JudikaturAUSL EGMR

Bsw12174/22 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
19. März 2024

Kopf

Der Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Kirkorov gg Litauen, Zulässigkeitsentscheidung vom 19.3.2024, Bsw. 12174/22.

Spruch

Art 10 EMRK - Einreiseverbot gegen einen Konzertsänger wegen Verbreitung russischer Propaganda.

Unzulässigkeit der Beschwerde (mehrheitlich).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf ist Staatsangehöriger Russlands und Bulgariens. Am 19.1.2021 forderte das Außenministerium Litauens die Migrationsbehörde auf, dem Bf die Einreise nach Litauen zu verbieten und stützte sich dabei auf Art 133 Abs 5 des Gesetzes über die Rechtsstellung von Fremden. (Anm: Gemäß Art 133 Abs 5 des Gesetzes über die Rechtsstellung von Fremden darf gegen einen Ausländer ein Einreiseverbot nach Litauen verhängt werden, wenn er eine Bedrohung für die nationale Sicherheit oder öffentliche Ordnung darstellt.). Begründend gab es an, dass es sich beim Bf um einen bekannten russischen Sänger handle, der starken Einfluss auf große Teile der Bevölkerung sowohl Russlands als auch anderer Nachfolgestaaten der Sowjetunion ausübe. Aufgrund seiner Konzerttätigkeiten auf der von Russland annektierten Krim habe der Bf indirekt die territoriale Integrität der Ukraine abgelehnt und seine Befürwortung für das aggressive Vorgehen Russlands ausgesprochen. Da Russland diese Aktivitäten offen als »soft power« beschreibt, könnte die Einreise des Bf die nationale Sicherheit bedrohen. Die Migrationsbehörde sprach daraufhin ein Einreiseverbot für die Dauer von fünf Jahren gegen den Bf aus.

Entgegen der vom Bf vorgebrachten Argumente, das Einreiseverbot beruhe nicht auf seinem Verhalten, sondern auf nicht verifizierten Berichten Dritter, bestätigte auch das Verwaltungsgericht Vilnius das Einreiseverbot. Auch das Rechtsmittel an den Obersten Verwaltungsgerichtshof blieb erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf rügte nach Art 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung) das Verbot seiner vorübergehenden Einreise in die Republik Litauen. Er brachte vor, dass die eingreifende Maßnahme zur Zensierung seiner politischen Ansichten angewandt wurde. Weiters brachte er vor, dass das Einreiseverbot in Verletzung seiner Rechte nach Art 1 1. ZPEMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) ihn davon abgehalten habe, Einkommen aus den bereits geplanten Konzerttätigkeiten zu erzielen und dass es gegen Art 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) verstoßen habe.

Zur behaupteten Verletzung von Art 10 EMRK

(48) Der Bf argumentierte, dass die litauischen Behörden das Einreiseverbot nach Litauen nicht auf eine angemessene rechtliche Grundlage gestützt und es unterlassen hätten, insb die Gründe, warum sein Verhalten als Bedrohung für die nationale Sicherheit eingestuft wurde, darzulegen und dass die Maßnahme unverhältnismäßig gewesen sei. [...]

Lag ein Eingriff in das Recht des Bf auf freie Meinungsäußerung vor?

(49) Der GH merkt an, dass der Bf sich nicht darüber beschwerte, dass es ihm verweigert wurde, sich in Litauen aufzuhalten oder dort zu leben, sondern dass seine zuvor geäußerten Meinungen die litauischen Behörden dazu veranlassten, ein temporäres Einreiseverbot zu verhängen. In diesem Zusammenhang bekräftigt der GH, dass zwar das Recht eines Ausländers auf Einreise oder Niederlassung in einem Land durch die EMRK nicht gewährleistet ist, die Einwanderungskontrolle aber in Einklang mit den aus der Konvention erwachsenden Verpflichtungen durchgeführt werden muss. [...]

(51) [...] In der Rechtssache Piermont/FR hielt der GH fest, dass die Ausweisung und das Einreiseverbot eines deutschen Staatsangehörigen nach Französisch-Polynesien aufgrund seiner Äußerungen gegen die französische Politik einen Eingriff in Art 10 EMRK darstellten. Der GH überprüfte ebenfalls einen Fall betreffend ein durch die portugiesischen Behörden ausgesprochenes Einreiseverbot gegen ein Schiff, dessen Besatzung eine Kampagne für die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs plante. Der GH entschied, dass es sich bei dem Einreiseverbot [...] um einen Eingriff in das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit [...] handelte. [...]

(53) Der GH befindet, dass das Einreiseverbot gegen den Bf in einem sachlichen Zusammenhang mit seinem Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit steht, weil es außer Acht lässt, dass die Rechte nach Art 10 EMRK »ungeachtet der Staatsgrenzen« gelten und dass zwischen dem Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit der eigenen Staatsbürger und jenem von Ausländern nicht unterschieden werden darf. Nach diesem Grundsatz dürfen die Mitgliedstaaten aus dem Ausland stammende Informationen nur im Rahmen der in Art 10 Abs 2 genannten Rechtfertigungsgründe beschränken. Der Anwendungsbereich des Art 10 EMRK umfasst das Recht auf Weitergabe von Informationen. Dem Bf wurde aufgrund seiner durch sein Verhalten dargelegten Meinungen die Einreise nach Litauen verwehrt und im Ergebnis seine Möglichkeit zur Weitergabe von Informationen und Ideen innerhalb des Landes eingeschränkt. Der GH wird daher im Folgenden untersuchen, ob der Eingriff nach Art 10 Abs 2 EMRK rechtmäßig war.

War der Eingriff »gesetzlich vorgesehen«?

(55) [...] Der GH ist der Auffassung, dass die Maßnahme durch das Gesetz vorgesehen war, nämlich durch Art 133 Abs 5, 6 und 8 des Gesetzes über die Rechtsstellung von Fremden und durch Punkte 37.1., 40 und 43.3. der Regeln (Anm: Die 2014 von der Migrationsbehörde erlassenen »Regeln« sehen vor, dass einem EU-Bürger, der keine familiären Bindungen zu in Litauen lebenden Personen hat, die Einreise nach Litauen für einen Zeitraum von fünf Jahren untersagt werden kann, wenn seine Anwesenheit im Land eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darstellen kann (40 und 40.3.). Dies ist zu begründen oder auf Informationen einer staatlichen Institution zu stützen (37.1.).), worauf auch die Migrationsbehörde hinwies und die durch die innerstaatlichen Gerichte auf zwei Jurisdiktionsebenen bestätigt wurden. [...]

(56) Der GH nimmt die Ausführung des Verwaltungsgerichts Vilnius zur Kenntnis, [...] wonach Staaten nach der EMRK nicht verpflichtet sind, Gesetze zu erlassen, die sämtliche Umstände aufzählen, die zu einer Ausweisung wegen nationaler Sicherheit führen, da der Begriff der nationalen Sicherheit nicht abschließend definiert werden kann. [...] Der GH erkennt, dass diese Erläuterungen die Feststellung untermauern, dass der Eingriff in Art 10 EMRK eine gesetzliche Grundlage in Einklang mit dem Rechtsstaatsprinzip besitzt.

Verfolgte das Einreiseverbot ein »legitimes Ziel«?

(57) [...] Der Eingriff verfolgte ein oder mehrere legitime Ziele iSd Art 10 EMRK, welche unter anderem die nationale Sicherheit, die öffentliche Sicherheit und die Aufrechterhaltung der Ordnung umfassen.

War der Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig«?

(61) [...] Der GH verweist auf die Ausführungen der Migrationsbehörde, wonach Russland verschiedene Propagandamaßnahmen gegen die Baltischen Staaten eingesetzt hat, einschließlich über das Fernsehen, soziale Netzwerke, Filme und populäre Sänger, wie beispielsweise den Bf [...]. [...] Der Bf bestritt nicht, dass er ein durch Russland eingesetztes Instrument der »soft power« war und weiters, dass seine physische Präsenz in Litauen für die Verbreitung der russischen Falschinformationen und Propaganda unerlässlich war. [...]

(62) Der GH stellt ebenfalls fest, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht, an einer friedlichen Versammlung teilzunehmen, von so hoher Bedeutung sind, dass in sie nicht eingegriffen werden kann, solange die betreffende Person bei dieser Gelegenheit nicht selbst eine unrechtmäßige Handlung begeht.

(63) [...] Der EuGH merkte ebenfalls an, dass das Verhalten eines Einzelnen, das eine andauernde feindliche Einstellung gegenüber den Grundwerten der Art 2 und 3 EUV aufweist, bereits selbst schon eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung der grundlegenden Interessen der Gesellschaft [...] darstellen könnte. [...] Der GH ist nicht der Ansicht, dass die Einschätzungen der litauischen Behörden, dass der Bf eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die nationale Sicherheit und öffentliche Ordnung darstellt, willkürlich oder unbegründet war. [...] Auch wenn die Beurteilung einer Bedrohung durch einen Ausländer bei seiner oder ihrer Einreise grundsätzlich aus dem Blickwinkel einer zukünftigen Gefährdung durchgeführt werden muss und dabei eine gewisse Prognoseentscheidung unvermeidbar ist, hatte sich das Verfahren auf feststehende Tatsachen zu stützen, insb auf die früheren Handlungen der Person und deren Charakter. Im Fall des Bf hat dieser im Grunde die durch das Außenministerium

dargelegten Tatsachen betreffend seine Konzerte auf der besetzten Krim und sein Einreiseverbot in die Ukraine nicht bestritten. [...]

(65) [...] Nichts in den Akten deutet darauf hin, dass die innerstaatlichen Gerichte den relevanten Sachverhalt falsch beurteilt oder das innerstaatliche Recht willkürlich oder offensichtlich missbräuchlich angewandt haben. [...]

(66) Was schließlich die Verhältnismäßigkeit der angefochtenen Maßnahme angeht, stellt der GH fest, dass die Gerichte ausdrücklich auf die Sache eingegangen sind und die Interessen der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung gegen die Handlungen des Bf und die Schwere der angefochtenen Maßnahmen abgewogen haben. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Bf keine familiäre, soziale oder wirtschaftliche Verbindung zu Litauen hat, sieht der GH keinen Grund, von der Entscheidung der Migrationsbehörde, die von den innerstaatlichen Gerichten als verhältnismäßig bestätigt wurde, abzuweichen. [...]

(67) [...] Daher ist die Beschwerde nach Art 10 EMRK offensichtlich unbegründet und gemäß Art 35 Abs 3 und 4 EMRK für unzulässig zu erklären (mehrheitlich).

Zur behaupteten Verletzung von Art 1 1. ZPEMRK

(70) [...] Es genügt die Feststellung, dass der Bf den innerstaatlichen Gerichten keine zivile Schadenersatzklage vorgelegt hat, ein Rechtsmittel, welches das litauische Recht vorsieht [...]. Da der innerstaatliche Rechtsweg nicht erschöpft wurde, ist diese Beschwerde gemäß Art 35 Abs 1 EMRK für unzulässig zu erklären (mehrheitlich).

Vom GH zitierte Judikatur:

Ezelin/FR, 26.4.1991, 11800/85

Piermont/FR, 27.4.1995, 15773/89 = NL 1995, 125

C. G. ua/BG, 24.4.2008, 1365/07 = NLMR 2008, 98

Women On Waves ua/PT, 3.2.2009, 31276/05 = NL 2009, 31

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 19.3.2024, Bsw. 12174/22, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2024, 151) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.