Bsw20081/19 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Buhuceanu ua gg Rumänien, Urteil vom 23.5.2023, Bsw. 20081/19.
Spruch
Art. 8 EMRK - Fehlen eines Rechtsinstituts zur Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen.
Zulässigkeit der Beschwerden (mehrheitlich).
Verletzung von Art. 8 EMRK (5:2 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung stellt als solche eine ausreichende gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden dar (einstimmig). Im Übrigen wird der Antrag auf gerechte Entschädigung abgewiesen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die vorliegenden Beschwerden wurden von 21 gleichgeschlechtlichen Paaren erhoben, die alle in stabilen Beziehungen leben und deren rechtliche Anerkennung wünschen. Sie gaben daher vor den jeweils zuständigen rumänischen Personenstandsbehörden ihre Absicht bekannt, zu heiraten. Die Mitteilungen wurden jedoch als unvereinbar mit Art 271 und Art 277 des Zivilgesetzbuchs zurückgewiesen. (Anm: Gemäß Art 271 Zivilgesetzbuch wird die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau durch freie, persönliche Einwilligung geschlossen. Nach Art 277 Abs 1 ist die gleichgeschlechtliche Ehe ausdrücklich verboten. Abs 2 und Abs 3 bestimmen, dass im Ausland geschlossene gleichgeschlechtliche Ehen oder eingetragene Partnerschaften in Rumänien nicht anerkannt werden. Gemäß Abs 4 sollen die Bestimmungen über die Freizügigkeit der Unionsbürger*innen davon unberührt bleiben.)
Eines der bf Paare (Bsw 20081/19) beschwerte sich 2018 bei den Gerichten gegen mehrere Entscheidungen der Gesundheitsversicherungsbehörden, mit denen ihnen das Recht auf Mitversicherung mit ihrem Partner verwehrt wurde. Dieses Verfahren ist derzeit vor dem Verfassungsgericht anhängig.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf behaupteten eine Verletzung von Art 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) alleine und iVm Art 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).
Verbindung der Beschwerden
(22) Angesichts ihres ähnlichen Gegenstands ordnet der GH die Verbindung der Beschwerden [...] an und wird sie in einem einzigen Urteil behandeln.
Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK
(26) Die Bf brachten vor, es stünde ihnen kein Mittel zur rechtlichen Anerkennung ihrer Beziehungen zur Verfügung, da es ihnen nicht möglich sei, irgendeine in Rumänien rechtlich anerkannte Verbindung einzugehen. Dies begründe [...] eine Verletzung ihres Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens [...].
Zulässigkeit
(28) [...] Der Sachverhalt [...] fällt in den Anwendungsbereich sowohl des »Privatlebens« als auch des »Familienlebens« der Bf [...]. Art 8 EMRK ist daher sowohl in seinem Aspekt des »Privatlebens« als auch jenem des »Familienlebens« anwendbar.
(29) Die Regierung brachte vor, die Bf hätten es verabsäumt, die verfügbaren innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erschöpfen. [...]
(32) Wie der GH feststellt, gab es zum Zeitpunkt der Erhebung der Beschwerden der Bf an den GH keine Bestimmungen im rumänischen Recht, mit denen die gleichgeschlechtliche Ehe oder eine andere Form der Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare anerkannt worden wäre. Daran hat sich bis heute nichts geändert. [...] Die Regierung hat nicht dargelegt, wie das Verfassungsgericht, unterinstanzliche Gerichte oder andere Behörden das geltende Recht missachten und Entscheidungen zu Gunsten der Bf erlassen hätten können. [...]
(33) Das von den Bf der Beschwerde 20081/19 angestrengte Verfahren [...] betrifft nur einen spezifischen Aspekt [...] und ist in keiner Weise geeignet, die zentrale Angelegenheit zu behandeln, nämlich das Fehlen einer rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paare. Außerdem ist es noch anhängig und sowohl das Datum seines Abschlusses als auch sein Ausgang sind ungewiss.
(34) Daher gibt es [...] nach Ansicht des GH keine Belege, die es ihm ermöglichen würden festzustellen, dass die von der Regierung vorgeschlagenen Rechtsbehelfe irgendeine Aussicht auf Erfolg gehabt hätten. [...] Die Einrede der Regierung ist daher zu verwerfen.
(35) Die Beschwerden sind weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK genannten Grund unzulässig. Sie müssen daher für zulässig erklärt werden (mehrheitlich; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richter Wojtyczek und Harutyunyan).
In der Sache
Allgemeine Grundsätze
(72) Die allgemeinen Grundsätze betreffend die positiven Verpflichtungen eines Mitgliedstaats in Fällen, die dem vorliegenden ähneln, wurden jüngst im Urteil der GK im Fall Fedotova ua/RU dargelegt.
(73) [...] In diesem Fall [...] bestätigte der GH unter Bezugnahme auf seine stRsp, die durch einen klaren und anhaltenden Trend in den Mitgliedstaaten gestärkt wird, dass diese durch [...] Art 8 EMRK verpflichtet werden, einen rechtlichen Rahmen vorzusehen, der es gleichgeschlechtlichen Paaren erlaubt, Anerkennung und Schutz ihrer Beziehung in angemessener Form zu erlangen (Fedotova ua/RU, Rz 178).
(74) Was den Ermessensspielraum betrifft, der den Staaten bei der Umsetzung der oben genannten positiven Verpflichtung zusteht, ging der GH davon aus, dass dieser hinsichtlich der Gewährung einer Möglichkeit zur rechtlichen Anerkennung und zum rechtlichen Schutz gleichgeschlechtlicher Paare erheblich eingeschränkt ist, weil es um besonders wichtige Aspekte der persönlichen und sozialen Identität [...] geht und zudem ein klarer, anhaltender Trend in Richtung der rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paare in den Mitgliedstaaten des Europarats beobachtet wurde. [...] Einen größeren Ermessensspielraum haben die Staaten bei der Bestimmung des genauen Charakters des Rechtsinstituts, das sie gleichgeschlechtlichen Paaren zur Verfügung stellen. Dieses muss nicht unbedingt die Form der Ehe annehmen, da den Staaten die »Wahl der Mittel« überlassen bleibt, mit denen sie ihren aus Art 8 EMRK erwachsenden positiven Verpflichtungen nachkommen. Das den Staaten in dieser Hinsicht eingeräumte Ermessen bezieht sich
sowohl auf die Form der Anerkennung als auch auf den Inhalt des Schutzes (Fedotova ua/RU, Rz 186–188) [...].
Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall
(75) Der GH wird sich nun [...] vergewissern, ob der belangte Staat seiner positiven Verpflichtung nachgekommen ist, Anerkennung und Schutz der Beziehungen der Bf zu gewährleisten. Dazu muss er unter Berücksichtigung des diesem zustehenden Ermessensspielraums prüfen, ob der belangte Staat einen gerechten Ausgleich zwischen den von ihm geltend gemachten [...] Interessen und jenen der Bf getroffen hat.
(76) [...] Das rumänische Recht sieht nur eine Form der familiären Verbindung vor – eine verschiedengeschlechtliche Ehe – und keine rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paare.
(77) [...] Der belangte Staat informierte den GH nicht über irgendeine Absicht, sein innerstaatliches Recht zu ändern, um es gleichgeschlechtlichen Paaren zu erlauben, in den Genuss offizieller Anerkennung und eines Schutz bietenden Rechtsinstituts zu kommen. Vielmehr haben mehrere Versuche, in diesem Bereich Gesetze zu erlassen, nicht die Unterstützung des Parlaments oder der Regierung erhalten. Außerdem brachte die Regierung vor, das Fehlen einer Möglichkeit der rechtlichen Anerkennung [...] gleichgeschlechtlicher Paare sei mit Art 8 EMRK vereinbar und gerechtfertigt, um von ihr als überwiegend angesehene Interessen zu schützen. Die Situation im belangten Staat unterscheidet sich daher erheblich von jener in einer großen Zahl von Mitgliedstaaten, die versucht haben, ihr nationales Recht zu ändern, um einen effektiven Schutz des Privat- und Familienlebens gleichgeschlechtlicher Partner*innen sicherzustellen. [...]
(78) Der GH nimmt weiters das Vorbringen der Bf zur Kenntnis, wonach gleichgeschlechtliche Paare durch das Fehlen einer formellen Anerkennung vom Zugang zu zahlreichen, vom Gesetz für verheiratete Paare vorgesehenen, sozialen und bürgerlichen Rechten ausgeschlossen sind. Diese Stellungnahmen der Bf werden auch durch Informationen untermauert, die von der Menschenrechtskommissarin des Europarats zur Verfügung gestellt wurden. [...] Der GH kann daher im vorliegenden Fall zu dem Schluss kommen, dass gleichgeschlechtliche Paare aufgrund des Fehlens einer offiziellen Anerkennung nach rumänischem Recht nicht mehr sind als de facto-Verbindungen. Die Partner*innen sind nicht in der Lage, fundamentale Aspekte ihres gemeinsamen Lebens, die sich etwa auf Eigentum, Unterhalt oder Erbrecht beziehen, als offiziell anerkanntes Paar zu regeln. Sie können sich auch nicht vor Gerichten und Verwaltungsbehörden auf ihre Beziehung berufen. Die Bf haben daher ein besonderes Interesse daran, die Möglichkeit zu erhalten, eine Form des Zivilpakts oder der registrierten Partnerschaft einzugehen, um ihre Beziehungen ohne überflüssige Hindernisse durch die Gewährung der für jedes Paar in einer stabilen und verbindlichen Beziehung relevanten Kernrechte rechtlich anerkennen und schützen zu lassen. Angesichts dieser Überlegungen gelangt
der GH zu dem Schluss, dass das auf die Bf angewandte rumänische Recht nicht die wesentlichen Bedürfnisse nach Anerkennung und Schutz gleichgeschlechtlicher Paare [...] gewährte.
(79) Der GH wird die Gründe überprüfen, die vom belangten Staat vorgebracht wurden, um das Fehlen von rechtlicher Anerkennung und Schutz gleichgeschlechtlicher Paare zu rechtfertigen.
(80) Die Regierung brachte vor, die Mehrheit der Bevölkerung Rumäniens lehne gleichgeschlechtliche Verbindungen ab. Solche Argumente wurden vom GH bereits zurückgewiesen, weil die angebliche negative oder sogar feindselige Haltung seitens der heterosexuellen Mehrheit nicht dem Interesse der Bf an angemessener Anerkennung und rechtlichem Schutz ihrer Beziehungen entgegengestellt werden kann.
(81) Die Regierung behauptete auch, anders als im Fall Oliari ua/IT sei die Frage, ob gleichgeschlechtliche Paare von rechtlicher Anerkennung profitieren sollten, bislang von den höchsten Gerichten Rumäniens nicht bejaht worden. [...] Der GH nimmt die Feststellung des Verfassungsgerichts zur Kenntnis, wonach Personen des gleichen Geschlechts, die stabile Paare bildeten, das Recht hätten, in diesen Beziehungen ihre Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen und durch die vom Gesetz vorgesehenen Mittel von der rechtlichen und gerichtlichen Anerkennung der entsprechenden Rechte und Pflichten zu profitieren.(Anm: Mit Urteil vom 18.7.2018 erklärte das Verfassungsgericht Art 277 Abs 2 und Abs 4 Zivilgesetzbuch für verfassungswidrig, weil auch gleichgeschlechtliche Paare von Art 7 GRC und Art 8 EMRK geschützt würden und es mit diesen Bestimmungen unvereinbar sei, Bürgern ein Aufenthaltsrecht zu verwehren, die im Ausland eine gleichgeschlechtliche Ehe oder eine eingetragene Partnerschaft abgeschlossen haben.) Der GH
nimmt auch die Vorschläge zur Kenntnis, die Bestimmungen über den Begriff der Familie in der Verfassung dahingehend zu ändern, dass er nur noch verschiedengeschlechtliche Paare erfasst. Diese Vorschläge wurden allerdings noch nicht verwirklicht. Das Verfassungsgericht hatte klargestellt, dass der Begriff der von Art 26 der Verfassung geschützten Familie einen sehr viel breiteren rechtlichen Inhalt habe, der auch die Beziehung eines gleichgeschlechtlichen Paares einschließe. Zudem bekräftigt der GH an dieser Stelle, dass er keine Gefahr für die Institution der Ehe – wie sie vom innerstaatlichen Recht eingerichtet ist – erkennen kann, die mit der Gewährung von rechtlicher Anerkennung und Schutz für gleichgeschlechtliche Paare einhergehen könnte, da dies verschiedengeschlechtliche Paare nicht daran hindert, zu heiraten oder die mit der Ehe verbundenen Vorteile zu genießen (vgl Fedotova ua/RU, Rz 212). Diese Argumente können daher das Fehlen einer Form der rechtlichen Anerkennung und des Schutzes
gleichgeschlechtlicher Paare im vorliegenden Fall nicht rechtfertigen.
(82) Was das Argument der Regierung zur Weite des Ermessensspielraums betrifft, erinnert der GH an seine frühere Feststellung, wonach der Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten erheblich reduziert ist, wenn es darum geht, gleichgeschlechtlichen Paaren die Möglichkeit der rechtlichen Anerkennung und des Schutzes zu gewähren. Allerdings haben sie einen weiteren Ermessensspielraum bei der Bestimmung des genauen Charakters des Rechtsinstituts, das sie gleichgeschlechtlichen Paaren zur Verfügung stellen. In diesem letztgenannten Kontext kann Rücksicht auf den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext Rumäniens genommen werden.
(83) Im Licht der obigen Überlegungen findet der GH, dass keiner der sich auf das öffentliche Interesse beziehenden Gründe, die von der Regierung geltend gemacht wurden, gegenüber dem Interesse der Bf an der angemessenen rechtlichen Anerkennung und dem Schutz ihrer Beziehungen überwiegt. Der GH gelangt zu dem Ergebnis, dass der belangte Staat seinen Ermessensspielraum überschritten und es verabsäumt hat, seiner positiven Verpflichtung nachzukommen, die Achtung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens der Bf sicherzustellen.
(84) Folglich hat eine Verletzung von Art 8 EMRK stattgefunden (5:2 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richter Wojtyczek und Harutyunyan).
Zur behaupteten Verletzung von Art 14 iVm Art 8 EMRK
(85) Die Bf behaupteten, das Fehlen einer Möglichkeit zur rechtlichen Anerkennung ihrer Beziehungen durch eine Alternative zur Ehe begründe eine Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Sie beriefen sich auf Art 14 iVm Art 8 EMRK.
(86) Angesichts seiner Feststellungen zu Art 8 EMRK erachtet es der GH nicht als notwendig, gesondert zu prüfen, ob in diesem Fall auch eine Verletzung von Art 14 iVm Art 8 EMRK erfolgte (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richterin Guerra Martins).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
Die Feststellung einer Verletzung stellt als solche eine ausreichende gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden dar (einstimmig). Im Übrigen wird der Antrag auf gerechte Entschädigung abgewiesen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Oliari ua/IT, 21.7.2015, 18766/11, 36030/11 = NLMR 2015, 338
Fedotova ua/RU, 17.1.2023, 40792/10 ua (GK) = NLMR 2023, 45
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.5.2023, Bsw. 20081/19, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 254) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.