Bsw35271/19 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache J. Paul Getty Trust ua gg Italien, Urteil vom 2.5.2024, Bsw. 35271/19.
Spruch
Art 1 1. ZPEMRK - Anordnung der Beschlagnahme einer im Besitz der US-amerikanischen Getty-Stiftung stehenden antiken Statue.
Zulässigkeit der Beschwerde (mehrstimmig).
Keine Verletzung von Art 1 1. ZPEMRK (6:1 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der vorliegende Fall dreht sich um die Bemühungen der italienischen Regierung, den »Siegreichen Jüngling«, eine bedeutende griechisch-antike Bronzeskulptur, die 1964 in der Adria gefunden und von der J. Paul Getty-Stiftung (ErstBf) 1977 käuflich erworben wurde, wiederzuerlangen. Bei den weiteren Bf handelt es sich um vierzehn US-amerikanische Mitglieder des Treuhänderausschusses der Stiftung.
Zum Kauf der Statue durch die Stiftung
Nach ihrem Fund durch italienische Fischer wurde die Statue 1965 von drei italienischen Staatsangehörigen käuflich erworben und an eine unbekannte Person weiterveräußert. Sie verschwand dann spurlos. Gegen die drei Italiener kam es zu einem Strafverfahren wegen Diebstahls eines geschützten archäologischen Objekts, das 1970 mit einem Freispruch endete, da nicht zu eruieren war, dass die Statue tatsächlich in italienischen Hoheitsgewässern entdeckt wurde.
1972 tauchte die Statue in München bei einem gewissen H. H. auf, der für ihren Besitzer, ein in Liechtenstein registriertes Unternehmen, agierte. In der Folge trat die J. Paul Getty-Stiftung (im Folgenden: die Stiftung) mit H. H. in Verhandlungen zwecks Kaufs der Statue ein. Er versicherte dem Bevollmächtigten der Stiftung, dass Italien nach innerstaatlichem Recht keine Ansprüche an der Statue geltend machen könne, da nicht erwiesen sei, dass sie in italienischen Gewässern aufgefunden worden sei und es die italienische Regierung verabsäumt habe, das Eigentum an der Statue für sich zu beanspruchen. Bei dieser handle es sich um ein im Privatbesitz stehendes Kunstobjekt.
1974 eröffnete das Gericht von Gubbio auf der Basis von § 66 des Gesetzes Nr 1089/1939 eine strafrechtliche Untersuchung wegen unrechtmäßiger Außerlandesschaffung eines kulturellen Gegenstands. Das Strafverfahren wurde 1978 eingestellt, da die Täter nicht ausfindig gemacht werden konnten und mittlerweile Verjährung eingetreten war.
Im Juni 1977 ersuchten die Treuhänder der J. Paul Getty-Stiftung H. H. um aktuelle Informationen. Dieser übermittelte hierauf eine vollständige Dokumentation über die Herkunft der Statue.
Am 27.7.1977 erwarb die J. Paul Getty-Stiftung die Statue im Wege eines im Vereinigten Königreich geschlossenen Kaufvertrags für knapp vier Millionen US-Dollar. Die Statue steht seit 1978 in der Getty-Villa in Malibu.
Zu den Bemühungen der italienischen Behörden, die Statue wiederzuerlangen
Nach Ankunft der Statue in den USA unternahmen die italienischen Behörden verschiedene Schritte zur Klärung der Frage, unter welchen Umständen die Statue gekauft und wie sie in die USA gebracht worden war. So stellte sich etwa heraus, dass die Statue über Großbritannien ins Land gebracht und für sie keine Ausfuhrgenehmigung erteilt worden war. Alle Versuche, das Getty Museum und die US-Behörden – in diesem Fall unter Berufung auf das UNESCO-Übereinkommen vom 14.11.1970 über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut – zur Herausgabe bzw Beschlagnahme der Statue zu bewegen, verliefen jedoch ergebnislos.
Am 10.2.2010 ordnete das Bezirksgericht Pesaro die Beschlagnahme der Statue »wo immer sie sich auch befinde« an. Begründend führte es aus, die Statue sei von einem Schiff unter italienischer Flagge in internationalen Gewässern gefunden worden, sodass Italien gemäß § 4 des italienischen Schifffahrtsgesetzes das Eigentum an ihr erlangt habe.
Mit rechtskräftiger Entscheidung vom 2.1.2019 erklärte das italienische Höchstgericht den Beschlagnahmebefehl mit der Begründung für rechtsgültig, der ErstBf habe nicht in gutem Glauben bzw fahrlässig gehandelt, habe sie es doch verabsäumt, die Herkunft der Statue sorgfältig zu eruieren.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
(190) Die Bf beklagen sich über einen ungerechtfertigten Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Eigentums gemäß Art 1 1. ZPEMRK. Sie bringen vor, der Beschlagnahmebefehl sei wegen fehlender Vorhersehbarkeit einer Rechtsgrundlage unrechtmäßig gewesen. Zudem habe er kein legitimes Ziel verfolgt, da die Statue [...] nicht Teil des kulturellen Erbes von Italien sei. Der Beschlagnahmebefehl habe ihnen auch eine exzessive Last auferlegt.
Zur behaupteten Verletzung von Art 1 1. ZPEMRK
Zulässigkeit
Zur Stellung der Treuhänder*innen
(191) Die Regierung wandte ein, dass die Treuhänder*innen nicht behaupten könnten, Opfer der gerügten Konventionsverletzung zu sein. [...]
(204) Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob die Treuhänder*innen ein separates rechtliches Interesse, unterschiedlich von jenem der Stiftung, hatten, das von der angefochtenen Maßnahme direkt betroffen war.
(205) Die Parteien stellen nicht in Abrede [...], dass die Stiftung als eigenständige juristische Person [...] Adressat der gegenständlichen innerstaatlichen Maßnahme war. Außerdem betrafen alle Entscheidungen der italienischen Gerichte [...] die Stiftung.
(206) Zudem anerkannten die Treuhänder*innen, dass (i) sie das Vermögen der Stiftung im Interesse der Besucher*innen des Museums verwalten würden; (ii) es ihnen gemäß den innerstaatlichen Rechtsbestimmungen erlaubt sei, vor Gericht »im Namen der Stiftung« Klage zu erheben [...]; (iii) sie so eng mit der Stiftung identifizierbar wären, dass es zwecklos sei, Unterscheidungen hinsichtlich ihrer Rechtsstellung zu treffen; (iv) sie schließlich über die rechtlichen Bevollmächtigten der Stiftung konkret am innerstaatlichen Verfahren teilgenommen hätten, wären doch ihre Interessen [mit jenen der Stiftung] gleichsam identisch. Das Vorbringen der Treuhänder*innen belegt somit nach Ansicht des GH, dass sie die vorliegende Beschwerde im Interesse der Stiftung, jedoch nicht in eigenem Namen und Interesse einbringen konnten. [...]
(207) Für den GH steht somit fest, dass der Beschlagnahmebefehl lediglich die Interessen der ErstBf [...] berührte. Er vermag daher die Treuhänder*innen nicht als »Opfer« iSv Art 34 EMRK anzuerkennen.
(208) Angesichts des Vorgesagten akzeptiert der GH die Einrede der Regierung. Er kommt zu dem Schluss, dass die Beschwerde, insoweit sie von den Treuhänder*innen eingereicht wurde, mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar ratione personae iSv Art 35 Abs 3 lit a EMRK und daher gemäß Art 35 Abs 4 EMRK [als unzulässig] zurückzuweisen ist (einstimmig). Bei der Fortführung der Prüfung der Beschwerde wird der GH daher die ErstBf als »die Bf« bezeichnen.
Zum Opferstatus der Bf
(210) Laut der Regierung könne die Bf für sich nicht Opfereigenschaft iSv Art 1 1. ZPEMRK beanspruchen.
(211) [...] Zum einen falle die Verantwortung für die Umsetzung der strittigen Maßnahme einem anderen – nicht der Konvention angehörenden – Staat, [nämlich den USA] als jenem zu, der sie ergriffen habe. Zum anderen erfolge eine solche Umsetzung nicht automatisch, sondern setze eine selbständige und bewertende Entscheidung seitens der Behörden eines Drittstaats voraus, der nicht dazu verpflichtet sei, das Ersuchen der italienischen Behörden zu vollstrecken.
(212) [...] Die angefochtene Maßnahme sei daher den italienischen Behörden weder zurechenbar noch falle sie in die Jurisdiktion Italiens.
(224) Die Einreden der Regierung beinhalten nach Ansicht des GH [...] verschiedene Fragen, nämlich (i) ob die Bf erfolgreich darlegen kann, unmittelbares oder potenzielles Opfer der behaupteten Konventionsverletzung zu sein und (ii) ob Italien unter der Konvention für die Vollstreckung der strittigen Maßnahme verantwortlich gemacht werden kann.
Ist die Bf von der angefochtenen Maßnahme ausreichend betroffen?
(226) [...] Der GH hat bereits klargestellt, dass es nicht möglich ist, sich als »Opfer« einer Handlung zu sehen, die – zeitweise oder dauerhaft – keine Rechtswirkungen entfaltet (vgl unter anderem Monnat/CH, Rz 31).
(228) [...] Er hält es daher für notwendig zu beurteilen, ob die Stiftung ausreichend von der fraglichen Maßnahme betroffen war, obwohl sie noch nicht vollstreckt wurde. Dies erfordert eine Einschätzung, ob der Beschlagnahmebefehl im Lichte der speziellen Umstände des Falls überhaupt Rechtswirkungen entfaltet.
(229) Was die Wirkungen der Maßnahme noch vor ihrer Vollstreckung angeht, vermochte die Bf darzulegen, dass sie durch diese daran gehindert wurde, die Statue während einer Ausstellung in Italien zu zeigen, da das Risiko ihrer Beschlagnahme bestand.
(230) Zu den potenziellen Konsequenzen der Vollstreckung der Maßnahme in den USA ist seitens des GH zu vermerken, dass die italienischen Behörden gemäß den zwischen den USA und Italien bestehenden internationalen Abkommen einen schriftlichen Antrag stellten, der auf die Anerkennung und Vollstreckung des Beschlagnahmebefehls abzielte. Der GH ist nicht überzeugt vom Vorbringen der Regierung, dass eine Vollstreckung unwahrscheinlich gewesen wäre, da eine Kooperation [mit den USA] bei der Vollstreckung ähnlicher Maßnahmen durch präzise internationale – die US-Behörden bindende – Verpflichtungen vorgesehen ist. Es wäre somit an der Regierung gelegen, den GH mit Beispielen aus Rsp und Praxis zu versorgen, aus welchen Gründen ihr Antrag abgelehnt und eine Vollstreckung daher unwahrscheinlich stattfinden würde.
(231) Im Lichte des oben Gesagten findet der GH, dass der Bf der Nachweis gelungen ist, dass sie von der angefochtenen Maßnahme noch vor ihrer Vollstreckung betroffen war. [...] Er kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Bf bezüglich der behaupteten Verletzung von Art 1 1. ZPEMRK für sich Opfereigenschaft iSv Art 34 EMRK beanspruchen kann.
Kann Italien unter der Konvention für die Vollstreckung der Maßnahme verantwortlich gemacht werden?
(235) [...] Der GH merkt an, dass [...] die Bf ihrer Statue im Fall der Vollstreckung der Maßnahme durch die US-amerikanischen Behörden verlustig gegangen wäre.
(236) Er ist jedoch nicht überzeugt vom Vorbringen der Regierung, wonach die strittige Handlung Italien nicht zurechenbar sei und daher keine Verantwortung Italiens unter der EMRK begründet werden könne. Nach Ansicht der [...] Regierung sei der [...] Beschlagnahmebefehl ein »vorbereitender« Akt im Sinne des [von der Völkerrechtskommission 2001 angenommenen] »Entwurfs über die Verantwortlichkeit von Staaten für völkerrechtswidriges Handeln« gewesen, während die unrechtmäßige Handlung selbst, nämlich die Vollstreckung des Beschlagnahmebefehls, ausschließlich den USA zurechenbar sei [...].
(237) Der GH hat bereits unter Art 1 1. ZPEMRK festgehalten, dass Mitgliedstaaten unter der Konvention für Maßnahmen verantwortlich gemacht werden können, die im Kontext internationaler gerichtlicher Kooperationsersuchen ergingen (vgl Shorazova/MT, Rz 111).
(239) [...] Ein vom ersuchenden Land auf Basis seines eigenen innerstaatlichen Rechts in Angriff genommener Akt, dem vom ersuchten Land in Entsprechung seiner Vertragsverpflichtungen Folge geleistet wird, kann somit dem ersuchenden Land auch dann zugeschrieben werden, wenn der fragliche Akt vom ersuchten Land vollzogen wurde (siehe Toniolo/SM und IT, Rz 56).
(240) [...] Der GH vertritt daher die Ansicht, dass Italien, indem es einen Antrag auf Vollstreckung des Beschlagnahmebefehls stellte, unter einer Verpflichtung stand, Gewähr dafür zu bieten, dass dieser Befehl mit der Konvention vereinbar war. [...] Die Maßnahme, über die sich die Bf unter Art 1 1. ZPEMRK beschwert, bringt daher die Verantwortung Italiens nach Art 1 EMRK mit sich.
Schlussfolgerung
(241) [...] Die Einrede der Regierung hinsichtlich des Opferstatus der Bf ist zurückzuweisen (mehrstimmig).
Zur Existenz eines von Art 1 1. ZPEMRK geschützten vermögenswerten Interesses
(242) Laut der Regierung könne die Bf kein von Art 1 1. ZPEMRK geschütztes vermögenswertes Interesse vorweisen. Dieser Artikel sei daher auf die Umstände des vorliegenden Falls nicht anwendbar.
(243) Gemäß § 826 des italienischen Zivilgesetzbuchs stehe die Statue zudem im unveräußerlichen Eigentum des Staats. Sie sei auch niemals im Eigentum der Bf gestanden, da diese sie [...] von einem Nichteigentümer erworben habe.
(244) Die Regierung bestreitet auch die Existenz einer berechtigten Erwartung seitens der Bf, wäre doch das Verhalten der innerstaatlichen Behörden zu keiner Zeit auf eine Duldung einer [...] gesetzwidrigen Situation, die durch den Verkauf der Statue geschaffen worden sei, hinausgelaufen. Die italienischen Behörden hätten die Bf auch niemals als faktische Eigentümerin behandelt.
(245) Laut der Regierung würden sowohl italienisches als auch kalifornisches Recht unbeschadet dessen, welches Recht nun gemäß den relevanten Regeln des internationalen Privatrechts anwendbar sei, den Erwerb von Eigentum durch einen nichtlegitimierten Eigentümer nur dann gestatten, wenn der Verkäufer in gutem Glauben gehandelt habe.
(259) [...] Der GH muss nun darüber entscheiden, ob die aus dem Kauf der Statue resultierende Rechtsposition der Bf die Anwendung von Art 1 1. ZPEMRK ins Spiel brachte und ob die Umstände des Falls als Ganzes gesehen der Stiftung einen Rechtsanspruch auf ein von dieser Konventionsbestimmung geschütztes materielles Interesse übertrugen.
(261) Im vorliegenden Fall ist unstrittig, dass die Stiftung die Statue im Juli 1977 für vier Millionen US-Dollar erwarb. [...] Die Regierung hat aber die Gültigkeit des Rechtstitels sowohl unter italienischem als auch US-amerikanischem Recht wegen Verletzung italienischen Kulturrechts in Frage gestellt, wären doch im Besitz des Staats befindliche kulturelle Gegenstände unveräußerlich.
(263) Im vorliegenden Fall könnten nach Ansicht des GH mehrere nationale Gesetze in abstracto auf die Bestimmung der Eigentümerschaft der Bf an der Statue Anwendung finden. Insb verhandelte die Bf, eine juristische Person nach US-amerikanischem Recht, mit einem in Liechtenstein ansässigen Unternehmen über den Kauf der Statue in Deutschland. Sie erwarb sie schließlich im Wege eines im Vereinigten Königreich abgeschlossenen Kaufvertrags.
(264) Zudem wurde die Existenz von einem vermögenswerten Interesse der Bf an der Statue nach italienischem Recht durch die Tatsache begründet, dass die italienischen Behörden die Bf in ihrer Eigenschaft als gegenwärtige Besitzerin des Gegenstands aufforderten, am innerstaatlichen Verfahren, das in den Beschlagnahmebefehl mündete, teilzunehmen.
(265) Ferner war die Bf seit 1977 mit Ausnahme von rechtmäßigen Leihgabevereinbarungen ohne Unterbrechung im Besitz der Statue. Der GH ist der Ansicht, dass ungeachtet der obigen Ausführungen zur Existenz rechtmäßiger Eigentümerschaft die Länge der verstrichenen Zeit in jedem Fall dazu führte, dass der Bf ein vermögenswertes Interesse am friedlichen Genuss der Statue zukam, das ausreichend erwiesen und gewichtig war, um auf »Eigentum« hinauszulaufen.
(266) [...] Der GH wird daher seine Analyse auf die Annahme basieren, dass unter den Umständen des vorliegenden Falls und in der Gesamtheit betrachtet die Bf ein vermögenswertes Interesse am friedlichen Genuss der Statue hatte, das ausreichend erwiesen und gewichtig war, um auf »Eigentum« iSd im ersten Satz von Art 1 1. ZPEMRK festgelegten Regel hinauszulaufen [...].
(267) Folglich ist die Einrede der Regierung hinsichtlich der Anwendbarkeit von Art 1 1. ZPEMRK zu verwerfen (mehrstimmig).
Gesamtschlussfolgerung zur Zulässigkeit
(268) Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK aufgelisteten Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (mehrstimmig; abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek).
In der Sache
Zur Existenz eines Eingriffs und der anwendbaren Regel von Art 1 1. ZPEMRK
(269) Die Bf brachte vor, dass – wenn die Statue nun »Eigentum« iSv Art 1 1. ZPEMRK darstelle – kein Zweifel daran bestehen könne, dass der Beschlagnahmebefehl einen Eingriff in den friedlichen Genuss ihres Eigentums bewirkt habe.
(273) Der GH hat bereits anerkannt, dass [...] die Erlassung des Beschlagnahmebefehls die Fähigkeiten der Bf, frei über die Statue zu verfügen, einschränkte [vgl Rz 229] und die Möglichkeit besteht, dass die italienischen Behörden die Anerkennung und Vollstreckung des Beschlagnahmebefehls [...] erreichen [...] (siehe Rz 230). [...] Somit ist von einem Eingriff in die von Art 1 1. ZPEMRK geschützten vermögenswerten Interessen der Bf auszugehen.
(274) [...] Laut der Regierung sei die Stiftung gemäß italienischem Recht niemals Eigentümerin der Statue geworden, da diese angesichts der Umstände ihres Auffindens und ihrer kulturellen Nähe zu Italiens kulturellem Erbe gehöre. Nach ihrer Entdeckung sei sie den zuständigen Behörden auch nicht gemeldet worden und anschließend ohne Einhaltung der erforderlichen Zollformalitäten außer Landes gebracht worden. Noch dazu habe die Bf die Statue im Ausland über eine Drittpartei gekauft und besitze sie bereits seit langer Zeit. [...]
(275) [...] Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass in Ermangelung einer gültigen Eigentümerschaft lediglich die allgemeine Regel des Art 1 1. ZPEMRK zur Anwendung kommt, da die strittige Maßnahme jedenfalls eine Einschränkung des Rechts der Bf auf Nutzung ihres »Eigentums« darstellte.
(278) [...] Der vorliegende Fall betrifft eine sehr spezielle Frage, nämlich den Schutz des kulturellen Erbes und die Wiedererlangung eines unrechtmäßig ausgeführten kulturellen Gegenstands im Wege einer Maßnahme, die – wenngleich sie in einem Strafverfahren getroffen wurde – zivilrechtliche Auswirkungen hat.
(279) Die spezielle Natur des [...] vorliegenden Falls wird weiters durch die Tatsache demonstriert, dass ähnliche Maßnahmen, welche die Wiedererlangung illegal exportierter kultureller Objekte bezwecken, im Völkerrecht der Reihe nach geregelt wurden. (Anm: Siehe Art 13 Abs 1 lit d der UNESCO-Konvention gegen illegalen Handel mit Kulturgut aus 1970, Art 5 der UNIDROIT-Konvention über gestohlene oder rechtswidrig ausgeführte Kulturgüter 1995 und Art 14 Abs 3 des Übereinkommens des Europarats über Straftaten im Zusammenhang mit Kulturgut betreffend Delikte gegen kulturelles Eigentum. Siehe auch die RL 2014/60/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.5.2014 über die Rückgabe von unrechtmäßig aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verbrachten Kulturgütern und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr 1024/2012.) Zudem sieht Art 18 der UNESCO-Konvention zum Schutz des Kulturerbes unter Wasser aus 2001 ausdrücklich vor, dass Unterwasser-Kulturerbe, welches auf eine mit diesem Übereinkommen nicht in Übereinstimmung stehende Weise geborgen wurde, beschlagnahmt werden muss.
(280) Im Lichte des oben Gesagten muss [...] im vorliegenden Fall die Rechtfertigung für den strittigen Eingriff dahingehend bewertet werden, dass Staaten angesichts des einzigartigen und unersetzbaren Charakters von kulturellen Gegenständen einen weiten Ermessensspielraum genießen, wenn es um Fragen des kulturellen Erbes geht (siehe unter anderem Kozacıoğlu/TR, Rz 54).
Zur Befolgung von Art 1 1. ZPEMRK
War die Maßnahme rechtmäßig?
(282) Die Bf räumt ein, dass gemäß italienischem Recht jeder, der einen Gegenstand von potenziell kulturellem Interesse ausführen will, dies gegenüber einer Ausfuhrstelle deklarieren und die Genehmigung dafür erhalten muss. Falls Letztere die Zustimmung verweigere und den Gegenstand als Objekt von kulturellem Interesse einstufe, könne dieser nicht ohne spezielle Bewilligung oder Bescheinigung ausgeführt werden.
(283) Andererseits sei Art 174 Abs 3 des Gesetzesdekrets Nr 42/2004 (Anm: Diese Bestimmung stellt die Ausfuhr künstlerischer, historischer oder archäologischer Gegenstände unter Strafe, sofern sie ohne entsprechende Genehmigung erfolgte.) zum Zeitpunkt der Entdeckung und des anschließenden Kaufs der Statue durch die Bf noch nicht in Kraft gestanden. Das einschlägige Recht sei dann zwischen 1965 und dem Datum des Beschlagnahmebefehls mehrfach geändert worden. Die gefestigte Rsp [der italienischen Gerichte] vor 2015 habe die strittige Maßnahme als solche strafrechtlicher Natur eingestuft, was dazu geführt habe, dass ihre Verhängung aus zweierlei Gründen nicht vorhersehbar gewesen sei: Erstens sei die Bf nicht an der Begehung des Delikts der unrechtmäßigen Ausfuhr beteiligt gewesen und zweitens sei der Kauf der Statue außerhalb der Jurisdiktion Italiens abgeschlossen worden.
(299) Dazu ist seitens des GH festzuhalten, dass die Parteien die Existenz einer innerstaatlichen Rechtsgrundlage für die angefochtene Maßnahme nicht in Abrede stellten. Es handelt sich hierbei um Art 174 Abs 3 des Gesetzesdekrets Nr 42/2004, der zum Zeitpunkt der Erlassung des Beschlagnahmebefehls in Kraft stand. Diese Bestimmung war mit geringfügigen Änderungen der in § 66 des Gesetzes Nr 1089/1939 enthaltenen Regelung (Beschlagnahme unrechtmäßig ausgeführter kultureller Güter) nachgebildet, die zum Zeitpunkt der Entdeckung der Statue und ihres Kaufs durch die Bf in Kraft stand. Sie wurde in der Folge in Art 123 Abs 3 des Gesetzesdekrets Nr 490/1999 eingebaut.
(300) Die Parteien sind sich jedoch uneinig hinsichtlich der Qualität dieser Rechtsgrundlage iSv Art 1 1. ZPEMRK, insb was (i) die Klarheit und Vorhersehbarkeit des für den Käufer eines kulturellen Objekts erforderlichen Sorgfaltsmaßstabs im Zusammenhang mit der Verhängung der umstrittenen Maßnahme betrifft; (ii) die Möglichkeit angeht, eine solche Maßnahme auch dann zu verhängen, wenn die fragliche Straftat inzwischen verjährt war; (iii) der Gegenstand sich außerhalb des italienischen Territoriums befand sowie (iv) des Fehlens einer Frist für die Auferlegung der Maßnahme.
Zum für den Käufer eines kulturellen Objekts erforderlichen Sorgfaltsmaßstab
(301) Was die Vorhersehbarkeit des von einem Käufer eines kulturellen Objekts geforderten Sorgfaltsmaßstabs betrifft, ist seitens des GH anzumerken, dass dieser im innerstaatlichen Recht bzw in der Rsp nach und nach geklärt wurde.
(302) § 66 Abs 3 des Gesetzes Nr 1089/1939 sieht die obligatorische Konfiskation von Gegenständen von kulturellem Interesse vor, wenn sie illegal ausgeführt wurden oder ein entsprechender Versuch stattfand. Ausweislich dieser Bestimmung erfolgt die Konfiskation im Einklang mit den Bestimmungen über die Beschlagnahme gestohlener Waren [...].
(303) Die Voraussetzungen zur Auferlegung einer solchen Maßnahme wurden in der innerstaatlichen Rsp geklärt. Insb erklärte das italienische Verfassungsgericht in seinem Urteil Nr 229/1974 Art 301 Abs 1 des Gesetzesdekrets Nr 43/1973 für verfassungswidrig, da dieser die Verhängung einer Maßnahme über eine »nicht in die Straftat verwickelte Person« gestattete, also über jemanden, dem mangels Wachsamkeit die Begehung von Schmuggel nicht bewusst war oder diesen in keiner Weise begünstigte. Diesem Ansatz wurde nachfolgend vom italienischen Höchstgericht gefolgt.
(304) Bezüglich [...] § 66 Abs 3 des Gesetzes Nr 1089/1939 stellte das Verfassungsgericht in seinem Urteil Nr 2 vom 19.1.1987 ausdrücklich klar, dass eine »nicht in die Straftat verwickelte Person« jemand sei, der ungeachtet fehlender Wachsamkeit »das Delikt nicht begangen und in keiner Weise von diesem profitiert habe«. In seinem Urteil Nr 3 vom 9.1.1997 hielt es fest, dass ein Individuum, welches sich als nicht in die Straftat verwickelt ansah, nachzuweisen hatte, dass der Kauf zu einem Zeitpunkt erfolgt war, als ihm – ohne Vorliegen von Verschulden – die unrechtmäßige Herkunft des Objekts unbekannt war.
(305) Im Anschluss an die oben erwähnten Urteile wurde der Begriff der »nicht in die Straftat verwickelten Person« durch § 23 des Gesetzes Nr 88/1998 ausdrücklich in den Wortlaut von § 66 Abs 3 des Gesetzes Nr 1089/1939 eingefügt und zuerst in Art 123 Abs 3 des Gesetzesdekrets Nr 490/1999 und später dann in Art 174 Abs 3 des Gesetzesdekrets Nr 42/2004 – jener Bestimmung, die im Fall der Bf angewendet wurde – eingebaut.
(306) Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass vom Moment der Ausstellung des Beschlagnahmebefehls an – das ist der Zeitpunkt, zu dem der strittige Eingriff im vorliegenden Fall seinen Ausgang nahm – der Begriff der »nicht in die Straftat verwickelten Person« in der italienischen Rsp klar und deutlich etabliert war. Das italienische Höchstgericht hat die von der Bf ergriffene Beschwerde hinsichtlich der fehlenden Vorhersehbarkeit der rechtlichen Basis für die Beschlagnahme genau aus diesem Grund abgewiesen. Der GH sieht keinen Grund, von dieser Einschätzung abzugehen.
(307) Die Frage, ob die Repräsentanten der Bf mit der erforderlichen Sorgfalt handelten, als sie die Statue erwarben, wird vom GH im Rahmen seiner Verhältnismäßigkeitsprüfung erörtert werden (siehe Rz 380–390).
Zur Verhängung der Maßnahme, obwohl die Straftat bereits verjährt war
(308) Zur Frage, ob es vorhersehbar ist, dass die strittige Maßnahme auferlegt werden kann, obwohl die relevante Straftat, namentlich die illegale Ausfuhr eines kulturellen Gegenstands, nicht vom Eigentümer begangen wurde und im Hinblick auf den Beschuldigten Verjährung eingetreten ist, erinnert der GH daran, dass jede Beschlagnahme in ihrem eigenen Kontext betrachtet werden muss (siehe Balsamo/SM, Rz 64).
(309) In diesem Zusammenhang muss der GH untersuchen, ob die Maßnahme ausschließlich punitiver Natur war, also ob sie unbedingt auf einer Verurteilung in einem Verfahren basieren musste, in dem der Eigentümer der Beschuldigte war.
(310) Dazu ist zuerst einmal festzuhalten, dass sogar im Fall von punitiven Beschlagnahmen, bei denen die innerstaatlichen Gerichte zu der Ansicht gelangen, dass alle Tatbestandselemente des Delikts erfüllt wurden, sie das Verfahren aber wegen eingetretener Verjährung nicht fortführen, eine Beschlagnahme möglich ist, wenn die Verteidigungsrechte respektiert wurden (G.I.E.M. S.r.l. ua/IT, Rz 261).
(314) [...] Im vorliegenden Fall verfolgte die strittige Beschlagnahme [...] keinen primär punitiven Zweck. [...] Sie hatte entweder die Funktion, die Kontrolle über Gegenstände wiederzuerlangen, die als Dinge extra commercium im Eigentum des Staats standen und nicht von privaten Individuen (einschließlich Drittparteien) in Besitz genommen werden konnten, oder zu verhindern, dass im Privatbesitz stehende Gegenstände von kulturellem Interesse aus dem Staatsgebiet – ohne einer Kontrolle unterworfen zu sein – weggeschafft werden konnten. [...]
(315) Weiters ist festzustellen, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem die Stiftung die Statue im Jahr 1977 kaufte, das innerstaatliche Recht bereits vorsah, dass eine Beschlagnahme im Hinblick auf Drittparteien, die im Eigentum oder im Besitz des geschmuggelten Objekts standen, vorgenommen werden konnte, sofern nachgewiesen werden konnte, dass sie zumindest fahrlässig gehandelt hatten. Die Möglichkeit der Verhängung der fraglichen Maßnahme war daher nicht mit der Begehung oder der Mitwirkung an einer Straftat verbunden.
(317) Der GH ist daher der Auffassung, dass es der [innerstaatlichen] Rechtsgrundlage nicht an Klarheit und Vorhersehbarkeit mangelte, was die Frage angeht, ob die Maßnahme angewendet werden konnte, wenn bezüglich der Straftat Verjährung eingetreten war.
Zum Fehlen einer Frist für die Verhängung der Maßnahme
(324) [...] Das Fehlen einer Frist [für Handlungen des Staats zur Wiedererlangung gestohlener oder illegal ausgeführter Objekte] ist für den GH kein Faktor, der für sich gesehen automatisch zu dem Schluss führen kann, dass der fragliche Eingriff unvorhersehbar oder willkürlich und folglich mit dem Prinzip der Rechtmäßigkeit iSv Art 1 1. ZPEMRK unvereinbar gewesen wäre. Jedenfalls wurde bereits festgehalten, dass dieses Element der Unsicherheit in den gesetzlichen Vorschriften und der beträchtliche Spielraum, der den Behörden damit eingeräumt wurde, wesentliche Erwägungen sind, die bei der Entscheidung darüber berücksichtigt werden sollten, ob die angeprangerte Maßnahme ein faires Gleichgewicht zwischen den miteinander konkurrierenden Interessen traf (siehe Beyeler/IT, Rz 110).
Schlussfolgerungen zur Rechtmäßigkeit
(325) [...] Im vorliegenden Fall war die rechtliche Basis für die umstrittene Maßnahme ausreichend klar, vorhersehbar und vereinbar mit dem Rechtsstaatsprinzip. Der Grundsatz der Rechtmäßigkeit iSv Art 1 Abs 1 1. ZPEMRK wurde daher befolgt.
Wurde die Maßnahme im öffentlichen oder allgemeinen Interesse gesetzt?
(326) Laut der Bf […] sei die Statue nicht Teil von Italiens kulturellem Erbe. Die strittige Maßnahme sei daher durch kein öffentliches oder allgemeines Interesse gerechtfertigt gewesen.
(339) Bei der Beurteilung, ob ein Staat ein legitimes allgemeines Interesse iSv Art 1 1. ZPEMRK hatte, wurde vom GH oft erwogen, ob die strittige Maßnahme der Erfüllung einer Verpflichtung nach anderen internationalen Verträgen diente (siehe unter anderem Karapetyan/GE).
Der Schutz von kulturellem Erbe als ein legitimes Interesse im Allgemeinen
(340) Der GH möchte hervorheben, dass der Schutz des kulturellen und künstlerischen Erbes ein legitimes Ziel im Sinne der Konvention ist [...]. Die Bewahrung des kulturellen Erbes [...] hat die Erhaltung der historischen, kulturellen und künstlerischen Wurzeln einer Region und ihrer Einwohner*innen zum Ziel. Als solche sind diese von essenziellem Wert, wobei deren Schutz und Förderung den öffentlichen Behörden obliegt.
(342) [...] Der GH kommt zu dem Ergebnis, dass [...] die Legitimität von staatlichen Maßnahmen, die auf den Schutz kulturellen Erbes gegen illegale Ausfuhren aus dem Herkunftsland abzielen oder ihre Wiedererlangung und Rückgabe für den Fall sicherstellen, dass die unrechtmäßige Handlung dennoch stattgefunden hat [...], nicht in Frage gestellt werden kann.
War die Maßnahme auf den Schutz des kulturellen Erbes gerichtet?
(343) Die Parteien waren sich uneinig darüber, ob die strittige Maßnahme [...] den Zweck des Schutzes des kulturellen Erbes erfüllte. Meinungsverschiedenheiten bestanden über den Fundort der Statue und seine Relevanz für die Entscheidung über die Frage, ob die Maßnahme im allgemeinen Interesse des Schutzes des kulturellen Erbes getroffen wurde. Der GH wird daher bewerten, ob der Beschlagnahmebefehl das von der Regierung angeführte legitime Ziel [Gewährleistung der substanziellen Achtung des kulturellen Erbes der Nation] verfolgte und geeignet war, es auch zu erreichen.
(346) In diesem Zusammenhang ist zu vermerken, dass das innerstaatliche Verfahren nicht zu einer endgültigen Feststellung führte, ob die Statue nun in italienischen Hoheitsgewässern oder auf Hoher See gefunden worden war. Diese Frage war auch nicht als maßgeblich erachtet worden. Das italienische Höchstgericht machte klar, dass die Statue Teil von Italiens kulturellem Erbe sei und daher im Staatseigentum stehe, weil sie von einem Schiff mit italienischer Flagge gefunden und schließlich ohne Beachtung der relevanten Fundmeldepflicht nach Italien gebracht worden war. Nach Ansicht des Höchstgerichts zielte die strittige Maßnahme somit auf die Wiederherstellung der staatlichen Eigentümerschaft ab. Nach Ansicht des GH war die Statue unbeachtet der Frage der Eigentümerschaft ein Objekt von kulturellem Interesse und ihre Ausfuhr hätte eine von der zuständigen innerstaatlichen Behörde ausgestellte Ausfuhrgenehmigung und die Leistung einer Zahlung gemäß den einschlägigen Zollgebühren erfordert.
Gemäß den anwendbaren innerstaatlichen Bestimmungen hätte ein Verstoß gegen diese Erfordernisse in einer verpflichtenden Beschlagnahme des illegal ausgeführten kulturellen Gegenstands resultiert. Zweck der gegenständlichen Maßnahme war daher die Wiedererlangung eines kulturellen Objekts, das entweder dem Staat als Teil seines kulturellen Erbes gehörte oder – obwohl im Privatbesitz stehend – in jedem Fall unrechtmäßig ausgeführt worden war.
(348) Der GH ist der Ansicht, dass die italienischen Behörden ihrer Pflicht nachkamen, in angemessener Weise nachzuweisen, dass die strittige Maßnahme das Ziel des Schutzes des kulturellen Erbes verfolgte, da nichts im gegenständlichen Fall die Annahme zulässt, dass diese die in Frage stehenden rechtlichen Bestimmungen auf offenkundig irrige Art oder zwecks Ziehung willkürlicher Schlussfolgerungen anwandten.
(351) Was die Fundstelle [der Statue] angeht, war der Hinweis der innerstaatlichen Gerichte auf § 4 des italienischen Schifffahrtsgesetzes im Lichte des Völkergewohnheitsrechts und insb der Grundsätze der Freiheit der Hohen See und der ausschließlichen Jurisdiktion des Flaggenstaats dort weder offenkundig willkürlich noch unangemessen.
(352) Die Jurisdiktion des Flaggenstaats in Bezug auf auf Hoher See gefundenen kulturellen Objekten stand auch mit nachfolgenden Entwicklungen im Völkerrecht nicht in Widerspruch. Insb das Europäische Übereinkommen zum Schutz des archäologischen Erbes stellte klar, dass es unbeschadet der Regelungen betreffend die staatliche Hoheitsgewalt über auf dem Meeresboden gefundene Objekte verabschiedet worden war, während seine revidierte Version ungeachtet völkerrechtlicher Regelungen zur Frage angenommen wurde, ob die staatliche Hoheitsgewalt über den Meeresboden auf Hoheitsgewässer beschränkt sei oder sich beispielsweise auch auf die ausschließliche Wirtschaftszone oder den Festlandsockel erstrecke.
(353) Für seinen Teil stellt Art 303 Abs 3 der UNCLOS-Konvention klar, dass die Pflicht zum Schutz von im Meer gefundenen Objekten nicht die Anwendung des innerstaatlichen Rechts betreffend die Identifizierung von rechtmäßigen Eigentümern berührt, womit die Anwendung des innerstaatlichen Rechts im Hinblick auf das Meer und das kulturelle Erbe gestattet wird.
(354) Zu guter Letzt erkennt Art 13 Abs 1 lit d der UNESCO-Konvention aus 1970 das »unantastbare Recht jeder Vertragspartei [...] an, gewisses kulturelles Eigentum als unveräußerlich zu klassifizieren und zu deklarieren, welches folglich ipso facto nicht ausgeführt werden sollte«. [...]
(355) Was die Verpflichtung angeht, die Entdeckung von kulturellem Erbe unter Wasser im Sinne des italienischen Schifffahrtsgesetzes zu melden, möchte der GH anmerken, dass diese im Einklang mit den Meldepflichten steht, die nachfolgend in der UNESCO-Konvention aus 2001 niedergelegt wurden.
(356) Angesichts der obigen Überlegungen kann somit nicht gesagt werden, dass die Schlussfolgerungen der innerstaatlichen Behörden, die Statue sei Teil von Italiens kulturellem Erbe und stehe im Eigentum des Staates, willkürlich oder offenkundig unangemessen gewesen wäre.
(357) In jedem Fall war die Frage der über den Fundort ermittelten staatlichen Eigentümerschaft nicht entscheidend, da das italienische Höchstgericht klarstellte, dass diese Maßnahme auch auf im Privatbesitz stehende Gegenstände anwendbar sei, die – als im kulturellem Interesse stehend – ohne Befolgung der relevanten Zollformalitäten ausgeführt worden waren.
(358) In diesem Zusammenhang ist seitens des GH anzumerken, dass die vom Höchstgericht hinsichtlich der Verhängung einer Beschlagnahme im Fall von illegalen Ausfuhren angewandten Prinzipien durch die Entwicklungen im völkerrechtlichen Regelwerk bestätigt werden. Insb sieht Art 1 der UNIDROIT-Konvention aus 1995 vor, dass sie auf die Rückgabe kultureller Objekte Anwendung findet, die vom Territorium eines Vertragsstaats entgegen seinen rechtlichen Vorgaben betreffend die Ausfuhr kultureller Gegenstände weggeschafft wurden. In dieser Hinsicht wird auf das innerstaatliche Recht verwiesen, was die Formalitäten betrifft, die für die Ausfuhr kultureller Objekte befolgt werden müssen. Ein Verstoß dagegen rechtfertigt einen Herausgabeanspruch. Art 2 der VO 116/2009/EG sieht schließlich vor, dass die Ausfuhr von Kulturgütern aus dem Zollgebiet der Gemeinschaft nur erfolgen darf, wenn eine Ausfuhrgenehmigung vorliegt.
(359) Im Lichte des oben Gesagten ist der GH der Ansicht, dass die innerstaatlichen Behörden in angemessener Weise darlegten, dass die Statue Teil des kulturellen Erbes Italiens war. Sie führten zudem in vernünftiger Weise Gründe an, dass die fragliche Maßnahme in jedem Fall das Ziel der Wiedererlangung der Kontrolle über einen Gegenstand von kulturellem Interesse verfolgte [...].
Schlussfolgerungen
(360) Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die strittige Maßnahme »im öffentlichen oder allgemeinen Interesse« iSv Art 1 1. ZPEMRK zum Schutz des kulturellen Erbes von Italien getroffen wurde.
War die Maßnahme verhältnismäßig zum verfolgten Ziel?
(361) Laut der Bf habe sie eine übermäßige Last wegen des Fehlens einer Frist erlitten, innerhalb der die umstrittene Maßnahme auferlegt werden konnte.
(362) Sie behauptet ferner, dass die innerstaatlichen Behörden es verabsäumt hätten, rechtzeitig zu handeln, da das Verfahren, welches zu der strittigen Maßnahme geführt habe, mehr als 30 Jahre nachdem diese von der Identität des Eigentümers der Statue und ihrem Standort erfahren hätten, angestrengt worden wäre. [...]
(379) Der GH muss daher untersuchen, ob (i) die Bf mit der notwendigen Sorgfalt handelte, (ii) die innerstaatlichen Behörden rechtzeitig und auf angemessene und konsistente Art und Weise reagierten und (iii) die Bf wegen des Fehlens einer Entschädigung eine übermäßige Last tragen musste.
Zum Verhalten des Bf
(380) Der GH hat bereits festgehalten, dass der vom italienischen Recht festgelegte Sorgfaltsmaßstab ausreichend klar und vorhersehbar war (vgl Rz 306).
(381) Er ist auch der Ansicht, dass der Charakter der Transaktion im vorliegenden Fall einen hohen Sorgfaltsmaßstab rechtfertigte.
(382) Ähnliche Standards sind heutzutage in Art 4 der UNIDROIT-Konvention verankert, der eine Beurteilung dahingehend erfordert, ob der Käufer eines kulturellen Gegenstands den dafür bezahlten Preis in Betracht zog und jegliches angemessen zugängliche Register bezüglich gestohlener kultureller Güter und jegliche anderen relevanten Informationen und Dokumentationen, die er vernünftigerweise erhalten konnte, einsah, ferner, ob der Käufer zugängliche Stellen konsultierte oder andere Schritte tätigte, die eine vernünftige Person unter solchen Umständen hätte setzen können.
(385) Im vorliegenden Fall untersuchten die innerstaatlichen Gerichte die ihnen zur Verfügung stehenden Beweise, um nachzuweisen, dass die Repräsentanten der Bf zumindest nachlässig gehandelt hatten. Sie berücksichtigten auch das Vorbringen der Bf, das von diesen auf mehreren Ebenen der Gerichtsbarkeit vertreten werden konnte. Mit Ausnahme einer Entscheidung des Untersuchungsrichters des Bezirksgerichts Pesaro vom 12.7.2007 [mit der ein Antrag der Staatsanwaltschaft auf Beschlagnahme der Statue abgewiesen worden war] gingen alle innerstaatlichen Entscheidungen davon aus, dass der Bf kein Status als bona fide-Käuferin zukam, da – obwohl ihr die Existenz zumindest von einigen Zweifeln hinsichtlich der rechtmäßigen Herkunft der Statue bewusst war – ihre Repräsentanten keine ordnungsgemäße und unabhängige Prüfung durchgeführt und sich bloß auf die von den Anwälten des Verkäufers gegebenen Zusicherungen verlassen hatten.
(386) [...] Angesichts dessen ist der GH der Ansicht, dass die Repräsentanten der Stiftung zumindest sehr gewichtige Gründe haben mussten, die rechtmäßige Herkunft der Statue zu bezweifeln. […] Zudem hob das italienische Höchstgericht hervor, dass diese während der Kaufverhandlungen um die Versuche der italienischen Behörden, die Statue wiederzuerlangen, wussten. Die von letzteren geltend gemachten Besitzansprüche wurden auch mehrmals von den Anwälten des Verkäufers erwähnt. All diese Umstände waren umso signifikanter, wenn man in Betracht zieht, dass Herr Getty Senior den Kauf der Statue klar vom Erhalt von Beweisen für ihre rechtmäßige Herkunft abhängig machte und er dann auch tatsächlich von der Existenz »einiger möglicher rechtlicher Komplikationen« informiert wurde, da »man nicht wisse, wann der Gegenstand Griechenland oder Italien verlassen hatte oder wann er entdeckt worden war«.
(387) Unter diesen Umständen wäre den Repräsentanten der Stiftung aufgrund des Charakters der Transaktion die klare Pflicht zugekommen, alle Schritte zu ergreifen, die vernünftigerweise von ihnen erwartet werden konnten, um vor dem Kauf die rechtmäßige Herkunft der Statue zu prüfen.
(388) Laut dem Untersuchungsrichter und dem Höchstgericht hatten die Repräsentanten jedoch keine sorgfältige und objektive Beurteilung der Herkunft der Statue vorgenommen. [...]
(389) Weiters ist seitens des GH zu vermerken, dass die Repräsentanten der Stiftung ein Jahr nach dem Tod von Herrn Getty Senior im Jahr 1976 entschieden, bloß eine neue und aktualisierte Rechtsmeinung von denselben Anwälten, die auch die Verkäufer vertreten hatten, einzuholen. Diese beriefen sich auf genau dieselben Ansichten, die sie zuvor vertreten hatten, und sicherten der Stiftung zu, im Besitz der gültigen Eigentümerschaft zu sein. Dem GH sind jedoch in dieser Hinsicht keinerlei Beweise vorgelegt worden. Die Repräsentanten der Stiftung ersuchten auch nicht um die Vorlage von Beweisen, dass die Statue rechtmäßig von Italien ausgeführt worden war (während die Verkäufer solche auch nicht erbrachten), obwohl sie Kenntnis von den anwendbaren innerstaatlichen Bestimmungen hatten, die eine Ausfuhrgenehmigung, unabhängig von der Frage der Eigentümerschaft, verlangten. Folglich ließen die Repräsentanten die Transaktion zu, ohne den Anweisungen von Herrn Getty Senior Folge zu leisten.
(390) All diese Elemente, die von den innerstaatlichen Gerichten sorgfältig untersucht [...] wurden, ließen sie zu dem Schluss kommen, dass die Repräsentanten der Stiftung zum Zeitpunkt des Kaufs der Statue zumindest fahrlässig, wenn nicht sogar in bösem Glauben, gehandelt hatten. Der GH ist der Ansicht, dass eine derartige Einschätzung weder willkürlich noch offenkundig unangemessen ist.
Zum Verhalten des Bf
(391) Der GH wird bei der Beurteilung der Angemessenheit des Verhaltens der staatlichen Behörden zum einen die Komplexität der rechtlichen und faktischen Probleme, mit denen sie konfrontiert waren, und zum anderen den Zustand der Ungewissheit untersuchen, in dem sich die Bf als Folge der den Behörden zurechenbaren zeitlichen Verzögerungen befanden.
(392) Nun kann aber nicht gesagt werden, dass das Verhalten der innerstaatlichen Behörden Zweifel hinsichtlich ihrer Absicht aufwarf, die Statue [...] wiederzuerlangen.
(393) In diesem Zusammenhang [...] ist unbestritten, dass die innerstaatlichen Behörden vom Kauf der Statue durch die Bf kurz nach deren Ankunft in den USA am 15.8.1977 erfuhren. Frühestens ab Dezember 1977 unternahmen sie Maßnahmen, die auf die Untersuchung der Umstände der Transaktion abzielten. Ab diesem Zeitpunkt muss der GH in Betracht ziehen, ob die innerstaatlichen Behörden rechtzeitig – und zwar in angemessener und konsequenter Weise – handelten.
(394) Im Lichte des gesamten ihm vorliegenden Materials findet der GH, dass die innerstaatlichen Behörden prompt und gewissenhaft handelten. Insb übermittelten die italienischen Zollbehörden am 13.12.1977 dem Zolldienst der USA über Interpol Rom ein Untersuchungsersuchen [betreffend die Ankunft und den Verbleib der Statue in den USA]. Das für den Fall zuständige Gericht in Gubbio eröffnete eine neue Untersuchung im Hinblick auf unerlaubte Ausfuhr, in deren Verlauf (i) am 24.11.1977 Beweise gehört, (ii) schriftliche Ersuchen vom 14.1. und 17.2.1978 an die britischen bzw US-Behörden gerichtet und (iii) weitere Untersuchungsschritte unternommen wurden.
(395) In diesem Zusammenhang können die innerstaatlichen Gerichte nicht dafür kritisiert werden, die Untersuchung am 25.11.1978 wegen fehlenden Vorliegens ausreichender Beweise eingestellt zu haben, waren doch ihre Ersuchen um gerichtliche Kooperation von den ausländischen Behörden abgewiesen worden.
(397) [...] Seitens des GH ist zu vermerken, dass (i) das Ministerium für Umwelt und kulturelles Erbe am 28.9.1982 mit dem Getty Museum die Rückgabe der Statue verhandelte; (ii) 1989 das genannte Ministerium formell ein Rückgabeersuchen stellte, das vom Repräsentanten der Bf jedoch negativ beantwortet wurde; (iii) es 1995 den italienischen Konsul in Los Angeles anwies, die Verhandlungen zwecks Wiedererlangung der Statue fortzuführen, was aber von den Repräsentanten der Bf abgelehnt wurde; (iv) zwischen 2006 und 2007 weitere Verhandlungen folgten, deren Inhalt dem GH von den Parteien nicht mitgeteilt wurde.
(398) Der GH muss allerdings von der Tatsache Notiz nehmen, dass manche Nachlässigkeiten auch den italienischen Behörden zuzuschreiben sind. Insb geht aus den dem GH zur Verfügung stehenden Dokumenten hervor, dass – nachdem die erste Untersuchung hinsichtlich unerlaubter Ausfuhr eingestellt worden war – die italienischen Behörden das mit den US-Behörden via Interpol angestrengte Verfahren nicht weiterverfolgten. Sie zogen auch nicht in Erwägung, ob der vom US-Außenminister in seinem Rundschreiben vom 3.2.1976 in Aussicht gestellten Prozedur Folge geleistet werden solle, wonach die italienischen Behörden ein Verfahren vor den US-Gerichten im Einklang mit US-amerikanischem Recht anstrengen hätten können.
(399) Der GH ist auch nicht überzeugt vom Vorbringen der Regierung, dass das Verfahren, welches in den Beschlagnahmebefehl mündete, nicht früher eingeleitet hätte werden können, da Beweise für den bösen Glauben der Bf erst 2007 hervorgekommen seien. Aus demselben Grund, dass besagter Beweis in diesem Verfahren aufgenommen wurde, ist der GH der Ansicht, dass ihn die [italienischen] Behörden früher erlangen hätten können, hätten sie das Verfahren früher in die Wege geleitet. Der GH räumt aber ein, dass die Einleitung eines solchen Verfahrens das einzig mögliche Mittel war, mit der Bf und den US-Behörden bei der Sammlung der notwendigen Beweise zu kooperieren.
(400) Insb kann den italienischen Behörden nicht zugerechnet werden, dass sie bei ihrem Versuch, die Statue wiederzuerlangen, nicht erfolgreich waren. Der GH muss nämlich berücksichtigen, dass diese in einem rechtlichen Vakuum operierten, da zum Zeitpunkt, als die Statue von der Bf gekauft und ausgeführt wurde, keine bindenden rechtlichen Instrumente existierten, die es der Regierung erlaubt hätten, sie wiederzuerlangen oder zumindest die volle Zusammenarbeit mit den ausländischen Behörden zu erhalten.
Zum Fehlen einer Entschädigung
(401) Was die Frage angeht, ob der Bf wegen des Nichterhalts [...] einer Entschädigung eine übermäßige Last auferlegt wurde, hat der GH bereits festgehalten, dass ihr beim Erwerb der Statue zumindest Fahrlässigkeit vorgeworfen werden muss [...], was ein entscheidender Gesichtspunkt unter Art 1 1. ZPEMRK ist. [...]
(402) Auch unter der Annahme, dass die Stiftung die rechtsgültige Eigentümerschaft erwarb, was hoch umstritten ist, [...] musste ihr im Lichte der innerstaatlichen Rsp betreffend die Beschlagnahme von illegal ausgeführten kulturellen Gegenständen, die im Besitz von »nicht an einer Straftat beteiligten« Drittpartei stehen, der Grundsatz bekannt sein, wonach keine Entschädigung für den Fall zu leisten sei, sollte es zu einer Beschlagnahme im Hinblick auf einen Eigentümer kommen, der als in bösem Glauben oder zumindest fahrlässig agierend angesehen wurde.
(403) Der GH ist daher der Ansicht, dass die Bf, indem sie die Statue aus Fahrlässigkeit in Ermangelung jeglicher Beweise hinsichtlich ihrer rechtmäßigen Herkunft und in voller Kenntnis der von den italienischen Behörden in dieser Hinsicht gestellten Ansprüche erwarb, die rechtlichen Erfordernisse missachtete.
(404) Nach Ansicht des GH nahm die Bf folglich zumindest implizit das Risiko in Kauf, dass die Statue ohne Zahlung einer Entschädigung beschlagnahmt werden konnte. Das Fehlen einer Entschädigung [...]führte somit nicht zur Unverhältnismäßigkeit der strittigen Maßnahme [...].
Schlussfolgerungen zur Verhältnismäßigkeit
(405) Angesichts des oben Gesagten kommt der GH zu dem Ergebnis, dass die Stiftung nicht mit der erforderlichen Sorgfalt handelte, als sie die Statue erwarb (siehe Rz 386–390) und dass dieser Situation zweifellos einiges an Gewicht bei der Beurteilung [der Verhältnismäßigkeit] zukommt. Da der Bf das Fehlen einer Frist gemäß dem geltenden innerstaatlichen Recht zur Erlassung der auf die Wiedererlangung illegal exportierter Gegenstände abzielenden Beschlagnahmemaßnahme bekannt war, kann nicht gesagt werden, dass bei ihr eine berechtigte Erwartung entstand, sie könne die Statue behalten, arbeiteten doch mehrere staatliche Behörden fortdauernd mit dem Ziel darauf hin, sie wiederzuerlangen. Zugleich und wiederum im Lichte der anwendbaren innerstaatlichen Bestimmungen hätte bei der Bf keine berechtigte Erwartung aufkommen dürfen, was den Erhalt einer Entschädigung anging.
(406) Auf der anderen Seite muss der GH beobachten, dass – obwohl die innerstaatlichen Behörden mehrere Schritte zur Wiedererlangung der Statue tätigten (siehe Rz 394–397) – sie nicht immer gewissenhaft den relevanten Prozeduren folgten. So ist es der Regierung nicht gelungen, den GH davon zu überzeugen, aus welchen Gründen das Verfahren, welches zu der Verhängung der strittigen Maßnahme führte, nicht vor 2007 startete (siehe Rz 399). [...]
(407) Im Gegensatz jedoch zum Fall Beyeler/IT, bei dem der relevante kulturelle Gegenstand rechtmäßig im Eigentum einer Privatperson stand, resultierten die Nachlässigkeiten der innerstaatlichen Behörden im vorliegenden Fall nicht in eine unberechtigte Bereicherung auf ihrer Seite, da sie in angemessener Weise darlegten, dass die Statue Teil von Italiens kulturellem Erbe sei. Zudem führten gelegentliche Fehler der innerstaatlichen Behörden nicht zu einer Situation, in der einem in gutem Glauben agierenden Bf keine Schuld oder Fahrlässigkeit zugeschrieben werden konnte. Vielmehr waren diese Fehler eine Reaktion auf das Verhalten der Bf, das von den innerstaatlichen Gerichten zumindest als nachlässig, wenn nicht sogar in bösem Glauben stehend, angesehen wurde. Zu guter Letzt operierten die nationalen Behörden in einem rechtlichen Vakuum, da keines der völkerrechtlichen Instrumente, welches ihnen helfen hätte können, einen unrechtmäßig ausgeführten kulturellen Gegenstand wiederzuerlangen, zum gegenständlichen Zeitpunkt in Kraft stand. [...]
(408) Im Lichte der obigen Schlussfolgerungen und unter Berücksichtigung des weiten Ermessensspielraums der Staaten bei der Beurteilung, was »in Übereinstimmung mit dem Allgemeininteresse steht«, insb wenn es um Fragen des kulturellen Erbes geht, ferner des starken Konsenses im Völker- und EU-Recht bezüglich der Notwendigkeit des Schutzes kultureller Objekte vor illegaler Ausfuhr und ihrer Rückgabe an das Herkunftsland (siehe Rz 340–342 [...]), des fahrlässigen Verhaltens der Bf wie auch dem sehr außergewöhnlichen rechtlichen Vakuum, in dem sich die innerstaatlichen Behörden im vorliegenden Fall wiederfanden, kommt der GH zu dem Ergebnis, dass diese ihren Beurteilungsspielraum nicht überschritten haben.
(409) Es liegt daher keine Verletzung von Art 1 1. ZPEMRK vor (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Beyeler/IT, 5.1.20oo, 33202/96 (GK) = NL 2000, 22
Monnat/CH, 21.9.2006, 73604/01 = NL 2006, 229
Kozacıoğlu/TR, 19.2.2009, 2334/03 (GK) = NL 2009, 44
Toniolo/SM und IT, 26.6.2012, 44853/10
G.I.E.M. S.r.l. ua/IT, 28.6.2018, 1828/06 ua = NLMR 2018, 228
Balsamo/SM, 8.10.2019, 20319/17 ua
Karapetyan/GE, 15.10.2020, 61233/12
Shorazova/MT, 3.3.2022, 51853/19 = NLMR 2022, 169
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 2.5.2024, Bsw. 35271/19, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 240) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.