JudikaturArbeits- und Sozialgericht Wien

17Cgs91/07g – Arbeits- und Sozialgericht Wien Entscheidung

Entscheidung
14. Mai 2007

Kopf

Im Namen der Republik

Spruch

Das Arbeits- und Sozialgericht Wien erkennt durch den Richter Dr. Walter Schober als Vorsitzenden und die fachkundigen Laienrichter Rudolf Bambule (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Alfred Föderler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S***, vertreten durch Mag. Werner Pletzenauer, Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, Prinz-Eugen-Straße 20-22, 1041 Wien, wider die beklagte Partei Wiener Gebietskrankenkasse, Wienerbergstraße 15-19, 1103 Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, nach öffentlicher mündlicher Verhandlung zu Recht:

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei für ihr Kind A***, geboren am 24.6.2005, für den Zeitraum 1.1.2006 bis 15.10.2006 ein Kinderbetreuungsgeld im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren.

Entscheidungsgründe:

Text

Mit Bescheid vom 14.1.2007 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung eines Kinderbetreuungsgeldes anlässlich der Geburt ihres Kindes A***, geboren am 24.6.2005, für den Zeitraum 1.1.2206 bis 15.10.2006 ab.

Mit der am 21.3.2007 eingelangten Klage begehrt die Klägerin wie im Spruch ersichtlich und brachte ihrerseits vor, dass sie türkische Staatsangehörige sei und seit 13.12.2000 legal in Österreich lebe. Ihr Sohn A*** sei am 24.6.2005 in Wien zur Welt gekommen. Er sei türkischer Staatsangehöriger und lebe mit ihr im gemeinsamen Haushalt und sei seit seiner Geburt in Wien wohnhaft. Sie beziehe für ihr Kind seit Juni 2005 bis laufend Familienbeihilfe. Seitens der beklagten Partei sei ihr Kinderbetreuungsgeld vom 17.9.2005 bis 31.12.2005 und ab 20.10.2006 gewährt worden. Das Kind verfüge über eine Niederlassungsbewilligung des Amtes der Wiener Landesregierung – MA 20, vom 16.10.2006. Ihr Antrag auf Zuerkennung eines Kinderbetreuungsgeldes für den Zeitraum 1.1.2006 bis 19.10.2006 sei mit der Begründung abgelehnt worden, dass ihr Sohn die Voraussetzungen des §§ 8 und 9 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) nicht erfülle, weshalb die Voraussetzungen für die Gewährung von Kinderbetreuungsgeld gemäß § 2 Abs. 1 Z 5 KBGG nicht vorlägen. Auf sie und ihren Sohn als türkischen Staatsangehörigen sei das Assoziierungsabkommen EWG – Türkei sowie der Beschluss Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19.9.1980 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf türkische Arbeitnehmer und deren Familienangehörigen (ABl. 1983, C 110, S. 60) anwendbar. Da sie gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 lit. g ASVG, aufgrund der Erziehung ihres Sohnes A*** in der Pensionsversicherung teilversichert sei und über die türkische Staatsangehörigkeit verfüge, sei sie Arbeitnehmerin im Sinne des Art. 2 des Beschlusses Nr. 3/90. Sie sei daher ebenso wie ihr Sohn vom persönlichen Geltungsbereich des Beschlusses Nr. 3/80 umfasst.

Artikel 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80, der die Überschrift „Gleichbehandlung" trage und Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 seien ebenfalls anzuwenden. Nach Urteil des EUGH vom 4.5.1999 in der Rechtssache C-262/96 (Sürül) verbiete Artikel 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19.9.1980 es einem Mitgliedstaat, den Anspruch eines türkischen Staatsangehörigen, für den dieser Beschluss gelte und dem er den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet gestattet habe, der jedoch dort nur eine zu einem bestimmten Zweck erteilte, befristete Aufenthaltsbewilligung besitze, auf Kindergeld für sein Kind, das in diesem Mitgliedstaat mit ihm zusammenwohne, vom Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis abhängig zu machen, während Inländer insoweit nur ihren Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat haben müssen. Da das Gleichbehandlungsgebot des Artikel 3 des Beschlusses Nr. 3/80 auch für ihre Familienangehörigen, die im Gebiet eines Mitgliedsstaates wohnen, und somit auch für ihren Sohn Mehmet Ali gelte, verstoße der österreichische Gesetzgeber gegen dieses Gleichbehandlungsgebot, wenn ein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld für ihren Sohn von dessen Besitz einer besonderen Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis abhängig gemacht werde, während Kinder mit österreichischer Staatsangehörigkeit lediglich den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen in Österreich haben müssen.

Die beklagte Partei bestritt das Klagebegehren, beantragte Klagsabweisung und brachte ihrerseits vor, dass gemäß § 30 Abs. 4 1. Satz FPG 2005 Kinder, die nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, während ihrer ersten sechs Lebensmonate von der Sichtvermerkspflicht befreit seien, sofern die Mutter oder ein anderer Fremder, dem Pflege und Erziehung des Kindes zukomme, rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen sei; dies gelte, so lange der Betreffende rechtmäßig niedergelassen bleibe, bei Ableitung vom Vater überdies nur, wenn diesem das Recht zur Pflege und Erziehung alleine zukomme. Gemäß § 31 Abs. 1 Z 2 FPG 2005 halten sich Fremde rechtmäßig im Bundesgebiet auf, wenn sie aufgrund einer Aufenthaltsberechtigung oder einer Dokumentation des Aufenthaltsrechtes nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes zur Niederlassung oder zum Aufenthalt oder aufgrund einer Verordnung für Vertriebene zum Aufenthalt berechtigt seien. Mit Schreiben der beklagten Partei vom 14.3.2006 sei die Klägerin, um ihr das Kinderbetreuungsgeld weiter gewähren zu können, aufgefordert worden, den Aufenthaltstitel des Kindes vorzulegen. Laut Auskunft der MA 35 sei der Antrag der Klägerin auf Erteilung einer NAG-Karte für ihr Kind am 19.4.2006 eingelangt. Diese NAG-Karte sei am 16.10.2006 ausgestellt und der Klägerin am 20.10.2006 ausgehändigt worden. Die Klägerin habe es verabsäumt, binnen der ersten sechs Lebensmonate ihres Kindes den Antrag auf eine NAG-Karte zu stellen. Somit habe sich das Kind der Klägerin vom 25.12.2005 bis zur Aushändigung der NAG-Karte am 20.10.2006 in Österreich nicht rechtmäßig aufgehalten und seien die Voraussetzungen für die Gewährung von Kinderbetreuungsgeld für die Zeit vom 1.1.2006 bis 19.1.2006 (gemeint wohl 19.10.2006) nicht gegeben. Für die Zeit vom 25.10.2005 bis 31.12.2005 sei das Kinderbetreuungsgeld gewährt worden, weil das Kinderbetreuungsgeld in der Fassung BGBl. 100/2005 am 1.1.2006 in Kraft getreten sei. Sowohl das Assoziierungsabkommen EWG – Türkei als auch der Beschluss Nr. 3/80 sei auf Personen anwendbar, die sich im Gebiet einer der Vertragsparteien rechtmäßig aufhalten. Das sei im Falle des Kindes der Klägerin in der Zeit vom 25.10.2005 bis 19.10.2006 nicht der Fall gewesen. Zudem habe der im Art. 1 lit. a des Beschlusses Nr. 3/80 angeführte Ausdruck „Wohnort" die Bedeutung, wie sie im Artikel 1 der Verordnung Nr. 1408/71 definiert sei. Danach sei „Wohnort" der Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes. Damit kann nur ein rechtmäßiger Aufenthalt gemeint sein. Für die Zeit vom 1.1.2006 bis 19.10.2006 bestehe daher kein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld.

Beweis wurde aufgenommen durch Einsichtnahme in den vorgelegten Bescheid (Beil./A), Kopien des Aufenthaltstitels samt Mitteilung über den Bezug der Familienbeihilfe und Meldezettel (./B), Antrag auf Kinderbetreuungsgeld samt Schreiben der beklagten Partei vom 14.3.2006 und Einreichbestätigung der MA 20 vom 19.4.2006 (Beil./1) sowie Einvernahme der Kläger als Partei.

Danach steht folgender Sachverhalt fest:

Außer Streit steht, dass die Klägerin türkische Staatsangehörige ist und seit 13.12.2000 legal in Österreich sich aufhält und lebt. Ihr Sohn A*** kam am 24.6.2005 in Wien zur Welt. Er ist türkischer Staatsangehöriger und lebt mit der Klägerin im gemeinsamen Haushalt seit seiner Geburt in Wien. Die Klägerin bezieht für ihren Sohn A*** seit Juni 2005 laufend Familienbeihilfe. Die beklagte Partei hat der Klägerin vom 17.9.2005 bis 31.12.2005 und ab 20.10.2006 Kinderbetreuungsgeld gewährt. Das Kind A*** verfügt über eine Niederlassungsbewilligung des Amtes der Wiener Landesregierung – MA 20 vom 16.10.2006, ihm ausgehändigt am 20.10.2006. Die Klägerin hat am 19.4.2006 die Erteilung einer NAG-Karte für das Kinde A*** gestellt. Des Weiteren steht außer Streit, dass der Klägerin in der Zeit von 1.7.2006 bis 19.10.2006 ein Kinderbetreuungsgeld im gesetzlichen Ausmaß zusteht.

Mit Schreiben vom 14.3.2006 wurde die Klägerin seitens der beklagten Partei darauf hingewiesen, dass um ihr das Kinderbetreuungsgeld weiter gewähren zu können, der Aufenthaltstitel von ihrem Sohn A*** zwingend notwendig ist, ebenso ein Kopie der Vaterschaftsanerkennung. Die Klägerin hat gleich nach der Geburt ihres Sohnes einen Reisepass für das Kind bei ihrem Konsulat beantragt. Die Ausstellung verzögerte sich dadurch, weil die Klägerin eine beglaubigte Abschrift ihres Scheidungsurteils aus Holland benötigte. Letztlich wurde der Reisepass ihres Sohnes im April 2006 ausgestellt und stellte sie am 19.4.2006 für ihren Sohn einen Antrag auf Erteilung einer NAG-Karte. Die Klägerin war bereits vor April 2006 bei der MA 20 und wollte eine NAG-Karte beantragen. Sie wurde weggeschickt, weil sie für ihren mj. Sohn keinen Reisepass hatte.

Beweiswürdigung:

Der festgestellte Sachverhalt gründet sich im Wesentlichen auf die weitgehenden Außerstreitstellungen welche auch durch die vorgelegten Urkunden nachvollziehbar sind. Auch konnte der Klägerin dahingehend Glauben geschenkt werden, dass die Ausstellung des Reisepasses für ihren mj. Sohn sich durch die beglaubigte Abschrift ihres Scheidungsurteils aus Holland verzögert hat. Ebenso wirkte ihre Schilderung lebensnah, dass sie wieder weggeschickt wurde, als sie eine NAG-Karte beantragen wollte, weil sie für ihren Sohn keinen Reisepass gehabt hat. Im Ergebnis bestanden keine Bedenken, die glaubwürdigen Angaben der Klägerin nicht den Feststellungen zu Grunde zu legen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtlich folgt daraus:

Strittig im konkreten Fall blieb, ob der Klägerin für ihren mj Sohn ein Kinderbetreuungsgeld auch für den Zeitraum 1.1.2006 bis 30.6.2006 zusteht. Die Gewährung von Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum vom 1.7.2006 bis 19.10.2006 wurde von der beklagten Partei aufgrund der Novelle BGBl I Nr. 168/2006 zum Kinderbetreuungsgeldgesetz [gemäß § 2 Abs. 1 Z 5 Kinderbetreuungsgeldgesetz (in der Fassung BGBl I Nr. 168/2006; Inkrafttretedatum 1.7.2006) wurde der Personenkreis um Personen erweitert, denen der Status des subsidiär Schutzberechtigten nach dem Asylgesetz 2005 zuerkannt wurde und die keine Leistungen aus der Grundversorgung erhalten und unselbständig oder selbständig erwerbstätig sind.] außer Streit gestellt.

Aufgrund des eingeschränkten Zeitraumes ist die entsprechende Gesetzeslage heranzuziehen, welche wie folgt lautet: Gemäß § 2 Abs. 1 Z 5 Kinderbetreuungsgeldgesetz (in der Fassung BGBl I Nr. 100/2005; Inkrafttretedatum 1.1.2006) hat ein Elternteil Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld für sein Kind, sofern der Elternteil und das Kind sich nach §§ 8 und 9 NAG rechtmäßig in Österreich aufhalten, es sei denn, es handelt sich um österreichische Staatsbürger oder Personen, denen Asyl nach dem Asylgesetz 2005 gewährt wurde. Gemäß § 30 Abs. 4 1. Satz FPG 2005 sind Kinder, die nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, während ihrer ersten sechs Lebensmonate von der Sichtvermerkspflicht befreit, sofern die Mutter oder ein anderer Fremder, dem Pflege und Erziehung des Kindes zukommt, rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen ist; dies gilt, so lange der Betreffende rechtmäßig niedergelassen bleibt, bei Ableitung vom Vater überdies nur, wenn diesem das Recht zur Pflege und Erziehung alleine zukommt. Gemäß § 31 Abs. 1 Z 2 FPG 2005 halten sich Fremde rechtmäßig im Bundesgebiet auf, wenn sie aufgrund einer Aufenthaltsberechtigung oder einer Dokumentation des Aufenthaltsrechtes nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) zur Niederlassung oder zum Aufenthalt oder aufgrund einer Verordnung für Vertriebene zum Aufenthalt berechtigt sind. Zunächst ist zu klären, ob – wie von der Klägerin behauptet – auf sie und ihren Sohn als türkische Staatsangehörige das Assoziierungsabkommen EWG – Türkei sowie der Beschluss Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 9.9.1980 über die Anwendung des Systemes der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der europäischen Gemeinschaft auf türkische Arbeitnehmer und deren Familienangehörigen (ABl. 1983, C 110, Seite 60) anwendbar ist.

Gemäß Art. 2 des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19.9.1980 gilt dieser Beschluss unter anderem für Arbeitnehmer, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehreren Mitgliedstaaten gelten oder galten, und die türkische Staatsangehörige sind und für die Familienangehörigen dieser Arbeitnehmer, die im Gebiet eines Mitgliedstaates wohnen. Der Oberste Gerichtshof führte bereits aus, dass trotz Fehlens eines Anpassungsprotokolls das Assoziationsabkommen EWG Türkei gemäß Art. 76 Abs. 2 BA seit 1.1.1995 auch für Österreich geltendes Gemeinschaftsrecht ist (vgl 1 Ob 179/99a, 10 Obs 241/03v). Die Bestimmungen des Assoziationsabkommens und der Beschlüsse des Assoziationsrates seien in jener Bedeutung anzuwenden, die ihnen die nach dem Gemeinschaftsrecht zu ihrer Auslegung zuständigen Organe, insbesondere der EUGH beigemessen haben. Zentral sei dazu, seit der Rechtssache Sevince (Slg 1990, I-3461) die enge Verknüpfung von Erwerbstätigkeit und Aufenthaltsrecht. Obschon Artikel 6 Abs. 1 ARB 1/80 nicht die aufenthaltsrechtliche, sondern nur die beschäftigungsrechtliche Stellung türkischer Arbeitnehmer regelt, seien beide Aspekte eng miteinander verknüpft und implizierten zwangsläufig auch ein Aufenthaltsrecht türkischer Arbeitnehmer. Türkische Arbeitnehmer, die die Voraussetzungen des Artikel 6 Abs. 1 ARB 1/80 erfüllen, können sich unmittelbar auf diese Bestimmungen berufen, um neben der Verlängerung der Arbeitserlaubnis auch die der Aufenthaltserlaubnis zu erreichen (vgl Rechtssache Kus Slg 1992, I.6781). Allerdings setze der Individualanspruch des türkischen Arbeitnehmers voraus, dass ihm der erstmalige Zugang zum nationalen Arbeitsrecht erlaubt worden ist; diese Voraussetzung unterliege aber dem innerstaatlichen Recht (Bapuly/Kohlegger, Die Implementierung des Gemeinschafsrechts in Österreich – Die Gerichtsbarkeit (2003) S 573f).

Rechtsgrundlage von Assoziationsabkommen ist der Art 310 EG. Nach dieser Bestimmung kann die Gemeinschaft mit einem oder mehreren Staaten oder einer oder mehreren internationalen Organisationen Abkommen schließen, die eine Assoziierung mit gegenseitigen Rechten und Pflichten, gemeinsamem Vorgehen und besonderen Verfahren herstellen. Zum primären Assoziationsrecht zählen Assoziationsabkommen einschließlich von Protokollen und Anhängen. Die Abkommen sind völkerrechtliche Verträge, unterliegen also den Regeln des Völkerrechtes. Zugleich bilden sie mit ihrem Inkrafttreten einen integrierenden Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung. Indem den Gemeinschaftsorganen in Artikel 300 die Befugnis verliehen wurde, Abkommen mit dritten Ländern abzuschließen, die sowohl die Organe als auch die Mitgliedsstaaten binden, erfüllen die Mitgliedsstaaten, indem sie dafür sorgen, dass die Verpflichtungen aus einem solchen Abkommen eingehalten werden, eine Pflicht, die nicht nur dem Drittland, sondern auch und vor allem der Gemeinschaft gegenüber besteht. Aus der völkerrechtlichen Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber dem Vertragspartner ergibt sich auch der Vorrang der Abkommen vor innerstaatlichem Recht und sekundärem Gemeinschaftsrecht (Fuchs/Höller in Fuchs (Hrsg), Europäisches Sozialrecht, Das Sozialrecht in den Assoziationsabkommen der EG mit Drittstaaten, RN7ff).

Das Abkommen der EWG mit der Türkei trat mit 1.12.1964 in Kraft (Abkommen 64/733 vom 12.9.1963 ABl. 1964, 3687). Die Assoziation ist auf einen späteren Beitritt der Türkei gerichtet. Für die dazu erforderliche Annäherung an die Gemeinschaft sieht das Abkommen drei Stufen vor. Eine Vorbereitungsphase von fünf Jahren in der die Wirtschaft gefestigt wird, eine Übergangsphase von mehr als 12 Jahren zur schrittweisen Errichtung einer Zollunion und eine Annäherung der Wirtschaftspolitik und einer Endphase, die auf der Zollunion beruht und auch eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitiken einschließt. Die Endphase wurde am 31.12.1995 erreicht (Fuchs/Höller aaO).

Zum Assoziationsratsbeschluss (kurz ARB) Nr. 3/80 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedsstaaten der europäischen Gemeinschaft auf die türkischen Arbeitnehmer und deren Familienangehörigen ist folgendes festzuhalten:

Ziel des Beschlusses ist eine Koordination der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedsstaaten dahingehend, dass die in der Gemeinschaft beschäftigten türkischen Arbeitnehmer sowie deren Familienangehörige und Hinterbliebenen Leistungen in den herkömmlichen Zweigen der sozialen Sicherheit beziehen können. Der Beschluss knüpft an die wahrgenommene Freizügigkeit an, ohne türkischen Staatsangehörigen ein Recht auf Freizügigkeit zu verleihen. Dazu trifft dieser Beschluss der Verordnung (EGW) Nr. 1408/71 vergleichbare Regelungen. Mit der Einbeziehung aller Drittstaatsangehörigen in den Anwendungsbereich der VO (EWG) Nr 1408/71 mit Wirkung zum 1.6.2003 durch die VO (EG) Nr. 859/2003 (Abl. 2003 Nr. L 124, S 1) verliert der ARB Nr. 3/80 an Bedeutung. Die unmittelbare Anwendbarkeit von Bestimmung des ARB Nr. 3/80 war bisher dreimal Gegenstand einer Entscheidung des EuGH, wobei letztlich in der Rechtssache Sürül (C-262/96, Slg. 1999 I-6743) klargestellt wurde, dass die Bestimmungen des ARB Nr. 3/80 unmittelbar anwendbar sind. Artikel 3 Abs. 1 ARB Nr. 3/80 bestimmt, dass Personen die im Gebiet eines Mitgliedstaates wohnen und für die der Beschluss gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates haben, wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit der Beschluss nichts anderes bestimmt. Die Rechtssache Sürül betraf den Fall einer türkischen Frau, der in Deutschland ein Anspruch auf Kindergeld für ihr Kind deshalb versagt worden war, weil sie nur eine Aufenthaltsbewilligung besaß und nicht die nach deutschem Recht seit 1994 für den Kindergeldbezug von Ausländern erforderliche Aufenthaltsberechtigung oder –erlaubnis. Entsprechend seiner ständigen Rechtsprechung hat der EuGH zunächst geprüft, ob Art. 3 Abs. 1 ARB Nr. 3/80 eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfüllung oder Wirkung nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängt. Der Gerichtshof stellte – wie bereits zuvor hinsichtlich der sozialrechtlichen Diskriminierungsverbote in den Kooperationsabkommen mit den Mittelmeerstaaten - die unmittelbare Anwendbarkeit des Diskriminierungsverbotes in Artikel 3 Abs. 1 ARB Nr. 3/80 fest. Damit muss ein türkischer Staatsangehöriger, für den der Beschluss gilt, ebenso behandelt werden wie die Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedsstaates, sodass die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedsstaates die Gewährung eines Anspruchs an einen solchen türkischen Staatsangehörigen nicht von zusätzlichen oder strengeren Voraussetzungen abhängig machen dürfen, als sie für die Staatsangehörigen des Mitgliedsstaates gelten.

Artikel 3 ARB Nr. 3/80 verbietet unmittelbare und verschleierte Diskriminierungen gleichermaßen. Im Fall Sürül hat der EuGH die Regelung des Kindergeldbezuges, die für rechtmäßig in Deutschland lebende türkischen Staatsangehörige im Gegensatz zu deutschen Staatsangehörigen den Kindergeldanspruch vom Besitz eines bestimmten Aufenthaltstitels abhängig macht, als Diskriminierung angesehen, für die keine objektive Rechtfertigung gegeben ist (Fuchs/Höller aaO). Soweit überblickbar bestehen hinsichtlich des Assoziationsabkommen EWG – Türkei und des Assoziationsratsbeschluss Nr. 3/80 seitens der Republik Österreich keine Anwendungsvorbehalte oder entsprechende Sonderbestimmungen. Zur VO (EG) Nr. 859/2003 (Abl. 2003 Nr. L 124, S 1) vom 14.5.2003 zur Ausdehnung der Bestimmungen der VO (EWG) Nr. 1408/71 und der VO (EWG) Nr. 574/72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmung fallen, wurde im Anhang seitens der Republik Österreich der Vorbehalt gemacht, dass im Bereich der Familienleistungen diese VO nur auf Drittstaatsangehörige Anwendung findet, die die Vorraussetzungen des österreichischen Rechts für einen dauerhaften Anspruch auf Familienbeihilfen erfüllen. Im Ergebnis bedeutet dies unter Berücksichtigung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache Sürül für den gegenständlichen Sachverhalt folgendes: Ausgehend davon, dass die Klägerin sich unmittelbar auf den Beschluss Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19.9.1980 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheiten der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf türkische Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörigen berufen kann, darf, weil sie sich – unstrittig - rechtmäßig in Österreich aufhält, der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nicht vom Besitz eines bestimmten Aufenthaltstitels abhängig gemacht werden, weil dies auch für österreichische Staatsbürger nicht der Fall ist. Unstrittig ist (auch), dass die Klägerin mit ihrem Sohn A*** im gemeinsamen Haushalt lebt und ihren Lebensmittelpunkt auch in Österreich hat. Aus diesem Grund bezieht die Klägerin auch zu Recht für ihren Sohn Familienbeihilfe (vgl § 2 Abs 1 und Abs 2 FLAG). Da die beklagte Partei – im Gegensatz zu den österreichischen Staatsbürgern – das Kinderbetreuungsgeld bei der Klägerin für ihren mj. Sohn vom Besitz eines bestimmten Aufenthaltstitels abhängig macht, ist dies aufgrund der unmittelbaren Wirkung des Beschlusses Nr. 3/80 als Diskriminierung anzusehen. Der Vorbehalt Österreichs hinsichtlich der VO (EG) Nr. 859/2003 steht dem nicht entgegen, weil die Klägerin nach dem österreichischen Recht die Vorraussetzungen für einen dauerhaften Anspruch auf Familienbeihilfe erfüllt und diese auch für den mj. Sohn bezieht.

Im Hinblick darauf, dass der EuGH bereits in der Rechtssache Sürül das Assoziationsabkommen EWG – Türkei und auch den Beschluss Nr. 3/80 des Assoziationsrates EWG - Türkei ausgelegt hat, konnte diese Rechtsansicht auch im gegenständlichen Fall herangezogen werden. Aufgrund der klaren Ausführungen des EuGH bestanden keine Fragen für eine Vorabentscheidung. Nachdem das hier anzuwendende Gemeinschaftsrecht Vorrang vor der entsprechenden Bestimmung des Kinderbetreuungsgeldgesetzes (§ 2 Abs. 1 Z 5) hat, war letztlich dem Klagebegehren – auch für den letztlich strittigen Zeitraum vom 1.1.2006 bis 30.6.2006 - stattzugeben.

Im Ergebnis hat die beklagte Partei der Klägerin ein Kinderbetreuungsgeld im gesetzlichen Ausmaß vom 1.1.2006 bis 19.10.2006 zu gewähren.

Arbeits- und Sozialgericht Wien

1080 Wien, Wickenburggasse 8

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