JudikaturJustizBsw4782/18

Bsw4782/18 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
10. Oktober 2019

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Lewit gg. Österreich, Urteil vom 10.10.2019, Bsw. 4782/18.

Spruch

Art. 8 EMRK - Fehlender Schutz eines Holocaust-Überlebenden vor diffamierender Veröffentlichung.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 648,48 für materiellen Schaden, € 5.000,– für immateriellen Schaden und € 6.832,85 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Der 1923 geborene Bf. ist ein Überlebender des Holocaust. Im Mai 1945 war er aus dem Nebenlager Gusen des KZ Mauthausen befreit worden.

Im Sommer 2015 veröffentlichte die Zeitschrift Aula einen Artikel unter der Überschrift »Mauthausen-Befreite als Massenmörder«, der folgende Passage enthielt:

»Die Tatsache, dass ein nicht unerheblicher Teil der befreiten Häftlinge aus Mauthausen den Menschen zur Landplage gereichte, gilt für die Justiz als erwiesen und wird heute nur noch von KZ-Fetischisten bestritten. ...

[A]m 7. Mai [1945] war Mauthausen samt Gusen in amerikanischer Hand. Auf einen Schlag waren über 18.000 registrierte Häftlinge frei, noch dazu eine unbekannte Anzahl nicht erfaßter Insassen. Raubend und plündernd, mordend und schändend plagten die Kriminellen das unter der ›Befreiung‹ [vom NS-Regime] leidende Land.«

Aufgrund dieses Artikels übermittelte der Nationalratsabgeordnete H. W. eine Sachverhaltsdarstellung an die Staatsanwaltschaft. Das gegen den Autor des Artikels geführte Verfahren wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Verbotsgesetz, Verleumdung und Verhetzung wurde von der Staatsanwaltschaft eingestellt. In der Begründung hieß es unter anderem, es sei »nachvollziehbar, dass die Freilassung mehrerer tausend Menschen aus dem Konzentrationslager Mauthausen eine Belästigung für die betroffenen Gebiete Österreichs darstellte.« Auch könne »nicht ausgeschlossen werden, dass im Rahmen der Befreiung strafbare Handlungen [...] von Befreiten begangen wurden.« Daher sei der Tatbestand der Verleumdung nicht erfüllt. In seiner Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage erklärte der Justizminister, die Einstellung habe der Fakten- und Rechtslage entsprochen.

Im Februar 2016 erschien in der Aula ein weiterer Artikel desselben Autors. Unter der Überschrift »Der größte Lump im ganzen Land ist und bleibt der Denunziant« wurde der Abgeordnete H. W. kritisiert. Der Autor berichtete über die Einstellung des Strafverfahrens gegen ihn, fasste den ursprünglichen Artikel zusammen und wiederholte die umstrittenen Äußerungen wörtlich.

Im August 2016 erließ das LG für Zivilrechtssachen Graz auf Antrag von acht Überlebenden des KZ Mauthausen und zwei weiteren Personen eine einstweilige Verfügung, die der Aula Verlags GmbH untersagte, die umstrittenen Äußerungen wörtlich oder sinngemäß zu wiederholen. Diese einstweilige Verfügung wurde vom OLG Graz und vom OGH bestätigt. Das Hauptverfahren wurde mit einem Vergleich beendet, mit dem sich die Beklagte verpflichtete, die umstrittenen Äußerungen zu unterlassen. Der Bf. war nicht Partei dieser Verfahren.

Im Juli 2016 brachte der Bf. gemeinsam mit neun der zehn am Zivilverfahren beteiligten Kläger wegen des 2016 erschienenen Artikels einen Antrag auf Entschädigung gemäß § 8a iVm. § 6 MedienG ein. Ihrer Ansicht nach begründete die Veröffentlichung den objektiven Tatbestand der üblen Nachrede und der Beleidigung. Das LG für Strafsachen Graz wies den Antrag am 9.9.2016 ab. Das LG verneinte die Aktivlegitimation der Antragsteller, da diese von den gegen das Kollektiv der rund 18.000 bis 20.000 befreiten Mauthausen-Häftlinge gerichteten Äußerungen nicht persönlich betroffen wären. Zudem enthalte der Artikel, wenn sein Bedeutungsgehalt in Anwendung der Regel in dubio pro reo ausgelegt werde, keine gesonderten diffamierenden Äußerungen, sondern fasse lediglich das Ergebnis der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen den Autor zusammen. Das OLG Graz wies die Berufung am 21.7.2017 ab. Auf die Aktivlegitimation der Antragsteller ging es nicht näher ein. Die Anregung einer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes durch den Bf. wurde von der Generalprokuratur nicht aufgegriffen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(45) Der Bf. brachte vor, die österreichischen Gerichte hätten es verabsäumt, ihrer positiven Verpflichtung nach Art. 8 EMRK zu entsprechen, seinen guten Ruf und seine persönliche Integrität vor unwahren diffamierenden Behauptungen zu schützen, die 2016 in der rechtsgerichteten Zeitschrift Aula geäußert wurden. [...]

Zulässigkeit

Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK

(46) Wie der GH [in Aksu/TR] festgestellt hat, ist jede negative Stereotypisierung einer Gruppe, wenn sie eine bestimmte Stufe erreicht, geeignet, das Identitätsbewusstsein der Gruppe und das Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen von Mitgliedern der Gruppe zu beeinträchtigen. In dieser Hinsicht kann davon ausgegangen werden, dass sie das Privatleben der Mitglieder der Gruppe betrifft. Ähnliche Überlegungen gelten im vorliegenden Fall, der die Diffamierung ehemaliger Häftlinge von Mauthausen betrifft, die als Überlebende des Holocaust als (heterogene) gesellschaftliche Gruppe angesehen werden können. [...] Der effektiven Achtung des Privatlebens können auch positive Verpflichtungen innewohnen. Diese Verpflichtungen können das Ergreifen von Maßnahmen umfassen, die der Gewährleistung der Achtung des Privatlebens in der Sphäre der Beziehungen zwischen Privatpersonen dienen.

(47) [...] Der dem vorliegenden Fall zugrunde liegende Sachverhalt fällt in den Anwendungsbereich des Privatlebens des Bf., auch wenn er in dem fraglichen Artikel nicht namentlich genannt wurde. Daher ist Art. 8 EMRK anwendbar.

Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe

(48) Die Regierung behauptete, der Bf. habe es verabsäumt, die innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erschöpfen [...], weil er [...] eine auf § 1330 ABGB gestützte Klage [...] einbringen hätte können [...].

(49) Des Weiteren brachte die Regierung vor, der Entschädigungsantrag des Bf. nach § 8a iVm. § 6 MedienG habe nur den 2016 erschienenen Artikel betroffen. Er hätte aber keinen solchen Antrag im Hinblick auf den Artikel von 2015 gestellt, obwohl dieser die Quelle der umstrittenen Äußerung gewesen wäre [...].

(50) Außerdem hätte der Bf. nach Ansicht der Regierung gemäß § 12 und § 14 Abs. 1 MedienG einen Antrag auf Gegendarstellung oder nachträgliche Mitteilung stellen können [...].

(51) Schließlich brachte die Regierung vor, dass der Bf. Gelegenheit gehabt hätte, die umstrittenen Äußerungen nach den §§ 111, 115 oder 297 StGB bei den Behörden anzuzeigen. Während eines solchen Strafverfahrens hätte er einen Antrag auf Entschädigung nach § 8 MedienG stellen können. [...]

(58) Die Verpflichtung zur Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe verlangt von Bf., den gewöhnlichen Gebrauch von jenen Rechtsbehelfen zu machen, die verfügbar und im Hinblick auf den Missstand [...] ausreichend sind. Das Bestehen der fraglichen Rechtsbehelfe muss nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch ausreichend gewiss sein, da es ihnen andernfalls an der erforderlichen Zugänglichkeit und Effektivität fehlt. Um effektiv zu sein, muss ein Rechtsbehelf geeignet sein, dem angefochtenen Zustand direkt abzuhelfen und er muss ausreichende Erfolgsaussichten bieten.

(59) Von einem Bf., der Gebrauch von einem offensichtlich effektiven und ausreichenden Rechtsbehelf gemacht hat, kann nicht verlangt werden, auch andere versucht zu haben, die verfügbar waren, aber wahrscheinlich keine höheren Erfolgsaussichten boten. Wenn ein Rechtsbehelf verwendet wurde, ist der Gebrauch eines anderen Rechtsbehelfs nicht erforderlich, der im Wesentlichen dasselbe Ziel hat.

(60) Der Bf. hatte nach innerstaatlichem Recht die Wahl zwischen verschiedenen Rechtswegen, um einen Schutz seines Ansehens vor beleidigenden Äußerungen zu erreichen. Diese werden unten im Einzelnen behandelt. Der GH erinnert daran, dass der Bf. in den innerstaatlichen Verfahren folgende Ziele verfolgte: (1) eine Feststellung durch die innerstaatlichen Gerichte, dass die umstrittenen Abschnitte des Artikels von 2016 beleidigend waren und seine durch Art. 8 EMRK geschützten Persönlichkeitsrechte verletzten, sowie eine Veröffentlichung eines Widerrufs dieser Äußerungen und (2) den Erhalt einer Entschädigung für den immateriellen Schaden, den er durch den beleidigenden Artikel (angeblich) erlitten hatte.

Effektivität der Rechtsbehelfe nach § 1330 ABGB sowie §§ 12 und 14 Abs. 1 MedienG

(61) [...] Klagen gemäß § 1330 ABGB wären [...] ein effektiver Rechtsbehelf für das erste erklärte Ziel des Bf. gewesen, nämlich den Widerruf der fraglichen Äußerungen zu erreichen.

(62) Was sein zweites Ziel betrifft, nämlich eine Entschädigung für immateriellen Schaden zu erhalten, erachtet es der GH als geboten, seine Rechtsprechung zu einer verwandten Frage zu beleuchten, nämlich ob die Opfereigenschaft eines Bf. in Fällen, die sich auf die Privatsphäre beziehen, vom Fehlen einer solchen Entschädigung abhängt.

(63) Der GH erinnert an seine ständige Rechtsprechung, wonach eine Entscheidung zugunsten des Bf. grundsätzlich nicht ausreicht, um ihn seiner Eigenschaft als »Opfer« iSv. Art. 34 EMRK zu berauben, solange die nationalen Behörden die Konventionsverletzung nicht ausdrücklich oder der Sache nach anerkannt und Wiedergutmachung geleistet haben. Was die Frage betrifft, ob eine Wiedergutmachung angemessen und ausreichend ist, um einer Konventionsverletzung auf innerstaatlicher Ebene abzuhelfen, ist der GH im Allgemeinen davon ausgegangen, dass dies von allen Umständen des Falls abhängt, [...] insbesondere von der Natur der jeweiligen Konventionsverletzung.

(64) Im Hinblick auf Entschädigung für immateriellen Schaden in das Privatleben betreffenden Fällen hat der GH festgehalten, dass ein Opfer einer Verletzung nicht erwarten kann, dass automatisch ein Verstoß gegen Art. 8 EMRK vorliegt, wenn es keine finanzielle Entschädigung in einer bestimmten Höhe erhält. Die Vertragsstaaten können Fragen der Entschädigung für immateriellen Schaden unterschiedlich regeln und die Geltung von Höchstgrenzen ist für sich nicht unvereinbar mit den positiven Verpflichtungen des Staates nach Art. 8 EMRK. Allerdings dürfen solche Höchstgrenzen [...] das Recht nicht seines effektiven Gehalts berauben.

(65) Ob es in einem konkreten Fall angemessen ist, zusätzlich zur Feststellung einer Verletzung eine Entschädigung für immateriellen Schaden zuzusprechen, hängt von den Umständen des Falls ab. Die Tatsache, dass einem Bf. eine Entschädigung für eine Verletzung seines Rechts auf Achtung des Privatlebens verwehrt wird, offenbart nicht automatisch ein Versäumnis der innerstaatlichen Behörden, das Recht des Bf. auf Achtung seines Privatlebens zu schützen. In einem Fall, in dem der Oberste Gerichtshof Zyperns Bf. eine gerechte Wiedergutmachung für einen rechtswidrigen Verwaltungsakt verwehrt hat, ohne dies ausreichend zu begründen, hat der GH allerdings eine Verletzung von Art. 8 EMRK festgestellt (Taliadorou und Stylianou/CY). Wie der GH bemerkt, setzen alle diese Fälle voraus, dass die innerstaatlichen Gerichte in einem rechtlichen Rahmen handelten, der es ihnen erlaubte, eine Einschätzung darüber zu treffen, ob in einem konkreten Fall eine Entschädigung für immateriellen Schaden zugesprochen werden sollte.

(66) Wie der GH in diesem Kontext bemerkt, hat er in Fällen, in denen die Persönlichkeitsrechte eines Bf. durch Medienveröffentlichungen verletzt wurden, regelmäßig Entschädigungen für immateriellen Schaden zugesprochen. In anderen Fällen hat er die Feststellung einer Verletzung von Art. 8 EMRK als ausreichende gerechte Entschädigung angesehen [...].

(67) Der GH zieht aus seiner oben dargelegten Rechtsprechung zu Fällen betreffend Verletzungen des Privatlebens durch Medienveröffentlichungen den Schluss, dass ein auf nationaler Ebene verfügbarer Rechtsbehelf den innerstaatlichen Gerichten zumindest die Möglichkeit geben muss, eine Entschädigung zuzusprechen, wenn dies im konkreten Fall angemessen ist. Ein Rechtsbehelf, der es nicht erlaubt, einen Anspruch auf Entschädigung für immateriellen Schaden geltend zu machen, kann daher im Hinblick auf Fälle wie dem vorliegenden, der das Privatleben nach Art. 8 EMRK betrifft, nicht als effektiv betrachtet werden.

(68) Da es zusätzlich das erklärte Ziel des Bf. war, Entschädigung für immateriellen Schaden zu erhalten, der aus der Veröffentlichung der umstrittenen Äußerungen resultierte, kann daher eine Klage nach § 1330 ABGB nicht als effektiv für diesen Zweck betrachtet werden, da sie aufgrund der Judikatur des OGH keine Möglichkeit umfasst, im Fall der Feststellung einer Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte Wiedergutmachung für immateriellen Schaden zu erlangen.

(69) Dieselben Überlegungen gelten im Hinblick auf die Rechtsbehelfe gemäß § 12 und § 14 Abs. 1 MedienG [...], die anders als Anträge nach den §§ 6 – 7c MedienG keine Möglichkeit vorsehen, einen Anspruch auf Entschädigung geltend zu machen.

(70) Der Bf. war daher nicht verpflichtet, Gebrauch von den oben genannten Rechtsbehelfen zu machen und die [...] Einreden der Regierung müssen in dieser Hinsicht verworfen werden.

Effektivität einer Anzeige nach § 297 StGB an die Staatsanwaltschaft

(71) [...] Wie der GH feststellt, waren die fraglichen Äußerungen bereits [im Hinblick auf § 297 StGB] untersucht worden, doch war die Staatsanwaltschaft der Meinung, dass der Tatbestand dieses Delikts nicht erfüllt war. Später bestätigte das Justizministerium, dass die Einstellung der Fakten- und Rechtslage entsprach. Der GH muss daher zu dem Schluss gelangen, dass die Beschreitung dieses Rechtswegs nicht effektiv gewesen wäre. Die Einrede der Regierung [...] muss daher in dieser Hinsicht verworfen werden.

Effektivität eines Antrags auf Strafverfolgung gemäß § 111 und § 115 StGB

(72) [...] Dieser Rechtsweg ähnelt jenem nach § 6 und § 8a MedienG, da die Begriffe »üble Nachrede« und »Beschimpfung« in § 6 MedienG iSd. Definition in § 111 bzw. § 115 StGB zu verstehen sind. Kläger können sich entweder zwischen einer Privatanklage und einem gesonderten Antrag auf Entschädigung nach dem MedienG entscheiden oder beide Rechtswege parallel beschreiten. Im Fall des Bf. dienten sie demselben Zweck, nämlich der Erlangung einer Entschädigung für immateriellen Schaden.

(73) Der GH erinnert daran, dass der Gebrauch eines weiteren Rechtsbehelfs, der im Wesentlichen dasselbe Ziel hat, nicht erforderlich ist, wenn ein Rechtsbehelf verfolgt wurde. Ein Antrag nach § 6 und § 8a MedienG erfordert nur den Nachweis des objektiven Tatbestands, während eine Privatanklage auch den Beweis des subjektiven Tatbestands seitens des Angeklagten verlangt hätte. Der Bf. hat erklärt, warum er eine Privatanklage als weniger erfolgversprechend für seine Zwecke ansah. Er war unter den gegebenen Umständen berechtigt, diese Wahl zu treffen. Die [...] Einrede der Regierung muss daher auch in dieser Hinsicht verworfen werden.

Effektivität des Antrags gemäß § 6 und § 8a MedienG im Hinblick auf den Artikel von 2015

(74) [...] Der Bf. gab an, sich in Bezug auf den 2016 erschienenen Artikel für einen Antrag gemäß § 6 und § 8a MedienG entschieden zu haben, weil ihm nach § 1330 ABGB keine Entschädigung für immateriellen Schaden [...] zugesprochen hätte werden können. Die Regierung brachte vor, dass ein solcher Antrag allerdings gemäß § 8a Abs. 2 MedienG binnen sechs Monaten nach der erstmaligen Veröffentlichung mit angeblich beleidigendem Inhalt eingebracht werden müsse, was im vorliegenden Fall der 2015 erschienene Artikel gewesen sei, in Bezug auf welchen der Bf. wegen Ablaufs der Frist von sechs Monaten die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft hätte.

(75) Ein solcher Antrag war nach Ansicht des GH grundsätzlich geeignet, um neben einem Widerruf der (angeblich) beleidigenden Äußerungen eine Entschädigung für immateriellen Schaden zu gewähren. Allerdings war, als der fragliche Artikel im Februar 2016 erschien, die Frist von sechs Monaten für einen Antrag hinsichtlich des Artikels von 2015 (der in der Juli/August-Ausgabe der Zeitschrift veröffentlicht wurde) bereits abgelaufen. Würde man der Logik der Regierung folgen, würde dies bedeuten, dass dem Bf. im Hinblick auf den ersten Artikel kein Rechtsbehelf mehr zur Verfügung stand, als der zweite veröffentlicht wurde. Die innerstaatlichen Gerichte erklärten jedoch nicht, ob diese auf die »erste Verbreitung« abstellende Frist auf den vorliegenden Fall einer Wiederholung von Äußerungen in einem neuen Kontext in einem anderen Artikel überhaupt anwendbar war. Das Fehlen einer Erklärung ist umso relevanter, als der Artikel unter einer anderen Überschrift veröffentlicht wurde und neue Kommentare über die angebliche »Objektivität der Staatsanwaltschaft« hinzufügte – Elemente, die im ersten Artikel nicht vorhanden waren.

(76) Die Einrede der Regierung [...] muss daher auch in dieser Hinsicht verworfen werden.

Schlussfolgerung zur Zulässigkeit der Beschwerde

(77) [...] Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Entscheidung in der Sache

(82) Sowohl bei den positiven als auch bei den negativen Verpflichtungen des Staates nach Art. 8 EMRK muss der gerechte Ausgleich berücksichtigt werden, der zwischen den widerstreitenden Interessen des Einzelnen und der Gemeinschaft als Ganzes zu treffen ist. In beiden Kontexten genießt der Staat einen gewissen Ermessensspielraum. Im vorliegenden Fall erreichten die innerstaatlichen Gerichte allerdings nie die Stufe der Durchführung einer Abwägung zwischen den widerstreitenden Konventionsrechten, da sie im Wesentlichen davon ausgingen, dass der Bf. nicht persönlich von einer Veröffentlichung betroffen sein konnte, die den Verlauf eines Strafverfahrens wiedergab, oder von darin wiederholten Äußerungen, die keine andere Bedeutung hatten als ihre erste Veröffentlichung 2015.

(83) Zunächst befand das erstinstanzliche Gericht, dass den Antragstellern die Aktivlegitimation fehlte. Es stützte seine Auslegung des innerstaatlichen Rechts betreffend die Aktivlegitimation einer Gruppe auf frühere innerstaatliche Judikatur. Die sehr spezifische Frage, ob Mitglieder einer Gruppe persönlich von einer Äußerung betroffen sein können, die sich auf ein historisches Ereignis bezieht, das eine Gruppe betrifft, die zur damaligen Zeit groß war aber inzwischen – wie im vorliegenden Fall – auf eine eher geringe Zahl von Personen geschrumpft ist, scheint von den innerstaatlichen Gerichten nicht behandelt worden zu sein. Das OLG als Gericht zweiter und letzter Instanz in diesem Verfahren erwähnte die Frage der Aktivlegitimation gar nicht, ungeachtet des offensichtlichen Fehlens einer ständigen Rechtsprechung, der vom Bf. in seiner ursprünglichen Klage und in der Berufung vorgebrachten umfangreichen Argumente und der Tatsache, dass die Entscheidung dieser Vorfrage essentiell war für die Prüfung des Anspruchs in der Sache. Da keine Feststellung zu dieser Angelegenheit getroffen wurde, wurde der Kern des Antrags des Bf. – nämlich, dass er seiner Ansicht nach vom beleidigenden Charakter der Äußerungen sehr wohl persönlich betroffen war, weil die Gruppe inzwischen auf eine sehr kleine Zahl von Mitgliedern geschrumpft war – von den innerstaatlichen Gerichten nie geprüft. Wie oben erklärt, verabsäumten es die Gerichte, relevante und ausreichende Argumente zur Unterstützung ihres Standpunkts darzulegen.

(84) Im Kern ging das Strafgericht davon aus, dass der Artikel von 2016 lediglich den Ablauf der Vorermittlungen der Staatsanwaltschaft und ihr Ergebnis beschrieb. Es stellte fest, dass die Äußerung keinen eigenständigen Bedeutungsgehalt hatte. Die Frage, wie es zu dieser Schlussfolgerung gelangte, blieb unbeantwortet, obwohl es notwendig gewesen wäre, diesen Punkt detailliert zu behandeln.

(85) Das OLG stellte ausdrücklich fest, dass das erstinstanzliche Gericht nicht erklärt hatte, wie es zur Schlussfolgerung gelangt war, dass der Artikel von 2016 in dubio pro reo keinen eigenständigen Bedeutungsgehalt hatte. Nichtsdestotrotz beschränkte es sich darauf, einfach dem Ergebnis der Auslegung durch das Gericht erster Instanz zuzustimmen, ohne diesbezüglich selbst irgendwelche Feststellungen zu treffen. Das OLG wies den Antrag ab und stützte sich dabei auf das zusätzliche Argument, dass niemand durch einen Bericht über den Ablauf einer strafrechtlichen Ermittlung beleidigt werden könne – ungeachtet seiner eigenen Feststellung, wonach der Durchschnittsleser den Artikel von 2016 dahingehend verstehen konnte, dass die fraglichen Äußerungen zulässig waren.

(86) Bei einem Blick auf die fraglichen Äußerungen im Kontext des Artikels von 2016 ist der GH nicht von der Ansicht der innerstaatlichen Gerichte überzeugt, die Antragsteller hätten nicht persönlich durch sie betroffen gewesen sein können. Der gesamte Kontext des Artikels von 2016 unterschied sich stark von jenem des Artikels von 2015: Während der Artikel von 2015 auf das historische Ereignis der Befreiung der in Mauthausen Gefangenen fokussierte, betraf der Artikel von 2016 die strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Autor der Artikel und die Person, die ihn bei der Staatsanwaltschaft angezeigt hatte. Der GH ist daher der Ansicht, dass eine nachvollziehbare Erklärung der Gründe für die Auslegung der innerstaatlichen Gerichte erforderlich gewesen wäre.

(87) Der GH gelangt wegen des Fehlens einer nachvollziehbaren Prüfung der Aktivlegitimation und der Frage, ob die Äußerungen im Kontext des Artikels von 2016 denselben oder einen eigenständigen Bedeutungsgehalt hatten, zu dem Schluss, dass die innerstaatlichen Gerichte den Kern des Antrags des Bf. [...] nie wirklich prüften. Die innerstaatlichen Gerichte haben es daher verabsäumt, ihrer verfahrensrechtlichen Verpflichtung nachzukommen, eine nachvollziehbare Einschätzung einer Angelegenheit vorzunehmen, die die Persönlichkeitsrechte des Bf. betraf. Es hat folglich eine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 648,48 für materiellen Schaden, € 5.000,– für immateriellen Schaden und € 6.832,85 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Pfeifer/A v. 15.11.2007 = NL 2007, 307 = ÖJZ 2008, 161

Taliadorou und Stylianou/CY v. 16.10.2008

Armoniene/LT und Biriuk/LT v. 25.11.2008 = NL 2008, 345

Aksu/TR v. 15.3.2012 (GK) = NLMR 2012, 85

Küchl/A und Rothe/A v. 4.12.2012 = NL 2012, 390 = ÖJZ 2013, 749

Kahn/D v. 17.3.2016 = NLMR 2016, 134

Egill Einarsson/IS v. 7.11.2017 = NLMR 2017, 546

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.10.2019, Bsw. 4782/18, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2019, 398) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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