21Bs179/25i – OLG Wien Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht am 17. Juni 2025 durch den Senatspräsidenten Dr. Krenn als Vorsitzenden sowie die Richterinnen Mag. Maruna und Mag. Frigo als weitere Senatsmitglieder in der Strafsache gegen A* wegen § 84 Abs 4 StGB über die Berufung des Angeklagten wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 28. März 2025, GZ **-27.1, in der in Gegenwart der Oberstaatsanwältin Mag. Strnad sowie in Anwesenheit des Angeklagten A* und seiner Verteidigerin Mag. Anita Schattner durchgeführten öffentlichen mündlichen Berufungsverhandlung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Gemäß § 390a Abs 1 StPO fallen dem Angeklagten auch die Kosten des Berufungsverfahrens zur Last.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde der am ** in ** geborene österreichische Staatsbürger A* unter aktenkonformer Vorhaftanrechung des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs 4 StGB schuldig erkannt und (zu ergänzen: unter Anwendung des § 39 Abs 1a StGB) nach dem Strafsatz des § 84 Abs 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren verurteilt.
Weiters wurde der Angeklagte schuldig erkannt, gemäß § 369 Abs 1 StPO (zu ergänzen: iVm § 366 Abs 2 StPO) dem Privatbeteiligten B* einen Betrag von 240,- Euro binnen 14 Tagen zu bezahlen.
Nach dem Inhalt des Schuldspruchs hat A* am 11. Jänner 2025 in ** B* durch das Versetzen zumindest eines Schlages ins Gesicht am Körper verletzt und dadurch eine schwere Körperverletzung des Genannten, nämlich einen Bruch des linken Unterkiefers, ein Hämatom am linken Auge und eine Schwellung der Unterlippe herbeigeführt.
Bei der Strafbemessung wertete das Erstgericht mildernd die teilweise geständige Verantwortung, erschwerend hingegen neun einschlägige Vorstrafen und den raschen Rückfall innerhalb von neun Monaten nach seiner Haftentlassung.
Gegen dieses Urteil richtet sich die unmittelbar nach Urteilsverkündung angemeldete (ON 27, 21), in der Folge fristgerecht in ON 33 zur Darstellung gebrachte Berufung des Angeklagten wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe, mit der er die Aufhebung des Urteils und die Fällung eines Freispruchs, in eventu die Zurückverweisung der Strafsache an das Erstgericht, in eventu die Herabsetzung bzw die Verhängung einer teilbedingten Freiheitsstrafe begehrt.
Bezugspunkt der Mängelrüge (§ 281 Abs 1 Z 5 StPO) ist der Ausspruch des Gerichts über die entscheidenden Tatsachen, also über schuld oder subsumtionsrelevante Tatumstände (RIS Justiz RS0106268). Die gesetzmäßige Ausführung hat sich an der Gesamtheit der Entscheidungsgründe zu orientieren (RIS Justiz RS0119370, RS0116504).
Rechtliche Beurteilung
Das unter dem Aspekt der Unvollständigkeit der Entscheidungsgründe (Z 5 zweiter Fall StPO) erstattete Vorbringen, das Erstgericht habe sich nicht mit der Verantwortung des Angeklagten hinsichtlich einer Nothilfe auseinandergesetzt, weil er lediglich den unmittelbar drohenden Angriff des B* gegen die körperlich massiv unterlegene C*, welche zudem unter Alkohol- und Drogeneinfluss gestanden sei, abgewehrt habe, um eine schlimmere Verletzung zu verhindern, übersieht, dass das Erstgericht (US 7) den in Richtung einer Nothilfe weisenden Angaben des Angeklagten bewusst nicht gefolgt ist (vgl RIS-Justiz RS0116504, RS0098642, RS0106642). Mit Behauptungen der Art, dass das Gericht bestimmte Aspekte ohnehin verwerteter Beweismittel nicht oder nicht den Intentionen des Beschwerdeführers entsprechend berücksichtigt habe, wird weder eine Unvollständigkeit noch eine offenbare Unzulänglichkeit der Entscheidungsgründe geltend gemacht, sondern nur nach Art einer Schuldberufung unzulässigerweise die Beweiswürdigung bekämpft (RIS-Justiz RSRS0099599).
Auch die weiters behauptete Widersprüchlichkeit (Z 5 dritter Fall StPO) der Entscheidungsgründe, weil das Erstgericht die Aussage der Zeugin C* (ON 4.6) als glaubwürdig erachtete (US 6 Mitte), andererseits den Angaben der Zeugin, die im Amtsvermerk festgehalten wurden, nicht folgt, ist entgegenzuhalten, dass ein Widerspruch dann vorliegt, wenn die festgestellte Tatsache mit den dazu angestellten Erwägungen nach Denkgesetzen nicht in Einklang zu bringen ist. Denkgesetze und Lebenserfahrung (vgl RIS-Justiz RS0099651, RS0117402) verlangen geradezu danach, die Glaubwürdigkeit in sich widersprüchlicher Angaben einer Zeugin nicht etwa insgesamt zu bejahen, sondern – in Zusammenschau mit den übrigen Beweisergebnissen – differenziert zu beurteilen. Die Berufung wegen Nichtigkeit ist daher zu verwerfen.
Zur Berufung wegen Schuld ist vorauszuschicken, dass die freie Beweiswürdigung ein kritisch-psychologischer Vorgang ist, bei dem durch die Subsumierung der Gesamtheit der durchgeführten Beweise in ihrem Zusammenhang unter allgemeine Erfahrungssätze logische Schlussfolgerungen zu gewinnen sind. Das Gericht prüft die im Verfahren vorgekommenen Beweisergebnisse in Ansehung ihrer Glaubwürdigkeit (ob dasjenige, was durch ein Beweismittel zutage gefördert werden sollte, auch wirklich dadurch bewiesen wurde) und Beweiskraft (ob der durch das Beweismittel als bewiesen anzunehmende Umstand auch geeignet ist, die Tatsache, die er bestätigen soll, für wahr halten zu können) und kommt aufgrund des Ergebnisses dieses Vorgangs zur Überzeugung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen – entscheidender – Tatsachen, die es im Urteil feststellt. Die Beweismittel sind dabei nicht nur einzeln, sondern in ihrer Gesamtheit, auch in ihrem inneren Zusammenhang zu prüfen (RIS- Justiz RS0098314). Ihre Bewertung hat unter Beachtung der Gesetze folgerichtigen Denkens und grundlegenden Erfahrungswissens zu erfolgen. Nicht nur logisch zwingende, sondern auch Wahrscheinlichkeitsschlüsse berechtigen das Gericht zu Tatsachenfeststellungen (RIS-Justiz RS0098362 beginnend mit 11 Os 36/72; Lendl , WK StPO § 258 Rz 25f).
Wenn aus den vom Erstgericht aus den vorliegenden Beweisergebnissen folgerichtig abgeleiteten Urteilsannahmen auch andere, für den Angeklagten günstigere Schlussfolgerungen denkmöglich sind, so tut dies nichts zur Sache, stellt doch der Grundsatz „in dubio pro reo“ keine negative Beweisregel dar, die das erkennende Gericht – im Fall mehrerer denkbarer Schlussfolgerungen – verpflichten würde, sich durchwegs für die dem Angeklagten günstigste Variante zu entscheiden (RIS-Justiz RS0098336).
Angesichts dieser Grundsätze vermag die Schuldberufung nicht zu überzeugen. Denn die Erstrichterin unterzog die wesentlichen Verfahrensergebnisse einer denkrichtigen sowie lebensnahen Würdigung und legte mit ausführlicher Begründung dar, wie sie nicht zuletzt aufgrund des in der Hauptverhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks vom Zeugen B* und des Angeklagten zu den Feststellungen über die entscheidenden Tatsachen gelangte und weshalb sie der leugnenden Verantwortung des Angeklagten die Glaubwürdigkeit versagte (US 5 ff).
Dabei legte sie in ihrer Beweiswürdigung auch nachvollziehbar dar, warum sie von der Täterschaft des Angeklagten zweifelsfrei ausgeht und eine vom Angeklagten behauptete Nothilfe verneinte.
Diese Einschätzung folgerte das Erstgericht nicht nur aus der Darstellung des Zeugen B* zum Tatgeschehen, sondern unter anderem auch aus den polizeilichen Angaben der in der Zwischenzeit verstorbenen Zeugin C*.
Sofern der Berufungswerber vermeint, dass ihre polizeilichen Angaben (ON 4.6.06) in Widerspruch zu den im Amtsvermerk der Polizei festgehaltenen Angaben der zum Tatzeitpunkt sichtlich schwer substanzbeeinträchtigten Zeugin unmittelbar nach dem Vorfall (ON 4.12) stehen, weshalb von einer weiteren informellen Befragung Abstand genommen werden musste und daher ihre Glaubwürdigkeit von der Erstrichterin nicht beurteilt werden kann, übersieht er, dass die Erstrichterin den Ablauf des Tatgeschehens nicht nur auf die polizeilichen Angaben der Zeugin stützte, sondern diese im Einklang mit den Angaben des Zeugen B* und seinen erlittenen Verletzungen standen, welche unmittelbar nach dem Vorfall von den einschreitenden Polizeibeamten wahrgenommen und fotografisch dokumentiert wurden (ON 4.12.04, 2).
In diesem Zusammenhang setzte sich die Erstrichterin kritisch mit beiden Zeugenaussagen auseinander und folgerte plausibel, aus welchen Erwägungen sie ihren Angaben Glauben schenkte (US 5) und die vom Zeugen B* erlittenen Verletzungen nicht mit der vom Angeklagten zugestandenen „Watsche“ in Einklang zu bringen ist (US 7). Dabei widerlegte sie auch schlüssig die vom Angeklagten behauptete Variante, dass der Zeuge sich die Verletzungen bei einer zuvor stattgefundenen Rangelei zugezogen habe (US 5f).
Im Übrigen begegnet die Ableitung der subjektiven Tatseite aus dem objektiven Tatgeschehen keinen Bedenken, weil dies gerade bei leugnenden Tätern ohne Weiteres rechtsstaatlich vertretbar und methodisch gar nicht zu ersetzen ist (US 7; RIS-Justiz RS0116882; RS0098671; Ratz, WK StPO § 281 StPO Rz 452).
Der in der Berufungsverhandlung gestellte Beweisantrag auf Einvernahme der bei der Amtshandlung anwesenden Polizisten zum Beweis, dass dem Angeklagten der von ihm ins Treffen geführte Rechtfertigungsgrund der Nothilfe zugute kommt, weil nur sie einen unmittelbaren Eindruck von der verstorbenen Zeugin C* haben und über ihren Zustand und die Glaubwürdigkeit der Zeugenaussage Angaben machen können, ist ein Erfolg zu versagen, weil nicht dargetan wurde, warum die beantragte Beweisaufnahme das vom Antragsteller behauptete Ergebnis erwarten lasse ( Ratz , WK StPO § 281 Rz 330), zumal die einschreitenden Polizeibeamten nicht unmittelbar bei der Tathandlung anwesend waren und die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Aussagen allein dem Gericht zukommt.
Da der Berufungswerber nichts vorgebracht hat, was geeignet wäre, die schlüssige Beweiswürdigung der Erstrichterin und die darauf gegründeten Feststellungen in objektiver und subjektiver Hinsicht zu erschüttern, aber auch das Berufungsgericht bei der im Rahmen der Überprüfung der Beweiswürdigung anzustellenden Gesamtbetrachtung keine Zweifel an der Richtigkeit der Lösung der Schuldfrage hegt, konnte der Berufung wegen Schuld kein Erfolg zukommen.
Wie die Berufung wegen Schuld vermag auch jene wegen Strafe nicht zu überzeugen.
Zunächst sind die vom Erstgericht angenommenen Strafzumessungsgründe dahingehend zu korrigieren, dass der Milderungsgrund der teilweisen geständigen Verantwortung zu entfallen hat, zumal ein reumütiges Geständnis iSd § 34 Abs 1 Z 17 StGB nur dann vorliegt, wenn der Angeklagte in Bezug auf die objektive und die subjektive Tatseite reuige Schuldeinsicht zeigt ( Riffel, WK² StGB § 34 Rz 38). Auch wenn der Angeklagte sich eingangs der Verhandlung teilweise schuldig bekannte, dem Opfer eine „Watsche“ gegeben zu haben, in Folge einen Verletzungsvorsatz jedoch in Abrede stellte und lediglich behauptete, in Nothilfe gehandelt zu haben (ON 27, 3ff), ist darin weder eine teilweise geständige Verantwortung noch ein Beitrag zur Wahrheitsfindung zu erblicken (vgl RIS-Justiz RS0091510; Riffel, aaO § 34 Rz 38).
Der vom Angeklagten ins Treffen geführte Milderungsgrund der Unbesonnenheit nach § 34 Abs 1 Z 7 StGB kann ihm ebenso nicht zu Gute gehalten werden, weil die Tat nicht auf eine augenblickliche Eingebung oder auf einen Willensimpuls zurückzuführen ist, der aus besonderen Gründen der Lenkung durch das ruhige Denken entzogen ist und nach der charakterlichen Beschaffenheit des Täters in der Regel unterdrückt worden wäre; vielmehr liegt ihr eine grundsätzliche Geringschätzung fremder Interessen zugrunde (RIS Justiz RS0091026).
Ebenso ergeben sich mit Blick auf die getroffenen Feststellungen weder Anhaltspunkte für den in der Berufung reklamierten Milderungsgrund der allgemein begreiflichen heftigen Gemütsbewegung des Angeklagten im Sinne des § 34 Abs 1 Z 8 StGB, weil die allgemeine Begreiflichkeit vom Standpunkt eines maßgerechten Durchschnittsmenschen aus zu beurteilen ist ( Riffel, WK 2 StGB § 34 Rz 20), noch hat der Angeklagte die Tat unter Umständen begangen, die einem Schuldausschließungs- oder Rechtfertigungsgrund im Sinne des Milderungsgrundes nach § 34 Abs 1 Z 11 StGB nahe kommen.
Unter Abwägung der zu Lasten des Angeklagten korrigierten Strafzumessungserwägungen erweist sich die vom Erstgericht ausgemessene Sanktion, die in einer realistischen Relation zum Unrechts- und Schuldgehalt der konkreten Tat stehen muss (RIS-Justiz RS0090854), angesichts des zur Verfügung stehenden Strafrahmens von sechs Monaten bis siebeneinhalb Jahren Freiheitsstrafe (§ 84 Abs 4 iVm § 39 Abs 1a StGB) als schuld- und tatangemessen und damit einer Reduktion nicht zugänglich.
Zudem trägt diese Unrechtsfolge auch (innerhalb der schuldadäquaten Strafe zu berücksichtigenden) Belangen der Generalprävention (vgl RIS-Justiz RS0090592 [insb T1], RS0090600) hinreichend Rechnung, um derartige Delikte gegen Leib und Leben nicht zu bagatellisieren.
Angesichts der massiven einschlägigen Vorstrafenbelastung und des raschen Rückfalls in einschlägige Delinquenz nach Haftentlassung erscheint auch eine teilbedingte Strafnachsicht iSd § 43a Abs 3 StGB spezialpräventiv nicht ausreichend, um dem Angeklagten das Unrecht seiner Tat eindrucksvoll vor Augen zu führen und ihn zu einem Umdenken betreffend seine Einstellung gegenüber der körperlichen Integrität bewegen zu können.
Der Berufung war daher insgesamt ein Erfolg zu versagen.