Bsw39371/20 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Duarte Agostinho ua gg Portugal, Zulässigkeitsentscheidung vom 9.4.2024, Bsw. 39371/20.
Spruch
Art 1, 35 EMRK - Grenzen der extraterritorialen Hoheitsgewalt bezüglich der globalen Folgen des Klimawandels.
Unzulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die sechs zwischen 1999 und 2012 geborenen Bf leben in Portugal. Unter dem Eindruck der katastrophalen Waldbrände, die im Sommer 2017 in ihrer Heimat mehr als 60 Todesopfer gefordert hatten, entschlossen sie sich zur vorliegenden Beschwerde an den GH.
Sie fühlen sich schon jetzt durch die Auswirkungen des Klimawandels, die Portugal besonders schwer treffen, in ihrer Gesundheit und ihrer Lebensqualität beeinträchtigt. Sorge bereiten ihnen vor allem die immer häufiger auftretenden Hitzewellen, die Waldbrände begünstigen. Zudem macht ihnen die Aussicht auf die noch drohenden Folgen der Klimaveränderung in der Zukunft Angst. Die Gefahr sei real und erfordere sofortige Maßnahmen der Regierungen zur Reduktion der Treibhausgasemissionen. Sie machen die belangten Regierungen für den Klimawandel verantwortlich, weil sie noch immer keine ausreichenden Maßnahmen zum Klimaschutz ergreifen würden.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf behaupteten Verletzungen von Art 2 (Recht auf Leben), Art 3 (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), Art 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der Wohnung) sowie Art 14 EMRK (Diskriminierungsverbot). Sie brachten vor, die gegenwärtigen und schwerwiegenden künftigen Auswirkungen des Klimawandels, die den belangten Staaten zuzurechnen seien, würden sich auf ihr Leben, ihr Wohlbefinden, ihre psychische Gesundheit und die Annehmlichkeiten ihrer Heimat auswirken.
Vorbemerkungen
Zur Beschwerde gegen die Ukraine
(158) Die Bf teilten dem GH am 18.11.2022 mit, ihre Beschwerde [...] zurückziehen zu wollen, soweit sie sich gegen die Ukraine richtet. [...]
(160) [...] Soweit sich die Beschwerde auf die Ukraine bezieht, ist sie gemäß Art 37 Abs 1 lit a EMRK aus dem Register zu streichen (einstimmig).
Zur Beschwerde gegen Russland
(161) [...] Russland ist seit 16.9.2022 kein Mitglied der EMRK mehr. [...]
(162) [...] Wie der GH bereits festgestellt hat, bleibt er dafür zuständig, gegen Russland gerichtete Beschwerden zu behandeln, die sich auf [...] Handlungen und Unterlassungen vor dem 16.9.2022 beziehen. Wenn die Beschwerde aber eine »andauernde Situation« betrifft, die sich über [...] das Austrittsdatum hinaus erstreckt, fällt nur jener Teil in seine zeitliche Zuständigkeit, der sich vor diesem Datum ereignet hat.
(163) Dementsprechend ist der GH im vorliegenden Fall insoweit für die Behandlung der Beschwerde zuständig, als die von den Bf behaupteten Verletzungen vor dem 16.9.2022 eingetreten sind. Jedes Beschwerdevorbringen zu Russland, das sich auf die Zeit nach diesem Datum bezieht, ist hingegen ratione temporis unvereinbar mit [...] der Konvention [...].
Einleitende Bemerkungen zu den vom GH zu behandelnden rechtlichen Fragen
(166) Die vorliegende Rechtssache wurde von einer Gruppe junger Menschen angestrengt, die sich über bestehende und schwerwiegende künftige Auswirkungen des Klimawandels beschweren, die ihrem Heimatland Portugal und 32 anderen Staaten zurechenbar seien. Sie brachten vor, im Hinblick auf ihre auf den Klimawandel bezogene Beschwerde unter der Hoheitsgewalt iSv Art 1 EMRK aller dieser Staaten zu stehen. [...] Die Bf haben sich [...] in keinem der belangten Staaten an irgendeine Behörde gewandt oder versucht [...], sich irgendeines Rechtsmittels zu bedienen. [...]
(167) Der GH wird zunächst die Frage der Hoheitsgewalt behandeln. [...] Weiters wird er [...] sich der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zuwenden. Auf der Grundlage seiner Schlussfolgerungen [zu diesen Punkten] wird er dann prüfen, ob es notwendig ist, über die [...] Opfereigenschaft zu entscheiden [...].
Hoheitsgewalt
Allgemeine Grundsätze
(169) Wie der GH in M. N. ua/BE klarstellte, »begründet die bloße Tatsache, dass auf nationaler Ebene getroffene Entscheidungen Auswirkungen auf die Situation von im Ausland ansässigen Personen hatten, nicht die Hoheitsgewalt des betreffenden Staats über diese Personen«. Um zu entscheiden, ob die Konvention anwendbar ist, muss der GH prüfen, ob »außergewöhnliche Umstände« vorlagen, die zur Schlussfolgerung führen könnten, dass der betreffende Staat in Bezug auf die Bf extraterritoriale Hoheitsgewalt ausgeübt hat. [...]
(170) Die relevanten Grundsätze zur extraterritorialen Hoheitsgewalt wurden kürzlich von der GK in mehreren Staatenbeschwerdeverfahren klargestellt. [...] Die beiden Hauptkriterien [...] sind jene der »effektiven Kontrolle« des Staats über ein Gebiet (räumliches Konzept der Hoheitsgewalt) und jenes der »Befehlsgewalt und Kontrolle« (authority and control) über Personen durch staatliche Organe (personenbezogenes Konzept der Hoheitsgewalt).
Anwendung der obigen Grundsätze und Überlegungen zur vorliegenden Rechtssache
(177) Der GH wird die oben genannten Kriterien [...] der Reihe nach berücksichtigen, um zu entscheiden, ob im vorliegenden Fall die Hoheitsgewalt der belangten Staaten festgestellt werden kann.
Territoriale Hoheitsgewalt
(178) Die Bf sind alle Einwohner Portugals und fallen daher unter dessen territoriale Hoheitsgewalt. Daher muss Portugal gemäß Art 1 EMRK für alle ihm zurechenbaren Verletzungen ihrer durch die Konvention geschützten Rechte und Freiheiten Rechenschaft ablegen. [...] Die Frage der Verantwortlichkeit ist eine gesonderte Angelegenheit, die gegebenenfalls im Zuge der Prüfung in der Sache behandelt werden muss.
(179) Was die übrigen belangten Staaten betrifft, [...] gibt es keine Grundlage für die Feststellung ihrer territorialen Hoheitsgewalt hinsichtlich der Bf.
Extraterritoriale Hoheitsgewalt
(181) Nichts deutet darauf hin, dass einer der belangten Staaten in irgendeiner Weise effektive Kontrolle über ein außerhalb seines Territoriums befindliches Gebiet ausüben würde, wodurch die Bf in seine räumliche Hoheitsgewalt fielen.
(182) [...] Es kann nicht gesagt werden, dass einer der belangten Staaten Befehlsgewalt oder Kontrolle über die Bf ausüben würde [...]. Auf dieser Grundlage kann daher keine Hoheitsgewalt festgestellt werden.
(185) Während bestimmte »besondere Merkmale« den GH zur Schlussfolgerung führen können, dass ein Staat in einem konkreten Fall extraterritoriale Hoheitsgewalt ausübte, entspricht die vorliegende Beschwerde [...] eindeutig keinem jener Umstände, die in früheren Fällen die Feststellung extraterritorialer Hoheitsgewalt begründeten. Die bisherige Rsp bietet daher keine Grundlage dafür, extraterritoriale Hoheitsgewalt der belangten Staaten [...] anzunehmen.
(186) In ihren Stellungnahmen machten die Bf allerdings eine Reihe »außergewöhnlicher Umstände« und »besonderer Merkmale« zur Untermauerung ihres Arguments geltend, der GH solle die extraterritoriale Hoheitsgewalt der belangten Staaten über sie im spezifischen Kontext des Klimawandels feststellen.
(189) In Verein KlimaSeniorinnen Schweiz ua/CH erklärte der GH, warum Klimawandel-Fälle einige Besonderheiten aufweisen, die sie von »klassischen« Umwelt-Fällen unterscheiden. Er erläuterte auch, weshalb Klimawandel-Fälle besondere Fragen aufwerfen und verschiedene Anpassungen der stRsp des GH erfordern, um den Ansatz zu bestimmen, der hinsichtlich der negativen Folgen des Klimawandels für die Umwelt und die Konventionsrechte zu wählen ist.
(190) Der GH wird daher beurteilen, ob es – wie von den Bf vorgebracht – triftige Gründe für die Weiterentwicklung der stRsp zur extraterritorialen Hoheitsgewalt gibt und dabei die von ihnen geltend gemachten »außergewöhnlichen Umstände« und »besonderen Merkmale« berücksichtigen.
(191) Der GH anerkennt die folgenden, von den Bf hervorgehobenen Aspekte des Klimawandels.
(192) Erstens üben die Staaten die Letztkontrolle über private Aktivitäten, die Treibhausgase ausstoßen, auf ihren Territorien aus. In diesem Zusammenhang sind sie gewisse völkerrechtliche Verpflichtungen eingegangen, insb durch das Pariser Abkommen, die sie in ihren nationalen Rechtsordnungen und Strategien sowie in ihren nationalen Klimabeiträgen (Nationally Determined Contributions – NDCs) nach dem Pariser Abkommen weiterentwickelt haben. Wie der GH in KlimaSeniorinnen Schweiz ua/CH (Rz 544–554) dargelegt hat, erwachsen zudem aus der EMRK gewisse positive Verpflichtungen im Hinblick auf den Klimawandel.
(193) Zweitens besteht ein gewisser – wenn auch komplexer und vielschichtiger – Kausalzusammenhang zwischen öffentlichen und privaten Aktivitäten auf dem Gebiet eines Staats, die Treibhausgase verursachen, und den negativen Auswirkungen auf die Rechte und das Wohlergehen von Menschen, die jenseits der Grenzen [...] dieses Staats leben. Der Klimawandel ist ein globales Phänomen und jeder Staat trägt seinen Teil an Verantwortung für die damit einhergehenden [...] Herausforderungen [...].
(194) Drittens ist das Problem des Klimawandels von wahrlich existenzieller Bedeutung für die Menschheit, was ihn von anderen Ursache-Wirkung-Situationen unterscheidet. Die Gewinnung und Verbrennung von mehr fossilen Brennstoffen irgendwo auf der Welt über das von natürlichen Kohlendioxidsenken ausgleichbare Maß hinaus wird unvermeidbar zu höheren Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre führen und damit die globalen Auswirkungen des Klimawandels verschlimmern.
(195) Allerdings können diese Überlegungen nach Ansicht des GH für sich nicht als Grundlage dafür dienen, im Wege der gerichtlichen Auslegung einen neuen Grund für die extraterritoriale Zuständigkeit zu schaffen oder eine Erweiterung der bereits bestehenden zu rechtfertigen. Der GH wird sich nun den übrigen Argumenten der Bf zuwenden [...].
(196) Die Bf scheinen erstens vorzubringen, dass die Hoheitsgewalt vom Inhalt der positiven Verpflichtungen abhängen muss, die der GH ihrer Ansicht nach den Staaten angesichts der Schwere der Folgen des Klimawandels für ihre Konventionsrechte auferlegen soll.
(197) [...] Bei der Entscheidung über das Vorliegen extraterritorialer Hoheitsgewalt können die Konventionsrechte zu einem gewissen Grad »geteilt und zugeschnitten« (divided and tailored) werden. Zugleich hat der GH durchgehend daran festgehalten, dass für seine Zuständigkeit gemäß Art 19 EMRK [...] hinsichtlich einer behaupteten Verletzung zunächst nachgewiesen werden muss, dass die umstrittenen Umstände iSv Art 1 EMRK in die Hoheitsgewalt eines Mitgliedstaats fallen. Die Hoheitsgewalt iSv Art 1 EMRK wurde daher als [...] conditio sine qua non bezeichnet und festgestellt, dass die Frage, ob der Fall in die Hoheitsgewalt des belangten Staats fällt, [...] beantwortet werden muss, bevor eine Prüfung [...] in der Sache stattfinden kann.
(198) Zudem findet sich in der Rsp des GH keine Unterstützung für das Argument, die Verpflichtungen des Staats gemäß einem bestimmten Artikel der EMRK oder hinsichtlich einer bestimmten Angelegenheit [...] würden vom Staat verlangen, die Konvention auf die Situation von Personen anzuwenden, die sich nicht unter seiner Hoheitsgewalt befinden. Der GH hält es nicht für möglich, dass die vorgeschlagenen positiven Verpflichtungen der Staaten auf dem Gebiet des Klimawandels ein ausreichender Grund für die Feststellung sein könnten, der Staat übe Hoheitsgewalt über Personen aus, die sich weder auf seinem Staatsgebiet befinden noch sonst unter seiner Befehlsgewalt und Kontrolle stehen.
(199) Wichtig ist auch anzumerken, dass [...] keine besondere Verbindung zwischen den Bf und irgendeinem der belangten Staaten (außer Portugal) besteht, die dem GH die Feststellung erlauben würde, irgendeine der positiven Verpflichtungen, die den Staat treffen könnte, müsse hinsichtlich der konkreten Situation der Bf ausgeübt werden. [...]
(201) Zweitens ist in Bezug auf die Argumente der Bf [...] zunächst festzustellen, dass die EMRK nicht dazu gedacht ist, den allgemeinen Schutz der Umwelt zu gewährleisten, und dass andere internationale Instrumente und die innerstaatliche Gesetzgebung speziell auf diese Angelegenheit zugeschnitten sind. Die Bf forderten den GH dazu auf, die extraterritoriale Hoheitsgewalt festzustellen, um Klimaklagen zu erleichtern [...]. Dies zu akzeptieren würde jedoch ein radikales Abgehen vom Grundgedanken des Rechtsschutzprinzips der Konvention bedeuten, das auf den Prinzipien der territorialen Hoheitsgewalt und der Subsidiarität beruht.
(202) Die Bf brachten auch vor, die Beschwerde nur gegen Portugal zu richten wäre von beschränkter Wirksamkeit gewesen. Sie hätten kein anderes Mittel, um die belangten Staaten für die Auswirkungen des Klimawandels auf ihre Konventionsrechte zur Rechenschaft zu ziehen. Der GH bekräftigt, dass Hoheitsgewalt von der Frage der Verantwortung zu unterscheiden ist [...]. Auch wenn der Klimawandel ohne Zweifel ein globales Phänomen ist, das von der Staatengemeinschaft auf globaler Ebene behandelt werden sollte, bemerkt der GH überdies, dass jeder Staat seinen eigenen Anteil an der Verantwortung dafür hat, Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels zu ergreifen [...]. Daher besteht weder ein Risiko eines Vakuums im Schutz der Konventionsrechte noch kann es in diesem Kontext eine Straflosigkeit irgendeines der belangten Staaten geben. [...]
(203) Dementsprechend kann das Vorbringen der Bf bezüglich des begrenzten Anteils der Verantwortlichkeit Portugals für den Klimawandel [...] nicht als Grundlage für die Annahme anerkannt werden, die Hoheitsgewalt der 31 anderen Staaten müsse festgestellt werden.
(204) Drittens [...] brachten die Bf vor, der für die Feststellung der Hoheitsgewalt relevante Test müsse sich auf die »Kontrolle über die durch die Konvention geschützten Interessen der Bf« beziehen. [...]
(205) [...] Nach der stRsp des GH erfordert extraterritoriale Hoheitsgewalt iSv Art 1 EMRK die Kontrolle über die Person selbst und nicht bloß über deren Interessen. [...] Es gibt in der Rsp keine Unterstützung für ein Kriterium wie die »Kontrolle über die durch die Konvention geschützten Interessen« als Grundlage für extraterritoriale Hoheitsgewalt. Nach Ansicht des GH kann der Umfang der extraterritorialen Hoheitsgewalt nicht in dieser Weise ausgedehnt werden, was ein radikales Abgehen von den Grundsätzen des Art 1 EMRK mit sich bringen würde.
(206) Das Heranziehen der »Kontrolle über die durch die Konvention geschützten Interessen« als Kriterium für die Feststellung der extraterritorialen Hoheitsgewalt würde insb eine problematische Unvorhersehbarkeit der Reichweite der EMRK nach sich ziehen. Angesichts der [...] vielfältigen Dimensionen des Klimawandels könnte beinahe jede vom Klimawandel nachteilig betroffene Person, egal wo auf der Welt sie deren Auswirkungen spürt, im Hinblick auf die Handlungen oder Unterlassungen eines jeden Mitgliedstaats zur Bewältigung des Klimawandels in dessen Hoheitsgewalt iSv Art 1 EMRK fallen. Eine solche Haltung kann nicht mit der Konvention vereinbart werden. Der Vorschlag [...], eine solche Erstreckung der Hoheitsgewalt auf den Rechtsraum der Konvention zu beschränken [...], vermag ebenso wenig zu überzeugen. Angesichts der Natur des Klimawandels einschließlich seiner Ursachen und Wirkungen wäre eine Ausdehnung der extraterritorialen Hoheitsgewalt anhand dieses Kriteriums gekünstelt und schwer zu rechtfertigen.
(207) Wichtig ist auch anzumerken, dass sich die Quellen von Treibhausgasemissionen nicht auf spezifische Aktivitäten beschränken, die als gefährlich angesehen werden könnten. Die Hauptverursacher liegen in Bereichen wie Industrie, Energie, Verkehr, Wohnen, Bauwesen und Landwirtschaft [...]. Die Bekämpfung des Klimawandels durch eine Reduktion der Treibhausgasemissionen an ihrer Quelle ist folglich primär eine Angelegenheit der Ausübung territorialer Hoheitsgewalt. Die schädlichen Folgen der Emissionen [...] resultieren hingegen aus einer sowohl komplexen als auch in zeitlicher und örtlicher Sicht unvorhersehbaren Wirkungskette, weshalb sie besonders diffus sind. Dies macht es schwierig, die jeweiligen Beiträge der Emissionen zu den negativen Folgen im Ausland festzustellen. Der von den Bf geforderte Umfang der extraterritorialen Hoheitsgewalt hätte im Ergebnis keine erkennbaren Grenzen.
(208) Die extraterritoriale Hoheitsgewalt der Vertragsstaaten im Bereich des Klimawandels anhand des Kriteriums der »Kontrolle über die durch die Konvention geschützten Interessen« [...] zu erweitern würde zusammengefasst für die Staaten zu einem untragbaren Maß an Unsicherheit führen. [...] Den Argumenten der Bf zu folgen würde eine unbegrenzte Ausdehnung der extraterritorialen Hoheitsgewalt [...] und der Verantwortlichkeiten nach der EMRK gegenüber irgendwo auf der Welt lebenden Menschen bedeuten. Dies würde die EMRK in einen globalen Klimaschutzvertrag verwandeln. Eine derartige [...] Ausdehnung ihres Geltungsbereichs findet in der Konvention keine Stütze.
(210) Der GH hat die mögliche Relevanz der Präambel des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen beachtet, wonach Staaten die Pflicht haben, »dafür zu sorgen, dass durch Tätigkeiten, die innerhalb ihres Hoheitsbereichs oder unter ihrer Kontrolle ausgeübt werden, der Umwelt in anderen Staaten oder in Gebieten außerhalb der nationalen Hoheitsbereiche kein Schaden zugefügt wird«. [...] Zudem hat er den Zugang des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Kinderrechtsausschusses [...] zur Kenntnis genommen.
(211) Allerdings bietet dieses Material nach Ansicht des GH keine Unterstützung für die Feststellung der extraterritorialen Hoheitsgewalt der Staaten nach der EMRK in der von den Bf vorgeschlagenen Weise [...].
(213) In Anbetracht der obigen Überlegungen [...] sieht der GH in der Konvention keinen Grund dafür, die extraterritoriale Hoheitsgewalt der belangten Staaten im Wege der gerichtlichen Auslegung in der von den Bf geforderten Weise auszudehnen.
(214) Folglich wird im Hinblick auf Portugal territoriale Hoheitsgewalt festgestellt, wohingegen bezüglich der übrigen belangten Staaten keine Hoheitsgewalt vorliegt. Soweit sie sich gegen die anderen belangten Staaten richtet, muss die Beschwerde [...] daher als unzulässig [...] zurückgewiesen werden (einstimmig).
Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe
(217) [...] Die Bf beschritten in Portugal keinen ihre Rügen betreffenden Rechtsweg. [...]
(219) [...] Es gibt nicht nur eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Anerkennung des Rechts auf eine gesunde und ökologisch ausgewogene Umwelt, sondern diese Verfassungsbestimmung ist direkt anwendbar und kann vor den innerstaatlichen Gerichten durchgesetzt werden. Das portugiesische Rechtssystem sieht auch die Möglichkeit einer actio popularis vor, mit der ein Kläger (ohne ein unmittelbares Interesse an der Klage nachzuweisen) ein bestimmtes Verhalten der Verwaltungsbehörden unter anderem hinsichtlich des Umweltschutzes [...] einfordern kann.
(220) [...] § 7 Abs 1 des Gesetzes Nr 19/2014 (Umweltpolitischer Rahmen) gewährt jedermann das Recht auf vollen und wirksamen Schutz seiner Rechte und Interessen in Umweltangelegenheiten und § 7 Abs 2 sieht auch die Möglichkeit einer actio popularis vor. [...]
(221) Das oben genannte verfassungsgesetzliche Recht auf eine gesunde und ökologisch ausgewogene Umwelt wird außerdem als Teil der allgemeinen Persönlichkeitsrechte angesehen. Dieses Recht kann [...] mit einer zivilrechtlichen Klage durchgesetzt werden, die zu einer Prävention der fraglichen Bedrohung oder einer Milderung bereits eingetretener Schäden führen kann.
(222) Überdies sieht das innerstaatliche Recht eine zivilrechtliche Schadenersatzklage [...] gegen den Staat vor, mit der durch rechtswidrige Handlungen oder Unterlassungen [...] verursachte Schäden geltend gemacht werden können. [...]
(223) Das portugiesische Rechtssystem sieht auch verwaltungsrechtliche Rechtsbehelfe vor, mit denen die Verwaltungsgerichte aufgefordert werden können, die Verwaltung zu Maßnahmen zu verpflichten, die sich unter anderem auf die Umwelt und die Lebensqualität beziehen.
(224) [...] Wie die innerstaatliche Rsp zeigt [...], sind Umweltklagen heute eine Realität, [...] auch wenn bislang keine sich konkret auf den Klimawandel beziehende Rechtssache entschieden wurde.
(226) In Anbetracht der obigen Überlegungen und der Umstände des Falls insgesamt ist nicht von besonderen Gründen dafür auszugehen, die Bf von der Voraussetzung der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe [...] zu befreien. Hätten die Bf dieser Anforderung entsprochen, hätte dies den nationalen Gerichten die Möglichkeit gegeben [...], die Frage der Vereinbarkeit der umstrittenen innerstaatlichen Maßnahmen oder Unterlassungen mit der EMRK zu prüfen. Im Fall einer anschließenden Beschwerde an den GH hätte dieser von den Sachverhaltsfeststellungen und rechtlichen Ausführungen der nationalen Gerichte profitieren können. Die Bf verabsäumten es somit angemessene Schritte zu setzen, um den innerstaatlichen Gerichten die Erfüllung ihrer grundlegenden Rolle im Rechtsschutzsystem der EMRK zu gestatten, gegenüber welcher jene des GH subsidiär ist.
(227) Die gegen Portugal gerichtete Beschwerde ist folglich wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe unzulässig und muss [...] zurückgewiesen werden (einstimmig).
Opfereigenschaft
(229) [...] Was die individuelle Situation der Bf betrifft, besteht ein erheblicher Mangel an Klarheit, was es schwierig macht zu prüfen, ob sie die in KlimaSeniorinnen Schweiz ua/CH (Rz 478–488) dargelegten Kriterien der Opfereigenschaft erfüllen.
(230) Diese fehlende Klarheit kann aus Sicht des GH insb durch das Versäumnis der Bf erklärt werden, der Verpflichtung zu entsprechen, die innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erschöpfen. Diese Zulässigkeitsvoraussetzung ist eng verbunden mit der Frage der Opfereigenschaft, insb hinsichtlich genereller Maßnahmen wie jener, die sich auf den Klimawandel beziehen. Jedenfalls ist die Beschwerde aus den oben genannten [...] Gründen unzulässig. Unter diesen Umständen wird der GH nicht weiter prüfen, ob die Bf behaupten können, Opfer iSv Art 34 EMRK zu sein.
Vom GH zitierte Judikatur:
M. N. ua/BE, 5.5.2020, 3599/18 (ZE der GK) = NLMR 2020, 163 = EuGRZ 2020, 538
Georgien/RU (II), 21.1.2021, 38263/08 (GK) = NLMR 2021, 20
Ukraine und Niederlande/RU, 30.11.2022, 8019/16, 43800/14, 28525/20 (ZE der GK) = NLMR 2023, 13
Verein KlimaSeniorinnen Schweiz ua/CH, 9.4.2024, 53600/20 (GK) = NLMR 2024, 106
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 9.4.2024, Bsw. 39371/20, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 91) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.