Bsw25259/20 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Oleg Balan gg Moldau, Urteil vom 14.5.2024, Bsw. 25259/20.
Spruch
Art 8 EMRK - Widerstreitende Interessen von Enthüllungsjournalisten und Personen des öffentlichen Lebens.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art 8 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 1.500,– für immateriellen Schaden (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Herr Usatîi, der Vorsitzende einer Oppositionspartei in Moldau, veröffentlichte auf seiner persönlichen Facebook-Seite die folgende Erklärung: »Habe ein interessantes Dokument mit der Post erhalten. Wieder einmal wusste unser Timofte [der damalige Präsident der Republik Moldau] alles und hat darüber geschwiegen«. Er fügte eine Kopie einer dreiseitigen Notiz bei, welche nach Abschluss einer »operativen Studie« im Innenministerium verfasst worden sein soll. Die Notiz trug den Briefkopf des Sicherheits- und Informationsdienstes, war mit 22.5.2015 datiert und an den damaligen Präsidenten der Republik Moldau gerichtet. Die Notiz, die unter anderem den Stempel »geheim« trug, habe den Präsidenten angeblich darüber informiert, dass der Bf, der zum damaligen Zeitpunkt Innenminister war, der Förderung seines eigenen Images Vorrang vor der Verbesserung des ramponierten Ansehens des Ministeriums eingeräumt habe. So seien von ihm etwa zahlreiche Beamt*innen auf verschiedenen Ebenen des Ministeriums und der Polizei entlassen und durch ihm gegenüber loyale Personen ersetzt worden. Dieser Facebook-Eintrag von Herrn Usatîi wurde von mehreren Nachrichtenportalen und Medien weiterverbreitet. Am selben Tag veröffentlichte der Sicherheits- und Informationsdienst eine Pressemitteilung und stellte klar, dass von ihm keine sogenannte »operative Studie« verfasst worden sei.
In weiterer Folge forderte der Bf Herrn Usatîi und dessen Partei auf, eine förmliche Erklärung darüber abzugeben, dass die in der Notiz enthaltenen Informationen falsch seien. Zudem verlangte der Bf eine öffentliche Entschuldigung und eine Entschädigung für den ihm durch die verleumderischen Äußerungen entstandenen immateriellen Schaden. Da darauf keine Reaktion erfolgte, erhob der Bf eine Klage gegen Herrn Usatîi und dessen Partei. Das Gericht stellte fest, dass Herr Usatîi Unwahrheiten veröffentlicht hatte, die den Bf verleumdeten, weshalb es ihn dazu verurteilte, eine Entschuldigung zu veröffentlichen und Schadenersatz an den Bf zu leisten. Die Partei von Herrn Usatîi war an der Verbreitung der Informationen nicht beteiligt. Die beklagten Medien wurden vom Gericht angewiesen, einen Widerruf zu veröffentlichen, um die Öffentlichkeit darüber zu informieren, dass die Informationen in der Notiz falsch waren. Im Rahmen des Rechtsschutzverfahrens wurde diese Entscheidung bestätigt. Der Oberste Gerichtshof der Republik Moldau hob in weiterer Folge das Urteil der Vorinstanz auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung zurück. Auch im neuen Urteil wurde zugunsten des Bf entschieden.
Herr Usatîi legte gegen dieses Urteil Berufung ein. Folglich hob der Oberste Gerichtshof die Urteile der Vorinstanzen auf und wies die Anträge des Bf ab. Der Oberste Gerichtshof verwies auf den im innerstaatlichen Recht und in der EMRK verankerten Schutz der Meinungsfreiheit und stellte fest, dass die Veröffentlichung im Internet einer journalistischen Tätigkeit gleichkommen kann. Darüber hinaus bestehe ein eindeutiges öffentliches Interesse an investigativem Journalismus, insb wenn er auf die Aufdeckung von Korruptionsfällen und die Verhinderung von Straftaten abziele. Nach nationalem Recht seien Zweifel an der Gutgläubigkeit einer Person, die investigativen Journalismus betreibe, bis zur Widerlegung der Vermutung der Gutgläubigkeit zu deren Gunsten auszulegen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf behauptete wegen der verleumderischen Äußerungen eine Verletzung von Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens).
Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK
Zulässigkeit
(21) [...] Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
In der Sache
(22) Der Bf brachte vor, sein durch Art 8 EMRK garantiertes Recht auf Schutz seiner Ehre, seiner Würde und seines beruflichen Ansehens sei verletzt worden. Der Oberste Gerichtshof habe es verabsäumt, die konkurrierenden Rechte, die durch Art 8 und 10 EMRK geschützt werden, richtig abzuwägen. Das Recht auf freie Meinungsäußerung sei nicht unbegrenzt, und die Gerichte hätten die mit der Ausübung dieses Rechts verbundenen Pflichten und Verantwortlichkeiten nicht ausreichend berücksichtigt. Herr Usatîi habe bei der Veröffentlichung der Notiz nicht gutgläubig gehandelt, da er keine Schritte unternommen habe, um die Echtheit der Notiz zu überprüfen.
(26) Der GH stellt fest, dass es gegenständlich [...] um die angebliche Unzulänglichkeit der nationalen Gerichte beim Schutz des Privatlebens des Bf geht. Er erinnert daran, dass die positive Verpflichtung aus Art 8 EMRK dem Staat vorschreibt, Maßnahmen zu ergreifen, die die Achtung des Privatlebens auch im Bereich der Beziehungen privater Personen untereinander sicherstellen. Die anzuwendenden Grundsätze sind jedoch ähnlich, und es muss ein gerechter Ausgleich zwischen den einschlägigen konkurrierenden Interessen gefunden werden [...].
(27) Außerdem erinnert der GH daran [...], dass eine Prüfung dahingehend notwendig sein kann, ob die nationalen Behörden ein angemessenes Gleichgewicht zum Schutz zweier durch die EMRK garantierter Werte (einerseits der durch Art 10 EMRK geschützten Meinungsfreiheit und andererseits des in Art 8 EMRK verankerten Recht sauf Achtung des Privatlebens) gefunden haben. [...]
(28) Zwischen den Parteien bestand kein Dissens darüber [...], dass die Abweisung der Klage gegen Herrn Usatîi die positive Verpflichtung der Behörden nach Art 8 EMRK betraf, den Ruf des Bf zu schützen. Der GH wird sich daher darauf konzentrieren, ob die Behörden ihren positiven Verpflichtungen nachgekommen sind.
Gegenstand des Berichts
(30) Der GH stellt ebenso wie der Oberste Gerichtshof der Republik Moldau fest, dass das Thema des angeblich unangemessenen Verhaltens eines Ministers legitimerweise ein hohes Maß an öffentlichem Interesse aufwirft [...]. Die Förderung einer freien politischen Debatte über solche Fragen ist ein sehr wichtiges Merkmal einer demokratischen Gesellschaft, weshalb der GH der Meinungsfreiheit im Rahmen einer solchen Debatte höchste Bedeutung beimisst [...]. Daher hatte der Oberste Gerichtshof gute Gründe, der Veröffentlichung von Material, das angeblich solche Aktivitäten enthüllt, ein hohes Schutzniveau zu gewähren.
Bekanntheitsgrad der betroffenen Person und ihr früheres Verhalten
(31) Der Oberste Gerichtshof berücksichtigte die Tatsache, dass der Bf zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Notiz Minister war und dass er als Person des öffentlichen Lebens ein hohes Maß an Kritik an seinen Handlungen hinnehmen musste. Der GH schließt sich dieser Feststellung an [...].
Der Status des Autors der Veröffentlichung
(32) Der GH wiederholt, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung für einen gewählten Volksvertreter, politische Parteien und ihre aktiven Mitglieder besonders wichtig ist. Dementsprechend erfordert jeder Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung eines Oppositionsmitglieds, das seine Wähler*innen vertritt, auf ihre Anliegen aufmerksam macht und ihre Interessen verteidigt, die genaueste Prüfung seitens des GH [...].
(33) [...] Der GH schließt sich der Feststellung des Obersten Gerichtshofs an, wonach der Einschränkung der Meinungsfreiheit von Herrn Usatîi, einem Politiker und Vorsitzenden einer Oppositionspartei, das höchste Maß an Kontrolle zuzukommen hat [...].
(34) Zudem stellte der GH fest, dass der Oberste Gerichtshof Herrn Usatîi ausdrücklich als investigativen Journalisten behandelte, der über ein Thema von eindeutigem öffentlichem Interesse berichtet. Der Oberste Gerichtshof erklärte jedoch nicht, wie die Äußerungen eines Vorsitzenden einer Oppositionspartei, die auf einer Social-Media Plattform veröffentlicht wurden, als investigativer Journalismus eingestuft werden können, der den besonderen Schutz genießt, den die EMRK Journalist*innen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit bietet.
(35) Darüber hinaus hat der Oberste Gerichtshof angedeutet, dass Herr Usatîi als Bürgermeister einer Großstadt in Moldau Zugang zu bestimmten Informationen gehabt haben könnte, die der Allgemeinheit nicht zugänglich waren, was ihm zusätzliche Gründe für die Veröffentlichung der Notiz lieferte. Aus den Unterlagen im Akt geht jedoch hervor, dass er zu keinem Zeitpunkt behauptet hat, über den Inhalt dieses Dokuments hinaus weitere Informationen zu haben. Er hat auch nicht angegeben, dass er das Dokument dank seiner Rolle als Bürgermeister erhalten hat.
Inhalt, Form und Art der Informationsbeschaffung und Folgen der Veröffentlichung
(36) Der GH stellt fest, dass die Mitteilung schwerwiegende Behauptungen über ein Fehlverhalten des Bf enthielt. In diesem Zusammenhang weist der GH erneut darauf hin, dass zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen zu unterscheiden ist. Das Vorhandensein von Tatsachen kann nachgewiesen werden, während der Wahrheitsgehalt von Werturteilen nicht beweisbar ist [...].
(37) Aus den Akten des vorliegenden Falls geht nicht hervor, dass Herr Usatîi sich bemüht hat, den Inhalt der Notiz und ihre Echtheit in irgendeiner Weise zu bestätigen. Außerdem hat er seine Leser*innen nicht über fehlgeschlagene Versuche informiert, dies zu tun. Ganz allgemein hat Herr Usatîi nicht behauptet, dass er in den Besitz anderer Informationen über das angebliche Fehlverhalten im Innenministerium gelangt sei.
(38) Der GH wiederholt, dass es möglich sein sollte, sich auf den Inhalt offizieller Berichte zu verlassen, wenn man zur öffentlichen Debatte über Fragen von legitimer Bedeutung beiträgt, ohne unabhängige Nachforschungen anstellen zu müssen [...]. Im vorliegenden Fall könnten jedoch die Umstände, unter denen Herr Usatîi die Notiz erhalten hat (sie wurde anonym in seinem Briefkasten hinterlassen), gewisse Zweifel an ihrer Echtheit aufkommen lassen. Schon die Tatsache, dass diese Notiz tatsächlich von den Behörden stammte, war daher zu dem Zeitpunkt, als Herr Usatîi sie veröffentlichte, zweifelhaft.
(39) Der GH bedenkt, dass das Internet zu einem der wichtigsten Mittel geworden ist, mit dem Einzelpersonen ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben. Es bietet wesentliche Instrumente für die Teilnahme an Aktivitäten und Diskussionen über politische Fragen und Themen von allgemeinem Interesse [...]. Jedoch gibt es einige Risiken [...], denn verleumderische und andere Arten eindeutig rechtswidriger Äußerungen, einschließlich Hassreden und gewaltverherrlichender Äußerungen, können wie nie zuvor in Sekundenschnelle weltweit verbreitet werden und bleiben mitunter über längere Zeiträume online verfügbar [...]. Diesbezüglich stellt der GH fest, dass im vorliegenden Fall die Veröffentlichung von Herrn Usatîi sofort von mehreren Massenmedien zitiert wurde [...].
(40) Herr Usatîi veröffentlichte [...] die Notiz nicht einfach in einem Facebook-Posting, sondern versah sie mit dem Titel »Habe ein interessantes Dokument mit der Post erhalten. Wieder einmal wusste unser Timofte [der damalige Präsident der Republik Moldau] alles und hat darüber geschwiegen« [...]. Anstatt also die Leser*innen seiner Facebook-Seite vor der unbekannten Quelle und den Zweifeln an der Echtheit des Dokuments zu warnen, stellte er es als unbestreitbar echt dar [...]. Unter solchen Umständen kann die Warnung potenzieller Leser*innen ihnen bei der Entscheidung helfen, ob sie Informationen aus einer anonymen Quelle über ein Thema von öffentlichem Interesse vertrauen sollen. Politiker*innen, die Social-Media Plattformen nutzen, sind nicht von ihren »Pflichten und Verantwortlichkeiten« gemäß Art 10 Abs 2 EMRK befreit [...]. In diesem Zusammenhang weist der GH darauf hin, dass auch ein Nachrichtenportal die gleiche Notiz erhalten hatte, aber mangels Feststellung ihrer Echtheit beschloss, sie nicht zu veröffentlichen [...].
(41) Der GH stellt auch fest, dass Herr Usatîi die Leser*innen weder auf seiner Facebook-Seite noch anderswo vor der Möglichkeit gewarnt hat, dass die Notiz eine Fälschung gewesen sein könnte, selbst nachdem sowohl der Sicherheits- und Informationsdienst als auch das Büro des Präsidenten ihre Echtheit bestritten hatten oder nachdem er vom Bf darüber informiert worden war.
(42) [...] Für den GH ist schwierig zu eruieren, ob die Veröffentlichung Auswirkungen auf die politische Karriere des Bf hatte. Der GH hat jedoch keinen Grund, daran zu zweifeln, dass so schwerwiegende Behauptungen (wie die von Herrn Usatîi veröffentlichten) den Ruf des Bf beeinträchtigten. In diesem Zusammenhang kann der GH nicht umhin festzustellen, dass der Bf nie wegen einer Straftat angeklagt oder verurteilt wurde.
Schlussfolgerung
(43) Obwohl sich der Oberste Gerichtshof auf die anwendbaren Grundsätze der EMRK und die Rsp des GH gestützt hat, ist der GH nicht davon überzeugt, dass der Oberste Gerichtshof ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den konkurrierenden Rechten nach der EMRK hergestellt hat. Er behandelte insb Herrn Usatîi als Enthüllungsjournalisten und »öffentliche Person« und beschloss, die für Enthüllungsjournalisten geltende Vermutung des guten Glaubens auf seinen Fall anzuwenden. Der Oberste Gerichtshof unterließ es jedoch, seine eigene sorgfältige Analyse der Elemente des Akts im Hinblick auf den Schutz des Rechts des Bf auf den guten Ruf vorzunehmen, wie etwa die Frage, ob die nicht überprüfte Notiz zumindest teilweise mit bekannten oder überprüften Informationen übereinstimmte; ob Herr Usatîi versucht hatte, die Echtheit der Notiz oder irgendeinen ihrer Inhalte zu überprüfen; die Art und Weise, in der er seinen Leser*innen den Bericht präsentiert hatte (insb sein Versäumnis, sie vor der nicht überprüften Quelle und dem Inhalt der Notiz zu warnen); und ob er irgendwelche Folgeinformationen über die Notiz veröffentlicht hatte.
(44) Es liegt daher [...] eine Verletzung von Art 8 EMRK vor (einstimmig).
Weitere behauptete Verletzungen
(45) Der Bf behauptete auch eine Verletzung von Art 13 iVm Art 6 EMRK, da er nicht in der Lage gewesen sei, auf die vom Obersten Gerichtshof angeführten Argumente zu antworten.
(46) Der GH [...] kommt zum Ergebnis, dass [...] die Vorbringen gemäß Art 35 Abs 4 EMRK [als unzulässig] zurückzuweisen sind (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
€ 1.500,– für immateriellen Schaden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Axel Springer AG/DE, 7.2.2012, 39954/08 (GK) = NLMR 2012, 42 = EuGRZ 2012, 294
Von Hannover/DE (Nr 2), 7.2.2012, 40660/08 und 60641/08 (GK) = NLMR 2012, 45 = EuGRZ 2012, 278
Karácsony ua/HU, 17.5.2016, 42461/13, 44357/13 (GK) = NLMR 2016, 259
Sanchez/FR, 15.5.2023, 45581/15 (GK) = NLMR 2023, 267
Radio Broadcasting Company B92 AD/RS, 5.9.2023, 67369/16
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.5.2024, Bsw. 25259/20, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 210) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.