JudikaturAUSL EGMR

Bs41579/98 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
26. Oktober 2004

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache AB Kurt Kellermann gegen Schweden, Urteil vom 26.10.2004, Bsw. 41579/98.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Unparteilichkeit von Laienrichtern am Arbeitsgericht.

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (5:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die vorliegende Bsw. wurde von einer in der Textilindustrie tätigen Gesellschaft erhoben. Da sie sich keiner Arbeitgeberorganisation angeschlossen hatte, war sie an keinen Kollektivvertrag gebunden. Zwei ihrer rund 20 Angestellten waren Mitglieder der Industriegewerkschaft, die dem schwedischen Gewerkschaftsbund angehörte.

Im Frühling 1997 auf Initiative der Gewerkschaft aufgenommene Tarifverhandlungen mit der bf. Gesellschaft scheiterten, da die Unternehmensleitung der Ansicht war, die Arbeitsbedingungen und Löhne ihrer Beschäftigten wären ohnehin deutlich günstiger als die in dem Tarifvertrag vorgesehenen. Die bf. Gesellschaft wollte weder einen individuellen Tarifvertrag mit der Industriegewerkschaft abschließen, noch einer Arbeitgeberorganisation beitreten. Nachdem die Gewerkschaft der Bf. am 3.10.1997 förmlich Streikmaßnahmen für den Fall androhte, dass sie die Unterzeichnung eines Tarifvertrags weiterhin verweigern würde, beantragte diese beim Amtsgericht Stockholm, den Streik für rechtswidrig zu erklären. Am 20.10.1997 fand ein eintägiger Streik statt. Auf Antrag der Gewerkschaft trat das Amtsgericht Stockholm die Rechtssache am 5.12.1997 an das Arbeitsgericht ab.

Beim Arbeitsgericht beantragte die Bf., die Rechtssache möge nur von Berufsrichtern entschieden werden, da ihrer Ansicht nach die gesetzlich vorgesehene Mitwirkung von Laienrichtern, die von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen nominiert wurden, dem in Art. 6 EMRK verankerten Gebot der objektiven Unparteilichkeit des Gerichts widersprechen würde. Dieser Antrag wurde am 14.1.1998 abgewiesen. In der Sache selbst brachte die bf. Gesellschaft vor, die Streikmaßnahmen hätten ihre durch Art. 11 EMRK garantierte negative Vereinigungsfreiheit verletzt. Das Arbeitsgericht stellte in seinem Urteil vom 11.2.1998 fest, der Streik sei nicht rechtswidrig gewesen und habe auch nicht die negative Vereinigungsfreiheit der Bf. verletzt. Das Arbeitsgericht tagte in einer Besetzung von zwei Berufs- und fünf Laienrichtern. Von diesen waren je zwei von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen nominiert worden. Nach Erlass dieses Urteils unternahm die Gewerkschaft einen weiteren Versuch, einen Tarifvertrag mit der bf. Gesellschaft abzuschließen, was diese jedoch weiterhin ablehnte. Am 23.2.1998 beantragte die Gewerkschaft beim Arbeitsgericht die urteilsmäßige Feststellung ihres Rechts, Arbeitskampfmaßnahmen gegen die Bf. zu setzen. Deren neuerliche Anfechtung der Zusammensetzung des Gerichts hatte auch in diesem Verfahren keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht, das in derselben Zusammensetzung wie in dem ersten Verfahren tagte, gab dem Antrag der Gewerkschaft statt und stellte am 13.3.1998 die Rechtmäßigkeit von Streikmaßnahmen fest. Der von der Bf. angerufene Oberste Gerichtshof bestätigte dieses Urteil.

Am 6.4.1998 organisierte die Gewerkschaft einen Streik im Betrieb der Bf., der auch von anderen Gewerkschaften unterstützt wurde. Am 8.4.1998 trat die Bf. der Vereinigung der Textil- und Bekleidungsindustrie bei, wodurch sie an einen Kollektivvertrag gebunden wurde. Die Gewerkschaft stellte ihre Kampfmaßnahmen daraufhin sofort ein. Aufgrund gesunkener Erträge wurde das Unternehmen im Juni 1998 für insolvent erklärt, am 30.3.2001 wurde die Gesellschaft aufgelöst.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (hier: Recht auf ein unparteiisches Gericht).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK:

Die bf. Gesellschaft bestreitet die objektive Unparteilichkeit des Arbeitsgerichts. Sie bringt vor, die Laienrichter, die gemeinsam die Mehrheit der Richter bildeten, würden Interessen vertreten, die in Konflikt zu denen der bf. Gesellschaft stünden. Die Laienrichter würden von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen nominiert, die nicht organisierte Arbeitgeber und Arbeitnehmer als störende Elemente am schwedischen Arbeitsmarkt empfinden könnten.

Die Laienrichter am Arbeitsgericht scheinen aufgrund ihrer speziellen Kenntnisse grundsätzlich sehr gut geeignet zur Teilnahme an der Rechtsprechung über arbeitsrechtliche Streitigkeiten. Die Mitgliedschaft von Laienrichtern in spezialisierten Gerichten ist in vielen Ländern verbreitet. Dennoch kann ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in Einzelfällen Zweifeln unterliegen. Da die Bf. weder die Unabhängigkeit des Arbeitsgerichts noch die Unparteilichkeit seiner Berufsrichter oder die subjektive Unparteilichkeit der Laienrichter bestritten hat, wird der GH seine Prüfung auf die objektive Unparteilichkeit der Laienrichter beschränken. Die entscheidende Frage dabei ist, ob das Gleichgewicht der Interessen durch die Zusammensetzung des Arbeitsgerichts gestört war, und – wenn ja – ob ein solcher Mangel dazu führen konnte, dass das Gericht im vorliegenden Fall nicht mehr als unparteiisch angesehen werden kann. Dies wäre dann der Fall, wenn die Interessen der Laienrichter denen der Bf. entgegen gestanden sind. Die bf. Gesellschaft hat im innerstaatlichen Verfahren im Wesentlichen geltend gemacht, die Streikmaßnahmen der Gewerkschaft hätten ihr Recht verletzt, sich nicht den Arbeitsmarktorganisationen anzuschließen. Da sich die Beteiligten einig waren, dass die Streikmaßnahmen nicht gegen das schwedische Arbeitsrecht verstießen, beschränkte sich das Arbeitsgericht auf die Prüfung einer möglichen Verletzung der durch Art. 11 EMRK garantierten negativen Vereinigungsfreiheit. Dabei ging es hauptsächlich um die Frage, ob die in dem von der Gewerkschaft vorgeschlagenen Kollektivvertrag vorgesehenen Arbeitsbedingungen günstiger waren als diejenigen, denen die Arbeitnehmer der bf. Gesellschaft bereits unterlagen. Nach Ansicht des GH konnten die Laienrichter und die Organisationen, von denen sie nominiert wurden, angesichts der Natur des Streits zwischen der bf. Gesellschaft und der Gewerkschaft bei objektiver Betrachtung keine anderen Interessen verfolgen, als sicherzustellen, dass die strittigen Arbeitsbedingungen korrekt geprüft und bewertet würden und dass Art. 11 EMRK korrekt ausgelegt und angewendet würde. Diese Interessen konnten denen der bf. Gesellschaft nicht entgegen stehen. Es wäre falsch anzunehmen, dass die Ansichten der Laienrichter zu diesen Fragen durch ihre Zugehörigkeit zu einer oder der anderen nominierenden Organisation beeinflusst worden wären. Der GH nimmt auch Bezug auf die Tatsache, dass die bf. Gesellschaft keiner Arbeitgeberorganisation angehörte und damit keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Arbeitsgerichts hatte, während die Industriegewerkschaft Mitglied des Gewerkschaftsbundes war, der eines der Mitglieder des Arbeitsgerichts nominiert hatte. Zu akzeptieren, dass dies Zweifel an der Unparteilichkeit des Arbeitsgerichts aufwirft, käme nach Ansicht des GH der Annahme gleich, das Arbeitsgericht würde das Erfordernis der Unparteilichkeit in allen Fällen verletzen, in denen Laienrichter von Arbeitsmarktorganisationen nominiert wurden und eine der Parteien keiner solchen Organisation angehört. Diese Annahme wäre nicht vereinbar mit der Feststellung des GH, dass Laienrichter aufgrund ihrer speziellen Kenntnisse zur Teilnahme an der Rechsprechung über arbeitsrechtliche Streitigkeiten grundsätzlich sehr gut geeignet erscheinen.

Die bf. Gesellschaft hatte daher keinen legitimen Grund zur Befürchtung, die Laienrichter würden Interessen vertreten, die ihren eigenen entgegen stünden, oder das Gleichgewicht der Interessen wäre in einem solchen Ausmaß gestört, dass das Arbeitsgericht dem Erfordernis der Unparteilichkeit nicht mehr genügen würde. Es liegt daher keine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK vor (5:2 Stimmen; Sondervotum der Richter Garlicki und Borrego Borrego).

Vom GH zitierte Judikatur:

De Cubber/B v. 26.10.1984, A/86 (= EuGRZ 1985, 407).

Langborger/S v. 22.6.1989, A/155.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 26.10.2004, Bsw. 41579/98, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 243) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/04_5/Kellermann.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise