Bsw10103/20 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Sieć Obywatelska Watchdog Polska gg Polen, Urteil vom 21.3.2024, Bsw. 10103/20.
Spruch
Art 10 EMRK - Weigerung der Gerichte, einer NGO Sitzungsprotokolle über Treffen von Richter*innen zu übermitteln.
Zulässigkeit der Beschwerde (mehrstimmig).
Verletzung hinsichtlich den Sitzungsprotokollen von Art 10 EMRK (6:1 Stimmen).
Keine Verletzung hinsichtlich Besuchsverzeichnis von Art 10 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK: Die Bf stellte keinen Antrag auf ein Entschädigung für materiellen und immateriellen Schaden. Der Antrag auf Ersatz der Kosten und Auslagen wird wegen fehlender Substantiierung zurückgewiesen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Bei der Bf handelt es sich um eine polnische NGO, die für Transparenz und eine verantwortungsvolle Regierungsführung eintritt.
2017 zirkulierten Medienberichte über mutmaßliche Treffen zwischen Frau J. Przyłębska und Herrn M. Muszyński, der Präsidentin bzw des Vizepräsidenten des polnischen Verfassungsgerichtshofs, und dem Minister für die Koordination der Fachdienste, Herrn M. Kamiński. Zu diesem Zeitpunkt verhandelte der Verfassungsgerichtshof gerade über einen Antrag des Generalstaatsanwalts auf Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit gewisser Teile des innerstaatlichen Strafverfahrensrechts bezüglich Begnadigung von Straftätern durch den polnischen Staatspräsidenten. Der Antrag bezog sich auf frühere Handlungen von Herrn Kamiński in seiner Eigenschaft als Regierungsbeamter. Eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs über diese Sache hätte nämlich den Ausgang eines gegen ihn angestrengten Strafverfahrens beeinflusst.
Am 6.7.2017 ersuchte die Bf den Verfassungsgerichtshof um Offenlegung von Informationen betreffend Sitzungsprotokollen von Richterin Przyłębska und Richter Muszyński ab dem 1.1.2017, insoweit diese die Wahrnehmung von gerichtlichen Pflichten betrafen. Sie bat auch um die Übermittlung eines Verzeichnisses aller Personen, die das Gebäude des Verfassungsgerichtshofs seit 2017 betreten und verlassen hatten.
Am 9.8.2017 wurde die Bf vom Pressebüro des Verfassungsgerichtshofs darüber in Kenntnis gesetzt, dass ein Sitzungsprotokoll ein amtliches Dokument darstelle und es sich hierbei gemäß den Bestimmungen des Gesetzes über den Zugang zu öffentlichen Informationen vom 6.9.2001 um keine öffentliche Information handle. Was ihr weiteres Begehren angehe, werde vom Verfassungsgerichtshof kein Verzeichnis über das Betreten und Verlassen seiner Räumlichkeiten geführt.
In der Folge wandte sich die Bf an das regionale Verwaltungsgericht mit dem Antrag, der Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs die Herausgabe der begehrten Informationen aufzutragen. Letzteres wies die Beschwerde mit der Begründung ab, bei den strittigen Sitzungsprotokollen handle es sich, insoweit sie die Ausübung beruflicher Pflichten beträfen, um ein internes – nicht amtliches – Dokument. Diese könnten nicht als öffentliche Information charakterisiert werden, werde doch damit kein Tätigwerden des Verfassungsgerichtshofs vorgeschrieben. Ferner gehe aus der Rsp der Verwaltungsgerichte hervor, dass ein Besuchsverzeichnis nicht zu den Tätigkeiten des Verfassungsgerichtshofs gehöre und folglich keine öffentliche Information enthalte.
Dagegen erhob die Bf Beschwerde beim Obersten Verwaltungsgericht, in der sie vorbrachte, die Ansicht der Gerichte, Sitzungsprotokolle und Besuchsverzeichnisse würden keine öffentliche Informationen enthalten, beruhe auf einer inkorrekten Interpretation der einschlägigen Gesetzesbestimmungen.
Mit Urteil vom 18.6.2019 wies Letzteres die Beschwerde der Bf ab. Es schloss sich der Rechtsansicht des regionalen Verwaltungsgerichts zu den Sitzungsprotokollen zur Gänze an, zum Besuchsverzeichnis führte es aus, dass dieses lediglich der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung im Gerichtsgebäude diene.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf behauptet eine Verletzung ihrer durch Art 10 EMRK garantierten Rechte (hier: Informationsfreiheit) durch die Verweigerung des Zugangs zu den vom Verfassungsgerichtshof erbetenen Informationen.
Zur behaupteten Verletzung von Art 10 EMRK
Zulässigkeit
(22) Die Regierung brachte vor, die Bf habe es verabsäumt darzulegen, dass sie einen erheblichen Nachteil oder einen signifikanten Schaden finanzieller oder immaterieller Natur erlitten habe. Die vorliegende Beschwerde möge daher wegen Fehlens eines erheblichen Nachteils für unzulässig erklärt werden. [...]
Liegt ein erheblicher Nachteil vor?
(26) [...] Der vorliegende Streitpunkt ist unbestrittenermaßen von subjektiver Bedeutung für die Bf, deren Hauptaktivitäten im Sammeln von Informationen bestehen, die mit der Öffentlichkeit geteilt werden und zu einer öffentlichen Debatte beitragen. Die Entscheidung, ihr den Zugang zu [...] Informationen zu verweigern, untergrub somit den Kernpunkt ihrer Aktivitäten. Zur Frage, was objektiv gesehen auf dem Spiel stand, ist darauf hinzuweisen, dass der Fall mediale Aufmerksamkeit erregte und die Frage betraf, ob die Sitzungsprotokolle der Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs als öffentliche Information zu charakterisieren waren, die einer als »öffentlicher Wachhund« agierenden NGO zugänglich gemacht werden sollten. [...] Der GH möchte auch die objektive Wichtigkeit des Zugangs von NGOs zu Informationen hervorheben, die von Bedeutung für die Öffentlichkeit sind.
(27) Was die Frage angeht, ob die Beachtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und ihren Protokollen festgelegt sind, eine Prüfung der Beschwerde in der Sache erfordert, erinnert der GH daran, dass der vorliegende Fall Fragen aufwirft, die weder auf nationaler noch auf Konventionsebene unwesentlich sind.
(28) Angesichts des Vorgesagten kommt der GH zu dem Ergebnis, dass das Erfordernis des Art 35 Abs 3 lit b EMRK, nämlich das Fehlen eines erheblichen Nachteils für die Bf, im gegenständlichen Fall nicht erfüllt wurde. Die Einrede der Regierung ist daher zu verwerfen.
Ist Art 10 EMRK auf den vorliegenden Fall anwendbar?
(29) Im gegenständlichen Fall geht es um die wesentliche Frage, ob Art 10 EMRK derart interpretiert werden kann, dass er der Bf ein Recht auf Zugang zu von im Besitz von Behörden befindlichen Informationen garantiert. Der GH ist daher aufgerufen, über die Frage zu entscheiden, ob die Verweigerung des Zugangs zu den von der Bf erbetenen Informationen unter den Umständen des Falls einen Eingriff in ihr Recht auf den Erhalt und die Weitergabe von Informationen, wie sie von Art 10 EMRK garantiert werden, darstellte.
(30) Die Frage, ob die Unannehmlichkeiten, über die sich die Bf beklagt, in den Anwendungsbereich von Art 10 EMRK fällt, ist daher untrennbar mit den wesentlichen Punkten ihrer Beschwerde verknüpft. Der GH findet daher, dass die Einrede der Regierung im Zuge seiner meritorischen Entscheidung behandelt werden sollte (mehrstimmig).
Die Beschwerde ist daher nicht offensichtlich unbegründet iSv Art 35 Abs 3 lit a EMRK und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher vom GH für zulässig erklärt werden (mehrstimmig).
In der Sache
(48) Im vorliegenden Fall geht es um die Frage, ob die Angelegenheit, über die sich die Bf beschwert, in den Anwendungsbereich von Art 10 EMRK fällt. Abs 1 dieser Konventionsbestimmung sieht vor, dass »das Recht auf freie Meinungsäußerung [...] die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden einschließt.«
(49) Art 10 EMRK räumt einem Individuum kein Recht auf Zugang zu von öffentlichen Behörden aufbewahrten Informationen ein oder verpflichtet die Regierung, derartige Informationen einer Person zu übermitteln. Ein solches Recht oder eine solche Verpflichtung kann jedoch dann ins Spiel kommen, wenn der Zugang zu einer bestimmten Information für die Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit eines Individuums – in diesem Fall der Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten – ausschlaggebend ist und wenn die Verweigerung dieses Zugangs einen Eingriff in dieses Recht darstellen würde. Bei der Beurteilung dieser Frage wird sich der GH von den im Urteil Magyar Helsinki Bizottság/HU aufgestellten Grundprinzipien (Rz 149–180) leiten lassen. Er wird den Fall im Lichte seiner besonderen Umstände und anhand folgender Kriterien prüfen: (a) dem Zweck des Informationsansuchens; (b) dem Charakter der begehrten Informationen; (c) der Rolle der Bf; (d) und ob die strittigen Informationen bereitstanden und frei verfügbar waren. Diese Kriterien sind kumulativ.
Zu den Sitzungsprotokollen
Liegt ein Eingriff in Art 10 EMRK vor?
(59) [...] Im vorliegenden Fall übte die Bf ihr Recht auf den Erhalt von Informationen in einer Angelegenheit aus, die sie als im öffentlichen Interesse stehend ansah.
(60) Im vorliegenden Fall benötigte die Bf die von ihr begehrten Informationen im Gegensatz zu den Fällen Magyar Helsinki Bizottság/HU (Rz 175) und Mikiashvili ua/GE (Rz 49) nicht zur Vorbereitung eines Presseartikels oder zur Vervollständigung einer (statistischen) Erhebung. Vielmehr liefen die Aktivitäten der Bf in dieser Richtung auf das Sammeln und die Verbreitung von Informationen hinaus, die für die Öffentlichkeit wichtig sein oder zu einer öffentlichen Debatte beitragen konnten. Dies trifft insb auf den politischen Kontext des gegenständlichen Falls zu, bei dem Fragen hinsichtlich des Kontakts zwischen der Präsidentin bzw des Vizepräsidenten des polnischen Verfassungsgerichtshofs und einem aktiven Politiker in den Räumlichkeiten des besagten Gerichts auftraten – und dies zu einem Zeitpunkt, wo ein Verfahren gegen Herrn Kamiński anhängig war, welches [negative] Auswirkungen auf ihn haben konnte. Der GH kommt daher zu der Ansicht, dass die von der Bf erbetenen Informationen notwendig für die Ausübung ihres Rechts auf Meinungsäußerungsfreiheit waren. Unter den Umständen des vorliegenden Falls ist daher davon auszugehen, dass das Kriterium des Zwecks der gesuchten Information erfüllt war.
(61) Zum Charakter der begehrten Informationen ist zu sagen, dass [...] der GH dem Vorhandensein besonderer Kategorien von Informationen, die als im öffentlichen Interesse stehend angesehen werden, spezielles Gewicht beimisst.
(62) Was die besonderen Umstände des vorliegenden Falls angeht, ist [...] zu vermerken, dass die Bf in ihrem Informationsersuchen vom 6.7.2017 um Übermittlung einer Liste von den zwischen Richterin J. Przyłębska [...] und Herrn M. Muszyński [...] abgehaltenen Treffen bat, insoweit diese die Wahrnehmung von Pflichten seitens des Verfassungsgerichtshofs betrafen. Der GH stellt nicht in Abrede, dass die erbetene Information im öffentlichen Interesse stand, insb wenn man den politischen Kontext des Falls und die öffentlichen Debatten rund um die Unparteilichkeit des Verfassungsgerichtshofs [siehe dazu das Urteil im Fall Xero Flor w Polsce sp. z o.o./PL] betrachtet. Er ist der Ansicht, dass eine NGO, die sich zum Ziel gemacht hat, Informationen zu verbreiten, das Recht auf den Erhalt von Nachrichten haben sollte, die bedeutsam für die Öffentlichkeit sein oder zur öffentlichen Debatte beitragen könnten.
(63) In seinem Urteil vom 18.6.2019 hielt das Oberste Verwaltungsgericht fest, dass es sich bei einem Sitzungsprotokoll gemäß der gefestigten innerstaatlichen Rsp um ein internes Dokument handle, welches sich nicht auf den öffentlichen Bereich der Tätigkeiten des Verfassungsgerichtshofs erstrecke. Die Erwähnung eines speziellen Ereignisses im Sitzungsprotokoll sei kein Beleg für faktische Umstände und beweise nicht, dass sich ein besonderes aufgezeichnetes Ereignis tatsächlich ereignet habe oder nicht. Das Sitzungsprotokoll beziehe sich daher nicht auf den Faktenbereich, da es die in ihm enthaltenen Informationen nicht bestätige. [Der GH ist der Auffassung], dass diese innerstaatliche Rechtsprechungslinie im Wesentlichen nicht die Konventionskriterien hinsichtlich der Frage berücksichtigte, welche Information als im öffentlichen Interesse stehend angesehen werden kann. Es ist nicht Aufgabe des GH, generell darüber abzusprechen, ob Sitzungsprotokolle gemäß innerstaatlichem Recht öffentliche oder nicht öffentliche Dokumente darstellen sollten. Jedenfalls genießen die Staaten auf diesem Gebiet einen weiten Ermessensspielraum. Unter den spezifischen Umständen des vorliegenden Falls und insb im Lichte des politischen Kontexts (siehe Rz 60 des gegenständlichen Urteils) hätten die Sitzungsprotokolle der Treffen [von den Gerichten] jedenfalls als einen öffentlichen Charakter aufweisend angesehen werden sollen. Das zum gegenwärtigen Zeitpunkt geltende innerstaatliche Recht, welches Sitzungsprotokolle als interne, nicht öffentliche Dokumente qualifizierte, sah keinerlei Möglichkeit vor, diesen Aspekt des Informationsansuchens in Betracht zu ziehen.
(64) Der GH ist sich des Vorbringens des Obersten Verwaltungsgerichts bewusst, wonach die Bf um eine Liste der tatsächlich zwischen der Präsidentin und dem Vizepräsidenten des Verfassungsgerichtshofs abgehaltenen Treffen während des spezifischen Zeitraums ansuchen hätte können. Unbeschadet nun, ob die Bf ihr Informationsersuchen auf andere Art und Weise gestellt haben könnte, ist der GH der Ansicht, dass diese – indem sie um Aushändigung der Sitzungsprotokolle für einen bestimmten Zeitpunkt ansuchte – klarmachte, dass sie um Informationen hinsichtlich der Treffen zwischen der Präsidentin und dem Vizepräsidenten des Verfassungsgerichtshofs in den dortigen Räumlichkeiten bat. Ungeachtet dessen zog keines der innerstaatlichen Gerichte den Kontext in Betracht, in welchem die Bf um die fragliche Information gebeten hatte – und zwar trotz der Spekulationen [rund um die Rolle von Herrn Kamiński], die zum damaligen Zeitpunkt in den nationalen Medien zirkulierten. Indem sie es unterließen, eine individuelle Einschätzung der auf dem Spiel stehenden Interessen vorzunehmen, verweigerten die innerstaatlichen Behörden der Bf in der Tat den Zugang zu Informationen, die nach Ansicht des GH von öffentlichem Interesse waren, insb wenn man den politischen Kontext des Falls berücksichtigt. Für den GH ist daher auch das zweite Kriterium – der Charakter der begehrten Informationen – erfüllt.
(65) Unter den Parteien ist unbestritten, dass es sich bei der Bf um eine etablierte, im öffentlichen Interesse arbeitende Organisation handelt, die sich der Verbreitung von Informationen über menschenrechtliche und rechtsstaatliche Fragen verschrieben hat. Ebenfalls unstrittig ist, dass die angefragten Sitzungsprotokolle existierten. Die begehrten Informationen standen daher bereit und waren frei verfügbar. Im Ergebnis wurden daher im vorliegenden Fall alle Schwellenkriterien betreffend das Recht auf Zugang zu im Besitz des Staats befindlichen Informationen erfüllt.
(66) Die Verweigerung des Zugangs zu Informationen lief daher auf einen Eingriff in das Recht der Bf auf den Erhalt und die Weitergabe von Informationen heraus. Die Einrede der Regierung hinsichtlich der Anwendbarkeit von Art 10 EMRK auf den gegenständlichen Fall ist daher zurückzuweisen (mehrstimmig).
War der strittige Eingriff gerechtfertigt?
(68) Der Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit der Bf war nur dann statthaft, wenn er auf einer gesetzlichen Grundlage beruhte, ein legitimes Ziel oder mehrere legitime Ziele iSv Art 10 Abs 2 EMRK verfolgte und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.
(70) Laut der Bf enthalte weder die Verfassung noch das Gesetz über den Zugang zu öffentlichen Informationen eine Definition der »öffentlichen Information«. Beide [...] würden auch keinen Unterschied zwischen dem »öffentlichen« und dem »internen« Tätigkeitsbereich der staatlichen Verwaltung machen. Besagte Unterscheidung sei in der Rsp der Verwaltungsgerichte nach 2010 getroffen worden, obwohl es in dieser Hinsicht zu keinen Gesetzesänderungen gekommen sei. Es sei inakzeptabel unter Art 10 EMRK, dass der beklagte Eingriff seine Basis im »Fallrecht« habe, welches von Natur aus im Nachhinein ergangen sei, und nicht im vom Parlament erlassenen kodifizierten Recht. Vordergründige Konsequenz dieser Rechtsgrundlage sei die mangelnde Vorhersehbarkeit des Konzepts des »internen Dokuments«, welches sich beständig hin in Richtung weiterer Einschränkungen des Zugangs zu Informationen entwickle, ohne dass es Anzeichen dafür gebe, wo nun die Grenze zwischen öffentlichem (zugänglichem) und internem (unzugänglichem) Dokument liege.
(72) Was die Wörter »vom Gesetz vorgesehen« und »gesetzlich vorgesehen« in den Art 8 bis 11 EMRK betrifft, hat der GH den Begriff »Gesetz« schon immer in seinem »materiellen« und nicht in seinem »formellen« Sinn verstanden. Dieser Begriff schließt sowohl »geschriebenes Recht« (darunter fallen die Erlassung von Rechtsvorschriften niederen Ranges und von professionellen Regelungsbehörden unter unabhängigen Rechtserzeugungsbefugnissen ergriffene regulative Maßnahmen, die vom Parlament an sie delegiert wurden) als auch »ungeschriebenes Recht« ein. [Der Begriff] »Gesetz« muss dahingehend verstanden werden, dass er sowohl kodifiziertes Recht als auch »Richterrecht« umfasst. In Summe bedeutet »Gesetz« die in Geltung stehende Rechtsvorschrift in ihrer Auslegung durch die zuständigen [innerstaatlichen] Gerichte.
(73) In der Tat sind die Bestimmungen der polnischen Verfassung und des Gesetzes über den Zugang zu öffentlichen Informationen allgemeiner Natur und es scheint so, als ob sie einen breiten Zugang zu öffentlichen Informationen gewährleisten würden. Sie beziehen sich auf den Begriff der »öffentlichen Information«, der vom Gesetz nicht definiert wird. Die Bestimmungen dieses Gesetzes wurden jedoch von den Verwaltungsgerichten ausgelegt, die das Konzept des internen und des öffentlichen Verwaltungsbereichs entwickelt haben. Sitzungsprotokolle von öffentlichen Amtsträgern wurden als interne Dokumente eingestuft. Aus dem Vorbringen der Regierung geht hervor, dass die Rsp des Obersten Verwaltungsgerichts in diesem Punkt beständig und gefestigt ist.
(74) Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Verweigerung des Zugangs zu den [von den Bf] begehrten Informationen auf einer innerstaatlichen Rechtsgrundlage beruhte.
(76) [Im vorliegenden Fall] verabsäumten es die innerstaatlichen Behörden, Vorbringen entweder im innerstaatlichen Verfahren oder in den Erwägungen der Regierung zu erstatten, die zu belegen vermochten, dass die Verweigerung der von der Bf begehrten Informationen ein legitimes Ziel verfolgte oder in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen wäre. Der GH ist sich darüber im Klaren, dass der Zugang zu gewissen Informationen aus Sicherheitsgründen oder zum Schutz von Staatsgeheimnissen bzw des Privatlebens von anderen eingeschränkt werden kann. Die innerstaatlichen Behörden bezogen sich jedoch auf keinen dieser Gründe, um die Verweigerung des Zugangs zu den strittigen Informationen zu rechtfertigen. Ohne die spezifischen Umstände des gegenständlichen Falls in Betracht zu ziehen (vgl Rz 63–64), begnügten sich diese mit der Feststellung, dass die erbetenen Informationen nicht als »öffentlich« im Sinne der innerstaatlichen Bestimmungen eingestuft werden und daher nicht Gegenstand einer Offenlegung sein könnten.
(77) Angesichts des Vorgesagten sieht der GH davon ab, weiter zu bewerten, welches legitime Ziel die innerstaatlichen Behörden [...] im Auge hatten und eine Analyse vorzunehmen, ob der Eingriff in die Rechte der Bf [...] verhältnismäßig war.
(78) Es liegt daher in dieser Hinsicht eine Verletzung von Art 10 EMRK vor (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek).
Zum Besuchsverzeichnis
(79) In ihrem Antrag vom 6.7.2017 ersuchte die Bf auch um Übermittlung der Einträge von jedermann, der die Räumlichkeiten des Verfassungsgerichtshofs seit dem 1.1.2017 betreten und verlassen hatte.
(80) Laut der Informationen, welche die Bf vom Verfassungsgerichtshof am 9.8.2017 erhielt, führte dieser nicht Buch über Personen, die seine Räumlichkeiten betraten und verließen. Diese Information war nicht Gegenstand einer Prüfung durch die innerstaatlichen Gerichte. Die Bf erkannte in ihrem Vorbringen vor dem GH an, dass nicht wirksam überprüft werden könne, ob das begehrte Besuchsverzeichnis tatsächlich existierte. Wie auch das Oberste Verwaltungsgericht vermerkte, bestand nach innerstaatlichem Recht keine Verpflichtung, eine Liste über öffentliche Gebäude betretende und sie verlassende Personen zu führen. Was daher den Fall eines Besuchsverzeichnisses mit Einträgen über das Gebäude des Verfassungsgerichtshofs betretende und es verlassende Personen angeht, bestehen keinerlei Hinweise darauf, dass die von der Bf erbetene Information »bereitstand und zugänglich« war. Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass diesbezüglich kein Eingriff in das Recht der Bf vorlag, Informationen zu erhalten und weiterzugeben [...].
(81) Es fand daher in dieser Hinsicht keine Verletzung von Art 1o EMRK statt (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
Die Bf stellte keinen Antrag auf ein Entschädigung für materiellen und immateriellen Schaden. Der Antrag auf Ersatz der Kosten und Auslagen wird wegen fehlender Substantiierung zurückgewiesen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Österreichische Vereinigung zur Erhaltung, Stärkung und Schaffung eines wirtschaftlich gesunden land- und forstwirtschaftlichen Grundbesitzes/AT, 28.11.2013, 39534/07 = NLMR 2013, 433
Magyar Helsinki Bizottság/HU, 8.11.2016, 18030/11 (GK) = NLMR 2016, 536
Mikiashvili ua/GE, 19.1.2021, 18865/11 ua (ZE)
Xero Flor w Polsce sp. z o.o./PL, 7.5.2021, 4907/18 = NLMR 2021, 240
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 21.3.2024, Bsw. 10103/20, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 147) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.