JudikaturAUSL EGMR

Bsw2800/16 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
Wirtschaftsrecht
16. Mai 2023

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Janssen de Jong Groep B.V. ua gg die Niederlande, Urteil vom 16.5.2023, Bsw. 2800/16.

Spruch

Art. 8, 13 EMRK - Übermittlung strafrechtlicher Ermittlungsdaten an die Wettbewerbsbehörde.

Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).

Keine Verletzung von Art 8 EMRK (4:3 Stimmen).

Keine Verletzung von Art 13 EMRK iVm Art 8 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die bf Unternehmen sind im Baugewerbe tätige Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Im Jahr 2007 kam der Verdacht auf, dass Bauunternehmen lokale Regierungsmitglieder bestochen hatten, um sich staatliche Aufträge zu sichern. In diesem Zusammenhang wurde eine Operation mit dem Codenamen »Cleveland« durchgeführt, welche die bf Unternehmen als Verdächtige benannte. Im Rahmen der Ermittlungen wurden Telefongespräche von Mitarbeitern abgehört, was von einem Ermittlungsrichter genehmigt wurde. Einige dieser Telefonate wurden als potentiell interessant für die niederländische Wettbewerbsbehörde (Nederlandse Mededingingsautoriteit – NMA) eingestuft, da sie Hinweise auf Preisabsprachen enthielten. Die NMA erhielt im Juli 2008 Zugang zu einer Auswahl schriftlicher Berichte über die abgehörten Gespräche. Am 19.8.2008 wurde der NMA eine CD mit Aufzeichnungen der Telefongespräche vom zuständigen Staatsanwalt zu Informationszwecken mit dem Hinweis übergeben, die Aufnahmen dürften nur mit seiner Zustimmung für andere Zwecke verwendet werden.

Am 9.12.2008 leitete die NMA eine offizielle Ermittlung wegen möglicher Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht ein und beantragte bei der Staatsanwaltschaft die Genehmigung der Nutzung der auf der CD gespeicherten Daten. Diese stimmte der Verwendung zu. Die NMA-Inspektoren besuchten am 27. und 28.1.2009 die Geschäftsräume des bf Unternehmens und beantragten Einsicht in die Bücher. Am 21.4.2009 befragten sie Mitarbeiter. Am 28.5.2009 teilte der Staatsanwalt dem damaligen Verteidiger der bf Unternehmen mit, dass Informationen, die im Zuge der »Cleveland«-Ermittlung erlangt wurden, gemäß dem Gesetz über gerichtliche und strafrechtliche Daten (Wet Justitiële en Stravorderlijke gegevens – WJSG) und der dazu ergangenen Verordnung an die NMA übermittelt wurden. (Anm: Die auf dem WJSG beruhende Verordnung über die Übermittlung strafrechtlicher Daten zu anderen Zwecken [im Folgenden: »Übermittlungsverordnung«] enthält nähere Bestimmungen über die Ausübung des Ermessens der Staatsanwälte und die vor einer Übermittlung durchzuführende Interessenabwägung. Gemäß der Verordnung handelt es sich bei der Entscheidung über die Datenweitergabe nicht um einen verwaltungsrechtlichen Akt, weshalb kein administratives Rechtsmittel dagegen erhoben werden kann.)

Die bf Unternehmen beantragten bei einem Zivilgericht, die NMA mittels einstweiliger Anordnung zur Rückgabe und zur Unterlassung der Verwendung der Daten zu verpflichten. Am 26.6.2009 wies der Richter die Forderungen der bf Unternehmen ab. Er begründete sein Urteil mit dem wirtschaftlichen Wohl der Niederlande, welches schwerer wiege als das Interesse am Schutz der Privatsphäre der bf Unternehmen. Weiters habe es keine für die bf Unternehmen weniger einschneidenden Möglichkeiten gegeben, um die Informationen zu erlangen.

Im Verwaltungsverfahren kam die NMA auf Grundlage der Ergebnisse ihrer Untersuchung zum Schluss, dass eines der bf Unternehmen von März bis Dezember 2008 mit anderen Unternehmen Angebote abgestimmt und somit gegen das Wettbewerbsgesetz verstoßen hatte. Sie verhängte eine Strafe iHv drei Millionen Euro über die bf Unternehmen. Diese legten Einspruch ein, welcher am 8.3.2012 zurückgewiesen wurde. Daraufhin legten sie Berufung ein und machten geltend, dass die Übermittlung der Daten rechtswidrig gewesen sei. Weiters machten sie geltend, dass die Aufzeichnungen nicht in den Strafakt aufgenommen worden seien. Zudem habe keine Überprüfung durch ein unabhängiges Gericht stattgefunden, weshalb die Aufzeichnungen nicht als Beweise zugelassen hätten werden dürfen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung statt. Die Daten würden zwar »strafrechtliche Daten« iSd WJSG darstellen, jedoch enthielten die Akten der Staatsanwaltschaft keine nachvollziehbare Interessenabwägung. Somit sei die NMA nicht berechtigt gewesen, die Telefongespräche als Beweismittel zu verwenden.

Sowohl die Verbraucher- und Marktbehörde (Autoriteit Consument en Markt – ACM) als Nachfolgeeinrichtung der NMA als auch die bf Unternehmen erhoben beim Obersten Verwaltungsgericht für Handel und Industrie Rechtsmittel gegen diese Entscheidung.

Das Oberste Verwaltungsgericht für Handel und Industrie hob in seinem Urteil vom 9.7.2015 das Berufungsurteil auf, wies das Rechtsmittel der bf Unternehmen ab und verwies die Sache an das Berufungsgericht zurück. Es begründete sein Urteil damit, dass die Daten als strafrechtliche Daten zu qualifizieren seien und die Telefongespräche im Strafverfahren von Bedeutung sein könnten. Zudem liege ein zwingendes Allgemeininteresse vor.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die bf Unternehmen behaupteten eine Verletzung von Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens, der Wohnung und der Korrespondenz) alleine und iVm Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde), da die Übermittlung der Daten an die NMA für die strafrechtlichen Ermittlungen irrelevant gewesen sei und sie keinen Zugang zu einem effektiven Rechtsmittel gehabt hätten.

Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK

Zulässigkeit

(37) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK genannten Grund unzulässig ist. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

Zum Vorliegen eines Eingriffs

(43) Die Regierung hat nicht bestritten, dass die Übermittlung der Daten einen Eingriff in die durch Art 8 EMRK garantierten Rechte der bf Unternehmen darstellt.

(44) Der GH betont, dass juristische Personen in bestimmten Situationen das Recht auf Achtung ihrer Geschäftsräume und ihrer Korrespondenz gemäß Art 8 EMRK geltend machen können [...]. Weiters stellt er fest, dass die Übermittlung der Daten, welche durch die Überwachung von Telefonverkehr gewonnen wurden, an andere Behörden und die Verwendung durch diese einen gesonderten Eingriff in die durch diese Bestimmung geschützten Rechte darstellen kann [...].

(45) In Bezugnahme auf den vorliegenden Fall stellt der GH fest, dass die Übermittlung der Daten [...] an die NMA einen Eingriff in die Rechte der bf Unternehmen gemäß Art 8 EMRK darstellt.

Zur Rechtfertigung des Eingriffs

Einleitende Bemerkungen

(46) [...] Die Beschwerden im vorliegenden Fall betreffen die Übermittlung bestimmter Daten; sie betreffen nicht das Erfassen dieser Daten. [...] Es ist zwischen den Parteien unstrittig, dass die Daten [...] im Rahmen des Strafverfahrens rechtmäßig erhoben wurden [...]. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die bf Unternehmen nicht in der Lage gewesen wären, die Telefonüberwachung wirksam anzufechten [...]. Der GH geht daher davon aus, dass die Daten mit Methoden erlangt wurden, die mit Art 8 EMRK vereinbar sind.

(47) Es bleibt jedoch die Tatsache, dass die Übermittlung der Daten ohne das Wissen der bf Unternehmen stattfand. Aus diesem Grund hält der GH die von ihm entwickelten Maßstäbe [...] im Zusammenhang mit geheimen Überwachungsmaßnahmen für den vorliegenden Fall relevant, welche sich wie folgt zusammenfassen lassen.

(48) Der GH hat festgestellt, dass das gesetzliche Erfordernis der »Vorhersehbarkeit« im Zusammenhang mit geheimen Überwachungsmaßnahmen nicht bedeuten kann, dass eine Person in der Lage sein sollte, vorherzusehen, wann die Behörden wahrscheinlich ihre Kommunikation abhören werden, damit sie ihr Verhalten anpassen kann. Wenn jedoch eine Befugnis der Exekutive heimlich ausgeübt wird, ist die Gefahr der Willkür offensichtlich. Aus diesem Grund ist es erforderlich, über klare und detaillierte Regeln für geheime Überwachungen zu verfügen, die hinreichend deutlich sind, um der Person einen angemessenen Hinweis darauf zu geben, unter welchen Umständen und welchen Bedingungen Behörden [...] auf solche Maßnahmen zurückgreifen dürfen [...].

(49) Des Weiteren hat der GH die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen betont, um einen Missbrauch der Befugnis zur geheimen Überwachung zu vermeiden; es würde gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen, wenn das Ermessen [...] der Exekutive uneingeschränkt wäre [...]. Der GH hat Mindeststandards entwickelt, welche im innerstaatlichen Recht festgelegt werden müssen. Diese schließen die Vorsichtsmaßnahmen mit ein, die bei der Übermittlung [...] der gewonnenen Daten an andere Parteien zu ergreifen sind. Zu diesen Vorsichtsmaßnahmen hat der GH bisher noch keine speziellen Hinweise gegeben, außer im besonderen Kontext der Weitergabe geheimdienstlichen Materials [...]. In diesem Zusammenhang passte der GH die Mindeststandards an die besonderen Merkmale der Massenüberwachung an und war der Meinung, dass die Übermittlung auf das Material beschränkt werden sollte, das in einer konventionskonformen Weise erhoben und gespeichert wurde [...]. Er stellte fest, dass die Umstände, unter denen eine solche Übermittlung stattfinden kann, im innerstaatlichen Recht eindeutig festgelegt werden müssen und dass die Übermittlung von Material, welches durch Massenüberwachung gewonnen wurde, an ausländische geheimdienstliche Partner ebenfalls einer unabhängigen Kontrolle unterliegen sollte [...]. Was an Schutzmaßnahmen erforderlich ist, hängt somit vom Kontext und [...] von der Art und dem Ausmaß des fraglichen Eingriffs ab [...].

(50) Es ist Sache des GH, bei der Überprüfung, ob Maßnahmen der verdeckten Überwachung »gesetzlich vorgesehen« sind, festzustellen, ob das anzuwendende innerstaatliche Recht einschließlich seiner Auslegung durch die innerstaatlichen Gerichte mit hinreichender Klarheit den Umfang des eingeräumten Ermessens der Behörde und die Art und Weise seiner Ausübung angibt. Eine solche Prüfung ist zwangsläufig mit einem gewissen Maß an Abstraktion verbunden. Jedoch muss der GH in Fällen, die sich aus Individualbeschwerden ergeben, seine Aufmerksamkeit nicht auf das Gesetz als solches richten, sondern auf die Art, wie es [...] auf den Bf angewandt wurde. Bei der Prüfung, ob der beanstandete Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war, muss der GH feststellen, ob das innerstaatliche System der verdeckten Überwachung, wie es von den [...] Behörden angewandt wurde, angemessene Garantien gegen Missbrauch bot [...].

(51) Der GH hat bestätigt, dass die innerstaatlichen Behörden [...] einen gewissen Ermessensspielraum bei der Beurteilung des Vorliegens und des Umfangs einer solchen Notwendigkeit haben. Wenn eine Maßnahme auf eine juristische Person abzielt, kann ein breiterer Ermessensspielraum angewendet werden, als [...] wenn eine natürliche Person betroffen ist [...].

Zur gesetzlichen Grundlage des Eingriffs

(52) Die bf Unternehmen machten geltend, dass die Übermittlung der Daten, die für die strafrechtlichen Ermittlungen nicht relevant waren, nicht ausreichend vorhersehbar gewesen sei. [...]

(53) Der GH stellt fest, dass der Eingriff eine Grundlage im niederländischen Recht hatte [...]. Was das Erfordernis der Vorhersehbarkeit betrifft, hat der GH in verschiedenen Fällen anerkannt, dass Ermittlungsmethoden möglicherweise verdeckt eingesetzt werden müssen [...]. Die strafrechtlichen Ermittlungen gegen die bf Unternehmen waren zum Zeitpunkt der Übermittlung noch im Gange. Die Mitteilung hätte somit die strafrechtliche Ermittlung und die verdeckten Ermittlungsmaßnahmen [...] beeinträchtigen können. Der GH erkennt daher an, dass die Übermittlung in diesem Fall ohne die vorherige Kenntnis der bf Unternehmen erfolgen musste. [...]

(54) Der GH stellt fest, dass ein Unterschied zwischen der Situation der verdeckten Ermittlungsmaßnahmen in der genannten Rsp und dem Eingriff durch die Übermittlung der Daten im vorliegen Fall besteht. Die Übermittlung der Daten war eine Ableitung aus einem Eingriff, welcher Garantien gegen Willkür vorsah und von dem der GH annimmt, dass er im Einklang mit Art 8 EMRK stand [...]. Schon aus diesem Grund war die Befugnis zur Übermittlung der [...] erlangten Daten nicht »unbegrenzt«. Der GH ist der Meinung, dass dieser Unterschied relevant für die Beurteilung des vorliegenden Falls ist. Dennoch wird er wie in Fällen verdeckter Überwachung prüfen, ob das anwendbare innerstaatliche Recht [...] den bf Unternehmen einen angemessenen Hinweis auf den Umfang und die Art und Weise der Ausübung des Ermessens der Behörden zur Übermittlung der Daten gegeben hat.

(55) Der GH stellt fest, dass § 39f WJSG [...] die Grenzen und Bedingungen für die Übermittlung von Daten durch die Staatsanwaltschaft gesetzlich festlegt. Er stellt ferner fest, dass die Übermittlungsverordnung klare Anweisungen über die Ausübung der Übermittlungsbefugnis enthält. [...]

(57) Auf der Grundlage von § 39f WJSG hält es der GH für hinreichend vorhersehbar, dass die NMA befugt war, strafrechtliche Daten von der Staatsanwaltschaft zu erhalten. Obwohl die NMA als solche nicht erwähnt wurde, ist klar, dass sie mit der Durchsetzung des Wettbewerbsgesetzes beauftragt ist [...]. Behörden, die mit der Durchsetzung von Rechtsvorschriften betraut sind, sind in § 39f WJSG als zur Entgegennahme von strafrechtlichen Daten befugt erwähnt. Anders als von den bf Unternehmen behauptet, wird die Befugnis, diese Daten zu erhalten, nicht [...] von den Ermittlungsbefugnissen der empfangenden Stelle abhängig gemacht. In diesem Zusammenhang weist der GH darauf hin, dass sich aus den Erwägungen des Obersten Verwaltungsgerichts für Handel und Industrie ergibt, dass das WJSG gerade die Möglichkeit vorsieht, unter strengen Voraussetzungen Daten, die bei verdeckten strafrechtlichen Ermittlungen erlangt wurden, an öffentliche Stellen [...] zu übermitteln.

(58) Zur Frage, ob es hinreichend vorhersehbar war [...], dass auch Daten, welche nicht für die Strafverfolgung verwendet werden, übermittelt werden konnten, stellt der GH folgendes fest. Strafrechtliche Daten werden in Abschnitt 1 des WJSG in Bezug auf den Kontext, in dem sie gewonnen wurden, definiert. [...]. Diese Definition bezieht sich nicht auf ihre [...] Relevanz für eine Strafverfolgung, geschweige denn auf die Verwendung durch die Staatsanwaltschaft [...] in diesem Fall. Wie das Berufungsgericht und das Oberste Verwaltungsgericht für Handel und Industrie festgestellt haben, ergibt sich aus der Begründung des Gesetzesentwurfs, dass der Gesetzgeber den Begriff »Strafakt« [...] weit ausgelegt hatte [...].

(59) Als nächstes stellt der GH fest, dass der Wortlaut des § 39f WJSG zwar strenge Voraussetzungen bezüglich der Übermittlung strafrechtlicher Daten durch die Staatsanwaltschaft enthält, aber nicht angibt, in welcher Form erforderliche Abwägungen vorzunehmen sind. Es kann jedoch nicht übersehen werden, dass sich aus der Begründung des Gesetzesentwurfes eindeutig ergibt, dass die Entscheidung über die Ermittlung strafrechtlicher Daten nach innerstaatlichem Recht als faktischer Akt und nicht als eine Entscheidung nach dem Allgemeinen Verwaltungsrechtsgesetz (Algemene Wet Bestuursrecht – AWB) zu qualifizieren ist [...]. [...] Vor diesem Hintergrund sieht der GH keinen Grund, die Schlussfolgerung des Obersten Verwaltungsgerichts für Handel und Industrie in Frage zu stellen, dass die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, strafrechtlich relevante Daten zu übermitteln, keine Entscheidung iSd AWB ist und dass es seine eigene Abwägungsprüfung durchzuführen hat, wenn es beurteilt, ob die [...] erlangten Beweise

rechtmäßig an die NMA übermittelt wurden [...] und ob die Übermittlung der Daten im Einklang mit Art 8 EMRK stand [...]. Dieser Ansatz ergibt sich auch aus der Rsp des Obersten Gerichtshofs.

(60) In Anbetracht des zuvor Ausgeführten stellt der GH fest, dass das geltende Recht den bf Unternehmen hinreichende Anhaltspunkte dafür bot, unter welchen Umständen [...] die Staatsanwaltschaft befugt war, die beanstandete Datenübermittlung zu tätigen. Der Informationsaustausch zwischen der Staatsanwaltschaft und der NMA war in diesem Rahmen ausreichend vorhersehbar. [...] Die beiden Behörden, die über unterschiedliche Aufgaben und Fachkenntnisse verfügten, hätten sich abstimmen müssen, um die für das Allgemeininteresse [...] erforderlichen Daten zu ermitteln. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass jemand anderes als die Staatsanwaltschaft für die Auswahl der Daten, auf die die NMA zugreifen konnte, verantwortlich war oder dass sie auf mehr Informationen zugriff, als für den genehmigten Zweck erforderlich waren.

(61) Der GH erkennt daher an, dass der Eingriff »gesetzlich vorgesehen« war. Er hält es für angemessen, das Vorhandensein angemessener Schutzmechanismen zur Vermeidung von Missbrauch als Teil der Frage zu prüfen, ob der Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war [...].

Zum Vorliegen eines legitimen Ziels für den Eingriff

(62) Die Regierung behauptete, dass die Datenübermittlung dem legitimen Ziel des Schutzes des wirtschaftlichen Wohlergehens des Landes gedient habe [...].

(63) In Anbetracht seiner früheren Feststellungen in wettbewerbsrechtlichen Fällen [...] sieht der GH keinen Grund, eine andere Auffassung zu vertreten.

Zur Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft

(64) Die bf Unternehmen machten geltend, dass das anzuwendende nationale Recht, das keine gerichtliche Vorabkontrolle der Datenübermittlung vorsehe, keine ausreichenden Garantien gegen Missbrauch biete und dass der Eingriff unverhältnismäßig gewesen sei [...].

(65) Der GH weist erneut darauf hin, dass die erforderlichen Schutzmaßnahmen [...] von der Art und dem Ausmaß des fraglichen Eingriffs abhängen.

(66) Was die Frage betrifft, ob angemessene Schutzmaßnahmen zur Vermeidung von Missbrauch bestanden, wurde bereits festgestellt, dass § 39f WJSG die Grenzen und Bedingungen für die Übermittlung strafrechtlicher Daten durch die Staatsanwaltschaft gesetzlich festlegt. Aus der Entstehungsgeschichte des WJSG geht weiter hervor, dass das Vorliegen eines »zwingenden Allgemeininteresses« ausdrücklich mit den in Art 8 Abs 2 EMRK angeführten legitimen Zielen verknüpft ist. Darüber hinaus gibt die Übermittlungsverordnung der Staatsanwaltschaft klare Leitlinien für die Ausübung der Übermittlungsbefugnis, [...] indem sie hervorhebt, dass solche Daten nur an öffentliche Behörden übermittelt werden dürfen, wenn es eine Rechtsgrundlage dafür gibt [...], wenn es für die Behörde sonst keine Möglichkeit gibt, die Informationen zu erlangen [...], und wenn es für einen in § 39f WJSG definierten Zweck erforderlich ist.

(67) Zudem gibt es eine umfassende nachträgliche gerichtliche Kontrolle. Im Verwaltungsverfahren, welches die Bußgeldentscheidung der NMA betraf, konnten die bf Unternehmen die Rechtmäßigkeit und Konventionskonformität der Datenübermittlung anfechten, was sie auch taten. Was die übermittelten Daten betrifft, die für die Entscheidung der NMA verwendet wurden, konnten die Beschwerden der bf Unternehmen somit behoben werden.

(68) Der Umstand, dass Gegenstand des Verfahrens die verwaltungsrechtliche Entscheidung der NMA, und nicht die Übermittlung an sich war, kann nicht zu dem Schluss führen, dass keine ausreichenden Schutzmaßnahmen bestanden, da den bf Unternehmen auch der Rechtsweg zu den Zivilgerichten offenstand. Aus der Entstehungsgeschichte des WSJG und der Übermittlungsverordnung geht klar hervor, dass die Zivilgerichte befugt waren, über die Rechtmäßigkeit der Übermittlung in einem zivilrechtlichen Haftungsverfahren zu entscheiden. Die Zivilgerichte hätten die Verwendung der Daten durch die NMA verhindern können, wenn die Übermittlung als rechtswidrig eingestuft worden wäre. Die bf Unternehmen machten geltend, dass ein Zivilverfahren in der Praxis keine hinreichende Überprüfung ermöglichen würde, haben jedoch dafür keine Belege oder Beispiele angeführt. [...]

(70) In Anbetracht der Art und des Ausmaßes des Eingriffs im vorliegenden Fall in Verbindung mit den Schutzmaßnahmen, die nach dem innerstaatlichen Recht bestanden [...] ist der GH davon überzeugt, dass das System in angemessener Weise geeignet war, Machtmissbrauch zu vermeiden und er stellt fest, dass Art 8 EMRK [...] keine vorherige Genehmigung durch ein Gericht erforderte.

(71) Was die Frage betrifft, ob der Eingriff verhältnismäßig war, stellt der GH fest, dass die innerstaatlichen Gerichte den Sachverhalt sorgfältig geprüft, die Rechtmäßigkeit der Übermittlung nach dem WSJG beurteilt und eine angemessene Interessenabwägung nach Art 8 EMRK [...] vorgenommen haben. In diesem Zusammenhang berücksichtigt der GH auch den Umstand, [...] dass die Übermittlung nur 2 % der abgehörten Telefongespräche betraf und die bf Unternehmen [...] keine Argumente vorbrachten, warum der Eingriff kein legitimes Ziel verfolgte oder warum [...] die Abwägung nicht angemessen war.

(72) Die vorstehenden Ausführungen bringen den GH zum Schluss, dass die innerstaatlichen Behörden stichhaltige und ausreichende Gründe vorgebracht haben, um die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Datenübermittlung zum Zweck der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts zu rechtfertigen.

(73) Es liegt daher keine Verletzung von Art 8 EMRK vor (4:3 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richter Grozev, Pavli und Ktistakis).

Zur behaupteten Verletzung von Art 13 EMRK

Zulässigkeit

(76) Der GH stellt fest, dass dieser Teil der Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK genannten Grund unzulässig ist. Er ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

(77) Die bf Unternehmen beschwerten sich, dass ihnen ein wirksamer Rechtsbehelf vorenthalten worden sei, weil sie nicht vorab von der Übermittlung informiert worden seien und sie keinen Zugang zu einer gerichtlichen Vorabkontrolle gehabt hätten. [...] Dies sei jedoch erforderlich gewesen, um einen irreversiblen Schaden zu verhindern, da die NMA-Beamten mit Zugang zu den Daten nicht vergessen könnten, was sie gesehen hätten.

(79) Im Lichte seiner Feststellungen [...] zu Art 8 EMRK stellt der GH fest, dass die bf Unternehmen über einen wirksamen Rechtsbehelf verfügten, um ihre Beschwerden [...] vorzubringen.

(80) Es liegt daher keine Verletzung von Art 13 EMRK iVm Art 8 EMRK vor (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Weber und Saravia/DE, 29.6.2006, 54934/00 (ZE) = NL 2006, 177

Bernh Larsen Holding AS ua/NO, 14.3.2013, 24117/08 = NLMR 2013, 103

Dragojevic/HR, 15.1.2015, 68955/11

Big Brother Watch ua/GB, 25.5.2021, 58170/13 (GK) = NLMR 2021, 248

Naumenko und SIA Rix Shipping/LV, 23.6.2022, 50805/14

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.5.2023, Bsw. 2800/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 242) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.