JudikaturOLG Wien

7Rs91/24i – OLG Wien Entscheidung

Entscheidung
25. Februar 2025

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Glawischnig als Vorsitzende, die Richter Mag. Nigl und Mag. Derbolav-Arztmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Kmsr Stefan Varga und MMag. PhD Cornelia Axmann in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geb. **, **, vertreten durch die TWSrechtsanwälte OG in St.Pölten, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Landesstelle **, **, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 8.5.2024, **-27, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Berufung selbst zu tragen.

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:

Text

Mit dem angefochtenen Urteil hat das Erstgericht, das auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem 1.4.2023 gerichtete Klagebegehren abgewiesen und festgestellt, dass vorübergehende Berufsunfähigkeit im Ausmaß von mindestens sechs Monaten nicht vorliegt, kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bzw auf Maßnahmen der medizinischen oder beruflichen Rehablilitation besteht.

Auf den festgestellten Sachverhalt (S 3 bis 5 der Urteilsausfertigung) wird verwiesen.

Rechtlich folgerte das Erstgericht, die Klägerin erfülle die Voraussetzungen des Berufsschutzes nach § 273 Abs 1 ASVG, da sie in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag 143 Monate als Verkäuferin (Angestellte) gearbeitet habe. Nach ständiger Rechtsprechung sei bei Angestellten eine Verweisungstätigkeit zumutbar, die in einer Beschäftigungsgruppe unter der zuletzt ausgeübten Tätigkeit liege. Die Klägerin habe langjährig eine Tätigkeit entsprechend Beschäftigungsgruppe C-D des Kollektivvertrags für Handelsangestellte ausgeübt. Unter Berücksichtigung von Ausbildung, Berufsverlauf und Leistungskalkül sei sie in der Lage, derartige Angestelltentätigkeiten weiterhin auszuüben. Da sie noch im Stande sei, beispielsweise als einfache Bürokraft mit Einstufung in der Beschäftigungsgruppe C zu arbeiten und Arbeitsplätze in ausreichender Anzahl vorhanden seien, sei sie nicht berufsunfähig. § 273 Abs 3 iVm § 255 Abs 3 lit a, Abs 3 lit b ASVG scheide schon deshalb aus, weil diese Regelung nur auf Angestellte ohne Berufsschutz anzuwenden sei. Auch seien die Verweisungsberufe keine Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil. Da die Klägerin weder dauerhaft noch vorübergehend berufsunfähig und eine Berufsunfähigkeit auch nicht absehbar sei, bestehe weder ein Anspruch auf Berufsunfähigkeitspension, noch auf Rehabilitationsgeld, noch auf medizinische Maßnahmen und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation.

Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin wegen Verfahrensmängeln und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagsstattgebenden Sinne abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Berufungsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung ist nicht berechtigt.

Mit der Mängelrüge macht die Berufungswerberin eine Verletzung der amtswegigen Beweisaufnahme sowie der Anleitungs- und Belehrungspflicht durch das Erstgericht geltend. Es seien zwar ua ein orthopädisches und ein neurologischen Gutachten eingeholt worden, zur Verhandlung sei jedoch nur der Sachverständige für Neurologie geladen worden. In der mündlichen Verhandlung habe die unvertretene Klägerin weitere medizinische Behandlungsunterlagen vorgelegt, darunter einen Befund vom 20.2.2024 (./C), der sich auf ein durchgeführtes MRT beziehe und auszugsweise laute: „Im Segment C6/C7 zeigt sich bei vorbestehender linksbetonter Discusprotrusion zusätzlich eine zunehmende Uncovertebralarthrose, daraus resultiert eine nunmehr multifaktoriell bedingte höhergradige Neuroforomenstenose links. In den übrigen Segmenten besteht weiterhin kein pathologischer Befund. Das Myelon ist von unauffälliger Signalgebung.“ Die MRT-Untersuchung (./C) habe vom orthopädischen Sachverständigen noch nicht berücksichtigt werden können, so auch nicht die angeführten Diagnosen der zunehmenden Uncovertebralarthrose und multifaktoriell bedingten höhergradigen Neuroforomenstenose links. Es liege auf der Hand, dass die Klägerin aufgrund der Diagnosen an zusätzlichen Beschwerden leide, die ihre Arbeitsfähigkeit mindern würden. Konkret würden sich Einschränkungen im Anmarschweg zur Arbeitsstätte, mit dem Tagespendeln, Wochenpendeln und Übersiedeln, welche der Klägerin nicht zumutbar seien, ergeben. Längeres Gehen oder Stehen seien nicht möglich. Die Konfrontierung des orthopädischen Sachverständigen mit dem MRT-Befund (./C) hätte sohin zu einem günstigeren Ergebnis für die Klägerin geführt. Das Erstgericht habe aber eine weitergehende Befragung dieses Sachverständigen unterlassen. Die Klägerin habe ihr Fragerecht in der Verhandlung nicht ausüben können, da der Sachverständige nicht zur Verhandlung geladen worden sei. Gemäß § 39 Abs 2 Z 1 ASGG wäre die Klägerin zur Stellung eines entsprechenden Beweisantrags auf Erörterung bzw Ergänzung des Sachverständigengutachtens anzuleiten gewesen. Eine Befragung des neurologischen Sachverständigen zum MRT-Befund (./C) sei nicht ausreichend. Der vorgelegte Befund beziehe sich auf orthopädische und nicht neurologische oder psychiatrische Einschränkungen. Es seien nicht sämtliche Diagnosen laut dem MRT-Befund im orthopädischen Gutachten berücksichtigt.

Damit vermag die Berufungswerberin keinen wesentlichen Verfahrensmangel aufzuzeigen:

Richtig ist zwar, dass das Beweisverfahren in Sozialrechtssachen nach ständiger Rechtsprechung vom Grundsatz der Amtswegigkeit beherrscht (§ 87 Abs 1 ASGG) und die nicht qualifiziert vertretene Partei gemäß § 39 Abs 2 Z 1 ASGG iVm §§ 432, 435 ZPO anzuleiten und zu belehren ist. Amtswegige Erhebungen oder eine entsprechende Anleitung sind jedoch nur bei Vorliegen von Anhaltspunkten für rechtserhebliche Umstände erforderlich (RIS-Justiz RS0086455). Die Verletzung dieser Pflicht begründet einen Verfahrensmangel (RS0042477), ist hier aber dem Erstgericht nicht zum Vorwurf zu machen:

Grundsätzlich ist darauf hinzuweisen, dass eine erhobene Diagnose nur die Grundlage für das vom medizinischen Sachverständigen zu erstellende Leistungskalkül bildet, das wiederum die Basis für die Feststellungen bildet. Mangels eigener medizinischer Fachkenntnisse könnte das Gericht aus einer festgestellten Diagnose keinerlei Schlussfolgerungen ableiten, zumal je nach dem Schweregrad eines Leidens bei gleicher Diagnose der Umfang der Einschränkungen bezüglich der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit ganz unterschiedlich sein kann. Wesentlich ist daher nur die Feststellung des Leistungskalküls (RS0084399).

Demgemäß hat das Erstgericht aufgrund der Angaben der Klägerin Sachverständige aus diversen Fachgebieten, ua der Orthopädie sowie der Neurologie und Psychiatrie bestellt und mit der Erstellung von Befund und Gutachten beauftragt.

Da das Gericht im Normalfall über kein besonderes medizinisches Fachwissen oder gar Spezialwissen verfügen kann, ist es auf die Erkenntnisse des Sachverständigen angewiesen und hat sich im Allgemeinen darauf zu beschränken, ein Gutachten nach allgemeinen Erfahrungssätzen und besonderen, im Zuge der Sozialgerichtsbarkeit erworbenen Kenntnissen auf seine Nachvollziehbarkeit zu überprüfen (SV-Slg 50.106 uva).

Richtig ist auch, dass die Klägerin zuletzt in der mündlichen Verhandlung ua den von der Berufung zitierten Befund einer MRT-Untersuchung der Halswirbelsäule vom 20.2.2024 (./C) vorgelegt hat. Dazu hat das Erstgericht aber sehr wohl weiteren Beweis – nämlich durch ergänzende Befassung des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen - in der mündlichen Verhandlung aufgenommen. Entgegen der Behauptung der Berufung, ist nicht nachvollziehbar, warum die Beurteilung des Befunds nicht ins neurologische Fachgebiet fallen sollte. Eine Überschreitung seines Fachgebiets wurde auch vom neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen nicht angezeigt. Vielmehr nahm dieser Einsicht in vorgelegte Befunde, so auch den zitierten und führte – gestützt auf seine Fachkunde - aus, in seinem Gutachten ein Zervikalsyndrom bereits diagnostiziert und im Leistungskalkül berücksichtigt zu haben, was durch das MRT der Halswirbelsäule vom 20.2.2024 [./C] bestätigt werde, so – im Übrigen - auch der Befund vom 23.4.2024 der behandelnden Orthopädin [./D], der ebenfalls das Zervikalsyndrom beschreibe. Weitere Einschränkungen des – ohnehin sehr eingeschränkten - Leistungskalküls stellte der Sachverständige nicht fest. Er nahm in der Verhandlung auch Einsicht in das schriftlich erstattete orthopädische Gutachten, stellte fest, dass die Diagnosen berücksichtigt worden seien und eine Ergänzung nicht erforderlich sei.

Im Übrigen vermag auch die Berufungswerberin nicht anzuführen, welche konkrete Fragen sie an den orthopädischen Sachverständigen gestellt hätte.

Das Gericht konnte sich darauf verlassen, dass keine notwendige oder zweckdienliche Erweiterung der Untersuchung unterbleibt, da sie vom Sachverständigen nicht angeregt oder vorgenommen, vielmehr ausdrücklich für nicht erforderlich erachtet wurde (SV-Slg 50.079 uva). Wenn sich daher das Erstgericht – ohnehin nach eingeholter gutachterlicher Stellungnahme zur zitierten Beilage (./C), auch zur (nicht) erforderlichen Ergänzung des orthopädischen Gutachtens – den vom ihm bestellten medizinischen Sachverständigengutachten samt Zusammenfassung anschloss, bestehen daran keine Bedenken.

Dass das Beweisverfahren, insbesondere die eingeholten Sachverständigengutachten nicht das von der Klägerin gewünschte Ergebnis erbrachte, macht das Verfahren nicht mangelhaft.

Aus advokatorischer Vorsicht verweist die Berufungswerberin zur Rechtsrüge auf ihre Ausführungen zum primären Verfahrensmangel und meint, dass ihre medizinischen Einschränkungen nicht abschließend festgestellt seien, weil das orthopädische Gutachten ergänzungs- und erörterungsbedürftig sei und „entsprechende“ Feststellungen noch zu treffen seien.

Der in der Rechtsrüge geltend gemachte Vorwurf des Vorliegens eines Feststellungsmangels (dass das Erstgericht infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung erforderliche Feststellungen nicht getroffen und notwendige Beweise nicht aufgenommen habe) kann nicht erfolgreich erhoben werden, wenn zu einem bestimmten Thema – wie hier das Leistungskalkül der Klägerin - ohnehin Feststellungen getroffen wurden, diese den Vorstellungen der Rechtsmittelwerberin aber zuwiderlaufen (RS0043320 T16).

Es war daher der Berufung ein Erfolg zu versagen.

Für einen ausnahmsweisen Kostenzuspruch nach Billigkeit gemäß § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG ergeben sich weder aus dem Vorbringen noch aus dem Akt Anhaltspunkte.

Die ordentliche Revision war gemäß den §§ 2 ASGG, 502 Abs 1 ZPO nicht zuzulassen, weil erhebliche Rechtsfragen nicht zu lösen waren.

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