13R145/24z – OLG Wien Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht durch den Senatspräsidenten Mag. Häckel als Vorsitzenden sowie die Richterin Mag. Wieser und den Richter Mag. Wessely in der Rechtssache der klagenden Partei A* , **, vertreten durch Mag. Thomas Lechner, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagten Parteien 1. B* AG , **, und 2. C* Gesellschaft m.b.H. , **, beide vertreten durch Mag. Rainer Rienmüller, Rechtsanwalt in Wien, wegen EUR 79.455,14 s.A. und Feststellung (Streitwert: EUR 10.000,-), über die Berufung der beklagten Parteien (Berufungsinteresse: EUR 59.323,65) gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten vom 30.7.2024, ** 62, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Über die Verpflichtung zum Kostenersatz für das gesamte Verfahren entscheidet das Gericht erster Instanz nach rechtskräftiger Erledigung der Streitsache.
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig .
Text
Entscheidungsgründe:
Am 8.7.2020 ereignete sich gegen 16:10 Uhr in **, D*-Straße **, ein Verkehrsunfall, an welchem die Klägerin als Radfahrerin und E* (im Folgenden: Beklagtenlenker) als Lenker eines bei der Erstbeklagten haftpflichtversicherten, von der Zweitbeklagten gehaltenen LKW samt Sattelanhänger (im Folgenden: Sattelzug) beteiligt waren.
Die Klägerin befuhr einen Radweg und wollte auf der rot markierten Radfahrerüberfahrt die Einfahrt zu einem F*-Parkplatz überqueren. Zur gleichen Zeit fuhr der Beklagtenlenker mit dem Sattelzug auf der D*-Straße und überfuhr den Radweg um nach rechts in den F*-Parkplatz einzubiegen. Dabei kam es zur Kollision zwischen dem Fahrrad der Klägerin und dem Sattelzug.
Bei dem Unfall wurde die Klägerin schwer verletzt.
Die Klägerin begehrt zuletzt die Verurteilung der Beklagten zur solidarischen Zahlung von EUR 79.455,14 samt Zinsen an Schadenersatz für Folgen des Verkehrsunfalls und die Feststellung der – hinsichtlich der Erstbeklagten mit der Versicherungssumme der Haftpflichtversicherung des LKW begrenzten – Haftung der Beklagten für sämtliche aus dem Verkehrsunfall entstehenden Schäden.
Soweit im Berufungsverfahren von Bedeutung, brachte die Klägerin vor, den Beklagtenlenker treffe das Alleinverschulden an dem Verkehrsunfall.
Die Beklagten beantragen Klagsabweisung. Soweit im Berufungsverfahren relevant, wendeten sie ein, das Alleinverschulden an der Kollision treffe aus näher ausgeführten Gründen die Klägerin. Der Beklagtenlenker habe beim Abbiegen alle erdenkliche Sorgfalt beachtet, für ihn sei der Unfall ein unabwendbares Ereignis gewesen.
Mit dem angefochtenen Urteil gab das Erstgericht dem Zahlungsbegehren mit EUR 69.098,20 samt gestaffelten Zinsen und dem Feststellungsbegehren zur Gänze statt, wies das Zahlungsmehrbegehren von EUR 10.356,94 ab und behielt die Kostenentscheidung bis zur rechtskräftigen Erledigung der Streitsache vor.
Es ging von dem auf den Seiten 2 sowie 4 bis 10 des Ersturteils stehenden unstrittigen und festgestellten (oben, eingangs der Entscheidungsgründe auszugsweise wiedergegebenen) Sachverhalt aus, auf den verwiesen wird.
Rechtlich beurteilte es die im Berufungsverfahren allein noch relevante Verschuldensfrage zusammengefasst dahingehend, dass der Beklagtenlenker seiner Verpflichtung nach § 9 Abs 2 StVO, der Klägerin als Radfahrerin das ungefährdete Überqueren der Fahrbahn auf einer Radfahrerüberfahrt zu ermöglichen, aus näher ausgeführten Gründen nicht nachgekommen sei und dadurch den Unfall verursacht habe. Der Klägerin sei mangels Feststellbarkeit einer Geschwindigkeitsüberschreitung und/oder Reaktionsverzögerung kein Verschuldensvorwurf zu machen. Das Alleinverschulden an dem Verkehrsunfall treffe den Beklagtenlenker.
Gegen den klagsstattgebenden Teil dieses Urteils richtet sich die Berufung der Beklagten wegen unrichtiger Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Abänderungsantrag, der Klägerin EUR 17.274,55 s.A. zuzusprechen, das Mehrbegehren abzuweisen und dem Feststellungsbegehren dergestalt stattzugeben, dass von einer Schadensteilung von 3:1 zu Lasten der Klägerin auszugehen ist. Hilfsweise stellen die Beklagten einen Aufhebungsantrag.
Die Klägerin beantragt, das Berufungsgericht möge das Rechtsmittel der Beklagten verwerfen.
Rechtliche Beurteilung
Die Berufung ist nicht berechtigt.
1. Unrichtige Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung
1.1. Die Beklagten begehren den ersatzlosen Entfall der Feststellung: „Wo sich die Klägerin zu diesem Zeitpunkt [Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung durch das Fahrverhalten des Beklagtenlenkers, Anm] befand und mit welcher Geschwindigkeit sie fuhr, kann nicht eindeutig festgestellt werden. Es kann daher nicht festgestellt werden, dass die Klägerin die Kollision durch eine zu diesem Zeitpunkt eingeleitete Bremsung hätte vermeiden können.“
Die bekämpfte Feststellung stehe in unauflösbarem Widerspruch mit den Feststellungen: „Unmittelbar vor ihr [der Klägerin] fuhren zwei andere Radfahrer hintereinander. Den Beginn des Abbiegevorgangs des Sattelzugs nahm die Klägerin nicht wahr. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit auf ein Fahrzeug gerichtet, das den F*-Parkplatz verlassen wollte. Erst als die unmittelbar vor und dann neben ihr fahrenden Radfahrer stark abbremsten, reagierte auch sie mit einer starken Bremsung.“
Aus diesen Feststellungen ergebe sich, dass die Klägerin, hätte sie nicht ausschließlich ein anderes Fahrzeug beobachtet, genauso wie die vor und danach neben ihr fahrenden Radfahrer mit einer Bremsung den Kontakt mit dem Beklagtenfahrzeug hätte vermeiden können.
1.1.1. Die von den Beklagten gesehene Vermeidbarkeit der Kollision für die Klägerin ergibt sich aus den dafür ins Treffen geführten Feststellungen nicht. Diesen ist nichts über die Positionen der Fahrräder der Klägerin und der beiden anderen Radfahrer sowie die Fahrgeschwindigkeit der Fahrräder (absolut oder relativ zueinander) im Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung durch das Fahrverhalten des Beklagtenlenkers zu entnehmen. Auf Grundlage der Feststellungen kann nicht darauf geschlossen werden, dass die Klägerin im Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung noch kollisionsvermeidend hätte bremsen können.
Der in der Berufung behauptete (richtigerweise als Begründungsmangel geltend zu machende) Widerspruch von Feststellungen des Ersturteils untereinander besteht nicht.
1.1.2. Für die Ausführung einer Beweisrüge genügt es nicht, bloß die „ersatzlose“ Streichung einer Feststellung anzustreben (RS0041835 [T3]). Denn ein „ersatzloses Streichen“ relevanter Feststellungen würde zu einem sekundären Feststellungsmangel gemäß § 496 Abs 1 Z 3 ZPO führen ( Pimmer in Fasching/Konecny 3 § 467 ZPO Rz 40/1).
Die Beweisrüge der Beklagten bleibt somit insgesamt erfolglos. Das Berufungsgericht übernimmt die Feststellungen des Ersturteils und legt sie seiner Entscheidung zugrunde (§ 498 Abs 1 ZPO).
2. Unrichtige rechtliche Beurteilung
2.1. Aus der Bezugnahme in der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts auf das Verhalten eines „maßstabgerechten LKW-Fahrers“, dem das Verhalten des Beklagtenlenkers nicht entsprochen habe, schließen die Beklagten, das Erstgericht werfe dem Beklagtenlenker kein Verschulden iSd § 1299 ABGB vor, wonach dieser verpflichtet sei, sich bei auftretenden Gefahrensituationen rasch und zweckmäßig zu verhalten. Aus den Feststellungen des Ersturteils über das Verhalten des Beklagtenlenkers folge bei richtiger rechtlicher Beurteilung, dass den Beklagten der Freibeweis iSd § 9 EKHG nicht gelungen sei, sodass diese die reine Gefährdungshaftung des EKHG zu vertreten hätten.
Dass die Klägerin offensichtlich nicht das gesamte Verkehrsgeschehen im Nahbereich des Radfahrweges beobachtet habe, wie dies offensichtlich die beiden anderen Radfahrer getan hätten, sei der Klägerin als Verkehrsteilnehmerin wohl als Verschulden anzulasten, weil sie bei Anwendung einer zumutbaren Verkehrssorgfalt den Unfall hätte vermeiden können.
Es komme daher zu einer Schadensteilung von 3:1 zu Lasten der Klägerin.
2.2. Um den Rechtsmittelgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gesetzmäßig auszuführen, muss der Berufungswerber zuallererst von den getroffenen Feststellungen ausgehen. Tut er dies nicht, liegt in Wahrheit keine Rechtsrüge vor, sodass die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Urteils nicht überprüft werden darf ( A. Kodek in Rechberger/Klicka , ZPO 5 § 471 Rz 16 mwN; Lovrek in Fasching/Konecny 3 § 503 ZPO Rz 134 mwN; RS0043603 [T8]).
Die für das behauptete Mitverschulden der Klägerin beweispflichtigen Beklagten (RS0022560 [T1]) setzen sich in ihrer Rechtsrüge über die zu ihren Lasten gehende Negativfeststellung hinweg, es könne nicht festgestellt werden, dass die Klägerin die Kollision durch eine im Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung an sie eingeleitete Bremsung hätte verhindern können. Den Beklagten ist der Beweis eines unfallkausalen Fahrfehlers der Klägerin nicht gelungen und die Rechtsrüge weicht insoweit in einem maßgeblichen Punkt von den getroffenen Feststellungen ab. Auf die somit nicht gesetzmäßig ausgeführte Rechtsrüge ist nicht weiter einzugehen.
Der unberechtigten Berufung war nicht Folge zu geben.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 3 ZPO.
Ein Bewertungsausspruch konnte im Hinblick auf das im Berufungsverfahren noch gegenständliche Zahlungsbegehren von mehr als EUR 30.000,- unterbleiben ( A. Kodek in Rechberger/Klicka , ZPO 5 § 500 ZPO Rz 5; RS0042277).
Die Berufungsentscheidung hing nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ab, die ordentliche Revision war daher nicht zuzulassen.