JudikaturAUSL EGMR

Bsw42917/16 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
23. April 2024

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Zăicescu und Fălticineanu gg Rumänien, Urteil vom 23.4.2024, Bsw. 42917/16.

Spruch

Art 3, 8, 14 EMRK - Leugnung der Verantwortung von Armeeoffizieren für den Holocaust verletzte Rechte jüdischer Überlebender.

Zulässigkeit der Beschwerden (mehrstimmig).

Verletzung von Art 14 iVm Art 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK: Die Bf stellten keinen Antrag auf Zuspruch von materiellem und immateriellem Schadenersatz. € 8.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die vorliegende – von Überlebenden des Holocausts eingebrachte – Beschwerde wendet sich gegen die in den 1990er Jahren erfolgte Wiederaufnahme eines nach dem Zweiten Weltkrieg in Rumänien abgewickelten Strafverfahrens, in dem zwei in Deportationen von Juden verwickelte Militäroffiziere unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen worden waren.

Zum historischen Hintergrund des Falls

1941 trat Rumänien auf Seiten Nazi-Deutschlands in den Krieg ein. In der Folge kam es zu Deportationen von Juden nach Transnistrien (welches damals unter rumänischer Verwaltungshoheit stand) und zu drei Pogromen. Ende Juni 1941 führte ein in der Stadt Iași durchgeführtes Pogrom zur Tötung von mehr als 13.000 Juden.

Der 1927 geborene ErstBf ist ein Überlebender dieses Pogroms. Er wurde in einem »Todeszug« in das jüdische Ghetto von Podul Iloaiei gebracht. Nach einigen Monaten wurde er entlassen und kehrte als Waise nach Iași zurück. Die damals elfjährige ZweitBf wurde von ihrer Heimatstadt Cernăuți in ein Ghetto überführt, um in ein in Transnistrien befindliches Konzentrationslager gebracht zu werden. Nach einem Jahr konnte sie der Deportation mithilfe von Verwandten entkommen.

Nach dem Krieg wurden von der kommunistischen Regierung zwei Volksgerichtshöfe zur strafrechtlichen Ahndung jener errichtet, die für Kriegsverbrechen und für Verbrechen an den Juden verantwortlich waren.

1953 wurden auf Basis des Gesetzes Nr 291/1947 über die strafrechtliche Verfolgung und Bestrafung von für Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortliche Personen Oberstleutnant R. D., der ehemalige Leiter der Sektion 2 der rumänischen Personalabteilung, und Oberstleutnant G. P., der unter seinem Kommando stand, von einem Bukarester Gericht der Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen, da sie (1) gemeinsam Häftlinge misshandelt, (2) mit dem rumänischem Geheimdienst anlässlich des Iași-Pogroms zusammengearbeitet und (3) direkt an der Organisation und Durchführung der Deportation von Juden nach Bessarabien und Bukowina mitgewirkt hätten. Sie wurden zu einer Freiheitsstrafe von 15 bzw zehn Jahren verurteilt.

1955 wurde das Gesetz Nr 291/1947 aufgehoben, woraufhin auf Basis dieses Gesetzes verurteilte Personen einschließlich R. D. und G. P. begnadigt wurden. Beide wurden in die Freiheit entlassen, G. P. starb kurz darauf. 1956 wurde in Stattgebung eines vom Präsidenten des Obersten Gerichtshofs ergriffenen außerordentlichen Rechtsbehelfs das gegen R. D. ergangene Strafurteil aufgehoben. Mit Urteil des Bukarester Militärgerichts vom 24.1.1957 wurde eine Neubewertung des Falls vorgenommen und die von R. D. begangenen Straftaten rechtlich als »Verbrechen der intensiven Mitwirkung an Handlungen gegen die Arbeiterschaft und die Revolutionsbewegung« iSv Art 193 Abs 1 des rumänischen Strafgesetzes qualifiziert. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt und sein Vermögen konfisziert.

Zu den Wiederaufnahmeverfahren nach dem Fall des kommunistischen Regimes

Zwischen 1990 und 2000 wurden vom rumänischen Generalanwalt mehrere außerordentliche Rechtsbehelfe zwecks Freispruchs in Kriegsverbrechen verwickelter Personen, darunter die mittlerweile verstorbenen R. D. und G. P., eingelegt. Mit Urteilen vom 30.3.1998 und 10.5.1999 hob der Oberste Gerichtshof die Urteile aus 1953 auf, nahm das Verfahren wieder auf und sprach R. D. und G. P. der ihnen vorgeworfenen Straftaten frei. Begründend hielt er fest, dass beide Offiziere im Hinblick auf die Deportation von Juden lediglich ihren militärischen Pflichten nachgekommen wären, indem sie Befehle »von oben« befolgt hätten. An Massakern gegen Juden, die ausschließlich von deutschen Truppen begangen worden wären, wären sie nicht beteiligt gewesen. Das Verfahren fand in Gegenwart des Generalanwalts und von Rechtsvertretern statt, die von Amts wegen für die beiden verstorbenen Offiziere bestellt worden waren. Die Gerichtsakten wurden für mehrere Jahre vom Geheimdienst einbehalten und schließlich beim »Nationalen Rat zum Studium der Archive der Securitate« (im Folgenden: NRSAS) aufbewahrt.

2004 erschien ein Bericht der »Internationalen Kommission über den Holocaust in Rumänien« (im Folgenden: IKHR), wonach das Iași-Pogrom auf ausdrückliche Anordnung von Premierminister Antonescu und unter Mitwirkung des Generalstabs der rumänischen Armee und des Geheimdiensts durchgeführt worden sei.

Nachdem die Bf Anfang 2016 durch Zufall im Wege einer vom »Elie Wiesel-Institut zum Studium des Holocausts in Rumänien« abgehaltenen Konferenz über während der postkommunistischen Zeit erfolgte Freisprüche von am Holocaust teilnehmenden Offizieren erfahren hatten, beantragten sie bei den rumänischen Höchstgerichten und dem NRSAS erfolglos Zugang zu den Gerichtsakten. Vom Elie Wiesel-Instituts erhielten sie schließlich am 23.5.2016 elektronische Kopien der Gerichtsakten betreffend die Urteile des Obersten Gerichtshofs vom 30.3.1998 und 10.5.1999.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

(71) Unter Bezugnahme auf Art 3 EMRK alleine und iVm Art 14 EMRK beklagen sich die Bf darüber, dass die Aufhebung [...] der strafrechtlichen Verurteilungen von R. D. und G. P. wegen Kriegsverbrechen und Mitwirkung am Holocaust und das Versäumnis, sie über die betreffenden Verfahren zu informieren, sie als Opfer des Holocausts in ihrem Recht auf wirksame Untersuchung von gegen sie gerichteten Handlungen ethnisch motivierter unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verletzt habe.

Zur behaupteten Verletzung der Art 3 und 14 EMRK

Einreden der Regierung

(72) Die Regierung [...] behauptet, der GH verfüge nicht über die Jurisdiktion ratione temporis zur Untersuchung der vorliegenden Beschwerde. [...]

(74) Die Regierung verweist auf die [unter anderem in den Fällen Šilih/SL, Rz 159–163 und Janowiec ua/RU, Rz 128–151 aufgestelllten] Prinzipien und die Tatsache, dass nach dem Inkrafttreten der Konvention [für Rumänien] weder eine neue strafrechtliche Untersuchung stattgefunden habe noch in den zu den strittigen Freisprüchen führenden Verfahren neue Beweise vorgelegt oder untersucht worden wären. Die Zeit von mehr als 50 Jahren nach den ereignisauslösenden Tatsachen bis zur Ergreifung außerordentlicher Rechtsbehelfe [durch den Generalanwalt] in der postkommunistischen Zeit habe daher bei weitem das angemessene »kritische Datum« überschritten. [...].

(82) Im Fall Janowiec ua/RU (Rz 145–148) hielt der GH fest, dass hinsichtlich der verfahrensrechtlichen Verpflichtung zur Untersuchung von Todesfällen oder Misshandlungen, die sich vor dem Inkrafttreten der Konvention im belangten Staat (das »kritische Datum«) ereignet hatten, dem Grunde nach seine zeitliche Jurisdiktion strikt auf verfahrensrechtliche Handlungen beschränkt sei, die vom betroffenen Staat nach dem Inkrafttreten der Konvention umgesetzt wurden bzw umgesetzt hätten werden müssen. Die oben erwähnte verfahrensrechtlichen Verpflichtung werde nur schlagend, wenn eine »echte Verbindung« zwischen dem eine verfahrensrechtliche Verpflichtung unter Art 2 und Art 3 EMRK auslösenden Ereignis und dem Inkrafttreten der Konvention vorliege. Für die Existenz einer solchen Verbindung müssten zwei Kriterien erfüllt sein: (i) der Zeitraum zwischen dem auslösenden Ereignis und dem [Datum des] Inkrafttretens der Konvention müsse angemessen kurz sein (die verstrichene Zeit solle normalerweise zehn Jahre nicht überschreiten) und (ii) ein großer Teil des Verfahrens oder die bedeutendsten verfahrensrechtlichen Schritte hätten nach dem Inkrafttreten der Konvention stattgefunden oder stattfinden müssen.

(83) Der GH akzeptierte aber auch, dass es außergewöhnliche Situationen geben könne, wo das Kriterium einer »echten Verbindung« nicht erfüllt sei, wo aber die Notwendigkeit, den tatsächlichen und wirksamen Schutz der Garantien der EMRK und der ihr zugrundeliegenden Werte sicherzustellen, eine ausreichende Grundlage für die Anerkennung des Vorliegens einer solchen Verbindung begründen würde. Die erforderliche Verbindung könne dann bestehen, wenn das auslösende Ereignis eine größere Dimension aufweise als eine gewöhnliche Straftat und auf die Negierung der wesentlichen Grundlagen der Konvention hinauslaufe. Das wäre der Fall bei schweren Verbrechen nach Völkerrecht – wie Kriegsverbrechen, Genozid oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemäß ihrer Definition in den einschlägigen internationalen Instrumenten. Die oben erwähnte »Konventionswerteklausel« könne jedoch nicht auf Ereignisse angewendet werden, die vor der Annahme der EMRK am 4.11.1950 geschehen seien [...]. Daher könne ein Vertragsstaat nicht unter der Konvention dafür verantwortlich gemacht werden, dass er selbst die schwersten Verbrechen nach Völkerrecht nicht untersucht habe, wenn diese der EMRK zeitlich vorangegangen seien (siehe Rz 149–151 des zitierten Urteils).

(84) Was die Tatsachen des vorliegenden Falls angeht, [...] legten die Bf dar, 1941 Opfer von Misshandlungen im Zusammenhang mit dem rumänischen Holocaust gewesen zu sein. Die Konvention wurde [...] am 4.11.1950 verabschiedet. Rumänien trat ihr am 20.6.1994 bei.

(85) [...] Die Regierung stellte den Status der Bf als Juden und Opfer des Holocausts nicht in Abrede. Sie bestritt auch nicht deren Vorbringen hinsichtlich der Situation in ihren Heimatstädten und ihrer Verbringung in ein Ghetto zum maßgeblichen Zeitpunkt.

(86) Mehr als 40 Jahre später wurden 1998 und 1999 im Wege der Einbringung eines ausschließlich auf Initiative der Gerichte ergriffenen außerordentlichen Rechtsbehelfs die strittigen Gerichtsverfahren wiederaufgenommen, die Urteile aus 1953 und 1957 aufgehoben und G. P. und R. D. freigesprochen.

(87) [...] Der GH ist der Meinung, dass die Ereignisse, die Anlass zu den 1953–1957 und 1998–1999 stattfindenden Gerichtsverfahren gaben, das Iași-Pogrom und die Verbringung einer großen Anzahl von Juden einschließlich der Bf in Ghettos waren.

(88) [...] Die Beschwerde der Bf betrifft [mit Blick auf die von ihm in den Urteilen Makuchyan and Minasyan/AZ und HU (Rz 156) und Mocanu ua/RO (Rz 314–318)] aufgestellten Prinzipien] in der Tat das behauptete Versäumnis des rumänischen Staats, seiner prozessualen Verpflichtung zur Führung einer effektiven Untersuchung hinsichtlich rassistisch motivierter unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nachzukommen. Sie ist daher unter dem prozessualen Aspekt von Art 3 iVm Art 14 EMRK zu untersuchen.

(89) [...] Der GH wird nun prüfen, ob die zwei zur Begründung der Existenz einer »echten Verbindung« zwischen den fraglichen Ereignissen und dem Inkrafttreten der Konvention erforderlichen Kriterien im vorliegenden Fall erfüllt waren.

(90) Was das erste Kriterium angeht, ist zu vermerken, dass die Ereignisse, die zu den behaupteten Eingriffen führten, die allenfalls die Untersuchungspflicht der [rumänischen] Behörden ausgelöst hätten, 1941 stattfanden – das ist mehr als 50 Jahre vor dem »kritischen« Datum des Inkrafttretens der Konvention hinsichtlich Rumäniens (20.6.1994). Dieser Zeitraum ist absolut gesehen zu lang, um eine »echte Verbindung« zwischen den auslösenden Ereignissen und dem Inkrafttreten der Konvention für Rumänien zu begründen. Nach ihrer rechtskräftigen Verurteilung verbüßten G. P. und R. D. ihre Freiheitsstrafen bis zu ihrer im Jahr 1955 erfolgten Begnadigung. Sie starben noch vor dem Inkrafttreten der Konvention im Hinblick auf Rumänien. Angesichts des Vorgesagten ist der GH der Ansicht, dass die Verpflichtung des [rumänischen] Staats zur Führung einer wirksamen Untersuchung und Bestrafung der mit Blick auf [einen Verstoß gegen] Art 3 EMRK verantwortlichen Personen bereits vor dem Inkrafttreten der Konvention erfüllt war. Angesichts dessen, dass G. P. und R. D. zum Zeitpunkt der Wiederaufnahme der Verfahren und ihres Freispruchs 1998 bzw 1999 nicht länger am Leben waren, befanden sich Ziel und Zweck der dem Art 3 EMRK innewohnenden positiven Verpflichtungen zu diesem Zeitpunkt bereits außerhalb der Reichweite der Gerichte.

(91) Betreffend das zweite Kriterium [...] fanden die bedeutendsten – im vorliegenden Fall unternommenen – Schritte (wie die strafrechtliche Untersuchung der strittigen Vorfälle und die rechtskräftige Verurteilung von G. P. und R. D.) mehr als 50 Jahre vor dem Inkrafttreten der Konvention in Betreff auf Rumänien statt. Was den Zeitraum nach dem Inkrafttreten der Konvention betrifft, vermag der GH ungeachtet der Tatsache, dass [im gegenständlichen Fall] ein Wiederaufnahmeverfahren stattfand, keine wirklichen Untersuchungsschritte zu identifizieren, da die Verfahren aus 1998 und 1999 bloß eine Neuinterpretation der in den jeweiligen Strafakten angeführten Beweise zum Gegenstand hatten. Darüber hinaus kamen in der Periode nach dem kritischen Datum keine relevanten Beweisstücke oder grundlegenden Informationen betreffend Handlungen, aufgrund derer G. P. und R. D. verurteilt worden waren, ans Licht. [...] Der GH hat bereits festgehalten, dass eine Neubewertung der Beweise, ein Abweichen von früheren

Feststellungen oder eine Entscheidung betreffend die Klassifizierung des Untersuchungsmaterials nicht auf einen »bedeutenden Anteil an prozessualen Schritten« hinauslaufen können, der für die Begründung einer »echten Verbindung« iSd verfahrensrechtlichen Verpflichtungen unter Art 2 EMRK verlangt wird. Der vorliegende Fall wirft die Frage auf, ob eine Wiederaufnahme sogar ohne Existenz neuer Beweise als derart bedeutender verfahrensrechtlicher Schritt angesehen werden kann, um das Vorliegen einer »echten Verbindung« zu erfüllen. In jedem Fall braucht der GH über dieses Kriterium nicht zu entscheiden, da die zwei Kriterien zur Begründung einer »echten Verbindung« kumulativ sind.

(92) Angesichts des Vorgesagten kommt der GH zu dem Ergebnis, dass eines der Kriterien zur Begründung einer »echten Verbindung« im gegenständlichen Fall nicht erfüllt wurde (siehe Rz 90 oben). Auch wenn die Ereignisse, welche die Untersuchungspflicht unter Art 3 EMRK ausgelöst haben mochten, unzweifelhaft von einer größeren Dimension waren als eine gewöhnliche Straftat und auf eine Negation der grundlegenden Werte der Konvention hinausliefen, fanden sie dennoch 1941 statt – also neun Jahre bevor die Konvention in Kraft trat. Folglich besteht kein Grund für die Anwendung der »Konventionswerteklausel« und für eine Abkehr vom Erfordernis der Existenz einer »echten Verbindung«.

(93) Mit Blick auf die obigen Erwägungen erachtet der GH diesen Beschwerdepunkt für unvereinbar mit der Konvention ratione temporis iSv Art 35 Abs 3 lit a EMRK. Dieser ist daher gemäß Art 35 Abs 4 EMRK [als unzulässig] zurückzuweisen (mehrstimmig; teilweise abweichendes Sondervotum von Richter Răduleţu, gefolgt von Richter Vehabović and Richterin Guerra Martins).

(94) Im Lichte der vorhergehenden Schlussfolgerungen hält der GH eine Prüfung der verbleibenden Einreden der Regierung nicht für notwendig.

Zur gerügten Verletzung der Art 8 und 14 EMRK

(95) Unter Berufung auf Art 8 EMRK beanstanden die Bf, dass sie als Überlebende des Holocausts von den rumänischen Gerichten in ihrem Recht auf Privatleben und psychische Integrität verletzt worden wären, weil diese einerseits ein außerordentliches Wiederaufnahmeverfahren gestartet hätten, das auf den Freispruch von aus historischer und gerichtlicher Sicht erwiesenen Urhebern von Verbrechen gegen die Juden gerichtet war und ihnen [...] andererseits Zugang zu den Verfahren und zu den Strafakten verwehrt worden wäre.

(96) Die Bf beklagen sich auch darüber, dass die Freisprüche und der fehlende Zugang zu den Akten einen Verstoß gegen ihre Rechte unter Art 14 EMRK iVm Art 8 EMRK dargestellt hätten, da seitens der Gerichte verabsäumt worden wäre, den antisemitischen Charakter der Verbrechen in Betracht zu ziehen und gehörige Sorgfalt an den Tag zu legen, indem die Opfer derartiger Verbrechen am Verfahren beteiligt wurden. Diese Haltung habe eine Diskriminierung der Bf aus ethnischen Gründen dargestellt.

Zulässigkeit

Zum Opferstatus

(100) [...] Seitens des GH ist festzuhalten, dass der von den Bf erhobene Beschwerdepunkt die Wiederaufnahme von Strafverfahren, in denen die Verantwortung von hochrangigen Militäroffizieren für den Holocaust nochmals überprüft wurde, und den fehlenden Zugang der Bf oder der Öffentlichkeit zu diesen Verfahren betrifft. Laut der Regierung [...] könne nicht zweifelsfrei festgestellt werden, ob die Bf unmittelbare Opfer der Verbrechen gewesen wären, wegen derer R. D. und G. P. in den 1953 und 1957 geführten Verfahren schuldig gesprochen worden waren. Die Bf könnten daher keine Opfereigenschaft hinsichtlich der Wiederaufnahme der Strafverfahren für sich beanspruchen.

(101) [...] Die Regierung stellte den Status der Bf als Juden und Opfer des Holocausts nicht in Frage. Sie bestritt auch nicht deren Vorbringen hinsichtlich [der Situation in ihren] Heimatstädten und ihrer Verbringung in Ghettos zum maßgeblichen Zeitpunkt. Obwohl die Bf letztendlich nicht nach Transnistrien deportiert wurden, gingen sie nichtsdestoweniger durch die erste Phase des Deportationsprozesses, nämlich den Transport unter unmenschlichen Bedingungen (wie der ErstBf) und die Verbringung in Ghettos zwecks anschließender Deportation (beide Bf). Der GH ist daher der Ansicht, dass es aus dem Blickwinkel der Beschwerde gemäß Art 8 EMRK nicht notwendig ist, eine direkte Verbindung zwischen den von G. P. und R. D. begangenen Handlungen und den Bf herzustellen, waren doch die strittigen Verbrechen ihrem Wesen nach gegen eine ganze Gruppe von Personen gerichtet und berücksichtigt man das [im Sachverhalt dargelegte] persönliche Schicksal der Bf. Der GH akzeptiert daher, dass die Bf als Juden und Überlebende des Holocausts geltend machen können, persönlich an emotionalem Stress gelitten zu haben, als sie von der Wiederaufnahme der Strafverfahren und den Freisprüchen von G. P. und R. D. erfuhren.

(102) Was das Vorbringen der Regierung betrifft, dass R. D. nicht von Kriegsverbrechen, sondern von einem anderen Verbrechen freigesprochen worden sei, ist seitens des GH zu vermerken, dass der 1998 erfolgte Freispruch die Straftaten des Beitrags zur Schaffung von Ghettos und Konzentrationslagern und die Verbringung von Juden in Konzentrationslager betraf. Die vom Gesetz vorgesehene rechtliche Qualifikation dieser Verbrechen wirkte sich daher nicht auf die von den Gerichten festgestellten Tatsachen aus. Die Regierung brachte auch vor, dass die Bf für sich nicht Opferstatus beanspruchen könnten, da R. D. wegen eines politischen Verbrechens verurteilt worden war, einen Teil seiner wegen Begehung von Kriegsverbrechen verhängten Strafe verbüßt hatte und dann 1955 begnadigt wurde. Sie erbrachte in dieser Hinsicht jedoch keine Beweise, wonach der politische Charakter von R. D.s Verurteilung von den Gerichten als erwiesen angesehen wurde, wie es das zum Zeitpunkt des Freispruchs geltende Recht erfordert hätte.

Was die Begnadigung betrifft, wirkte sie sich nur auf die Vollstreckung der Strafe und nicht auf die Verurteilung selbst aus. Der GH vermag daher nicht zu erkennen, inwiefern die Begnadigung den Status der Bf als Opfer unter der Konvention beeinflussen hätte können.

(103) Zudem hat der GH in seiner Rsp betreffend Bf, die sich durch Bemerkungen verletzt fühlten, die sich allgemein gegen eine ethnische Gruppe richteten, zu der sie gehörten, festgestellt, dass ein Bf als Opfer der behaupteten Verletzungen angesehen werden kann, auch wenn er nicht unmittelbar und persönlich Zielscheibe der fraglichen Bemerkungen war (siehe etwa Lewit/AT, Rz 86). Im vorliegenden Fall können durchaus ähnliche Erwägungen angestellt werden, hatten doch die Bf ein persönliches Interesse an einem Verfahren, das auf die Begründung der Verantwortung hochrangiger Mitglieder des Militärs für den Holocaust in Rumänien gerichtet war [...]. Die Tatsache, dass die Bf im Gegensatz zur vorzitierten Rsp an den einschlägigen innerstaatlichen Verfahren nicht als Partei teilnahmen, ist im gegenständlichen Fall nicht ausschlaggebend, war doch gerade dieser Aspekt – die fehlende Einbindung in das Verfahren – eine der von den Bf erhobenen Rügen.

(104) Angesichts des Vorgesagten und der Notwendigkeit, die Kriterien betreffend den Opferstatus nicht auf starre und inflexible Art und Weise anzuwenden, wird der GH die Behauptung der Bf, sie wären Opfer der behaupteten Verletzung iSv Art 34 EMRK akzeptieren. Er weist daher die sich auf die fehlende Opfereigenschaft beziehende Einrede der Regierung zurück.

(105) Aufgrund dieser Schlussfolgerungen und unter Berücksichtigung, dass die Freispruchsverfahren, von deren Ergebnis die Bf erfuhren, zu einem Zeitpunkt stattfanden, in dem die Konvention in Rumänien in Geltung stand, kommt der GH zu dem Ergebnis, dass sich im Hinblick auf die unter Art 8 und 14 EMRK vorgebrachten Rügen keinerlei Fragen bezüglich seiner Zuständigkeit ratione temporis ergeben.

Zur Anwendbarkeit der Art 8 und 14 EMRK

(106) Laut der Regierung seien R. D. und G. P. 1953 und 1957 nicht nur wegen ethnisch motivierter Kriegsverbrechen gegen Juden, sondern auch wegen anderer Verbrechen wie ungerechtfertigter Verfolgung von Kommunisten verurteilt worden. Die postkommunistischen Wiederaufnahmeverfahren hätten daher ethnisch motivierte Verbrechen lediglich im Hinblick auf G. P.s Mitwirkung an der Deportation der jüdischen Bevölkerung von Bukowina nach Transnistrien betroffen. Eingedenk der Tatsache, dass andere mögliche Opfer wie etwa kommunistische Aktivist*innen, die von den Wiederaufnahmeverfahren ebenfalls betroffen gewesen sein konnten, ähnlich wie die Bf behandelt worden seien, bestünden keine Beweise, dass die Bf basierend auf ihrer ethnischen Herkunft anders behandelt worden wären. [...] Art 8 iVm Art 14 EMRK sei daher im vorliegenden Fall nicht anwendbar.

Zur Anwendbarkeit von Art 8 EMRK

(108) Im vorliegenden Fall beklagten sich die Bf über Handlungen des Staats, genauer gesagt über die Entscheidung der Gerichte, das Verfahren [gegen R. D. und G. P.], die zuvor wegen mit dem Holocaust im Zusammenhang stehender Verbrechen, verurteilt worden waren, wiederaufzunehmen und sie freizusprechen. Ferner beanstandeten sie das Versäumnis der Gerichte, die Öffentlichkeit und die Bf über diese Entscheidungen zu informieren und ihnen Zugang zu den Verfahrensakten zu gewähren. Die Beurteilung, ob eine Frage des Privatlebens unter Art 8 EMRK in solch einem Fall aufgeworfen wird oder nicht, ist ein Punkt, der in die Zuständigkeit des GH ratione materiae fällt und als Zuständigkeitsfrage untersucht werden muss [...].

(117) Der GH hat Überlebende des Holocausts bereits [in mehreren Fällen] als (heterogene) soziale Gruppe angesehen, deren individuelle Mitglieder durch negative Stereotypisierung dieser Gruppe beeinträchtigt werden können. Er hat auch festgehalten, dass die öffentliche Rede eines Politikers, in dem dieser die historisch erwiesene Massentötung von Mitgliedern einer ethnischen Gruppe abstritt, das Recht auf Achtung des Privatlebens eben dieser Gruppe verletzt hatte [vgl Perinçek/CH, Rz 227]. Der GH hat ferner erwogen, dass die Leugnung des Holocausts [...] stets den Beigeschmack einer antidemokratischen Ideologie und von Antisemitismus mit sich bringt, der für die betroffenen Personen als besonders aufwühlend angesehen werden muss (vgl Perinçek/CH, Rz 253).

(118) Der gegenständliche Fall betrifft nicht die öffentliche Zurschaustellung von die Existenz des Holocausts abstreitenden Meinungen oder die negative Stereotypisierung von Überlebenden des Holocausts. Nichtsdestotrotz findet der GH, dass die [unter anderem in den Fällen Behar und Gutman/BG und Perinçek/CH aufgestellten] Prinzipien auch als Referenzquelle für den vorliegenden Fall herangezogen werden können. Der GH hat bereits die Einzigartigkeit des gegenständlichen Falls hervorgehoben [...] (vgl Rz 101). Diese Schlussfolgerung unterscheidet ihn klar vom Fall L. Z./SK (Rz 74 und 75), in dem sich das Vorbringen der Bf hauptsächlich am generellen Problem der Förderung des Faschismus und dessen potenziellen Auswirkungen auf die Gesellschaft orientierte. Die Verfahren im vorliegenden Fall (die zu Freisprüchen von hochrangigen Militäroffizieren führten, die wegen mit dem Holocaust in Zusammenhang stehenden Verbrechen verurteilt worden waren) und das Verhalten der Gerichte in diesen Verfahren

(nämlich das Versäumnis, die Öffentlichkeit über die Einbringung von außerordentlichen Rechtsbehelfen zu informieren, die Einbehaltung von Strafakten durch den Geheimdienst und die anfängliche Weigerung, den Bf Zugang zu diesen zu gewähren) wurde von den Bf, sobald sie dies in Erfahrung brachten, als Abstreitung der Existenz des Holocausts in Rumänien und der historischen Wahrheit darüber angesehen und ließ in ihnen das Trauma des Holocausts wiederaufleben, dessen unmittelbare Opfer sie gewesen waren. Hinsichtlich dieses Punkts möchte der GH anmerken, dass sich die gegenständlichen Freisprüche zu einer Zeit ereigneten, die von der Infragestellung der Rolle der rumänischen Behörden, die sie beim Holocaust spielten, und der Akzeptierung von Kriegsverbrechern durch manche Mitglieder der politischen Klasse geprägt war. Zudem fanden zu dem Zeitpunkt, in dem die Bf von den Freisprüchen erfuhren, antisemitische Vorfälle in Rumänien statt, die bis zum heutigen Tag anhalten.

(119) Angesichts all dieser Faktoren und im Lichte der Schlussfolgerungen betreffend die Opfereigenschaft der Bf nimmt der GH zur Kenntnis, dass der Ausgang der Strafverfahren aus 1998 und 1999, in denen die Rolle hochrangiger Militäroffiziere bei hochsensiblen Ereignissen wie dem Holocaust untersucht wurde, sowie der Kontext, in dem sich diese Verfahren abspielten, ausreichende Auswirkungen auf das Identitäts- und Selbstwertgefühl der Bf als Juden und Überlebende des Holocausts in Rumänien hatte, um bei ihnen ein gewisses Ausmaß [...] oder den erforderlichen Schweregrad an emotionalem Leid auszulösen. Art 8 EMRK ist daher auf den vorliegenden Fall anwendbar.

Zur Anwendbarkeit von Art 14 EMRK

(29) [...] Da die Tatsachen des gegenständlichen Falls in den Anwendungsbereich von Art 8 EMRK fallen, ist auch Art 14 EMRK anwendbar [...].

Zur Befolgung der Sechs-Monats-Frist

(123) [...] Die fraglichen Verfahren und die zwei Urteile betrafen historische Ereignisse im Zusammenhang mit dem Holocaust, [...] von der eine bedeutende Zahl von Leuten in Rumänien tangiert und die daher von öffentlichem Interesse waren. [...] Im vorliegenden Fall steht außer Frage, dass die Bf den Freispruchsverfahren nicht als Partei beiwohnen durften. Es wurden von der Regierung auch keine Beweise [...] dafür vorgelegt, dass die Bf als unmittelbare Opfer der Ereignisse oder die Öffentlichkeit von den Gerichten über die vom Generalanwalt angeregten Wiederaufnahmeverfahren unterrichtet worden wären.

(124) Zudem waren die Akten der Freispruchsverfahren der Öffentlichkeit nicht zugänglich, wurden sie doch zuerst in den Archiven des Geheimdiensts und nachfolgend beim NRSAS aufbewahrt, zu dem nur spezifische Kategorien von Personen Zugang hatten. Dazu kommt, dass die Ersuchen der Bf um Zugang zu den Akten anfänglich [...] abgelehnt worden waren. Mögen daher auch die Freispruchsurteile auf ihrer Vorderseite den Vermerk enthalten, dass sie in einem öffentlichen Verfahren ergangen waren, genügt dieser Hinweis für sich alleine nicht, um dem GH den Schluss zu erlauben, dass die Öffentlichkeit von den Gerichten über diese Verfahren informiert worden war. Diese Schlussfolgerung wird auch vom Vorbringen der Regierung unterstützt, wonach die Bf von sich aus frühestens ab 2004 – nach Erscheinen des Berichts der IKHR – in Erfahrung hätten bringen können, dass die Freispruchsverfahren stattgefunden hatten.

(125) Was die Behauptung der Regierung angeht, der IKHR-Bericht [...] habe große mediale Aufmerksamkeit erregt, ist seitens des GH festzuhalten, dass die von ihr angeführten Beispiele [...] nur einige Online-Veröffentlichungen auf der Webseite des Elie Wiesel-Instituts und einen 2014 publizierten Artikel in einem Fachmagazin [...] betreffen. Es wurden von der Regierung auch keine Beweise dahingehend vorgelegt, dass eine Berichterstattung über [den IKHR-Bericht] in nationalen Medien stattgefunden hätte, die der breiten Öffentlichkeit zugänglich gewesen wäre.

(126) Angesichts des oben Gesagten kommt der GH zu der Ansicht, dass die erste Offenlegung von glaubwürdigen und überprüfbaren Informationen an die Öffentlichkeit (Informationen, welche die exakten Daten der Freisprüche und Kopien der Urteile enthielten) anlässlich der Konferenz des Eli Wiesels-Instituts stattfand. Er akzeptiert daher das Vorbringen der Bf, wonach der Zeitpunkt, an dem sie etwas über die Freisprüche in Erfahrung bringen und mit ihrem Inhalt vertraut werden konnten, der 26.1.2016 war. Die Einrede der Regierung wegen Nichtbefolgung der Sechs-Monats-Frist ist daher unfundiert und zu verwerfen.

Zur Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs

(127) Was den Teil der Beschwerde betreffend den fehlenden Zugang der Bf zu den in den Archiven der CNSAS aufbewahrten Akten betreffend die erfolgten Freisprüche angeht, hätten die Bf laut der Regierung die Verwaltungsgerichte [auf der Basis des Gesetzes Nr 544/2001 über den Zugang zu öffentlichen Informationen] darum ersuchen können, den NRSAS anzuweisen, ihnen physischen Zugang zu den Fallakten zu gewähren und sie mit beglaubigten Kopien der fraglichen Dokumente zu versorgen.

(128) Den Bf zufolge hätte solch ein Begehren angesichts der Tatsache, dass der Zugang zu in den Archiven des NRSAS aufbewahrten Akten speziellen Rechtsbestimmungen unterworfen sei, keine Rechtsgrundlage im innerstaatlichen Recht gehabt und könne daher nicht als effektiver Rechtsbehelf angesehen werden.

(129) Der GH beobachtet in der Tat, dass das Verfahren auf Zugang zu den vom NRSAS aufbewahrten Akten in deren Statuten in strikter Weise geregelt wird. Die Bf wurden in der Folge vom NRSAS darüber informiert, dass sie die für den Zugang erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt hätten. Einem wohletablierten [rumänischen] Rechtsprinzip zufolge ist nun aber allgemeines Recht – wie das von der Regierung erwähnte Gesetz Nr 544/2001 – auf bestehende Spezialregelungen betreffend dieselben Angelegenheiten nicht anzuwenden. Darüber hinaus legte die Regierung keinerlei Beispiele für Gerichtsentscheidungen vor, in denen der NRSAS angewiesen worden wäre, Zugang zu den Akten in ähnlichen Situationen wie sie die Bf vorfanden zu gewähren.

(130) [...] Die Einrede der Regierung wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe ist daher als unfundiert zurückzuweisen.

Schlussfolgerungen zur Zulässigkeit der Beschwerde

(131) Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Er ist daher für zulässig zu erklären (mehrstimmig).

In der Sache

(144) Im vorliegenden Fall brachten die Bf vor, sich wegen der Abänderung historischer und gerichtlich erwiesener Fakten erniedrigt und traumatisiert zu fühlen, was ihrer Meinung nach Folge der Abstreitung der Existenz ethnisch motivierter Gewalt sei, der sie während des Holocausts zum Opfer gefallen seien.

(145) Die Regierung ist bereit zu akzeptieren, dass der Freispruch von Personen, die wegen im Zusammenhang mit dem Holocaust stehenden Verbrechen verurteilt worden waren, zu öffentlichen Kontroversen geführt und Überlebende des Holocausts wie die Bf verstört haben mochte. Sie ist jedoch der Ansicht, dass die Kontroversen in Wahrheit ihre Ursache in der historisch gewachsenen Politik der fraglichen Zeit gehabt hätten und dass die Freisprüche notwendig gewesen wären, um prozessuale Unfairness zu korrigieren.

(146) Dazu ist seitens des GH Folgendes festzuhalten: In Entsprechung von völkerrechtlichen Verpflichtungen schufen die rumänischen Behörden 1945 eine Kommission, die hinsichtlich mutmaßlich begangener Kriegsverbrechen Beweismaterial sammelte. Mehrere Jahre später, nämlich 1951, bereitete – ausgehend von den von der Kommission gesammelten Beweisen – die Staatsanwaltschaft beim Bukarester Rechtsmittelgericht eine strafrechtliche Anklage vor, auf deren Grundlage R. D. und G. P. [...] von den ordentlichen Gerichten [...] verurteilt wurden. Auch unter der Annahme, dass die Kommission – wie von der Regierung behauptet – nicht aus Offizieren des Gerichts oder Personen mit juristischer Erfahrung zusammengesetzt war, führten [...] Offiziere des Gerichts (Staatsanwaltschaft sowie Straf- und Militärgerichte) in Bezug auf R. D. und G. P. eine strafrechtliche Untersuchung durch und klagten sie an bzw verurteilten sie gemäß dem zum damaligen Zeitpunkt geltenden Recht. Ein Verfahren vor dem Volksgerichtshof fand nicht statt.

(147) [...] Nach den 1953 und 1957 ergangenen rechtskräftigen Verurteilungen [der beiden Männer] [...] machte der rumänische Generalanwalt in den 1990er Jahren Gebrauch von einem außerordentlichen Rechtsbehelf, der ausschließlich ihm zur Verfügung stand und in Abwesenheit von R. D. und G. P. (die mittlerweile verstorben waren) ergriffen wurde. Er ersuchte die Gerichte um Wiederaufnahme des Strafverfahrens und um Freispruch der zwei Offiziere von den Verbrechen, wegen derer sie verurteilt worden waren. Er gab jedoch keine Gründe für sein Begehren an.

(148) Bezugnehmend auf dieselben Beweise, die den Verurteilungen aus 1953 und 1957 zugrunde lagen, sprach der Oberste Gerichtshof zuerst R. D. frei, da er die Ansicht vertrat, dass dieser lediglich Befehle von höherrangigen Offizieren befolgt hatte. Hinsichtlich dieses Punkts möchte der GH anmerken, dass gemäß den Regeln des humänitären Völkergewohnheitsrechts eine von einem Vorgesetzten angeordnete Handlung im Kontext von Kriegsverbrechen nicht als Vorwand für deren Begehung dienen darf [...]. In der Folge sprach der Oberste Gerichtshof auch G. P. frei. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Sektion 2 des Generalstabs der rumänischen Armee (wo G. P. seinen Dienst verrichtete) weder am Iași-Pogrom noch an der Deportation von Juden und ihrer Verbringung in Ghettos beteiligt gewesen sei. Diese Schlussfolgerung wiedersprach jedoch dem Befund des Obersten Gerichtshofs, was R. D.s vorherigen Freispruch anging. Dieser war unmittelbarer Vorgesetzter von G. P. und wirkte – wie die Sektion 2 des Generalstabs der rumänischen Armee, der er vorstand – an der Verbringung von Juden in Ghettos und Konzentrationslagern mit. Sein Vorgehen wurde von seiner Verteidigung damit gerechtfertigt, dass er lediglich Befehle von einem Vorgesetzten befolgt hätte. Die Schlussfolgerungen, zu denen der Oberste Gerichtshof in dem zum Freispruch von R. D. und G. P. führenden Strafverfahren gelangte, widersprach auch ihren Stellungnahmen vor den Gerichten im ursprünglichen Verfahren aus 1953, demzufolge R. D. in keinerlei Maßnahmen gegen Juden verwickelt gewesen sei, während G. P. vorbrachte, er habe sich bloß an die von R. D. gegebenen Anweisungen gehalten.

(149) Der GH ist der Ansicht, dass die Schlussfolgerungen des Obersten Gerichtshofs, die zu den Freisprüchen aus 1998 und 1999 führten (nämlich, dass die deutschen Truppen alleine am Iași-Pogrom und an der Verbringung von rumänischen Juden in Ghettos und ihrer anschließenden Deportation beteiligt waren) auch sowohl den noch in den ursprünglichen Verurteilungsakten enthaltenen schriftlichen Beweisen als auch den vom Obersten Gerichtshof gezogenen eigenen Schlüssen widersprechen. Demnach habe die Verbringung von Juden in Ghettos zwecks anschließender Deportation auf einer Liste von Namen basiert, die vom rumänischen Geheimdienst und der Gendarmerie angelegt worden war. Indem er zu dem Schluss gelangte, dass das Iași-Pogrom, die Verbringung von rumänischen Juden in Ghettos und ihre anschließende Deportation lediglich von den Deutschen organisiert und durchgeführt worden wären, übersah der Oberste Gerichtshof auch den historischen Hintergrund, traf doch die rumänische Regierung zum damaligen Zeitpunkt »höchstpersönlich« antisemitische Maßnahmen.

(150) Im Zuge der Prüfung der [von den rumänischen Gerichten vorgebrachten] Gründe für die Freisprüche aus 1998 und 1999 vom Kontext der international akzeptierten Definition der Leugnung und verzerrten Darstellung des Holocausts aus gesehen ist seitens des GH festzuhalten, dass die Schlussfolgerungen des Obersten Gerichtshofs (nämlich dass nur deutsche Truppen auf rumänischem Territorium Maßnahmen gegen Juden ergriffen hätten und R. D. lediglich Befehle von einem Vorgesetzten befolgt habe) objektiv gesehen als Vorwand oder Versuch angesehen werden müssen, sich aus der Verantwortung zu stehlen und einer anderen Nation die Schuld für den Holocaust zuzuschieben – und zwar entgegen klar erwiesener historischer Fakten. Alle Elemente der Leugnung und verzerrten Darstellung des Holocausts sind daher gegeben.

(151) Zu diesem Punkt möchte der GH seine umfangreiche Rsp zu Fällen der freien Meinungsäußerung im Zusammenhang mit öffentlichen Äußerungen in Erinnerung rufen, in denen die Existenz des Holocausts abgestritten wurde oder andere Stellungnahmen zu Nazi-Verbrechen erfolgten, und auch zu Äußerungen oder Publikationen, in denen eine ethnische Gruppe oder das Ansehen von Vorfahren verunglimpft wurden (siehe dazu insb Perinçek/CH, Rz 200–225 und Pastörs/DE, Rz 36–38). In diesen Fällen hielt der GH fest, dass Staaten, die den Nazi-Horror miterleben mussten, im Lichte ihrer historischen Rolle und Erfahrungen eine spezielle moralische Verantwortung zukomme, sich von den abscheulichen Massenverbrechen der Nazis zu distanzieren (siehe Perinçek/CH, Rz 242–243 und Pastörs/DE, Rz 48). Auf diesen Schlussfolgerungen fußend kam der GH in den oben erwähnten Fällen zu dem Ergebnis, dass Äußerungen (die von den innerstaatlichen Gerichten als Abstreitung des Ausmaßes der massenhaften Auslöschung von Juden [...] verstanden wurden) die Würde von Juden dermaßen beeinträchtigt hatten, dass sie nach einer strafrechtlichen Antwort verlangten. Mit der Verhängung einer bedingt nachgesehenen achtmonatigen Freiheitsstrafe, die der Urheber der fraglichen Äußerungen erhielt, hatten die Behörden somit ihren Ermessensspielraum nicht überschritten (siehe Pastörs/DE, Rz 48). Obwohl es in den oben zitierten Fällen, die antisemitische Äußerungen oder die Leugnung des Holocausts betrafen, zu einer Abwägung zwischen miteinander konkurrierenden Konventionsrechten von Privatpersonen kam, vertritt der GH die Auffassung, dass diese Prinzipien auch auf den gegenständlichen Fall, bei dem es zu mußmaßlich diskriminierenden Handlungen von staatlichen Gerichten kam, anzuwenden sind.

(152) Was den internationalen Kontext rund um die anfänglichen Verurteilungen und die nachfolgenden Freisprüche angeht, wurde Rumänien gemäß dem mit den USA, dem Vereinigten Königreich und der Sowjetunion 1945 unterzeichneten Waffenstillstandsabkommen dazu verpflichtet, alle faschistischen Organisationen auf seinem Staatsgebiet zu verbieten, diskriminierende Gesetze und Maßnahmen aufzuheben und Kriegsverbrecher zu ergreifen und vor Gericht zu stellen. Eine Pflicht, der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit [...] verdächtige Personen habhaft zu werden, sie strafrechtlich zu verfolgen und vor Gericht zu stellen, existierte – und existiert noch – gemäß Völkerrecht im Allgemeinen; diese Pflicht geht aus verschiedenen internationalen Dokumenten und den Regeln des humanitären Völkergewohnheitsrechts hervor. [...]

(153) Zur behaupteten Unterlassung, die Öffentlichkeit oder die Bf über den [vom Generalanwalt] eingebrachten Wiederaufnahmebehelf und die Freisprüche zu informieren, ist der GH wie die Bf der Ansicht, dass die Wiederaufnahmeverfahren unzweifelhaft eine Angelegenheit von höchstem öffentlichen Interesse – nämlich die Verantwortung für den Holocaust – betraf. Folglich hätten die allgemeine Öffentlichkeit und daher auch die Bf (als Überlebende des Holocausts) mit den Verfahren und ihrem Ausgang vertraut gemacht werden müssen. Zudem ist internationalen Prinzipien, die bereits zum Zeitpunkt der Wiederaufnahmeverfahren existierten, zu entnehmen, dass Opfer von Verbrechen über die Tatsache informiert werden müssen, dass ein Verfahren eingeleitet wurde. Sie sind auch über die Fortschritte in ihrem Fall zu informieren und müssen Zugang zu den Gerichten und zu angemessener rechtlicher Vertretung haben. Ungeachtet dessen muss der GH feststellen, dass ihm keine Beweise vorgelegt wurden, dass bis zur 2016 abgehaltenen Konferenz des Eli Wiesel-Instituts auch nur irgendeine öffentliche Benachrichtigung erfolgt wäre oder sich eine öffentliche Debatte über die strittigen Verfahren entzündet hätte. Ferner wurden die sich auf die ursprünglichen Verurteilungen aus 1953 und 1957 und die Wiederaufnahmeverfahren beziehenden Akten vom Geheimdienst sogar bis nach dem Fall des kommunistischen Regimes und nachfolgend vom NRSAS aufbewahrt. Zu diesen Akten hatten auswärtige Personen nur eingeschränkten Zugang. Überdies wurden die ersten Versuche der Bf, Zugang zu den besagten Akten zu erhalten, von den zuständigen Behörden ohne Angabe einer vernünftigen Begründung dafür zurückgewiesen. Zwar [...] wurde den Bf schließlich Zugang zu den Akten gewährt, allerdings geschah dies erst nach erfolglosen Versuchen. Zu keiner Zeit fand auch eine offizielle öffentliche Erklärung oder Debatte über den – ohne Anführung irgendwelcher relevanter Gründe gestellten – Antrag des Generalanwalts auf Wiederaufnahme der Strafverfahren oder hinsichlich der nachfolgenden Freisprüche statt.

(154) Zusammenfassend ist festzustellen, dass die rumänischen Behörden die Freisprüche der Öffentlichkeit niemals offiziell zur Kenntnis brachten. Die Bf stießen durch Zufall auf diese – viele Jahre, nachdem sie erfolgt waren. Dazu kommt, dass die Urteile als Ergebnis der 1998 und 1999 wiederaufgenommenen Strafverfahren der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren und den Bf anfänglich der Zugang zu diesen Urteilen verweigert worden war. Nach Ansicht des GH vermochten diese Elemente in Verbindung mit den vom Obersten Gerichtshof gezogenen Schlussfolgerungen und den Beweggründen, die ihn zu seinen Freispruchsentscheidungen veranlassten, in den Bf berechtigterweise Gefühle von Erniedrigung und Verwundbarkeit hervorrufen, was zu psychischen Traumata führen musste.

(155) Vorgehende Erwägungen reichen dem GH aus, um zum Schluss zu gelangen, dass es – im Lichte des Falls als Ganzes betrachtet – die innerstaatlichen Gerichte verabsäumten, relevante und ausreichende Gründe für die Abänderung von in der Vergangenheit liegenden Verurteilungen wegen mit dem Holocaust verbundenen Verbrechen anzuführen, obwohl ihnen dafür keine neuen Beweise vorlagen. Indem sie historisch erwiesene Fakten neu interpretierten, kam es zur Leugnung der Verantwortung von Armeeoffizieren für den Holocaust (in Widerspruch zu völkerrechtlichen Prinzipien). Die Handlungen der Gerichte waren daher überschießend und können nicht als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gerechtfertigt werden.

(156) Folglich hat eine Verletzung von Art 8 iVm Art 14 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Zu weiteren gerügten Konventionsverletzungen

(157) Die Bf beklagen sich darüber, dass die Weigerung der Gerichte, ihnen Zugang zu den Akten betreffend die Wiederaufnahmeverfahren zu ermöglichen, ihr Recht auf Zugang zu einem Gericht iSv Art 6 Abs 1 EMRK verletzt habe. Die umstrittene Haltung der Behörden habe auch eine Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft entgegen [...] Art 1 12. ZPEMRK dargestellt.

(158) [...] Diese Rügen entsprechen weder den in Art 34 und 35 EMRK festgelegten Zulässigkeitskriterien noch offenbaren sie den Anschein einer Verletzung der in der Konvention und ihren Protokollen enthaltenen Rechte und Freiheiten. Sie müssen daher für unzulässig erklärt werden (einstimmig).

Entschädigung nach Art 41 EMRK

Die Bf stellten keinen Antrag auf Zuspruch von materiellem und immateriellem Schadenersatz. € 8.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Šilih/SL, 9.4.2009, 71463/01 (GK) = NLMR 2009, 100

L. Z./SK, 27.9.2011, 27753/06 (ZE)

Janowiec ua/RU, 21.10.2013, 55508/07 ua (GK) = NLMR 2013, 352

Mocanu ua/RO, 17.9.2014, 10865/09 ua (GK) = NLMR 2014, 373

Perinçek/CH, 15.10.2015, 27510/08 (GK) = NLMR 2015, 435

Nix/DE, 13.3.2018, 35285/16 (ZE)

Pastörs/DE, 3.10.2019, 55225/14 = NLMR 2019, 418

Lewit/AT, 10.10.2019, 4782/18 = NLMR 2019, 398

Makuchyan and Minasyan/AZ und HU, 26.5.2020, 17247/13 = NLMR 2020, 170

Behar und Gutman/BG, 16.2.2021, 29335/13 = NLMR 2021, 77

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.4.2024, Bsw. 42917/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 154) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.