BundesrechtInternationale VerträgeEuropäische Charta der lokalen Selbstverwaltung

Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung

In Kraft seit 31. August 2021
Up-to-date

ARTIKEL 1

Art. 1

Die Parteien verpflichten sich, die folgenden Artikel in der in Artikel 12 dieser Charta vorgeschriebenen Weise und in dem in diesem Artikel vorgeschriebenen Ausmaß als bindend für sich anzusehen.

TEIL I

ARTIKEL 2

Verfassungsmäßige und gesetzliche Verankerung der lokalen Selbstverwaltung

Art. 2

Der Grundsatz der lokalen Selbstverwaltung wird in der innerstaatlichen Gesetzgebung und, soweit möglich, in der Verfassung anerkannt.

ARTIKEL 3

Begriff der lokalen Selbstverwaltung

Art. 3

1. Unter lokaler Selbstverwaltung versteht man das Recht und die tatsächliche Fähigkeit lokaler Gebietskörperschaften, einen bedeutenden Teil der öffentlichen Angelegenheiten in eigener Verantwortung und zum Nutzen ihrer Einwohner im Rahmen der Gesetze zu regeln und zu besorgen.

2. Dieses Recht wird durch Räte oder Versammlungen ausgeübt, deren Mitglieder aus freien, geheimen, gleichen, unmittelbaren und allgemeinen Wahlen hervorgehen. Diese Räte oder Versammlungen können über Exekutivorgane verfügen, die ihnen gegenüber verantwortlich sind. Durch diese Bestimmung wird in keiner Weise der Rückgriff auf Bürgerversammlungen, Referenden oder jede andere Form der direkten Beteiligung der Bürger, soweit diese gesetzlich zugelassen ist, beeinträchtigt.

ARTIKEL 4

Umfang der lokalen Selbstverwaltung

Art. 4

1. Die grundlegenden Befugnisse und Aufgaben der lokalen Gebietskörperschaften werden durch Verfassung oder Gesetz festgelegt. Diese Bestimmung verhindert jedoch nicht die Übertragung von Befugnissen und Aufgaben zu speziellen Zwecken an die lokalen Gebietskörperschaften in Übereinstimmung mit dem Gesetz.

2. Die lokalen Gebietskörperschaften haben im Rahmen des Gesetzes volle Freiheit zur Entfaltung ihrer Initiative in jeder Angelegenheit, die nicht von ihrem Zuständigkeitsbereich ausgenommen oder einer anderen Behörde übertragen ist.

3. Die Wahrnehmung der öffentlichen Aufgaben obliegt ganz allgemein in erster Linie den Gebietskörperschaften, die dem Bürger am nächsten sind. Bei Übertragung einer Aufgabe an eine andere Behörde sollte auf den Umfang und die Art der Aufgabe und die Erfordernisse der Wirksamkeit und Sparsamkeit Bedacht genommen werden.

4. Die den lokalen Gebietskörperschaften übertragenen Zuständigkeiten sind üblicherweise ungeschmälert und ausschließlich. Sie dürfen nur im Rahmen des Gesetzes durch eine andere zentrale oder regionale Behörde ausgehöhlt oder eingeschränkt werden.

5. Im Falle der Übertragung von Befugnissen durch eine zentrale oder regionale Behörde an die lokalen Gebietskörperschaften haben diese so weit wie möglich Spielraum, ihre Vorgangsweise den lokalen Gegebenheiten anzupassen.

6. Die lokalen Gebietskörperschaften werden, soweit dies möglich ist, rechtzeitig und in angemessener Weise im Zuge des Planungs- und Entscheidungsprozesses in allen Angelegenheiten angehört, die sie unmittelbar betreffen.

ARTIKEL 5

Schutz der Gebietsgrenzen der lokalen Gebietskörperschaften

Art. 5

Vor jeder Änderung der lokalen Gebietsgrenzen werden die betroffenen lokalen Gebietskörperschaften zuvor, allenfalls im Wege eines Referendums, wo dies gesetzlich möglich ist, angehört.

ARTIKEL 6

Angemessene Strukturen und Verwaltungsmittel für die Aufgaben der lokalen Gebietskörperschaften

Art. 6

1. Unbeschadet allgemeiner gesetzlicher Regelungen sollen die lokalen Gebietskörperschaften ihre inneren Verwaltungsstrukturen selbst gestalten können, um sie so ihren örtlichen Bedürfnissen anzupassen und eine leistungsfähige Verwaltung zu ermöglichen.

2. Die dienstrechtlichen Bestimmungen der lokalen Gebietskörperschaften sollen die Aufnahme qualifizierten Personals nach den Grundsätzen von Verdienst und Fähigkeit ermöglichen; zu diesem Zweck sollen sie entsprechende Voraussetzungen für Ausbildung, Besoldung und Beförderung umfassen.

ARTIKEL 7

Voraussetzungen für die Mandatsausübung auf lokaler Ebene

Art. 7

1. Die Vorschriften über die Ausübung des Mandats sollen den gewählten lokalen Vertretern die freie Ausübung ihres Mandats gewährleisten.

2. Sie sollen eine angemessene finanzielle Entschädigung für durch Mandatsausübung entstandene Kosten sowie gegebenenfalls für Verdienstentgang oder ein Entgelt für geleistete Arbeit und eine entsprechende soziale Absicherung vorstellen.

3. Mit dem Mandat der lokalen Abgeordneten unvereinbare Ämter und Tätigkeiten können nur durch Gesetz oder grundlegende Rechtsprinzipien bestimmt werden.

ARTIKEL 8

Verwaltungsaufsicht über Tätigkeiten der lokalen Gebietskörperschaften

Art. 8

1. Jede Verwaltungsaufsicht über lokale Gebietskörperschaften darf nur in den von der Verfassung oder dem Gesetz vorgesehenen Formen und Fällen ausgeübt werden.

2. Jede Verwaltungsaufsicht über Tätigkeiten der lokalen Gebietskörperschaften soll in der Regel nur darauf abzielen, die Gesetzmäßigkeit und die Einhaltung der verfassungsmäßigen Grundsätze zu gewährleisten. Die Verwaltungsaufsicht kann jedoch eine Kontrolle der Zweckmäßigkeit durch die übergeordnete Behörde bei Aufgaben umfassen, deren Besorgung an lokale Gebietskörperschaften delegiert wurde.

3. Die Verwaltungsaufsicht über lokale Gebietskörperschaften soll so ausgeübt werden, daß die Verhältnismäßigkeit zwischen Ausmaß des Eingriffs der Aufsichtsbehörde und Bedeutung der schützenswerten Interessen gewahrt bleibt.

ARTIKEL 9

Finanzmittel der lokalen Gebietskörperschaften

Art. 9

1. Die lokalen Gebietskörperschaften sollen im Rahmen der nationalen Wirtschaftspolitik Anrecht auf ausreichende eigene Finanzmittel haben, über die sie in Ausübung ihrer Zuständigkeit frei verfügen können.

2. Die Finanzmittel der lokalen Gebietskörperschaften sollen in einem angemessenen Verhältnis zu den von der Verfassung oder vom Gesetz vorgesehenen Aufgaben stehen.

3. Mindestens ein Teil der Finanzmittel der lokalen Gebietskörperschaften sollen aus örtlichen Steuern und Gebühren stammen, für die sie innerhalb der Schranken des Gesetzes den Steuersatz selbst festlegen können.

4. Die Finanzsysteme, auf denen die Mittel begründet sind, die den lokalen Gebietskörperschaften zur Verfügung stehen, sollen vielfältig und entwicklungsfähig sein, um sie in die Lage zu versetzen, soweit wie möglich mit der tatsächlichen Entwicklung der Kosten für die Ausübung ihrer Aufgaben Schritt zu halten.

5. Der Schutz finanziell schwächerer lokaler Gebietskörperschaften macht die Einführung von Verfahren zum Finanzausgleich oder gleichwertiger Maßnahmen erforderlich, um die Auswirkungen der ungleichen Verteilung der möglichen Finanzquellen sowie der von ihnen zu tragenden finanziellen Lasten zu korrigieren. Durch solche Verfahren oder Maßnahmen soll die Entscheidungsfreiheit der lokalen Gebietskörperschaften in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich nicht geschmälert werden.

6. Die lokalen Gebietskörperschaften sollen in entsprechender Weise über die Modalitätender Zuerkennung umverteilter Finanzmittel angehört werden.

7. Die den lokalen Gebietskörperschaften gewährten Zuschüsse sollen, soweit möglich, nicht zur Finanzierung spezifischer Projekte bestimmt sein. Die Gewährung von Zuschüssen darf nicht die grundlegende Freiheit der Politik der lokalen Gebietskörperschaften in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich beeinträchtigen.

8. Zur Finanzierung ihrer Investitionsausgaben sollen die lokalen Gebietskörperschaften in Übereinstimmung mit dem Gesetz Zugang zum inländischen Kapitalmarkt haben.

ARTIKEL 10

Vereinigungsrecht der lokalen Gebietskörperschaften

Art. 10

1. Die lokalen Gebietskörperschaften haben das Recht, bei Besorgung ihrer Aufgaben zusammenzuarbeiten und im Rahmen der Gesetze zur Durchführung von Aufgaben gemeinsamen Interesses mit anderen lokalen Gebietskörperschaften Verbände zu bilden.

2. Das Recht der lokalen Gebietskörperschaften, einer Vereinigung zum Schutz und zur Förderung ihrer gemeinsamen Interessen anzugehören, sowie das Recht, einer internationalen Vereinigung der lokalen Gebietskörperschaften anzugehören, werden in jedem Staat anerkannt.

3. Die lokalen Gebietskörperschaften können unter den allenfalls vom Gesetz vorgesehenen Bedingungen mit den Gebietskörperschaften anderer Staaten zusammenarbeiten.

ARTIKEL 11

Rechtsschutz der lokalen Selbstverwaltung

Art. 11

Den lokalen Gebietskörperschaften steht ein Rechtsmittel an ein Gericht offen, um die freie Ausübung ihrer Zuständigkeiten und die Einhaltung der Grundsätze der lokalen Selbstverwaltung zu sichern, die in der Verfassung oder der innerstaatlichen Gesetzgebung verankert sind.

TEIL II

Sonstige Bestimmungen

ARTIKEL 12

Verpflichtungen

Art. 12

1. Jede Partei verpflichtet sich, mindestens zwanzig Absätze des Teils I der Charta als bindend für sich anzusehen, wovon mindestens zehn aus den folgenden Absätzen auszuwählen sind:

Artikel 2,

Artikel 3 Absatz 1 und 2,

Artikel 4 Absatz 1, 2 und 4,

Artikel 5,

Artikel 7 Absatz 1,

Artikel 8 Absatz 2,

Artikel 9 Absatz 1, 2 und 3,

Artikel 10 Absatz 1,

Artikel 11.

2. Jeder Vertragsstaat notifiziert dem Generalsekretär des Europarates zum Zeitpunkt der Hinterlegung seiner Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunde die gemäß den Bestimmungen von Absatz 1 dieses Artikels ausgewählten Absätze.

3. Jede Partei kann zu einem späteren Zeitpunkt dem Generalsekretär notifizieren, daß sie einen beliebigen anderen Absatz dieser Charta als bindend für sich ansieht, den sie gemäß den Bestimmungen von Absatz 1 dieses Artikels noch nicht angenommen hatte. Diese später angenommenen Verpflichtungen gelten als Bestandteil der Ratifikation, Annahme oder Genehmigung der dies notifizierenden Partei und haben ab dem ersten Tag des Monats nach Ablauf einer dreimonatigen Frist ab dem Zeitpunkt des Erhalts der Notifikation durch den Generalsekretär die gleiche Wirkung.

ARTIKEL 13

Gebietskörperschaften, für die die Charta Geltung hat

Art. 13

Die in der Charta enthaltenen Grundsätze lokaler Selbstverwaltung gelten für alle Kategorien lokaler Gebietskörperschaften, die es auf dem Hoheitsgebiet der Partei gibt. Jede Partei kann jedoch zum Zeitpunkt der Hinterlegung ihrer Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunde die Kategorien lokaler oder regionaler Gebietskörperschaften bezeichnen, auf die sie den Geltungsbereich zu beschränken oder die sie vom Geltungsbereich dieser Charta auszuschließen wünscht. Sie kann ebenfalls durch spätere Notifikation an den Generalsekretär des Europarates andere Kategorien lokaler oder regionaler Gebietskörperschaften in den Geltungsbereich der Charta aufnehmen.

ARTIKEL 14

Übermittlung von Informationen

Art. 14

Jede Partei übermittelt dem Generalsekretär des Europarates jede entsprechende Information über Gesetzesbestimmungen und sonstige Maßnahmen, die sie zu dem Zweck getroffen hat, den Bestimmungen dieser Charta zu entsprechen.

TEIL III

ARTIKEL 15

Unterzeichnung, Ratifizierung, Inkrafttreten

Art. 15

1. Diese Charta liegt für die Mitgliedstaaten des Europarates zur Unterzeichnung auf. Sie bedarf der Ratifikation, Annahme oder Genehmigung. Die Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunden werden beim Generalsekretär des Europarates hinterlegt.

2. Diese Charta tritt am ersten Tag des Monats nach Ablauf einer Frist von drei Monaten ab dem Zeitpunkt in Kraft, an dem vier Mitgliedstaaten des Europarates ihre Zustimmung gemäß den Bestimmungen des vorgehenden Absatzes ausgedrückt haben, durch die Charta gebunden zu sein.

3. Für jeden Mitgliedstaat, der in der Folge seine Zustimmung erklärt, durch die Charta gebunden zu sein, tritt diese am ersten Tag des Monats nach Ablauf einer Frist von drei Monaten ab dem Zeitpunkt der Hinterlegung der Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunde in Kraft.

ARTIKEL 16

Gebietsklausel

Art. 16

1. Jeder Staat kann zum Zeitpunkt der Unterzeichnung oder zum Zeitpunkt der Hinterlegung seiner Ratifikations-, Annahme-, Genehmigungs- oder Beitrittsurkunde das Hoheitsgebiet oder die Hoheitsgebiete bezeichnen, auf die diese Charta Anwendung findet.

2. Jeder Staat kann zu jedem späteren Zeitpunkt durch eine an den Generalsekretär des Europarates gerichtete Erklärung die Anwendung dieser Charta auf jedes andere in der Erklärung bezeichnete Hoheitsgebiet ausweiten. Die Charta tritt für dieses Hoheitsgebiet am ersten Tag des Monats nach Ablauf einer Frist von drei Monaten ab dem Zeitpunkt des Erhalts der Erklärung durch den Generalsekretär in Kraft.

3. Jede aufgrund der beiden vorangegangenen Absätze abgegebene Erklärung kann hinsichtlich jedes in dieser Erklärung bezeichneten Hoheitsgebietes durch eine an den Generalsekretär gerichtete Notifikation zurückgezogen werden. Die Zurückziehung wird am ersten Tag des Monats nach Ablauf einer Frist von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt des Erhalts der Notifikation durch den Generalsekretär wirksam.

ARTIKEL 17

Kündigung

Art. 17

1. Jede Partei kann diese Charta erst nach Ablauf einer Frist von fünf Jahren ab dem Zeitpunkt, an dem die Charta für sie in Kraft getreten ist, kündigen. Die Kündigung ist sechs Monate vorher dem Generalsekretär des Europarates zu notifizieren. Diese Kündigung berührt nicht die Gültigkeit der Charta gegenüber den anderen Parteien, solange ihre Zahl nicht unter vier absinkt.

2. Jede Partei kann gemäß den im obigen Absatz angeführten Bestimmungen jeden von ihr angenommenen Absatz des Teiles I der Charta kündigen, vorausgesetzt, daß die Anzahl und die Kategorie der für diese Partei verbindlichen Absätze weiterhin den Bestimmungen des Artikels 12 Absatz 1 entsprechen. Jede Partei, die durch Kündigung eines Absatzes den Bestimmungen des Artikels 12, Absatz 1 nicht mehr entspricht, wird so angesehen, als habe sie die Charta selbst gekündigt.

ARTIKEL 18

Notifikation

Art. 18

Der Generalsekretär des Europarates notifiziert den Mitgliedstaaten des Europarates:

a) jede Unterzeichnung;

b) die Hinterlegung jeder Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunde;

c) jeden Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Charta gemäß ihrem Artikel 15;

d) jede in Anwendung der Bestimmungen des Artikels 12 Absatz 2 und 3 erhaltene Notifikation;

e) jede in Anwendung der Bestimmungen des Artikels 13 erhaltene Notifikation;

f) jede andere diese Charta betreffende Urkunde, Notifikation oder Mitteilung.

Zu Urkund dessen haben die hierzu gehörig befugten Unterzeichneten diese Charta unterschrieben.

Geschehen zu Straßburg, am 15. Oktober 1985, in englischer und französischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist, in einer Ausfertigung, die im Archiv des Europarates hinterlegt wird. Der Generalsekretär des Europarates übermittelt jedem Mitgliedstaat des Europarates davon eine beglaubigte Abschrift.