahlreichen Überstellungen kritisiert habe.
(95) Der GH hat bereits entschieden, dass wiederholte Überstellungen eines Häftlings von einer Haftanstalt in die andere, die zur Folge hatten, dass dessen Antrag auf Beendigung von ihn betreffenden Maßnahmen gegenstandlos geworden war und somit eine Dringlichkeit nicht mehr existierte, welche [...] die Erlassung einer einstweiligen Verfügung gerechtfertigt hätte, dem betroffenen Häftling keine realistische Möglichkeit verschafft hatten, [...] Gebrauch von einem Antrag auf eine einstweilige Verfügung zu machen. Dies habe sein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf iSv Art 13 EMRK, gelesen zusammen mit Art 3 EMRK, verletzt (Bamouhammad/BE, Rz 171–173).
(96) Das deutsche Strafvollzugsrecht, genauer gesagt § 109 StVG, erkennt grundsätzlich das Recht jedes Häftlings an, gegen Maßnahmen zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiet des Strafvollzugs eine gerichtliche Entscheidung zu beantragen oder die Ergreifung einer bestimmten Maßnahme zu begehren. Der Bf hat von diesem Recht Gebrauch gemacht, indem er die besonderen Sicherheitsmaßnahmen anfocht und darum bat, im Lübecker Gefängnis untergebracht zu werden.
(97) Der GH stellt allerdings fest, dass die innerstaatlichen Instanzen in den drei strittigen Verfahren nicht in der Sache über die vom Bf eingebrachten Anträge abgesprochen haben. In der Tat hat das Landgericht Darmstadt in seiner Entscheidung vom 6.9.2017 den Antrag auf Aufhebung der besonderen Sicherungsmaßnahmen mit der Begründung für unzulässig erklärt, dieser wäre aufgrund der Überstellung des Bf in eine andere Strafvollzugseinrichtung gegenstandslos geworden. In seinen Entscheidungen vom 10.10.2017 wies das Landgericht Lübeck hingegen die Anträge des Bf auf einerseits Aufhebung der strittigen Maßnahmen und andererseits auf Nichtverlegung in eine andere Haftanstalt mit der Begründung ab, die Strafvollzugseinrichtung, gegen die seine Begehren gerichtet gewesen wären, wäre nicht zuständig, um darüber abzusprechen. Schließlich wies das Landgericht Darmstadt in seiner Entscheidung vom 18.12.2017 den Antrag des Bf auf erneute Aufnahme in die JVA Lübeck mit einer ähnlichen Begründung zurück.
Von den übergeordneten Instanzen wurden all diese Entscheidungen bestätigt.
(98) Der GH muss nun aber feststellen, dass die Entscheidungen der nationalen Instanzen hinsichtlich der Frage widersprüchlich waren, ob die Überstellung des Bf von der Justizvollzugsanstalt Weiterstadt in jene von Lübeck von permanenter oder zeitweiliger Natur war, und insb welche Haftanstalt für ihn zuständig sei. In seiner Entscheidung vom 6.9.2017 vertrat das Landgericht Darmstadt die Ansicht, dass es sich um eine dauerhafte Überstellung handle und dass folglich die JVA Lübeck für ihn zuständig sei. In seinen Entscheidungen vom 10.10.2017 ging das Landgericht Lübeck hingegen vom zeitweiligen Charakter der Überstellung und folglich von der Zuständigkeit der Justizvollzugsanstalt Weiterstadt aus. In seiner Entscheidung vom 18.12.2017 vertrat das Landgericht Darmstadt – nach Betonung der Bedeutung für den Bf, in Erfahrung zu bringen, welche Strafvollzugseinrichtung für ihn zuständig sei – die Ansicht, dass kein Anlass bestehe, über den permanenten oder dauerhaften Charakter seiner Überstellung in die JVA Lübeck abzusprechen.
(99) Der GH ist der Auffassung, dass dieser Mangel an Klarheit dem Bf nicht zugerechnet werden kann, sondern auf eine konfuse Kommunikation der Ministerien und der Strafvollzugseinrichtungen hinsichtlich der fraglichen Überstellung zurückzuführen ist. So gebrauchten die Strafvollzugsbehörden in Bezug auf den Bf die Begriffe der Verlegung, der Überstellung und der Sicherheitsverlegung auf ungenaue und austauschbare Art und Weise. Tatsächlich verwendeten die Justizministerien von Hessen und Schleswig-Holstein im Zuge der Verhandlung über die Überstellung des Bf von Weiterstadt nach Lübeck abwechselnd alle drei Begriffe, ohne sich auf eine bestimmte Qualifikation festzulegen. In der Folge setzte die JVA Lübeck den Bf darüber in Kenntnis, dass er zeitweilig verlegt werde, während die Strafvollzugsanstalt Weiterstadt erklärte, dass es sich dabei um eine dauerhafte Überstellung handle, bevor sie sich dahingehend korrigierte, dass diese nun doch zeitweilig erfolge. [...].
(100) Der GH nimmt vom Vorbringen der Regierung Kenntnis, wonach der Bf gewisse Anträge insoweit abändern hätte sollen, dass sie in Hinkunft gegen eine andere Strafvollzugsanstalt gerichtet gewesen wären oder dass er neue Anträge stellen hätte können, die den bereits zurückgewiesenen Anträgen geähnelt hätten. In einer derartigen Situation der Ungewissheit kann dem Bf aber nicht vorgeworfen werden, nicht versucht zu haben, mit seinem Anliegen obsiegen zu wollen, indem er von zusätzlichen gerichtlichen Rechtsbehelfen Gebrauch machte, deren Erfolg ungewiss war. In der Tat beruht der Standpunkt der Regierung auf der Idee, dass das Berichtigungsschreiben der Strafvollzugsanstalt Weiterstadt vom 7.9.2017 und die Entscheidungen des Landgerichts Lübeck vom 10.10.2017 definitiv den Nachweis erbracht hatten, dass die Überstellung des Bf nach Lübeck zeitweilig gewesen war und dass folglich die Strafvollzugsanstalt Weiterstadt für ihn nach wie vor zuständig sei. Nun deutet in den Augen des GH aber nichts darauf hin, dass das Landgericht Darmstadt, an welches sich der Bf laut der Regierung als Folge dieser Klarstellung wenden hätte können, in der Zwischenzeit seine Meinung hinsichtlich dieser Fragen geändert hatte. Ungeachtet des Vorbringens des Bf hielt das fragliche Gericht unmissverständlich fest, dass die Überstellung des Bf in die JVA Lübeck dauerhaft gewesen war und dass diese Einrichtung nun für ihn zuständig sei. Zudem kam das Landgericht Darmstadt in seiner Entscheidung vom 18.12.2017 nicht ausdrücklich auf diese Bewertung zurück, sondern verzichtete darauf, über den dauerhaften oder zeitweiligen Charakter der Überstellung abzusprechen, indem es die Wichtigkeit für den Bf unterstrich, über seinen Strafvollzugsstatus Bescheid zu wissen.
(101) Was das Vorbringen der Regierung angeht, wonach der Bf im Nachhinein die Feststellung der Gesetzwidrigkeit gewisser Maßnahmen verlangen oder manche seiner Anträge zurückziehen hätte sollen, vertritt der GH die Ansicht, dass diese nicht ausreichend dargelegt hat, dass diese Begehren es dem Bf im vorliegenden Fall gestattet hätten, seine konkreten Ziele zu erreichen, nämlich die Aufhebung der über ihn verhängten besonderen Sicherungsmaßnahmen und das Verbot, in einer anderen Strafvollzugsanstalt als der in Lübeck untergebracht zu werden.
(102) Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass die widersprüchlichen Entscheidungen der innerstaatlichen Behörden den Bf in die missliche Lage versetzten, nicht zu wissen, wie er vorgehen sollte, um seine Rechte geltend zu machen, und zwar vor allem, was das anzurufende Gericht und die Frage betraf, gegen welche Justizanstalt er seine Anträge richten sollte. Nach Ansicht des GH verfügte der Bf daher nicht über eine konkrete und effektive Möglichkeit, […] eine gerichtliche Entscheidung betreffend die besonderen Sicherungsmaßnahmen und die wiederholten und überhastet vorgenommenen Überstellungen zu erlangen. Mit Blick auf die Umstände des Falls und insb unter Berücksichtigung der Gesamtheit der ergangenen Entscheidungen kommt der GH zu dem Ergebnis, dass der Bf keinen Zugang zu einem Gericht hatte.
(103) Bezüglich der Frage, ob der Bf sich ungeachtet der Entscheidung des Landgerichts Berlin vom 5.6.2020 als Opfer einer Verletzung seines Rechts auf Zugang zu einem Gericht ansehen kann, erinnert der GH daran, dass eine für eine(n) Bf günstige Entscheidung oder Maßnahme ihr bzw ihm die Opfereigenschaft nur dann zu nehmen vermag, wenn die nationalen Behörden ausdrücklich oder dem Wesen nach eine Konventionsverletzung anerkannt und sie dann wiedergutgemacht haben […]. Im gegenständlichen Fall hat das Landgericht Berlin die wiederholten und überhastet vorgenommenen Überstellungen in einem anderen – über eine andere Frage absprechenden – Verfahren kritisiert, nämlich betreffend den adäquaten Charakter der Haftbedingungen des Bf angesichts seiner Anhaltung auf höchster Sicherheitsstufe. Das Landgericht Berlin hat aber nicht über das Fehlen eines gerichtlichen Schutzes für den Bf oder über besondere Sicherungsmaßnahmen abgesprochen. Es hat auch die Verletzung des Rechts auf Zugang zu einem Gericht weder anerkannt noch Wiedergutmachung dafür geleistet. Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass der Bf seine Opfereigenschaft aufgrund besagter Gerichtsentscheidung nicht verloren hat.
(104) Es hat daher eine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
Der Bf stellte keinen Antrag auf Zuspruch einer gerechten Entschädigung. Der GH ist daher nicht dazu aufgerufen, ihm eine solche zuzusprechen.
Vom GH zitierte Judikatur:
Musumeci/IT, 11.1.20o5, 33695/96 = NL 2005, 13
Gülmez/TR, 20.5.2008, 16330/02 = NL 2008, 142
Enea/IT, 17.9.2009, 74912/01 (GK) = NL 2009, 264
Stegarescu und Bahrin/PT, 6.4.2010, 46194/06
Bamouhammad/BE, 17.11.2015, 47687/13
Miessen/BE, 18.10.2016, 31517/12
Stanislav Lutsenko/UA (Nr 2), 15.9.2022, 483/10
İlerde ua/TR, 5.12.2023, 35614/19 ua
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 4.6.2024, Bsw. 22321/19, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 201) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.