JudikaturOLG Wien

3R167/23k – OLG Wien Entscheidung

Entscheidung
29. April 2025

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht durch den Senatspräsidenten Mag. Iby als Vorsitzenden, den Richter Mag. Guggenbichler und die Richterin Mag. a Müller in der Rechtssache der klagenden Partei A* GmbH, FN **, **, vertreten durch Dr. Martin Neuwirth, Dr. Alexander Neurauter, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei B * , **, vertreten durch Mag. Markus Michtner, Rechtsanwalt in Wien, wegen zuletzt EUR 11.429,92 s.A., über die Berufung der klagenden Partei (Berufungsinteresse: EUR 3.368) gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 31.08.2023, **-114 in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird teilweise Folge gegeben und das angefochtene Urteil abgeändert, sodass es lautet:

„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei EUR 10.929,72 samt 4 % Zinsen seit 11.7.2019 zu zahlen.

Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei weiters schuldig, der klagenden Partei EUR 500,20 samt 4% Zinsen seit 11.7.2019 zu zahlen, wird abgewiesen.“

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig .

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Das Erstgericht hat festgestellt (die in der Beweisrüge bestrittene Feststellung ist fett gedruckt):

Am 10.7.2019 ereignete sich um etwa 17.00 Uhr am Firmengelände der Firma C* in ** ein Verkehrsunfall, an dem das Klagsfahrzeug, ein Wechselbrückenfahrzeug Type ** (Erstzulassung 2011, Länge 9,20 Meter, Breite 2,55 Meter), und das Beklagtenfahrzeug, ein slowakisches Fahrzeuggespann, bestehend aus einem Motorwagen der Type ** (Länge 10,27 Meter, Breite 2,55 Meter) und einem Anhänger der Type **, beteiligt waren.

Das Klagsfahrzeug setzt Wechselbrücken (in Folge: WAB) und Sattelanhänger um. Es rangiert am Betriebsgelände zwischen Containern und Rampen hin und her und ist dabei zu 80 % rückwärts unterwegs.

Beim Beklagtenfahrzeug handelt es sich um ein slowakisches Fahrzeuggespann zum Transport von Wechselbrücken.

Auf dem Gelände befindet sich eine großen Lagerhalle und Laderampen an den Längsseiten. Diese Lagerhalle wird ringförmig – in einer Einbahn gegen den Uhrzeigersinn – umfahren.

Bei der einzigen Einfahrt in das Gelände, welche üblicherweise mit einem Schranken gesichert ist, ist eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h ausgewiesen. Es ist ein Verkehrsschild aufgestellt, welches angibt, dass am Betriebsgelände die StVO gilt. Es gibt eine Zusatztafel, auf welcher zu lesen ist: „ Hoffahrzeug hat Vorfahrt!

Jeder Lkw-Lenker, der auf das Betriebsgelände einfährt, muss die Verhaltens - und Sicherheitsanweisungen für das Gelände im Büro nach dem Schranken unterschreiben. Diese enthalten ua folgende Anweisungen:

StVO

Zum Unfallzeitpunkt war die Fahrbahn trocken.

Die Unfallstelle selbst befindet sich am südlichen Gebäudeende im Bereich der Laderampen 88 bzw. 89. Vor den Laderampen ist ein rund 19 Meter breiter, mit Betonplatten befestigter Bereich. Anschließend folgt eine rund 13,4 Meter breite asphaltierte Fläche, die als Fahrgasse dient, und anschließend wieder ein gegenüberliegender rund 16 Meter breiter betonierter Bereich, auf dem die Wechselbrücken abgestellt werden können.

Der Klagslenker wollte einen Container von der Rampe 81 auf den gegenüberliegenden betonierter Bereich bringen. Er fuhr zu diesem Zweck von der Rampe 81 gegen die Einbahn, um dann südlich von der Rampe 89 parallel zur Rampe 89 auf die Fläche vor den Laderampen zuzufahren, zu retournieren, um dann wiederum die gegenüberliegende Wechselaufbaubrücke (WAB) 1 abzustellen, um dann wieder nach vorne auf die Fläche vor der Rampe 89 zuzufahren.

In dieser Position musste der Klagslenker zumindest 0,5 Sekunden anhalten, um mittels Automatik von D in die Rückwärtsposition zu wechseln. Die genaue Stillstandsdauer kann nicht mehr festgestellt werden.

Vor dem Rückwärtsfahren in Richtung der gegenüberliegenden WAB 2 schaute der Klagslenker zwar in die beiden Rückspiegel, er verwendete allerdings weder die Rückfahrkamera noch warf er einen Kontrollblick über seine rechte Schulter durch das rechte hintere Fenster des Transportkarrens, was ihm ermöglicht hätte, den gesamten Motorwagen des sich annähernden Beklagtenfahrzeuges zu erkennen. Über den Rückspiegel war das Beklagtenfahrzeug für den Klagslenker vor dem Losfahren jedenfalls nicht zu erkennen. Das Beklagtenfahrzeug befand sich zum Zeitpunkt des Beginns des Losfahrens des Klagsfahrzeuges bereits im geraden Streckenabschnitt.

Der Klagslenker fuhr sodann im Rückwärtsgang gerade los zur WAB 2. Bei diesem Fahrmanöver konzentriert sich der Blick des Klagslenkers auf die beiden Spiegel, weil er sonst gegen die Stützen der WAB stoßen könnte und diese beschädigen würde.

Zeitgleich kam das Beklagtenfahrzeug gegen die ausgewiesene Einbahnrichtung vom südlichen Ende des Betriebsgeländes, sohin aus Sicht des Klagslenkers von der rechten Seite. Im Bereich der Kurve hatte das Beklagtenfahrzeug noch eine Geschwindigkeit von rund 20 km/h eingehalten. Es beschleunigte ab dem Kurvenende leicht und erreichte eine Geschwindigkeit von rund 32 km/h, bevor es mit dem Klagsfahrzeug, welches gerade eine Geschwindigkeit von rund 9 km/h erreicht hatte, derart kollidierte, dass das Beklagtenfahrzeug mit der rechten Flanke gegen das rechten Heck des Klagsfahrzeuges stieß.

Das Beklagtenfahrzeug fuhr in den Sichtbereich des Klagslenkers rund 2,1 Sekunden vor der Kollision ein.

Aus der Sicht des Beklagtenlenkers war die Rückwärtsbewegung des Klagsfahrzeugs rund 2,6 Sekunden vor der Kollision wahrnehmbar. Zu diesem Zeitpunkt war das Beklagtenfahrzeug nur mehr rund 8,8 Meter vom Klagsfahrzeug entfernt, sodass dieser mit der von ihm gewählten Geschwindigkeit von rund 32 km/h die Kollision nicht mehr verhindern konnte. Bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h, einer Sekunde Vorbremszeit und einer Vollbremsung mit 6 m/s 2 wäre der Anhalteweg rund 8,1 Meter, sodass die Kollision für den Beklagtenlenker bei Einhaltung der Geschwindigkeit von 20 km/h und prompter Reaktion jedenfalls zu verhindern gewesen wäre.

Bei dem Unfall wurden am Klagsfahrzeug ua die äußere Bereifung rechts und die linke äußere Bereifung an der Hinterachse beschädigt. Die beschädigten Reifen waren in etwa zu 30 % abgenutzt. Sie wurden durch neue ausgetauscht.

Nicht festgestellt werden konnte, dass die Rückfahrkamera des Klagsfahrzeuges beschädigt wurde. [F1]

Die unfallkausalen Reparaturkosten des Klagsfahrzeugs

betragen rund EUR 10.658,- exkl. USt. Der Geschäftsführer der klagende Partei hatte EUR 90 an unfallkausalen Aufwendungen.

Die Klägerin begehrte zuletzt (ON 107.2) EUR 11.429,92 samt 4 % Zinsen seit 11.7.2019. Der Betrag setze sich aus den Reparaturkosten iHv EUR 10.658,21 zuzüglich EUR 181,72 für den ungerechtfertigt vorgenommenen Neu-für-Alt-Abzug für Reifen sowie EUR 500 für die Montage einer neuen Retourfahrkamera und EUR 90 für pauschale Unkosten zusammen. Der Betrag stünde der Klägerin aus dem Verkehrsunfall vom 10.7.2019 zu, der sich auf einem Betriebsgelände ereignet habe, wo sich die Benützung nach den Regeln des Grundeigentümers/Straßenerhalters richte: Das Hoffahrzeug habe auch bei Rückwärtsmanövern Vorrang. Das Alleinverschulden am Zustandekommen des gegenständlichen Verkehrsunfalls treffe den Lenker des Beklagtenfahrzeuges, der mit absolut überhöhter Geschwindigkeit entgegen der erlaubten Fahrtrichtung unterwegs gewesen sei und den Vorrang des Klagsfahrzeuges am Betriebsgelände missachtet habe.

Der Beklagte bestritt das Klagebegehren dem Grunde und der Höhe nach. Das Alleinverschulden am Unfall treffe den Lenker des Klagsfahrzeuges, weil er rückwärts gefahren sei und dabei das Beklagtenfahrzeug übersehen habe. Aus der Zusatztafel „Hoffahrzeug hat Vorfahrt!“ könne nicht abgeleitet werden, dass das Klagsfahrzeug auch beim Rückwärtsfahren Vorrang habe. Bei den Reifen sei ein Abzug Neu-für-Alt vorzunehmen, da es ansonsten zu einer Werterhöhung käme.

Mit dem angefochtenen Urteil gab das Erstgericht dem Klagsbegehren mit EUR 8.061 s.A. statt und wies das Mehrbegehren iHv EUR 3.368 s.A. unter Anrechnung eines Mitverschuldens von einem Viertel ab. Es traf dazu neben dem eingangs bereits zusammengefasst wiedergegebenen Sachverhalt die auf den Urteilsseiten 1 f, 4 - 9 wiedergegebenen Feststellungen.

Rechtlich kam es – soweit für die Berufung von Relevanz – zum Ergebnis, dass die Reparaturkosten des Klagsfahrzeugs EUR 10.658 betragen, die pauschalen Unkosten EUR 90. Die Klägerin treffe die Behauptungs- und Beweislast für den Schaden an der Rückfahrkamera, die aber trotz Aufforderung nicht vorgelegt worden sei, sodass sich die Negativfeststellung zu ihren Lasten auswirke. Bei den Reifen sei ein Zeitwertabzug Neu-für-Alt von 30 % vorzunehmen. Dem Beklagtenlenker sei das Fahren gegen die Einbahn mit weit überhöhter Geschwindigkeit von 32 km/h (statt der erlaubten 20 km/h) anzulasten. Dem Lenker des Klagsfahrzeugs sei jedoch anzulasten, dass er sich beim Rückwärtsfahren nicht durch Kontrollblicke davon versichert habe, dass er dadurch keinen anderen Verkehrsteilnehmer gefährde.

Gegen die Abweisung von EUR 3.368 s.A. richtet sich die Berufung der Klägerin wegen unrichtige Tatsachenfeststellungen aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung samt sekundärer Feststellungsmängel mit dem Abänderungsantrag, das Klagebegehren zur Gänze zuzusprechen. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Beklagte beantragt, der Berufung nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung der Klägerin ist teilweise berechtigt .

Zur Tatsachenrüge

1. Die Klägerin bekämpft die eingangs wiedergegebene und hervorgehobene Feststellung [F1] und begehrt stattdessen folgende Ersatzfeststellung:

„Die Rückfahrkamera des Klagsfahrzeuges wurde im Rahmen der Kollision beschädigt und konnte nicht mehr an das Klagsfahrzeug angebracht werden. Die Kosten der zu ersetzenden Rückfahrkamera betragen zumindest EUR 500.“

Weiters begehrt die Klägerin – auch als sekundären Feststellungsmangel - die (zusätzliche) Feststellung:

„Unmittelbar vor der Einfahrt des Betriebsgeländes ist ein Verkehrsschild angebracht, auf dem ein Piktogramm des Klagsfahrzeuges abgebildet ist mit dem Hinweis „Hoffahrzeug hat Vorfahrt!“, womit eine verbindliche Anordnung einer Ausnahme von der StVO angezeigt wurde, die von den Verkehrsteilnehmern zu beachten ist.“

2. Das als Tatsacheninstanz fungierende Gericht hat nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach seiner persönlichen Überzeugung zu beurteilen, ob ein Beweis gelungen ist oder nicht. Bei der richterlichen Beweiswürdigung hat es die Ergebnisse der gesamten Verhandlung miteinzubeziehen ( Rechberger in Rechberger/Klicka 5 § 272 ZPO Rz 1). Das Regelbeweismaß der ZPO ist dabei die hohe Wahrscheinlichkeit, wobei es letztlich auf die subjektiven Komponenten der richterlichen Überzeugung ankommt. Der bloße Umstand, dass ein anderer Geschehensablauf möglich ist oder war, ist für sich nicht geeignet, Bedenken gegen die Beweiswürdigung zu erwecken. Für eine wirksame Bekämpfung der Beweiswürdigung des Erstgerichts und der von ihm getroffenen Tatsachenfeststellungen genügt es nicht, bloß auf einzelne für den Prozessstandpunkt der Berufungswerberin günstige Beweismittel zu verweisen und darzulegen, dass auf Basis der vorliegenden Beweisergebnisse auch andere Rückschlüsse als jene, die das Erstgericht gezogen hat, möglich gewesen wären. Vielmehr muss aufgezeigt werden, dass bedeutend überzeugendere Beweisergebnisse für andere Feststellungen vorliegen und das Erstgericht diesen und nicht anderen Beweismitteln hätte glauben müssen (vgl Pimmer in Fasching/Konecny 3 § 467 ZPO Rz 40/2 mwN).

3.1 Die Klägerin behauptet im Zusammenhang mit F1, dass sich bereits aus der Feststellung des Erstgerichts, dass der Lenker des Klagsfahrzeugs die Rückfahrkamera nicht verwendete, ergäbe, dass eine solche vorhanden gewesen sei. Dennoch hätte es eine Negativfeststellung zur Rückfahrkamera getroffen. Dies sei lebensfremd. Es ergäbe sich aus ./F und den darin enthaltenen Fotos, dass ein erheblicher Heckschaden entstanden sei, und werde auf Seite 2 angeführt: „ Retourfahrkamera, rechte Schlussleuchte, Drehlicht und Retourfahrscheinwerfer beschädigt “. Auch aus ./H (Seite 1) sei zu entnehmen: „ Def. Retour Fahrkamera, rechte Schlussleuchte, Drehlicht und Retour Fahrscheinscheinwerfer erneuern “. Aus dem Ergänzungsgutachten des Sachverständigen D* anlässlich der Verhandlung vom 24.3.2023 folge, dass zum Zeitpunkt der Befundaufnahme zwar ein Monitor in der Fahrerkabine bzw. im Fahrerhaus montiert gewesen sei, am Heck aber keine Rückfahrkamera, sodass diese bei der Befundaufnahme nicht überprüft werden konnte. Der gesamte Heckbereich sei beschädigt worden und damit der prima facie Beweis erbracht, dass auch die Rückfahrkamera beschädigt worden sei. Wäre die Rückfahrkamera nicht beschädigt worden, wäre es vollkommen lebensfremd, diese nicht wieder zu montieren. Es sei auch naheliegend, dass die herumliegenden kaputten Kleinteile und Splitter nach der Kollision zusammengekehrt und entfernt worden wären.

3.2 Das Erstgericht hat die getroffene Feststellung auf die in Augenschein genommenen Videoaufzeichnungen im Zusammenhalt mit den unbedenklichen Gutachten des Sachverständigen DI E* und MMMst. D* gestützt und zur Negativfeststellung ausgeführt, dass die angeblich beschädigte Rückfahrkamera dem Sachverständigen nicht zur Begutachtung vorgelegt wurde.

Aus der festgestellten Beschädigung des Heckbereichs ergibt sich – entgegen der Rechtsansicht der Klägerin - nicht, dass auch die Rückfahrkamera beim Unfall beschädigt worden ist: Der Sachverständige D* hat in der Tagsatzung vom 24.3.2023 darauf hingewiesen, dass sich aus dem Akt und den Lichtbildern weder die Ausführung noch eine Beschädigung feststellen ließe. Daraus folgt aber, dass das Schadensbild offenbar für den Sachverständigen nicht jedenfalls für eine Beschädigung einer (verbauten) Rückfahrkamera spricht. Der Sachverständige nahm auch Bezug auf ./H, den von der Klägerin eingeholten Reparaturkostenvoranschlag der Firma F*, in dem von einem „ Def. Retour Fahrkamera “ die Rede ist. Er führte aus, dass er einen allfälligen Defekt oder den Grad der Beschädigung nicht beurteilen könne, weil sie am Heck nicht montiert gewesen und ihm trotz Aufforderung nicht zur Begutachtung vorgelegt worden sei (ON 108, S. 3, 5).

Auch die Anführung der „ Retourkamera “ bei den beschädigten Teilen in ./F, S. 2, einem von der Klägerin in Auftrag gegebenen Privatgutachten, ist kein zwingender Beweis dafür, dass sie durch den Unfall beschädigt wurde, weil nicht feststeht, wie der Verfasser der Urkunde das Fahrzeug überprüft hat. Die Nicht-Verwendung der Rückfahrkamera durch den Klagsfahrzeuglenker kann auch darin begründet sein, dass diese bereits vor dem Unfall nicht mehr funktionierte.

Die Anführung der Rückfahrkamera in den von der Klägerin ins Treffen geführten Urkunden bildet somit keinen Umstand, der eine Unrichtigkeit der erstgerichtlichen Feststellung nachweist.

3.3 Um eine Beweisrüge „gesetzmäßig“ auszuführen, muss der Rechtsmittelwerber zum einen angeben, welche konkrete Feststellung infolge unrichtiger Beweiswürdigung bekämpft wird, sowie zum anderen, welche Feststellung aufgrund richtiger Beweiswürdigung (an deren Stelle) zu treffen gewesen wäre (stRsp, vgl zB 7 Ob 166/01i; RS0041835 [T5]).

Das Erstgericht stellte fest, was in der Beilage ./B geregelt ist, und setzte sich in der rechtliche Beurteilung damit auseinander, dass in Beilage ./A ausdrücklich angeordnet ist, dass die StVO gelten soll, sodass sich daraus ergibt, dass es ohnehin von der Geltung des Verkehrsschildes Beilage ./A ausgeht. Die begehrte zusätzliche Feststellung ist für die Lösung der Rechtsfrage somit nicht erforderlich. Der Satzteil „ womit eine verbindliche Anordnung einer Ausnahme von der StVO angezeigt wurde, die von den Verkehrsteilnehmern zu beachten ist “, ist eine rechtliche Schlussfolgerung, auf die in der Rechtsrüge noch eingegangen werden wird (→ Pkt 6). Im Übrigen hat der Beklagte die Existenz des Schildes „Hoffahrzeug hat Vorfahrt!“ auch gar nicht bestritten (S 2 in ON 8).

4. Der Beweisrüge ist somit ein Erfolg zu versagen. Das Berufungsgericht übernimmt daher die erstgerichtlichen Feststellungen als Ergebnis einer unbedenklichen Beweiswürdigung und legt sie seiner weiteren Beurteilung zugrunde (§ 498 ZPO).

Zur Rechtsrüge

5. Gemäß § 1 Abs 2 StVO gilt dieses Bundesgesetz für Straßen ohne öffentlichen Verkehr insoweit, als andere Rechtsvorschriften oder die Straßenerhalter nichts anderes bestimmen (vgl RS0054366; 2 Ob 64/95). Eine Straße ohne öffentlichen Verkehr liegt vor, wenn sich der Verfügungsberechtigte die individuelle Zulassung bestimmter Personen zum Fahrzeug- und/oder Fußgängerverkehr auf der Straße für jedermann (zB durch Hinweistafeln oder Schranken) erkennbar vorbehält und er diese individuelle Zulassung auch iSd Ausschlusses anderer Personen von dieser Benützung durch bestimmte Maßnahmen – zB bauliche Hindernisse, Schranken – sicherstellt ( Pürstl, StVO-ON16 § 1 Rz 5).

Aus den Feststellungen folgt, dass das mit einem Zufahrtsschranken begrenzte Betriebsgrundstück, auf dem sich der Unfall ereignete, eine Straße ohne öffentlichem Verkehr ist. Schon durch die Schrankenanlage ist gewährleistet, dass nicht jedermann das Werksgelände benutzen kann. Jeder betriebsfremde Lenker muss bei der Einfahrt eine schriftliche Verhaltens- und Sicherheitsanweisung für das Gelände unterfertigen.

6. Am Unfallort galt zur Unfallszeit aufgrund der Anordnung der Betriebsleitung zwar die StVO ( „Auf dem gesamten Betriebsgelände gilt die StVO“ ), doch wurden ua ihre Vorrangregeln durch die festgestellten davon abweichenden Regelungen „ Das Hoffahrzeug hat grundsätzlich Vorrang und unterliegt nicht der Einbahnstraßenregelung “ und „ Hoffahrzeug hat Vorfahrt “ derogiert .

7. Nach dem unbestrittenen Vorbringen der Klägerin handelt es sich beim Klagsfahrzeug um ein zum Betrieb gehörendes „Hoffahrzeug“ (siehe ON 1). Unter Berücksichtigung des eindeutigen Wortlauts der Anordnungen, die keine Einschränkung nennt, und des offenkundigen Zwecks, den am Betriebsgelände meist rückwärts fahrenden Hoffahrzeugen in jeder Fahrsituation Vorrang einzuräumen, hatte es auch - in Abänderung der allgemeinen StVO-Vorrangregeln - beim Rückwärtsmanöver Vorrang. Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs war demnach verpflichtet, dem Klagsfahrzeug den ihm als Hoffahrzeug auch beim Rückwärtsfahren zukommenden Vorrang einzuräumen.

8.1 Daraus folgt aber nicht, dass der Lenker eines Hoffahrzeugs rückwärts losfahren darf, ohne sich zu versichern, dass er dadurch nicht andere Verkehrsteilnehmer (zB andere Hoffahrzeuge, zum Betrieb gehörige Mitarbeiter) gefährdet, denn das Rückwärtsfahren erfordert auch in Betrieben und auf Baustellen besondere Vorsicht und erhöhte Aufmerksamkeit (RS0073932; RS0073929). Insoweit wurde die StVO nicht durch andere Regelungen derogiert. Das Erstgericht hat zu Recht darauf verwiesen, dass ein Kraftfahrer auch auf einer Baustelle oder einem abgeschlossenen Betriebsgelände auf die dort beschäftigten Arbeiter oder anderen anwesenden Personen zu achten hat und auch mit einem unvorsichtigen Verhalten von Arbeitern auf einer Baustelle zu rechnen ist (vgl auch RS0058349; 8 Ob 108/83; 2 Ob 164/77).

8.2 Hier steht unbekämpft fest, dass der Lenker des Klagsfahrzeugs vor dem Rückwärtsfahren in die beiden Rückspiegel sah, er über die Rückspiegel das sich bereits (gegen die Einbahn mit überhöhter Geschwindigkeit) nähernde Beklagtenfahrzeug aber nicht erkennen konnte. Weiters, dass er sich beim Rückwärtsfahrmanöver auf die beiden Spiegel konzentriert, um nicht gegen die Stützen des WAB zu stoßen. Daraus folgt, dass der Klagslenker nicht „ohne zu schauen“ rückwärts losfuhr.

Dass er keinen Kontrollblick über seine rechte Schulter gemacht hat, der es ihm ermöglicht hätte, das sich bereits annähernden Beklagtenfahrzeuges zu erkennen, begründet hier zwar ein Mitverschulden, das aber – entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichts – aufgrund der Kumulation an auffälligen Sorglosigkeiten des Lenkers des Beklagtenfahrzeugs vernachlässigbar ist:

9. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Verschulden vernachlässigt werden kann, ist das Verschulden der am Unfall Beteiligten gegenüberzustellen. Je schwerwiegender das Verschulden des einen ist, umso eher kann das des anderen vernachlässigt werden (RS0027202 [T11]). Ein Verstoß gegen Vorrangbestimmungen wiegt schwerer als andere Verkehrswidrigkeiten (vgl RS0026775).

Hier hat das Beklagtenfahrzeug den Vorrang des Klagsfahrzeugs verletzt (← Pkt 6f), ist gegen die Einbahn gefahren und hat dabei die höchstzulässige Geschwindigkeit um 62% überschritten, indem es anstelle der zulässigen 20 km/h mit einer Geschwindigkeit von 32 km/h fuhr.

Der Lenker des Klagsfahrzeugs fuhr mit 9 km/h. Es steht auch fest, dass das Beklagtenfahrzeug erst 2,1 Sekunden vor der Kollision überhaupt in den wahrnehmbaren Bereich des Klagslenkers gelangte. Er durfte aufgrund der festgestellten Umstände (abgegrenzter Betriebsgrund, Kenntnis der am Betriebsgrund aufhältigen Personen über die dort stattfindenden Rangierfahrten und besonderen Regelungen) annehmen, dass die auf dem Gelände anwesenden Personen mit den entsprechenden Vorgängen vertraut sind und besondere Vorsicht walten lassen und nicht mit überhöhter Geschwindigkeit gegen die Einbahn fahren und seinen Vorrang verletzen (vgl RS0073131 und RS0073124), sodass die dem Lenker des Klagsfahrzeugs vorgeworfene Unterlassung des Kontrollblicks vernachlässigbar ist und den Lenker des Beklagtenfahrzeugs im Ergebnis das Alleinverschulden am Unfall trifft.

10. Der Klägerin gebühren daher 100% der festgestellten und der Höhe nach nicht mehr strittigen Reparaturkosten iHv EUR 10.658 (exkl. USt) und der pauschalen Unkosten iHv EUR 90 .

11. In der von der Klägerin ins Treffen geführte Entscheidung 8 Ob 148/82 SZ 55/104 ging es um einen (vom Revisionswerber begehrten) Amortisationsabzug bei einem gebrauchten Reifen, der durch einen neuen ersetzt worden war. Der OGH verneinte einen Vorteil, da nicht die Werterhöhung des einzelnen Ersatzteiles durch Verwendung von Neuteilen genügt, sondern sich die Werterhöhung auf das ganze Fahrzeug erstrecken muss, weil der Neuteil dem Fahrzeug einverleibt wurde und damit seine wirtschaftliche Selbständigkeit verloren hat.

Ein Abzug "Neu-für-Alt" ist nicht von Amts wegen vorzunehmen. Der Schädiger trägt die Behauptungs- und Beweislast in Bezug auf eine mit der notwendigen Reparatur verbundenen Werterhöhung der Sache ( RS0022849 [T3]). Hier hat der Beklagtenvertreter in der Tagsatzung vom 24.3.2023 zu den Reifen vorgebracht, dass ein Abzug Neu für Alt anzustellen sei, da ansonsten durch den Verbau neuer Räder eine Werterhöhung stattfände (ON 107.2, S 7). Demnach hat der Beklagte hier keine Werterhöhung des Fahrzeugs durch die neuen Reifen behauptet, sodass schon aus diesem Grund kein Abzug vorzunehmen ist. Im Übrigen ergibt sich aus den Feststellungen, dass nicht alle, sondern nur die beiden beschädigten Reifen ausgetauscht wurden.

Die etwas längere Dauer der Benützbarkeit der ausgetauschten Reifen wirkt sich nicht als anrechenbarer Vorteil zugunsten des Klägers aus, weil bei der künftigen Erneuerung der übrigen Bereifung sämtliche Reifen auszutauschen sind, weil es nicht zumutbar ist, dann mit unterschiedlich alten und abgenutzten Reifen zu fahren (vgl 8 Ob 148/82).

Der Sachverständige hat pro Reifen EUR 448 EUR als angemessene Erneuerungskosten veranschlagt und davon 30% abgezogen (= EUR 627,20) und den Reparaturkosten zu Grunde gelegt. Der Kläger begehrt in der Berufung jedoch nur EUR 181,72 für den unberechtigt vorgenommenen Abzug „Neu-für-Alt“ (ON 115, Pkt 2c). Dieser Betrag ist den Reparaturkosten und den pauschalen Unkosten hinzuzurechnen.

12. Ausgehend vom festgestellten Sachverhalt gebührt der Klägerin kein Ersatz iHv EUR 500 für die Rückfahrkamera.

13. Hinsichtlich der auch als sekundärer Feststellungsmangel geltend gemachten Nicht-Berücksichtigung von ./A wird auf die Ausführungen in Pkt 3.3 verwiesen.

14. Der Berufung war daher teilweise Folge zu geben. Insgesamt gebühren der Klägerin EUR 10.929,72 (exkl. USt).

15. Das Erstgericht hat die Kostenentscheidung vorbehalten, sodass gemäß § 52 Abs 3 ZPO auch im weiteren Rechtsgang keine solche zu treffen ist. Über die Verpflichtung zum Kostenersatz auch des Berufungsverfahrens entscheidet demnach das Gericht erster Instanz nach rechtskräftiger Erledigung der Streitsache (vgl 4 Ob 2/24h).

16. Die ordentliche Revision war nicht zuzulassen, weil die Beurteilung des Verschuldensgrades und das Ausmaß des Mitverschuldens wegen ihrer Einzelfallbezogenheit keine erhebliche Rechtsfragen im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO darstellen ( RS0087606 ).

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