JudikaturAUSL EGMR

Bsw34749/16 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
16. Mai 2024

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Domenjoud gg Frankreich, Urteil vom 16.5.2024, Bsw. 34749/16.

Spruch

Art 5, 15 EMRK; Art 2 4. ZPEMRK - Hausarrest« über Aktivisten nach Terroranschlägen 2015 zwecks Gewährleistung der Sicherheit bei COP21.

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 5 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 2 4. ZPEMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art 2 4.ZPEMRK hinsichtlich der Notwendigkeit der getroffenen Maßnahme, soweit sie den ErstBf betraf (einstimmig).

Verletzung von Art 2 4. ZPEMRK hinsichtlich der Notwendigkeit der getroffenen Maßnahme, soweit sie den ZweitBf betraf (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 1.500,– für immateriellen Schaden an den ZweitBf; € 10.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

In der Nacht von 13. auf 14.11.2015 fanden in Frankreich Anschläge durch islamische Extremisten statt, bei denen insgesamt 130 Personen den Tod fanden. Mit Dekret vom 14.11.2015 verfügte der französische Präsident gemäß dem Notstandsgesetz vom 3.4.1955 den Ausnahmezustand, der sechs Mal verlängert wurde. Mit zwei weiteren Dekreten wurde der Innenminister dazu ermächtigt, präventive Hausarrestmaßnahmen zu verhängen. Der Ausnahmezustand endete am 1.11.2017.

Ungeachtet der anhaltenden Bedrohung durch den Terrorismus entschied man sich dazu, die 21. UN-Klimakonferenz (COP21) wie geplant in Paris abzuhalten. In der Folge wurden diverse präventive Maßnahmen getroffen, um die öffentliche Sicherheit und Ordnung während des Klimagipfels zu gewährleisten.

Die beiden Bf, Cédric und Joël Domenjoud, sind Brüder und französische Staatsbürger. Mit auf Art 6 des Notstandsgesetzes gestützter Verfügung vom 25.11.2015 ordnete der Innenminister an, dass sich die Bf bis zum 12.12.2015 im Gemeindegebiet von Ivry-sur-Seine bzw Malakoff aufzuhalten hätten, drei Mal am Tag bei der örtlichen Polizeistation Meldung erstatten müssten und einer nächtlichen Ausgangssperre unterliegen würden. Begründend wurde ausgeführt, es seien gewalttätige Ausschreitungen von Aktivist*innen des »Schwarzen Blocks« zu befürchten, wie sie bereits 2015 bei der Einweihungsfeier des Hauptquartiers der Europäischen Zentralbank in Frankfurt und der Mailänder Weltausstellung stattgefunden hatten. Beide Bf würden sich unter den Anführern der ultralinken radikalen Protestbewegung im Raum Paris befinden und hätten schon zuvor an gewalttätigen Protestaktionen im Land teilgenommen. Es sei wahrscheinlich, dass sie während der COP21 wiederum derartige Aktivitäten setzen würden.

Die Bf beantragten daraufhin bei den Verwaltungsgerichten die Aussetzung der Vollstreckung der Anordnung vom 25.11.2015 per einstweiliger Verfügung. Sie brachten vor, die strittige Maßnahme stelle einen schweren und unrechtmäßigen Eingriff in ihre persönliche Freiheit und Bewegungsfreiheit dar. Mit Beschluss vom 3.12. bzw 28.11.2015 wurde der Antrag abgewiesen.

Der ErstBf rief in der Folge den Conseil d’État an. Er brachte unter anderem vor, Art 6 des Notstandsgesetzes würde gegen seine Rechte auf persönliche Freiheit und Freizügigkeit verstoßen. Er beklagte sich auch über in den Notes blanches (Anm: Es handelt sich dabei um insb für die Gerichte aufbereitete Informationen des französischen Geheimdiensts. Für den Fall, dass ihm eine solche Note vorgelegt wird, muss der Verwaltungsrichter diese im Zuge eines kontradiktorischen Verfahrens prüfen. Sie hat nur Beweiswert, wenn sie sich auf präzise und detaillierte Tatsachen bezieht, die nicht ernsthaft bestritten werden.) enthaltene Ungenauigkeiten und das Gewicht, welches diesen von der Verwaltung beigemessen werde. Mit Beschluss vom 11.12.2015 entschied der Conseil d’État, die Frage der Verfassungswidrigkeit von Art 6 des Notstandsgesetzes dem Verfassungsrat vorzulegen. Dieser hielt am 22.12.2015 fest, dass die ersten neun Absätze dieses Artikels mit der Verfassung vereinbar wären. Ferner würde der von dieser Bestimmung angeordnete »Hausarrest« aufgrund der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung und angesichts seiner begrenzten Dauer weder eine Freiheitsentziehung noch einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Bewegungsfreiheit darstellen. Mit Blick auf diese Entscheidung erachtete es der Conseil d’État nicht für notwendig, mit der Prüfung der Angelegenheit fortzufahren. Gegen die Abweisung seines Antrags auf eine einstweilige Verfügung erhob der ErstBf kein Rechtsmittel vor den Verwaltungsgerichten.

Der ZweitBf wandte sich mit einer ähnlichen Beschwerde ebenfalls erfolglos an den Conseil d’État. Er stellte daraufhin beim örtlichen Verwaltungsgericht einen Antrag auf Aufhebung der ministeriellen Anordnung, da sie gegen Art 5 EMRK und Art 2 4. ZPEMRK verstoßen würde. Zudem bestünden keinerlei Beweise, dass er im Zuge seiner Protestaktivitäten jemals Gewalt angewendet habe. Mit Urteil vom 18.2.2016 wies das Verwaltungsgericht den Antrag mit der Begründung ab, der ZweitBf habe wiederholt an Protestkundgebungen teilgenommen, die zu gewaltsamen Aktionen der Demonstrant*innen geführt hätten. Das Urteil wurde im Rechtsmittelweg bestätigt. Eine Beschwerde des ZweitBf an den Conseil d’État wurde nicht zur Entscheidung angenommen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf behaupteten Verletzungen der Art 5 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) und von Art 2 4. ZPEMRK (Freizügigkeit).

Zur Verbindung der Beschwerden

(61) Angesichts der Gleichartigkeit des Gegenstands der Beschwerden hält es der GH für angemessen, diese gemeinsam in einem einzigen Urteil zu untersuchen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 5 EMRK

(64) Laut den Bf wäre der über sie verhängte »Hausarrest« nicht Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle gemäß den Anforderungen des Art 5 EMRK gewesen.

(71) Der GH hat bereits über den Charakter von gemäß Art 6 des Notstandsgesetzes getroffenen Maßnahmen entschieden. Im Fall Pagerie/FR hielt er fest, dass ein 13 Monate dauernder »Hausarrest« mit der Verpflichtung, zwischen 20:00 und 6:00 Uhr das Haus nicht zu verlassen und sich dreimal täglich bei der Polizei zu melden, sowie das Verbot, in Kontakt mit Dritten zu treten, als Freiheitsbeschränkung zu werten sei (vgl Rz 152–161). Im Fall Fanouni/FR, Rz 32, kam er zu einer ähnlichen Schlussfolgerung [...].

(72) Im vorliegenden Fall beraubte die kritisierte Maßnahme die Bf nicht der Möglichkeit, ein soziales Leben zu führen und Beziehungen mit der Außenwelt zu unterhalten. Der ErstBf wurde unter »Hausarrest« an einem Ort gestellt, wo auch andere COP21-Gegner*innen weilten, während der ZweitBf der Presse täglich Interviews geben und mit Gleichgesinnten Diskussionen in einer Gemeindebibliothek führen konnte. Zudem reichte die Tatsache, dass die strittige Maßnahme von einer nächtlichen Ausgangssperre begleitet war, nicht aus, um sie als Freiheitsentziehung zu charakterisieren. Schließlich bestand für die Bf die Möglichkeit, um Erlaubnis anzusuchen, ihre Gemeinde während des »Hausarrests« zeitweilig verlassen zu können. Mit Blick nicht nur auf die Dauer der Maßnahme, sondern auch ihre Auswirkungen und ihre kombinierte Ausführung kommt der GH zu dem Ergebnis, dass der über die Bf verhängte »Hausarrest« als bloße Freiheitsbeschränkung betrachtet werden muss. Der Beschwerdepunkt unter Art 5 EMRK ist daher mit der Konvention unvereinbar ratione materiae und muss gemäß Art 35 Abs 3 lit a und Abs 4 EMRK [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 2 4. ZPEMRK

(73) Die Bf [...] behaupten, die Rechtsgrundlage für den angeordneten »Hausarrest« sei nicht vorhersehbar gewesen. [...] Unter Art 6 und 13 EMRK beklagen sie sich darüber, dass der »Hausarrest« lediglich auf den notes blanches beruht habe und sie nicht über die Möglichkeit verfügt hätten, diese auf effektive Art und Weise anzufechten.

(74) Der GH [...] wird diese Beschwerdepunkte lediglich vom Blickwinkel des Art 2 4. ZPEMRK aus, der auch prozessuale Garantien enthält, untersuchen.

Zur Zulässigkeit

(75) Die Regierung erhob eine Einrede wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs. Sie wirft dem ErstBf vor, nach der Zurückweisung seines Antrags auf einstweilige Verfügung kein Rechtsmittel vor den Verwaltungsgerichten eingelegt zu haben. Zudem hätten beide Bf keine Schadenersatzklage [...] erhoben. Sie hätten auch nicht ihre Rüge betreffend die fehlende Möglichkeit, den Inhalt der von der Verwaltung herangezogenen notes blanches effektiv anzufechten, ausreichend untermauert.

(78) Der GH hat bereits festgehalten, dass das in Art L. 521 Abs 2 des französischen Verwaltungsgerichtsgesetzes vorgesehene Verfahren betreffend einstweilige Verfügungen ein wirksames und verfügbares Rechtsmittel darstellt und dass der Rückgriff auf dieses als Erfüllung des Erfordernisses der Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs anzusehen ist (vgl Pagerie/FR, Rz 129–134). [...] Der ErstBf hat somit normalen Gebrauch von den tatsächlich wirksamen und ausreichenden Rechtsbehelfen gemacht und er war nicht gehalten, andere Rechtsmittelwege zu beschreiten.

(79) Zudem haben die Bf die Zulässigkeit der notes blanches als Beweismittel vor dem Conseil d’État angefochten und geltend gemacht, dass ihre Heranziehung gegen das Recht auf ein faires Verfahren verstoße.

(80) Unter diesen Umständen ist die Einrede der Regierung zu verwerfen. Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK aufgelisteten Grund unzulässig. Er ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

Zur Befolgung von Art 2 4. ZPEMRK

Vorbringen der Bf

(81) Die Bf bestreiten die Vorhersehbarkeit der Rechtsgrundlage für ihren »Hausarrest«, das den vom Verwaltungsrichter beigemessene Gewicht der notes blanches und die Notwendigkeit der strittigen Maßnahme.

(82) Erstens seien die Voraussetzungen für die Anwendung der Maßnahme unflexibel. Der in Art 6 des Notstandsgesetzes enthaltene Begriff »eine für die Sicherheit und öffentliche Ordnung darstellende Bedrohung« sei zu wenig präzise. Dieser verschaffe der Verwaltung einen praktisch unbegrenzten Handlungsspielraum, was die Anordnung eines »Hausarrests« angehe [...].

(83) Zweitens beklagen sie sich darüber, einzig und allein auf der Grundlage der vom Geheimdienst ausgestellten notes blanches auf ihr Zuhause beschränkt worden zu sein. Sie hätten aber zu keiner Zeit mit den Sicherheitskräften zu tun gehabt und wären von ihnen nicht einmal zu den in den notes blanches erwähnten Tatsachen befragt worden. Die Heranziehung der notes blanches durch den Verwaltungsrichter sei nicht von ausreichenden Verfahrensgarantien begleitet gewesen. Insb wären sie nicht in der Lage gewesen, diese auf kontradiktorischer Art und Weise erörtern zu lassen [...].

(84) Drittens sei die [...] Maßnahme unverhältnismäßig gewesen. [...]

Würdigung durch den GH

(91) Unter der Maßgabe, dass die strittige Einschränkung der Bewegungsfreiheit nicht auf »gewisse festgelegte Zonen« beschränkt ist, muss sie gemäß dem dritten Absatz des Art 2 4. ZPEMRK geprüft werden (vgl Garib/NL, Rz 110). Nach gefestigter Rsp muss eine solche Maßnahme gesetzlich vorgesehen sein, eines der in diesem Absatz aufgezählten legitimen Ziele verfolgen und ein gerechtes Gleichgewicht zwischen dem allgemeinen Interesse und den Rechten des Individuums treffen.

(92) Der GH hat bereits die Existenz einer Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Bf bejaht. Diese verfolgte ohne Zweifel legitime Ziele, nämlich die Bewahrung der nationalen und öffentlichen Sicherheit und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Bleibt zu prüfen, ob die gegenständliche Maßnahme auf eine vorhersehbare Rechtsgrundlage gestützt wurde und ob sie in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Zur gesetzlichen Vorhersehbarkeit

(91) Der GH hat bereits im Fall Pagerie/FR festgehalten, dass Art 6 des Notstandsgesetzes idF des Gesetzes vom 20.11.2015 den Anforderungen der Vorhersehbarkeit von Gesetzen genügt (vgl Rz 178–191). [...]

(95) Er hat im Fall Fanouni/FR, Rz 49–51, auch die Vorhersehbarkeit einer früheren Version dieser Gesetzesbestimmung bejaht.

(96) Beide Angelegenheiten betrafen jedoch Präventionsmaßnahmen gegen Terrorismus, deren Rechtfertigung sich mit den Gründen deckte, aus denen Frankreich am 14.11.2015 den Notstand erklärt hatte. Nun kritisieren die Bf aber die Tatsache, dass Art 6 des Notstandsgesetzes in seiner Auslegung durch den Conseil d’État es im gegenständlichen Fall gestattete, einen »Hausarrest« aus entfernteren Gründen im Vergleich zu jenen anzuordnen, die zur Rechtfertigung der Ausrufung des Notstands herangezogen worden waren. Für den GH handelt es sich hierbei um einen Aspekt, über den er bisher noch nicht abgesprochen hat.

(97) [...] Die Erklärung des Notstands auf der Grundlage des Notstandsgesetzes vom 3.4.1955 bezweckte nicht, den Schutz der Grundfreiheiten [...] auszusetzen, sondern lediglich der Polizei außergewöhnliche Befugnisse zu verleihen. Der GH muss sich daher vergewissern, ob der dem Innenminister verliehene Beurteilungsspielraum bei der Anordnung des »Hausarrests« ausreichend eingegrenzt ist und ob seine Entscheidungen Gegenstand einer angemessenen Kontrolle sind.

(99) Im vorliegenden Fall räumte der Conseil d’État zwar ein, dass die Verhängung des »Hausarrests« der Bekämpfung einer Bedrohung für die Sicherheit und öffentliche Ordnung aus anderen Gründen dienen konnte, wie sie zur Rechtfertigung der Erklärung des Notstands angeordnet worden waren. Er fügte dem aber hinzu, dass es dem Verwaltungsrichter obliege, die Wohlbegründetheit der Maßnahme einzuschätzen und ihre Verhältnismäßigkeit »unter Berücksichtigung der Situation, die zur Ausrufung des Notstands geführt hat«, zu kontrollieren. Der französische Verfassungsrat forderte übrigens, dass der »Hausarrest« gerechtfertigt sein müsse und gegenüber den Gründen verhältnismäßig zu sein habe, aus denen er »unter den besonderen Umständen der Ausrufung des Notstands« angeordnet wurde, ferner müsse er der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen. Der GH ist der Ansicht, dass diese Präzisionen seitens der Gerichte verhindern, dass der Notstand seines Zwecks beraubt wird.

(100) Zweitens ist hervorzuheben, dass das innerstaatliche Recht eine gerichtliche Kontrolle vorsieht, die auf die [Prüfung der] Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit des auf Basis der einschlägigen Rechtsgrundlagen angeordneten »Hausarrests« abzielt – und zwar innerhalb der sehr kurz bemessenen Frist bei der Prozedur betreffend einstweilige Verfügungen. Einer derartigen gerichtlichen Kontrolle kommt dann besondere Bedeutung zu, wenn die Exekutivbehörden wie im vorliegenden Fall mit außergewöhnlichen Befugnissen in einer bedeutenden Krisensituation ausgestattet sind.

(101) Unter diesen Umständen sieht der GH keinen Grund, von seiner vorhergehenden Einschätzung abzugehen. Er bekräftigt daher, dass die Rechtsgrundlage für die strittigen Maßnahmen vorhersehbar war. Er muss sich aber dennoch vergewissern, ob diese Garantien auf effektive Art und Weise umgesetzt wurden. Insb ist zu fragen, ob die Existenz einer ausreichenden Verbindung zwischen den getroffenen Maßnahmen und dem gesetzlichen Regelwerk rund um den staatlichen Notstand einer Kontrolle unterworfen wurde. [...]

Zur Notwendigkeit der strittigen Einschränkung und der Existenz von Garantien gegen Willkür

(107) Im gegenständlichen Fall schränkte die Verhängung des »Hausarrests« die Bewegungsfreiheit der Bf ein: tatsächlich wurde beiden Bf für 16 Stunden untersagt, das Gemeindegebiet zu verlassen. Zwischen 20:00 und 6.00 Uhr mussten sie in ihrer Wohnung bleiben und sich unter Tags dreimal bei der Polizei melden. Bei Nichtbefolgung der Anordnung drohten ihnen Sanktionen.

(108) [...] Der Innenminister begründete die Maßnahme mit der Notwendigkeit, die Sicherheit der COP21 in einem Kontext zu gewährleisten, in dem zum einen [in Frankreich] eine schwerwiegende terroristische Bedrohung bestand und es 2015 in Nachbarländern zu gewaltsamen Vorfällen bei [...] anderen Großereignissen gekommen war. Er stützte sich bei seiner Entscheidung auch auf Informationen des Geheimdiensts, wonach Aktivist*innen am Rande des Klimagipfels gewaltsame Aktionen planten, woran möglicherweise auch die beiden Bf mitwirken würden. Nach Ansicht des GH zielten die strittigen Maßnahmen auf die Verhinderung von Zusammenstößen mit den Ordnungskräften und einer Verschlechterung der Sicherheitslage bei einem internationalen Gipfel ab und wiesen keine unmittelbare Verbindung mit dem Kampf gegen den Terrorismus auf. Er wird daher seine Verhältnismäßigkeitskontrolle vor dem Hintergrund ausüben, ob ein von den innerstaatlichen Behörden identifiziertes Risiko für gewalttätige Überschreitungen bestand.

(109) Der GH wird auch untersuchen, ob die gerichtliche Kontrolle dieser Maßnahmen von ausreichenden prozessualen Garantien begleitet war.

(110) Er wird auch prüfen, ob die vom innerstaatlichen Recht vorgesehenen Garantien gegen Missbrauch effektiv umgesetzt wurden und ob sich die Gerichte vergewisserten, dass jede dieser Maßnahmen eine ausreichende Verbindung mit dem Notstandsrecht hatte. Ferner wird untersucht, ob das von den Behörden erwogene Risiko für gewalttätige Überschreitungen von einer solchen Schwere war, dass es das Ziel der Verhinderung von Terrorismus in Frage zu stellen vermochte.

(111) Der GH hält es für notwendig, die Situation der Bf hinsichtlich dieser drei Punkte zu unterscheiden.

Zur Notwendigkeit der getroffenen Maßnahme, soweit sie den ErstBf betraf

(112) [Was die Bereitstellung prozessualer Garantien betrifft,] ist seitens des GH festzustellen, dass der ErstBf in den Genuss einer gerichtlichen Kontrolle bezüglich der gegenüber ihm angeordneten Maßnahme kam, die sowohl auf ihre Rechtmäßigkeit als auch auf ihre Verhältnismäßigkeit Bezug nahm. In dieser Hinsicht haben die Gerichte insb die vom Innenminister geltend gemachte Realität eines Risikos überprüft.

(113) Der ErstBf beanstandet nun das Gewicht, das den notes blanches von den Verwaltungsgerichten zugeschrieben worden wäre. Der GH erinnert in dieser Hinsicht daran, dass – mag sich auch die Verwendung von Geheimdienstinformationen als unerlässlich erweisen, wenn die nationale Sicherheit auf dem Spiel steht – dies keinesfalls den Schluss zulässt, dass die nationalen Behörden damit jeder Kontrolle durch die innerstaatlichen Gerichte entzogen sind. Damit die prozessualen Rechte der betroffenen Person nicht ihrer Substanz beraubt werden, muss diese in einer mit der Sicherstellung der Geheimhaltung und dem ordnungsgemäßen Ablauf von Ermittlungen vereinbaren Weise über das Substrat der gegen sie erhobenen Vorwürfe informiert werden. Das Fehlen von Informationen über faktische Gründe zur Rechtfertigung der Maßnahme und hinsichtlich des einer Person konkret vorgeworfenen Verhaltens verlangt nach soliden kompensatorischen Garantien (siehe, mutatis mutandis, Muhammad und Muhammad/RO, Rz 168, 170, 177, 194 und 204).

(114) Der GH möchte auch in Erinnerung rufen, dass er in den Fällen Pagerie/FR (Rz 206–208) und Fanouni/FR (Rz 60–61) bereits über prozessuale Garantien im Zusammenhang mit der Berücksichtigung der notes blanches durch die Verwaltungsgerichte abgesprochen hat. Das französische Recht sieht in dieser Hinsicht drei Bündel von Garantien vor: erstens muss eine note blanche einem kontradiktorischen Verfahren unterworfen sein. Zweitens ist der Verwaltungsrichter zur Ausübung einer Kontrolle hinsichtlich der Genauigkeit und Präzision des Inhalts der notes blanches verpflichtet, indem er zu untersuchen hat, ob sie auf präzisen und ausführlichen Fakten beruhten und ernsthaft bestritten wurden oder nicht. Drittens werden dem Verwaltungsrichter Untersuchungsbefugnisse übertragen, die ihm die Ausübung der Kontrolle gestatten. [...]

(115) Im vorliegenden Fall kommt der GH mit den innerstaatlichen Gerichten dahingehend überein, dass die vom Innenminister im Zuge des vom ErstBf angestrengten Verfahrens vorgelegten notes blanches ein detailliertes Vorbringen hinsichtlich der Handlungen und seines Verhaltens, die ihm konkret vorgeworfen wurden, enthielten. Obwohl dieser über die Möglichkeit verfügte, Klarstellungen zu erhalten, forderte er die innerstaatlichen Gerichte nicht dazu auf, von ihren Untersuchungsbefugnissen Gebrauch zu machen. Zudem beschränkte sich der ErstBf lediglich darauf, vor dem Richter, bei dem er die Erlassung einer einstweiligen Verfügung beantragt hatte, die sich auf ihn beziehenden [belastenden] Tatsachen schlichtweg abzustreiten, ohne deren Ungenauigkeit nachzuweisen. Schließlich legte er auch kein Rechtsmittel vor den Verwaltungsgerichten ein. Unter diesen Umständen ist der GH der Ansicht, dass die gerichtliche Überprüfung des über den ErstBf verhängten »Hausarrests« von ausreichenden prozessualen Garantien begleitet war.

(116) [Was die Einschätzung des Risikos durch die innerstaatlichen Behörden betrifft], möchte der GH nicht die Natur des Risikos unterschätzen, gegen welches sich diese wappnen wollten. Mehrere europäische Länder waren in der Tat mit ernsten Schwierigkeiten konfrontiert, was die Aufrechterhaltung der Ordnung im Hinblick auf gewisse Aufmärsche von besonders agressiven Aktivist*innen unter der Ägide des »Schwarzen Blocks« betraf, die dazu bereit waren, in gewaltsame Konfrontationen mit den Sicherheitskräften zu treten und bedeutenden Schaden in Kauf zu nehmen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen [...]. Solche Ausschreitungen konnten zu verhängnisvollen Konsequenzen führen [...]. In seinen Anordnungen vom 25.11.2015 wies der französische Innenminister darauf hin, dass dieses Phänomen einige Monate vor seiner Entscheidung erneut aufgetreten war, nämlich anlässlich der Einweihungsfeier des Hauptquartiers der Europäischen Zentralbank in Frankfurt und der Mailänder Weltausstellung.

Nach Ansicht des GH verfügten die innerstaatlichen Behörden im vorliegenden Fall daher über glaubwürdige Informationen, wonach die COP21 einem erhöhten Risiko von Ausschreitungen und Vandalismus ausgesetzt sein werde.

(117) Bleibt zu prüfen, ob [...] eine individuelle und gründliche Einschätzung der Situation des ErstBf stattfand und ob sein Verhalten oder seine Handlungen so beschaffen waren, dass sie die im Hinblick auf seine Person ergriffene Maßnahme rechtfertigen konnten.

(118) Im vorliegenden Fall geht aus den in den notes blanches enthaltenen geheimdienstlichen Informationen, die den innerstaatlichen Gerichten vorgelegt wurden, hervor, dass der ErstBf entweder sechs Treffen angeregt oder an ihnen teilgenommen hatte. Diese waren dazu bestimmt, Aktionen am Rande des zwischen dem 5.9. und 26.10.2015 stattfindenden COP21-Gipfels vorzubereiten und fanden in Gegenwart von militanten Angehörigen der radikalen Protestbewegung statt, die für ihre Gewalttätigkeit und ihre besondere Entschlossenheit bekannt war. Die Protestvorhaben umfassten insb die Blockade öffentlicher Straßen und die Durchführung »gewalttätiger Aktionen« unspezifischer Natur gegen öffentliche Stellen oder Unternehmen, die als Sponsor für den Gipfel auftraten. Ein dem Conseil d’État übermitteltes Memorandum vom 9.12.2015 wies darauf hin, dass der ErstBf in Ivry-sur-Seine im März 2015 ein Haus besetzt hatte, um dort am Gipfel Protestierende aufzunehmen. Während einer Veranstaltung vom 1.10.2015 kündigte er übrigens an, sich bei den Servicebetrieben anstellen zu lassen, um auf diese Weise zum Standort der Klimakonferenz vordringen zu können.

(119) Zur Vorgeschichte des ErstBf ist zu sagen, dass [...] er in Bure [...] an einer gemeinsamen Aktion zwecks Beschädigung einer Niederlassung der Nationalen Agentur für den Umgang mit radioaktiven Abfällen teilgenommen hatte, bei der Gendarmeriebeamt*innen mit Molotowcocktails beworfen wurden. Erwähnt wurde auch, dass der ErstBf am 22.11.2015 in Paris eine Polizeisperre durchbrochen hatte, um an einer behördlich untersagten Kundgebung teilnehmen zu können.

(120) Wenn der ErstBf nun die Ungenauigkeit dieser Informationen bestreitet, ist festzuhalten, dass dieser weder ihre Herkunft noch die Tatsache in Frage stellt, dass er Gegenstand von strikten Nachforschungen seitens des Geheimdiensts war. Zudem sind die den Gerichten vorgelegten notes blanches besonders ausführlich. Im vorliegenden Fall vermag der GH keine objektiven Elemente zu erkennen, die es ihm gestatten würden, auf Seiten der öffentlichen Behörden einen Ermessensmissbrauch oder versteckte Absichten zu vermuten.

(121) Im Übrigen wurde der Bf bereits wegen der Beteiligung an Ausschreitungen und wegen der Weigerung, sich einer DNA-Probe zu unterziehen, verurteilt.

(122) Unter diesen Umständen durften die Gerichte im Lichte des vom Bf an den Tag gelegten Verhaltens und seiner Vorgeschichte berechtigterweise davon ausgehen, dass ein ernstes Risiko bestand, er werde anlässlich der COP21 an gewaltsamen Handlungen mitwirken.

(123) [Zur Existenz einer ausreichenden Verbindung mit dem gesetzlichen Notstandsrecht und der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme] ist Folgendes festzustellen: Nachdem sie zur Kenntnis genommen hatten, dass eine große Anzahl von hohen ausländischen Würdenträgern am Weltgipfel teilnehmen würde, gingen die innerstaatlichen Behörden davon aus, dass Ausschreitungen auf diesem Gipfel die Sicherheitskräfte über alle Maßen in Anspruch nehmen würden und es ihnen schwer machen werde, Handlungen zur Verhinderung des Terrorismus zu setzen. Das von ihnen identifizierte Risiko von Ausschreitungen war von einer Tragweite und Schwere, dass eine große Zahl von Beamt*innen an der Sicherung der COP21 mitwirken hätten müssen. Es erscheint daher die Schlussfolgerung nicht unvernünftig, dass die dadurch verursachte Beanspruchung der Polizeikräfte die Behörden vor ernste Schwierigkeiten bei ihrer Aufgabe der Verhinderung von Terrorismus stellte, dies mit Blick auf die große Zahl der Standorte und Personen, die sie zu schützen hatten. Zudem war die strittige Maßnahme einige Tage nach den Attentaten vom 13.11.2015 zu einem Zeitpunkt angeordnet worden, zu dem der Schutz der Bevölkerung ohne Zweifel ein vordringliches Bedürfnis darstellte und große Menschenansammlungen der terroristischen Bedrohung besonders ausgesetzt waren. Nach Ansicht des GH wies die fragliche Maßnahme unter diesen sehr speziellen Umständen eine ausreichende Verbindung zum gesetzlichen Notstandsrecht auf.

(124) Der GH möchte noch anmerken, dass die Maßnahme ungeachtet des zwingenden Charakters ihrer Modalitäten (im Vergleich beispielsweise zum Fall Pagerie/FR, Rz 197) nur relativ kurz dauerte und zum selben Zeitpunkt wie der Klimagipfel endete. Sie beruhte daher auf relevanten und ausreichenden Gründen und gründete sich auf konkrete Hinweise, die aus dem Verhalten und der Vorgeschichte des ErstBf gezogen wurden, wonach bei diesem ein ernstes Risiko bestehe, an Ausschreitungen von besonderer Gewalt mitzuwirken.

(125) Angesichts des Vorgesagten und unter Berücksichtigung des Ermessensspielraums der innerstaatlichen Behörden kommt der GH zu dem Schluss, dass die hinsichtlich des ErstBf getroffene Maßnahme gegenüber den gesetzlich verfolgten Zielen nicht unverhältnismäßig war. Somit liegt im Hinblick auf diesen keine Verletzung von Art 2 4. ZPEMRK vor (einstimmig). [...]

Zur Notwendigkeit der getroffenen Maßnahme, soweit sie den ZweitBf betraf

(126) Der ZweitBf bringt vor, im vorliegenden Fall nicht in den Genuss ausreichender prozessualer Garantien gekommen zu sein. Die innerstaatlichen Gerichte hätten ihn bloß auf der Grundlage der seiner Ansicht nach ungenauen und schwer anzufechtenden notes blanches als offenkundigen Gewalttäter angesehen.

(127) [...] Dazu ist seitens des GH festzuhalten, dass weder die Begründung der Anordnung vom 25.11.2015 noch die den innerstaatlichen Gerichten vorgelegten notes blanches die Handlungen oder das Verhalten des ZweitBf detailliert beschrieben, welche den Innenminister zu dem Schluss veranlassten, es handle sich bei ihm um einen Demonstranten, der an gewaltsamen Aktionen mitwirken werde. Nun sind aber diese faktischen Elemente die einzigen, die den innerstaatlichen Gerichten von der Verwaltung vorgelegt wurden. Ein derartiger Mangel an Informationen erfordert solide ausgleichende Garantien [...].

(128) In dieser Hinsicht ist [...] erstens festzuhalten, dass die innerstaatlichen Gerichte nicht um die Übermittlung zusätzlicher Informationen [...] gebeten hatten, obwohl sie dazu die Möglichkeit gehabt hätten. Zweitens zogen diese im Rahmen ihrer Kontrollbefugnis aus dem lückenhaften Charakter der von der Verwaltung vorgelegten Beweise keine Konsequenzen. Vielmehr weigerte sich der für einstweilige Verfügungen zuständige Richter des Verwaltungsgerichts [...], die Wohlbegründetheit der Beschwerde des ZweitBf mit der Begründung zu prüfen, eine Entscheidung über die strittige Maßnahme sei derzeit nicht vordringlich, obwohl sich diese bereits im Stadium der Vollstreckung befand. Der Conseil d’État hielt [...] schließlich fest, dass der ZweitBf »an Aktionen unter Heranziehung von Gewalt beispielsweise die unterirdische Lagerstätte für radioaktive Abfälle in Bure betreffend« teilgenommen hatte, indem er den Inhalt der ihm vorgelegten notes blanches auslegte und Schlüsse daraus zog. Drittens und letztens zog die Begründung des Urteils des Verwaltungsgerichts zweiter Instanz [...] nicht ernsthaft das Vorbringen des ZweitBf in Erwägung, der zu jedem der in den Noten dargelegten Punkte detaillierte Erklärungen abgab und sechs Bezeugungen von Individuen vorlegte, die den pazifistischen Charakter seines aktivistischen Vorgehens bestätigten.

(129) Mit Blick auf das Verfahren als Ganzes kommt der GH daher zur Ansicht, dass das Versäumnis [der Gerichte], den ZweitBf mit konkreten Informationen zwecks Rechtfertigung der über ihn verhängten Maßnahme zu versorgen, nicht auf eine Art und Weise ausgeglichen wurde, dass damit der Wesensgehalt seiner prozessualen Rechte aufrechterhalten worden wäre.

(130) [Was die Einschätzung des Risikos und der Verhältnismäßigkeit der strittigen Maßnahme angeht], erinnert der GH daran, dass präventive Maßnahmen die Realisierung eines konkreten Risikos verhindern und auf ein dringendes soziales Bedürfnis reagieren sollen.

(131) Aus den dem GH vorgelegten notes blanches geht hervor, dass der ZweitBf an mehreren Treffen teilnahm, um Protestaktivitäten während der COP21 vorzubereiten. Nun steht zwar fest, dass er in Kontakt mit Aktivist*innen getreten war, jedoch waren dies nicht die einzigen Leute, die zu den Treffen kamen. Nichts in den vorliegenden Dokumenten enthält Hinweise darauf, dass der ZweitBf persönlich an gewaltsamen Aktionen mitwirken oder sie zu organisieren helfen wollte. Es bestehen auch keine Hinweise darauf, dass er zu derartigen Handlungen ermutigen oder sie sogar unterstützen wollte. Zudem vermag nichts die Behauptung des französischen Geheimdiensts zu stützen, wonach es sich beim ZweitBf um einen gewalttätigen Aktivisten handle.

(132) Was die [strafrechtliche] Vorgeschichte des ZweitBf angeht, geht aus den notes blanches hervor, dass er einer der Hauptmoderatoren des »antitautoritären Sommercamps« von Bure war. Insb wird berichtet, dass er an seiner Errichtung im Juni 2015 teilnahm. Im Gegensatz zu seinem Bruder enthalten besagte Noten jedoch keinerlei Hinweise, dass er an Ausschreitungen oder an Gewalttätigkeiten in der Nacht vom 3. auf den 4.8.2015 teilgenommen hätte. [...] Laut dem ZweitBf sei er auch noch nie strafrechtlich verurteilt worden, was [von den innerstaatlichen Behörden] nicht bestritten wurde.

(133) Angesichts des Vorgesagten scheint es nicht so zu sein, dass die im Hinblick auf den ZweitBf ergriffenen präventiven Maßnahmen das Ergebnis einer individuellen und detaillierten Bewertung seines Verhaltens oder seiner Aktionen waren, die den Nachweis eines Risikos ermöglicht hätten, er werde an den von den innerstaatlichen Behörden befürchteten Ausschreitungen teilnehmen. Der GH ist der Ansicht, dass die Radikalität der politischen Überzeugungen des ZweitBf im vorliegenden Fall nicht ausreichend ist, um ein solches Risiko zu materialisieren. Er erinnert daran, dass ein Verwandschaftsverhältnis zu einer der Begehung von Straftaten verdächtigen Person nicht ausreicht, um eine Präventionsmaßnahme zu rechtfertigen (vgl Labita/IT, Rz 196). Ungeachtet des den innerstaatlichen Behörden verbleibenden Ermessensspielraums vermag der GH daher nicht zu dem Schluss zu gelangen, dass der über den ZweitBf verhängte »Hausarrest« in einer demokratischen Gesellschaft notwendig iSv Art 2 4. ZPEMRK war.

(134) Der GH kommt [...] somit zu dem [vorläufigen] Ergebnis, dass die Anordnung des »Hausarrests« gegenüber dem Bf nicht voll die materiellen und prozessualen Anforderungen des Art 2 4. ZPEMRK erfüllte. Er muss nun als nächstes prüfen, ob diese Maßnahme von der [am 24.11.2015 erfolgten] Erklärung Frankreichs, von Art 15 EMRK [Außerkraftsetzen von in der Konvention vorgesehenen Verpflichtungen im Notstandsfall] Gebrauch machen zu wollen, gedeckt war.

Zur Anwendung von Art 15 EMRK

(148) Der GH nimmt vorab davon Kenntnis, dass die belangte Regierung sich nicht auf den von Frankreich zu Art 15 EMRK gemachten Vorbehalt berufen will. (Anm: Danach ist Art 15 Abs 1 EMRK so zu verstehen, dass die in Art 1 des Notstandsgesetzes vom 3.4.1955 aufgezählten Umstände zur Rechtfertigung der Erklärung des öffentlichen Notstands dem Gegenstand von Art 15 EMRK zu entsprechen haben.) Er ist der Ansicht, dass dieser Vorbehalt nicht derart interpretiert werden kann, dass er Frankreich von den in Art 15 Abs 3 EMRK vorgesehenen Benachrichtigungspflichten entbinden oder die auf der Grundlage des Notstandsgesetzes getroffenen Maßnahmen von der europäischen Kontrolle ausnehmen kann.

(149) Der GH möchte auch hervorheben, dass sich Art 2 des 4. ZPEMRK nicht unter den Rechten befindet, von denen keinesfalls abgewichen werden kann. [...] Art 15 EMRK ist daher anwendbar.

(150) Die Existenz eines das Leben der Nation bedrohenden öffentlichen Notstands wird im vorliegenden Fall nicht bestritten. Der GH hat bereits mehrmals eingeräumt, dass die Gefahr eines terroristischen Attentats als gültiger Vorbehaltsgrund angesehen werden kann (vgl A. ua/GB, Rz 176–180). Die Serie von Attentaten, die Frankreich zwischen 2015 und 2017 erschüttert hat, hat die Realität dieser Bedrohung und ihre Aktualität auf tragische Art und Weise demonstriert. Im Lichte der ihm zur Verfügung stehenden Elemente ist der GH der Ansicht, dass diese Bedrohung von einem Ausmaß war, dass sie zum damaligen Zeitpunkt einen das Leben der Nation bedrohenden öffentlichen Notstand darstellte. Die Regierung war daher zur Ausübung ihres Vorbehaltsrechts berechtigt.

(151) Was die Gültigkeit der Vorbehaltserklärung angeht, bezieht sich die am 24.11.2015 an den Generalsekretär des Europarats übermittelte Information auf die von den französischen Behörden getroffenen Maßnahmen und die Motive dafür. Besagte Erklärung legte jedoch nicht den Umfang der vom Vorbehalt betroffenen Rechte und Freiheiten fest. Da über diesen Punkt nicht gestritten wurde, sind für den GH die formellen Anforderungen des Art 15 Abs 3 EMRK im gegenständlichen Fall erfüllt.

(152) Bleibt zu prüfen, ob das in Art 15 Abs 1 EMRK vorgesehene Erfordernis der »strikten Notwendigkeit« beachtet wurde. [...]

(153) Dazu ist zuerst einmal festzuhalten, dass das französische Recht zum damaligen Zeitpunkt keine individuellen Präventionsmaßnahmen umfasste, die es gestatten hätten, die Bewegungsfreiheit von Individuen, die eine Bedrohung für die Sicherheit und öffentliche Ordnung darstellen hätten können, außerhalb des gesetzlichen Notstandsrechts einzuschränken. Angesichts der Tragweite der terroristischen Bedrohung und der dringlichen Notwendigkeit, die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten, ist der GH der Meinung, dass die innerstaatlichen Behörden vernünftigerweise zu der Ansicht gelangen mussten, dass die Ressourcen des ordentlichen Rechts nicht ausreichen würden, um der Situation Herr zu werden.

(154) Nun hat aber die Regierung [...] darauf hingewiesen, dass die Erklärung des Notstands aufgrund der Schwere der terroristischen Bedrohung und »zwecks Verhinderung der Begehung neuer terroristischer Attentate« erfolgt war. Diese Begründung ist in den Augen des GH von ausschlaggebender Bedeutung. Er ist der Ansicht, dass lediglich jene Maßnahmen, die eine ausreichend starke Verbindung mit dem verfolgten Zweck außerhalb des Vorbehalts aufweisen, von diesem erfasst sein können. Anders zu urteilen würde die in Art 15 Abs 3 EMRK vorgesehene Benachrichtigungspflicht jeglicher nützlichen Wirkung berauben.

(155) Die Regierung versäumte es aber, in überzeugender Weise darzulegen, dass sich der über den ZweitBf verhängte »Hausarrest« im Rahmen der Terrorismusbekämpfung abspielte und durch eine Situation iSd Art 15 Abs 1 EMRK strikt erforderlich war. Der GH ist daher der Ansicht, dass der »Hausarrest« nicht vom französischen Vorbehalt gedeckt war. Folglich liegt eine Verletzung von Art 2 4. ZPEMRK im Fall des ZweitBf vor (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richterin Mourou-Vikström).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

€ 1.500,– für immateriellen Schaden an den ZweitBf; € 10.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Vom GH zitierte Judikatur:

Labita/IT, 6.4.20oo, 26772/95 (GK)

A. ua/GB, 19.2.2009, 3455/05 = NL 2009, 46

Nada/CH, 12.9.2012, 10593/08 (GK) = NLMR 2012, 293

Garib/NL, 6.11.2017, 43494/09 (GK) = NL 2017, 570

Muhammad und Muhammad/RO, 15.10.2020, 80982/12 (GK) = NLMR 2020, 375

Pagerie/FR, 19.1.2023, 24203/16 = NLMR 2023, 78

Fanouni/FR, 15.6.2023, 31185/18

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.5.2024, Bsw. 34749/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 250) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.