Bsw19750/13 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Grosam gg Tschechien, Urteil vom 1.6.2023, Bsw. 19750/13.
Spruch
Art 6 Abs 1, Art 32, 34 EMRK, Art 2 7. ZPEMRK - Fairness der Abwicklung eines Disziplinarverfahrens gegen einen Exekutionsbeamten.
Unzulässigkeit der Beschwerde von Art 6 Abs 1 EMRK hinsichtlich der behaupteten Unfairness des Disziplinarverfahrens wegen der Art und Weise, wie das Disziplinargericht eine Bewertung der Beweise vornahm und weil es den Bf nicht einlud, vor Schluss der Verhandlung zusätzliche Beweise vorzulegen (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerde von Art 2 7. ZPEMRK wegen offensichtlicher Unvereinbarkeit mit den Bestimmungen der Konvention ratione materiae iSv Art 35 Abs 3 lit a EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der als Exekutionsbeamter tätige Bf machte am 11.11.2008 einen Aktenvermerk, wonach sich die Firma U., vertreten durch ihren Finanzdirektor, einverstanden erklärt habe, einem bestimmten Anwalt einen in drei Raten zu entrichtenden Geldbetrag iHv umgerechnet € 2.689.502,– für die Begleichung einer Schuld zu zahlen. Dem Gläubiger wurde die Möglichkeit eingeräumt, direkt um Vollstreckung seiner Forderung anzusuchen, ohne vorher die Gerichte einschalten zu müssen. Zum Beweis, dass er berechtigt war, für die Schuldnerin zu handeln, legte der Finanzdirektor mehrere Dokumente über den Gesellschaftsvertrag der Firma, ihre Organisationsstruktur und seine Bestellung vor.
Am 3.7.2009 wurde die Forderung an eine andere Firma mit Sitz in Zypern übertragen. Letztere stellte in der Folge einen Vollstreckungsantrag hinsichtlich eines Geldbetrags iHv umgerechnet € 851.963,–. Das Prager Bezirksgericht Nr 4 erließ daraufhin eine Vollstreckungsanordnung gegen die Schuldnerin.
Auf Anfrage des Justizministeriums gab der Bf eine Stellungnahme zu dem gegenständlichen Aktenvermerk ab. Er räumte ein, dass ausweislich eines Auszugs aus dem Handelsregister der Finanzdirektor in seiner Eigenschaft als gewöhnliches Mitglied des Vorstands nicht autorisiert war, allein in Vertretung der Firma zu handeln. Allerdings habe er § 15 Abs 1 des Handelsgesetzes, welcher Personen die Abwicklung von Transaktionen innerhalb einer Firma unter gewissen Voraussetzungen gestattet, entnommen, dass der Finanzdirektor berechtigt gewesen sei, den fraglichen Aktenvermerk zu unterschreiben.
Am 21.5.2010 erhob der Justizminister Klage gegen den Bf vor der Disziplinarkammer des Obersten Verwaltungsgerichts. Ihm wurde zur Last gelegt, einen Aktenvermerk angelegt zu haben, in dem die Anerkennung einer Schuld durch eine dazu nicht autorisierte Person attestiert worden sei. Die Disziplinarkammer setzte sich aus einem Mitglied des Obersten Verwaltungsgerichts als Vorsitzender, einem Richter des Obersten Gerichtshofs als Vizepräsident und vier Laienmitgliedern zusammen.
In der mündlichen Disziplinarverhandlung behauptete der Bf, dass ihm der Finanzdirektor ein Schreiben ausgehändigt hätte, welches diesen dazu ermächtigt habe, für die Firma ohne irgendwelche Einschränkungen zu agieren. Er habe von diesem Dokument jedoch keine Kopie gemacht und es nicht zum Akt genommen.
Am 25.6.2012 sprach das Disziplinargericht den Bf des ihm vorgeworfenen Vergehens schuldig. Es warf ihm vor, wegen seines grob fahrlässigen Fehlverhaltens ernsthaft gegen seine beruflichen Pflichten verstoßen zu haben. Ihm wurde eine Geldstrafe iHv umgerechnet € 13.554,– auferlegt.
Der Bf erhob daraufhin eine Beschwerde an das Verfassungsgericht, in der er unter anderem Verstöße gegen die Unschuldsvermutung, die Pflicht des Gerichts zur Sammlung von ausreichenden Beweisen und zur Ladung von Zeugen sowie den Grundsatz in dubio pro reo rügte. Ferner behauptete er eine Verletzung von Art 2 Abs 1 7. ZPEMRK, da er keine Möglichkeit gehabt habe, das Urteil des Disziplinargerichts anzufechten. Was die in Art 2 Abs 2 7. ZPEMRK normierte Ausnahme vom Recht auf ein Rechtsmittel in Strafsachen angehe, wenn das Verfahren in erster Instanz vor dem »obersten Gericht« stattfinde, sei festzuhalten, dass es sich bei der Mehrzahl der Mitglieder des Disziplinargerichts um keine Berufsrichter handle, sie keine Gerichtserfahrung hätten und obendrein nicht dieselben Auswahlkriterien erfüllen müssten wie höchstgerichtliche Richter. Die Ausnahmeregelung hinsichtlich des »obersten Gerichts« sei folglich auf seinen Fall nicht anwendbar.
Am 11.9.2012 wies das Verfassungsgericht die Beschwerde mit der Begründung ab, es sei nicht dazu befugt, die Befolgung von einfachem Recht, sondern lediglich die von Verfassungsrecht zu überprüfen. Das Disziplinargericht habe jedenfalls überzeugende Gründe für seine Entscheidung vorgebracht. Zudem habe das Verfassungsgericht bereits in einem früheren Fall die Ansicht vertreten, dass die gesetzliche Regelung, wonach es einer eines Disziplinarvergehens beschuldigten Person verwehrt sei, ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung der Disziplinarkammer zu ergreifen, nicht gegen die Verfassung verstoße.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf rügte Verletzungen von Art 6 Abs 1 (Recht auf ein faires Verfahren), Abs 2 (Unschuldsvermutung) und Abs 3 lit d EMRK (hier: Recht auf Zeugenbefragung) und von Art 2 7. ZPEMRK (Recht auf ein Rechtsmittel in Strafsachen).
Zum Umfang der Rechtssache und zu den Einreden der Regierung
(60) Der gefestigten Rsp des GH zufolge handelt es sich bei der an die GK verwiesenen Rechtssache um die für zulässig erklärte Beschwerde, gemeinsam mit den nicht für unzulässig erklärten Beschwerdepunkten.
(61) In ihrem Urteil [vom 23.6.2022] erklärte die Kammer die vom Bf vorgebrachten Beschwerdepunkte unter (a) den Art 6 Abs 2 und Abs 3 lit d EMRK und (b) seine Beschwerde unter Art 6 Abs 1 EMRK, wonach das Verfassungsgericht keine ausreichende Begründung für seine Entscheidung geliefert habe, für unzulässig. Diese Beschwerdepunkte fallen daher außerhalb des Anwendungsbereichs der an die GK verwiesenen Rechtssache.
(62) Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Beschwerde des Bf unter Art 2 7. ZPEMRK und die verbliebenen Rügen hinsichtlich Art 6 Abs 1 EMRK von der Kammer nicht für unzulässig erklärt wurden.
(63) Der Umfang der Rechtssache in der an die GK verwiesenen Form umfasst folglich: (a) die Beschwerde unter Art 2 7. ZPEMRK, bezüglich der die Kammer, nachdem sie sich entschieden hatte, diesen Beschwerdepunkt anders zu klassifizieren und unter Art 6 Abs 1 EMRK zu prüfen, eine Verletzung dieser Konventionsbestimmung feststellte, da [die Disziplinarkammer] nicht die Anforderungen an ein unabhängiges und unparteiisches Gericht erfüllt hätte; und (b) die Beschwerdepunkte unter Art 6 Abs 1 EMRK wegen fehlender Fairness des Verfahrens vor dem Disziplinargericht, in Bezug auf welche die Kammer keine Notwendigkeit sah, sie auf ihre Zulässigkeit und in der Sache zu prüfen.
(64) Dies bedeutet jedoch nicht, dass die GK nicht auch, wenn sie es als angemessen erachtet, Fragen betreffend die Zulässigkeit von Beschwerden prüfen kann, wenn sie innerhalb der Reichweite der an sie verwiesenen Rechtssache liegen [...]. Sie kann daher selbst noch im Stadium der meritorischen Prüfung die Zulässigkeitserklärung einer Beschwerde hinterfragen, wenn sie der Ansicht ist, dass eine solche Beschwerde aus einem der in den ersten drei Absätzen des Art 35 EMRK angeführten Gründe für unzulässig erklärt hätte werden sollen.
(65) Die Art und Weise, wie von der Kammer die vom Bf unter Art 6 Abs 1 EMRK vorgebrachten Beschwerdepunkte klassifiziert wurden, ist zwischen den Parteien unstrittig. Die GK sieht dies nicht anders.
(66) Die einzige strittige Frage hinsichtlich der Reichweite der Rechtssache ist die, ob die Rüge des Bf unter Art 2 7. ZPEMRK in der Form, wie sie vom Bf in Straßburg eingebracht wurde, unter Art 6 Abs 1 EMRK als Beschwerde über [das Nichtvorliegen] eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts untersucht werden sollte, wie es die Kammer tat.
Vorbringen der Regierung
(67) Laut der Regierung [...] habe die Kammer eine unterschiedliche und spezifische Rüge betreffend [das Nichtvorliegen] eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts untersucht, die vom Bf zum ersten Mal am 5.11.2015 vorgebracht wurde, und dies erst nachdem die Kammer sich nochmals an die Parteien gewandt und eine spezielle Frage in diese Richtung gestellt hatte.
(68) Wie bereits in ihrem Vorbringen vor der Kammer behauptete die Regierung vor der GK, dass die Kammer nicht den eingeschränkten Prüfungsspielraum des GH beachtet und aus eigenem Antrieb die Reichweite der Rechtssache auf Fragen erstreckt habe, die vom Bf in seiner Beschwerdeschrift an den GH [in dieser Form] nicht erhoben worden wären. [...]
(69) So habe sich der Bf insb unter Art 2 7. ZPEMRK darüber beschwert, dass sein Recht auf ein Rechtsmittel in Strafsachen verletzt worden sei, weil ihm das Recht verwehrt worden sei, seine Verurteilung und den Schuldspruch von einem übergeordneten Gericht überprüfen zu lassen. Nur innerhalb der Grenzen dieser Rüge habe er behauptet, dass die Disziplinarkammer mit Blick auf ihre Zusammensetzung nicht als »oberstes Gericht« angesehen werden könne. Sein Vorbringen hinsichtlich der gerichtlichen Zusammensetzung habe sich daher lediglich auf eine der im zweiten Absatz dieses Zusatzartikels vorgesehenen Ausnahmen bezogen.
(71) Der Bf habe sich [in seiner ursprünglichen Beschwerdeschrift] auch nicht darüber beklagt, dass ihm der Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht iSv Art 6 Abs 1 EMRK verweigert worden sei. Im Gegensatz zu den Schlussfolgerungen der Kammer habe er zu keiner Zeit behauptet, dass das Disziplinargericht [...] nicht als »Tribunal« – oder sogar »unabhängiges und unparteiisches Tribunal« – iSv Art 6 EMRK betrachtet werden könne.
(80) Die Regierung lade die GK daher ein, nicht nur den Irrtum, der auf Kammerebene aufgetreten sei, zu beheben, sondern auch die Grenzen klarzustellen, innerhalb welcher der GH einen Beschwerdepunkt neu klassifizieren könne [...].
Vorbringen des Bf
(82) In seinem Vorbringen vor der Kammer vom 5.11.2015 hatte der Bf dargelegt, dass es sich bei der Disziplinarkammer des Obersten Verwaltungsgerichts um kein »Tribunal« iSv Art 6 Abs 1 EMRK handle, da es sich aus sechs Mitgliedern zusammensetze, von denen lediglich zwei Berufsrichter wären. [...] Zusätzlich biete das Gesetz keinen Schutz vor Druck von außen, lege keine Anforderungen für Laienmitglieder fest, was Expertise und Erfahrungen [...] angehe, und sehe keinerlei Regelungen betreffend ihre Bestellung vor. Schließlich mangle es dem Auswahlverfahren für Laienmitglieder auch an Transparenz.
(83) In seinem weiteren Vorbringen vom 10.12.2015 [...] legte der Bf dar, dass [...] der Satz in Art 2 7. ZPEMRK, der sich auf den Begriff des »obersten Gerichts« beziehe, notwendigerweise auf eine Prüfung hinauslaufe, ob die Disziplinarkammer des Obersten Verwaltungsgerichts ein »Tribunal« iSv Art 6 Abs 1 EMRK sei. [...]
(85) Vor der GK hielt der Bf sein Vorbringen aufrecht, wonach er sich beim GH unter Art 2 7. ZPEMRK über die Zusammensetzung des Disziplinargerichts beschwert habe. Dieser Beschwerdepunkt könne auch als Beschwerde über eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art 6 EMRK gewertet werden.
Bewertung durch die GK
(90) [...] Der GH kann seine Entscheidung nur auf Fakten gründen, über die sich jemand beschwert hat (siehe Radomilja ua/HR, Rz 120–121, 124). Es reicht daher nicht aus, dass eine Verletzung der Konvention aus den dem Fall zugrunde liegenden Tatsachen oder dem Vorbringen der bzw des Bf »ersichtlich« ist. Vielmehr muss sich jemand über eine gewisse Handlung oder Unterlassung beschweren, welche eine Verletzung der in der Konvention oder ihren Protokollen festgelegten Rechte nach sich zog – und zwar in einer Art und Weise, die nicht dem GH die Entscheidung darüber belässt, ob nun eine bestimmte Rüge vorgebracht wurde oder nicht.
(91) Der GH verfügt somit über keinerlei Befugnis, sich an die Stelle der bzw des Bf zu setzen und für diese bzw diesen neue Rügen anhand der vorgetragenen Argumente und Fakten zu formulieren.
(92) Im vorliegenden Fall beschwerte sich der Bf beim GH unter Art 2 7. ZPEMRK über die Tatsache, dass das innerstaatliche Recht ein Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Disziplinarkammern des Obersten Verwaltungsgerichts ausschloss. Er brachte nicht vor, dass die Einbeziehung von nichtrichterlichern Mitgliedern in die Disziplinarkammer eine Verletzung dieser Bestimmung nach sich ziehen würde. Der Bf bezog sich auf diesen Fakt lediglich zur Unterstützung seiner Argumentation, wonach das Disziplinargericht nicht als oberstes Gericht angesehen werden könne, weil seine Mitglieder nicht denselben Anforderungen hinsichtlich von Expertise und Unabhängigkeit wie Richter unterliegen würden. Dieses Argument zielte folglich nur darauf ab, die Anwendung der in Art 2 Abs 2 7. ZPEMRK vorgesehenen Ausnahmeregelung auszuschließen, wonach das Recht auf ein Rechtsmittel in Strafsachen nicht auf Fälle Anwendung findet, in denen das Verfahren [...] in erster Instanz vor dem obersten Gericht stattgefunden hat.
(93) Zudem betonte der Bf, dass die Zusammensetzung der Disziplinarkammer des Obersten Verwaltungsgerichts aufgrund der Mitwirkung von Laienmitgliedern atypisch im Vergleich zu den höheren gerichtlichen Einrichtungen in Tschechien sei, bei denen Laienmitglieder – anders als bei manchen erstinstanzlichen Gerichten – normalerweise nicht eingebunden seien. Kurz gesagt behauptete der Bf nicht, dass es sich bei der Disziplinarkammer nicht um ein Tribunal handle, sondern dass sie nicht das »oberste Tribunal« darstelle.
(94) Ein derartiges Zusatzargument kann nun aber schwerlich mit einer Beschwerde gleichgesetzt werden, war doch laut dem Vorbringen des Bf die Zusammensetzung der Disziplinarkammer nicht die Ursache oder eine ausschlaggebende Tatsache für die behauptete Verletzung von Art 2 Abs 2 7. ZPEMRK.
(95) Angesichts der obigen Feststellungen ist der GH der Ansicht, dass das Vorbringen des Bf zur Zusammensetzung des Disziplinargerichts nicht als Erhebung einer Beschwerde, es habe sich bei diesem Gericht nicht um ein unabhängiges und unparteiisches Tribunal iSv Art 6 Abs 1 EMRK gehandelt, interpretiert werden kann. Wenn der Bf in diesem Stadium gewünscht hätte, sich über einen Verstoß gegen diese in Art 6 Abs 1 EMRK festgelegten Garantien zu beschweren, hätte er dies in seiner Beschwerde klar und deutlich angeben sollen – und zwar in ähnlicher Art und Weise, wie er es nachfolgend in seinem Vorbringen vom 5.11.2015 vor der Kammer tat (vgl Rustavi 2 Broadcasting Company Ltd ua/GE, Rz 246).
(96) Dem Vorgehenden ist zu entnehmen, dass der Bf in seiner Beschwerdeschrift an den GH keine Beschwerde unter Art 6 Abs 1 EMRK betreffend die [fehlende] Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Gerichts erhoben hat. Vielmehr hat er diese Rüge [...] zum ersten Mal in seinem Vorbringen vom 5.11.2015 an die Kammer formuliert, nachdem letztere die belangte Regierung über das Einlangen der Beschwerdeschrift in Kenntnis gesetzt hatte. Diese neue Rüge kann daher nicht als besonderer Aspekt der ursprünglichen Beschwerde unter Art 2 7. ZPEMRK angesehen werden, da sie sich auf unterschiedliche – aus Art 6 Abs 1 EMRK erfließende – Anforderungen bezieht.
(97) Daraus folgt, dass – indem die Kammer [von sich aus] unter Art 6 Abs 1 EMRK Fragen betreffend die Befolgung der Anforderungen an ein auf Gesetz beruhendes Gericht aufwarf, sie aus eigenem Antrieb die Reichweite der Rechtssache in der Form, wie sie ursprünglich vom Bf an sie herangetragen wurde, ausdehnte. Sie überschritt damit die dem GH gemäß den Art 32 und 34 EMRK eingeräumten Befugnisse.
(98) Vor diesem Hintergrund ist der GH der Ansicht, dass die Rüge des Bf vom November 2015, bei dem fraglichen Disziplinargericht habe es sich um kein unabhängiges und unparteiisches Tribunal gehandelt, mehr als sechs Monate nach dem am 17.9.2012 (mit Zustellung der Entscheidung des Verfassungsgerichts) abgeschlossenen Disziplinarverfahren erhoben wurde.
(99) Die Einrede der Regierung wegen Nichtbeachtung der Sechs-Monats-Frist ist daher berechtigt.
(100) Die Rüge des Bf hinsichtlich [des Nichtvorliegens] eines unabhängigen und unparteiischen Tribunals ist daher gemäß Art 35 Abs 1 EMRK wegen Nichtbefolgung der Sechs-Monats-Frist für unzulässig zu erklären und muss gemäß Art 35 Abs 4 EMRK zurückgewiesen werden.
(101) Im Lichte des Vorgesagten vertritt der GH die Meinung, dass es nicht notwendig ist, die verbliebene Einrede der Regierung hinsichtlich der behaupteten fehlenden Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs durch den Bf zu untersuchen.
(102) [...] Der GH wird sich nun der Prüfung der verbliebenen Rügen in der Art und Weise, wie sie in die Reichweite der an die GK verwiesenen Rechtssache fallen, zuwenden. Es handelt sich dabei um die Rüge des Bf unter Art 6 Abs 1 EMRK betreffend die [fehlende] Fairness des Verfahrens vor dem Disziplinargericht und um seine ursprüngliche Beschwerde nach Art 2 7. ZPEMRK.
Zu den behaupteten Verletzungen von Art 6 Abs 1 EMRK
(103) Der Bf beschwerte sich darüber, dass ihn das Disziplinargericht nicht ausdrücklich dazu aufgefordert habe, weitere Beweise vor Beendigung der Verhandlung vorzulegen. Er sei lediglich deshalb für schuldig befunden worden, weil er nicht in der Lage gewesen sei, seine Verteidigung mit einer Kopie des Dokuments zu unterstützen, welches ihm vom Finanzdirektor [hinsichtlich seiner Bevollmächtigung, für die Schuldnerin zu handeln] vorgelegt worden sei.
(104) Die Regierung bestreitet die Zulässigkeit dieses Teils der Beschwerde [...]. Der GH [...] möchte aber zunächst prüfen, ob Art 6 EMRK auf das gegenständliche Disziplinarverfahren überhaupt anwendbar ist [...].
Zulässigkeit
Zur Anwendbarkeit von Art 6 EMRK unter seinem zivilrechtlichen Aspekt
(106) Der GH vermerkt, dass sich letztlich beide Parteien darin einig waren, dass Art 6 EMRK auf das gegenständliche Disziplinarverfahren unter seinem zivilrechtlichen Aspekt Anwendung finden würde.
(107) [...] Der GH [...] wird diese Frage dennoch von sich aus prüfen.
(109) [...] Die Kammer hielt Folgendes fest: »(89) Der GH [...] hat mittlerweile akzeptiert, dass Disziplinarverfahren, bei denen es, wie im vorliegenden Fall, um das Recht auf Fortführung der Ausübung eines freien Berufs geht, Anlass zu Streitigkeiten über ein ›ziviles Recht‹ geben können. Der GH hat anerkannt, dass Art 6 Abs 1 EMRK unter seinem zivilrechtlichen Aspekt nicht nur dann anwendbar ist, wenn die oder der Bf Gegenstand eines zeitweiligen oder permanenten Verbots, ihren/seinen Beruf auszuüben, ist, sondern auch dann, wenn es um die Auferlegung einer Geldstrafe geht. [...]
(90) Der GH vermerkt, dass ungeachtet der Tatsache, dass der Bf gerichtliche Befugnisse des Staates auf dem Gebiet der zivilen Zwangsvollstreckung ausübte, er den Status [...] eines freien Berufs hatte. Bei tschechischen Exekutionsbeamten handelt es sich folglich nicht um Beamte im eigentlichen Sinn (noch sind sie Angestellte). Der vorliegende Fall unterscheidet sich daher maßgeblich von Fällen von Disziplinarverfahren gegen Beamte, bei denen der sogenannte Vilho Eskelinen-Test zur Anwendung kommt, um zu einer Entscheidung darüber zu gelangen, ob der Status der oder des Bf als Beamtin/Beamter den in Art 6 EMRK verankerten Schutz ausschließt (vgl Vilho Eskelinen ua/FI, Rz 62). Vielmehr kommt der Status eines Exekutionsbeamten dem eines öffentlichen Notars nahe, wie dies etwa im Fall Peleki/GR der Fall war – anders als bei freien Berufen wie beispielsweise Rechtsanwälte oder Berufen, bei denen die Ausübung staatlicher Befugnisse nicht in Betracht kommt.
(91) [...] Der GH hält zuerst einmal fest, dass der Disziplinarkläger es dem Ermessen des Disziplinargerichts anheim stellte, welche Disziplinarmaßnahme auf den Bf [...] Anwendung finden sollte. [...] Jedenfalls stand das Recht des Bf auf Fortführung der Ausübung seiner Tätigkeit als Exekutionsbeamter auf dem Spiel, da die Entbindung von seinem Amt in der Liste möglicher Sanktionsmaßnahmen gegen ihn aufschien.
(92) Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass Hauptgegenstand des gegenständlichen Disziplinarverfahrens das Recht des Bf auf Ausübung seines freien Berufs sein konnte. Dies allein reicht für die Schlussfolgerung aus, dass Art 6 Abs 1 EMRK unter seinem zivilrechtlichen Aspekt anwendbar ist. [...]«
(110) Die GK stimmt völlig überein mit der oben erwähnten Einschätzung und den Schlüssen der Kammer. Art 6 Abs 1 EMRK ist daher unter seinem zivilrechtlichen Aspekt anwendbar.
Zur Anwendbarkeit von Art 6 EMRK unter seinem strafrechtlichen Aspekt
(111) Der GH weist darauf hin, dass der Bf sich auch unter Art 2 7. ZPEMRK beschwert hat und dass das verwendete Konzept der im ersten Absatz dieses Artikels erwähnten »Straftat« dem der »strafrechtlichen Anklage« in Art 6 Abs 1 EMRK entspricht.
(113) Das Konzept der »strafrechtlichen Anklage« in Art 6 Abs 1 EMRK ist autonom zu verstehen. Der GH hat im Rahmen seiner gefestigten Rsp drei Kriterien, allseits bekannt als »Engel-Kriterien«, zur Klärung der Frage aufgestellt, ob eine »strafrechtliche Anklage« vorliegt oder nicht. Das erste Kriterium ist die rechtliche Klassifizierung des Delikts nach nationalem Recht, das zweite betrifft seinen wahren Charakter, während es sich beim dritten um den Grad der Schwere der Strafe handelt, welche der betreffenden Person droht. [...]
(117) Im vorliegenden Fall sah die Kammer das erste und das zweite Engel-Kriterium als nicht erfüllt an, da das Fehlverhalten, aufgrund dessen eine Geldstrafe über den Bf verhängt worden war, vom tschechischen Recht formell als Disziplinarvergehen – und nicht als Straftat – gewertet wurde, und es auch vom Charakter her disziplinarrechtlich war. Beide Parteien stimmten dieser Ansicht zu.
(118) Die GK schließt sich den Schlussfolgerungen der Kammer an. Es ist offensichtlich, dass das im Raum stehende Fehlverhalten [...] vom innerstaatlichen Recht formell als Disziplinarvergehen eingestuft wird. Zudem wurde der Bf auf der Grundlage von § 116 des Zwangsvollstreckungsgesetzes bestraft, welches in der Tat nicht auf die gesamte Bevölkerung, sondern nur auf Exekutionsbeamte in ihrer Eigenschaft als Angehörige eines freien Berufs Anwendung findet. Die genannte Bestimmung ist unstrittig darauf ausgerichtet, zu gewährleisten, dass diese Berufsgruppe die spezifischen beruflichen Verhaltensregeln befolgt.
(119) Was das dritte Kriterium – den Charakter und den Schweregrad der Strafe – anbelangt, führte die Kammer aus: »(96) [...] Dieses Kriterium ist anhand der möglichen Maximalstrafe zu bestimmen, welche das einschlägige Recht [für das disziplinarrechtliche Fehlverhalten] vorsieht. § 116 des Zwangsvollstreckungsgesetzes sah zum relevanten Zeitpunkt auf den Bf anwendbare Sanktionen in Form eines (schriftlichen) Verweises, einer Geldstrafe bis zum Hundertfachen des Mindestmonatsgehalts und der Entfernung aus dem Amt vor. Mit Ausnahme der Geldstrafe handelt es sich bei diesen Sanktionen um typische Disziplinarsanktionen. Zur Geldstrafe ist zu sagen, dass – im Gegensatz zu in einem Strafverfahren verhängten Geldstrafen – Geldstrafen unter dem Zwangsvollstreckungsgesetz nicht die Auferlegung einer Gefängnisstrafe im Fall der Nichtbezahlung der Geldstrafe nach sich ziehen, da die Disziplinarbehörden zur Anordnung einer Freiheitsentziehung nicht befugt sind. Mag auch die Höhe der potentiellen Geldstrafe geeignet
sein, einen abschreckenden Effekt zu erzielen, bringt die Schwere dieser Sanktion als solche die Anschuldigungen [gegen den Bf] nicht in den strafrechtlichen Bereich. In Summe waren Charakter und Schwere der Sanktionen, die der Bf riskierte, auf sich nehmen zu müssen, und die tatsächlich verhängte Sanktion nicht derart, dass sie die ihm zur Last gelegten Vorwürfe als von ihrem Charakter her strafrechtlich erscheinen lassen. (97) Erwähnenswert ist auch, dass der Bf im Fall seiner Entlassung als Rechtsanwalt arbeiten könnte. (98) Angesichts all dieser Faktoren findet der GH, dass das Vergehen unter § 116 des Zwangsvollstreckungsgesetzes von seinem Charakter her nicht strafrechtlich, sondern disziplinarrechtlich war. Das Disziplinarverfahren gegen den Bf brachte somit nicht die Entscheidung über eine ›strafrechtliche Anklage‹ iSd Art 6 Abs 1 EMRK mit sich [...].«
(120) Die GK ist mit dieser Bewertung und den Schlussfolgerungen der Kammer vollkommen einer Meinung. Mag auch der Betrag der Geldstrafe, die dem Bf drohte, auf sich nehmen zu müssen, beträchtlich gewesen sein (bis zu umgerechnet € 30.981,– zum gegenständlichen Zeitpunkt) reicht dies nicht aus, um diese Sanktion als »strafrechtlich« im autonomen Sinn des Art 6 EMRK ansehen zu können (vgl Müller-Hartburg/AT, Rz 47).
(121) Es sollte auch festgehalten werden, dass der GH bereits Gelegenheit hatte, die Anwendbarkeit von Art 6 EMRK unter seinem strafrechtlichen Aspekt auf Disziplinarverfahren gegen Exekutionsbeamte (Gerichtsvollzieher) zu untersuchen und er festhielt, dass das strittige Verfahren nicht die Entscheidung über eine »strafrechtliche Anklage« betraf, mochte auch die im Raum stehende Disziplinarsanktion in diesem Fall die Entfernung aus dem Amt nach sich ziehen.
(122) Angesichts des Vorgesagten [...] ist der GH der Ansicht, dass die Fakten des vorliegenden Falls keinen Grund für die Schlussfolgerung liefern, dass das Disziplinarverfahren gegen den Bf die Entscheidung über eine »strafrechtliche Anklage« iSv Art 6 Abs 1 EMRK nach sich zog.
Schlussfolgerungen zur Anwendbarkeit von Art 6 EMRK
(123) [...] Der GH kommt zu dem Ergebnis, dass Art 6 Abs 1 EMRK auf das gegenständliche Disziplinarverfahren unter seinem zivilrechtlichen, nicht aber unter seinem strafrechtlichen Aspekt Anwendung findet.
In der Sache
(124) Der Bf rügte eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren in dem gegen ihn durchgeführten Disziplinarverfahren (i) wegen der Art und Weise, wie das Disziplinargericht eine Bewertung der Beweise vornahm und (ii) weil es ihn nicht einlud, vor Schluss der Verhandlung zusätzliche Beweise vorzulegen.
(125) Der Bf brachte vor, eines Disziplinarvergehens für schuldig befunden worden zu sein, ohne dass das Disziplinargericht einen Nachweis für seine Schuld gefunden hätte. Letzteres habe auch nicht in Erwägung gezogen, andere entlastende Beweise zu untersuchen. Sein Hauptargument im gegenständlichen Disziplinarverfahren habe sich um die Befugnis des Finanzdirektors gedreht, einen vom Bf angelegten Aktenvermerk zu unterfertigen, die er mit einem mitgebrachten Dokument [zum Beweis seiner Bevollmächtigung] zu belegen versucht habe. Das Disziplinargericht habe diese Verteidigungsstrategie nur deswegen nicht akzeptiert, weil es dem Bf nicht möglich gewesen sei, eine Kopie des strittigen Dokuments beizubringen.
(126) Es sei nun aber innerhalb der Befugnis des Disziplinargerichts gelegen, von sich aus Beweise zur Klärung seiner Unschuld zu erheben und diese zu untersuchen. Es hätte auch (zusätzliche) Beweise zur Klärung der Umstände des Falls einholen müssen, vor allem, was die Beibringung von Aussagen von Zeugen betroffen habe, die an der Unterzeichnung des besagten Aktenvermerks mitgewirkt hätten. Indem das Disziplinargericht [...] lediglich Beweise geprüft habe, die auf seine Schuld hingedeutet hätten, habe es keine ausreichende Tatsachenermittlung unternommen und die Pflicht, seine Unschuld zu beweisen, auf ihn abgewälzt. [...]
Zur Pflicht zur Sammlung von Beweisen und zu ihrer Bewertung
(130) Zuerst einmal ist festzuhalten, dass aus Art 6 EMRK unter seinem zivilrechtlichen Aspekt keine Pflicht des Gerichts abzuleiten ist, Beweise aus eigenem Antrieb zu sammeln. Eine positive Verpflichtung seitens der Behörden, Beweise zugunsten des Angeklagten zu sammeln und zu untersuchen, kann lediglich unter dem strafrechtlichen Aspekt dieser Bestimmung – und auch hier nur unter sehr speziellen Umständen – erfolgen.
(131) Der GH möchte weiters zu bedenken geben, dass Art 6 EMRK zwar ein Recht auf ein faires Verfahren garantiert, diese Konventionsbestimmung jedoch keinerlei Regeln betreffend die Zulassung von Beweisen oder die Art und Weise festlegt, wie diese bewertet werden sollten, sind diese Angelegenheiten doch in erster Linie Sache des nationalen Rechts und der nationalen Gerichte. Es liegt prinzipiell nicht am GH, über Fragen derart, welches Gewicht die innerstaatlichen Gerichte bestimmten Beweisgegenständen oder an sie zur Beurteilung herangetragenen Untersuchungsergebnissen oder Einschätzungen zusprechen sollten, zu befinden (siehe De Tommaso/IT, Rz 170, mwN.) Dasselbe gilt für die [Beurteilung der] Glaubwürdigkeit von Beweisen und die [Verteilung der] Beweislast. Der GH sollte nicht als vierte Instanz agieren und wird daher Bewertungen der nationalen Gerichte nach Art 6 Abs 1 EMRK nicht in Frage stellen, außer deren Schlussfolgerungen stellen sich als willkürlich oder offenkundig unangemessen heraus.
(132) Im vorliegenden Fall kommt der GH zu der Ansicht, dass die Art und Weise, wie das Disziplinargericht die Beweislast verteilte und die Beweise würdigte, weder willkürlich noch offenkundig unvernünftig war.
Zur gerichtlichen Handhabung der Beweise
(133) Der GH erinnert daran, dass Art 6 EMRK nicht ausdrücklich ein Recht auf Ladung von Zeugen oder Vorlage anderer von einem Gericht in einem Zivilverfahren zugelassener Beweise garantiert (siehe zB Wierzbicki/PL, Rz 39). Nichtsdestotrotz muss aber jegliche Einschränkung, die einer Partei in einem Zivilverfahren in Bezug auf die Ladung von Zeugen und Beibringung anderer Beweise zur Untermauerung ihrer Sache auferlegt wird, mit den Erfordernissen eines fairen Verfahrens iSv Art 6 Abs 1 EMRK, einschließlich des Prinzips der Waffengleichheit, vereinbar sein.
(134) Im vorliegenden Fall stellte der rechtliche Vertreter des Bf in seinem Schlussvortrag vor dem Disziplinargericht in Aussicht, dass der Bf eventuell zusätzliche Beweise zum Nachweis dafür erbringen könne, dass der Finanzdirektor der Schuldnerin dazu befugt war, den betreffenden Aktenvermerk zu unterfertigen. Er machte jedoch keinen konkreten Vorschlag in dieser Hinsicht. Das bedeutet, dass der Bf sogar zu diesem Zeitpunkt noch Gelegenheit hatte, Personen, die an der Unterzeichnung der fraglichen Dokumente beteiligt waren, als Zeugen zu benennen, er jedoch von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machte.
Zum Recht auf Einlegung eines Rechtsmittels
(135) Der Bf beschwerte sich nicht unter Art 6 Abs 1 EMRK über die Unmöglichkeit, ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Disziplinargerichts einlegen zu können, sondern unter Art 2 7. ZPEMRK. Die Kammer, welche die Rüge des Bf unter Art 2 7. ZPEMRK als solche unter Art 6 Abs 1 EMRK einstufte, schien die Ansicht zu vertreten, dass die Frage der fehlenden Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsmittels unter den allgemeinen Anforderungen an ein faires Verfahren geprüft werden könnte, entschied jedoch schließlich, dass keine Notwendigkeit bestehe, die Fairness des Verfahrens vor dem Disziplinargericht zu untersuchen.
(136) Die GK hat bereits festgehalten, dass eine derartige Neueinstufung unter den Umständen des vorliegenden Falls nicht möglich war. Die Rüge des Bf hinsichtlich des Rechts auf ein Rechtsmittel [in Strafsachen] wird daher untenstehend behandelt, und zwar unter Art 2 7. ZPEMRK, wie ursprünglich vorgelegt. Die GK möchte dazu zusätzlich anmerken, dass Art 6 EMRK die Vertragsstaaten nicht dazu zwingt, Rechtsmittel- oder Kassationsgerichte einzurichten. Jedenfalls verfügte der Bf über die Möglichkeit der Einbringung einer Verfassungsbeschwerde, von der er auch Gebrauch machte. Das Verfassungsgericht prüfte seine Beschwerde dann auch in der Sache.
(137) Die obigen Erwägungen haben zur Folge, dass die Rügen unter Art 6 Abs 1 EMRK hinsichtlich der Fairness des Disziplinarverfahrens wegen offensichtlicher Unbegründetheit gemäß Art 35 Abs 3 lit a EMRK für unzulässig zu erklären und nach Art 35 Abs 4 EMRK zurückzuweisen sind (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 2 7. ZPEMRK
(138) Im Rahmen seiner Ansicht, wonach das gegenständliche Disziplinarverfahren eine Entscheidung über eine »strafrechtliche Anklage« dargestellt habe, beklagt sich der Bf darüber, dass in dem betreffenden Verfahren nach dem Gesetz kein Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Disziplinarkammer des Obersten Verwaltungsgerichts zulässig gewesen wäre.
(139) Die Regierung stellt die Zulässigkeit dieses Beschwerdepunkts in Abrede, indem sie vorbringt, Art 2 7. ZPEMRK sei auf das fragliche Disziplinarverfahren nicht anwendbar.
(140) Die GK möchte nochmals auf die gefestigte Rsp des GH verweisen, wonach das im ersten Absatz von Art 2 7. ZPEMRK verwendete Konzept der »Straftat« dem der »strafrechtlichen Anklage« in Art 6 Abs 1 EMRK entspricht. Angesichts seiner oben gemachten Schlussfolgerung dahingehend, dass Art 6 EMRK unter seinem strafrechtlichen Aspekt auf das gegenständliche Disziplinarverfahren nicht Anwendung findet, ist der GH der Ansicht, dass diese Schlussfolgerung auch auf Art 2 7. ZPEMRK zutrifft. Die Einrede der Regierung ist daher berechtigt.
(141) Dieser Beschwerdepunkt ist daher wegen offensichtlicher Unvereinbarkeit mit den Bestimmungen der Konvention ratione materiae iSv Art 35 Abs 3 lit a EMRK für unzulässig zu erklären und muss nach Art 35 Abs 4 EMRK zurückgewiesen werden (einstimmig).
Anmerkung: In ihrem Urteil vom 23.6.2022 hatte die I. Kammer den Beschwerdepunkt, wonach das Disziplinargericht den Anforderungen an ein unabhängiges und unparteiisches Gericht iSv Art 6 Abs 1 EMRK nicht gerecht geworden sei, für zulässig erklärt (mehrheitlich) und eine Verletzung dieser Konventionsbestimmung festgestellt (4:3 Stimmen). Sie hielt es nicht für notwendig, die verbliebenen Beschwerdepunkte unter Art 6 Abs 1 EMRK hinsichtlich des Disziplinargerichts auf ihre Zulässigkeit und in der Sache zu untersuchen und erklärte den Rest der Beschwerde für unzulässig (mehrheitlich bzw einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Engel ua/NL, 8.6.1976, 5100/71 ua = EuGRZ 1976, 221
Wierzbicki/PL, 18.6.2002, 24541/94
Vilho Eskelinen ua/FI, 19.4.2007, 63235/00 (GK) = NL 2007, 94 = ÖJZ 2008, 35
Müller-Hartburg/AT, 19.2.2013, 47195/06 = NLMR 2013, 43
De Tommaso/IT, 23.2.2017, 43395/09 (GK) = NLMR 2017, 63
Radomilja ua/HR, 20.3.2018, 37685/10 ua (GK) = NLMR 2018, 161
Rustavi 2 Broadcasting Company Ltd ua/GE, 18.7.2019, 16812/17
Peleki/GR, 5.3.2020, 69291/12
V. C. L. und A. N./GB, 16.2.2021, 77587/12 ua = NLMR 2021, 56
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 1.6.2023, Bsw. 19750/13, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 235) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.