7Rs1/25f – OLG Wien Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Glawischnig als Vorsitzende, die Richter Mag. Nigl und Mag. Derbolav Arztmann sowie die fachkundigen Laienrichterinnen DI Beate Ebersdorfer und Mag. Marianne Zeckel Draxler in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geboren am **, **, vertreten durch Dr. Peter Eigenthaler, Rechtsanwalt in 3180 Lilienfeld, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen, Landesstelle **, **, wegen Betriebsrente, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 24. Oktober 2024, **-9, gemäß §§ 2 Abs 1 ASGG, 480 Abs 1 ZPO in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels selbst zu tragen.
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
Text
Mit Bescheid vom 27.8.2024 anerkannte die beklagte Partei das Ereignis vom 23.12.2022 als Arbeitsunfall. Die Gewährung einer Betriebsrente für die Folgen des Arbeitsunfalles wurde jedoch abgelehnt.
Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger für den Arbeitsunfall vom 23.12.2022 eine Betriebsrente im gesetzlichen Ausmaß ab 23.12.2022 zu gewähren, ab.
Seiner Entscheidung legte das Erstgericht folgenden Sachverhalt zugrunde:
Am 23.12.2022 erlitt der Kläger im Rahmen seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit einen Wegunfall. Er erlitt hierbei eine Verstauchung der Halswirbelsäule sowie eine Verstauchung/Prellung der Brust-und Lendenwirbelsäule. Es bestehen bei ihm Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule und Verspannung des Trapezmuskels beidseits. Weiters leidet der Kläger an akausalen degenerativen Wirbelsäulenveränderungen. Eine richtungsweisende Veränderung dieser degenerativen Wirbelsäulenveränderungen hatte sich durch den Unfall vom 23.12.2022 nicht ergeben.
Rechtlich folgerte das Erstgericht, gemäß § 149d Abs 1 Z 1 BSVG bestehe Anspruch auf eine Betriebsrente dann, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versicherten durch die Folgen des Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit über ein Jahre nach dem Eintritt des Versicherungsfall hinaus um mindestens 20 % vermindert sei. Aus den Feststellungen folge, dass beim Kläger keine Minderung der Erwerbsfähigkeit gegeben sei.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers wegen Verfahrensmangel, unrichtiger Tatsachenfeststellung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei beteiligte sich nicht am Berufungsverfahren.
Rechtliche Beurteilung
Die Berufung ist nicht berechtigt .
1. Zum Verfahrensmangel :
1.1. Dazu führt der Berufungswerber zunächst aus, er habe zu Protokoll gegeben, dass die Einholung eines schmerzmedizinischen Gutachtens notwendig sei. Dies sei vom Erstgericht „abgewiesen“ worden, weil der Sachverständige die Ansicht vertreten habe, dass die Einholung eines schmerzmedizinischen Gutachtens nicht erforderlich sei. Der Sachverständige räume jedoch ein, dass die Beschwerden des Klägers glaubwürdig und nachvollziehbar seien. Diese seien degenerativ, aber mehr als alterstypisch was auf seine schwere körperliche Tätigkeit zurückzuführen sei. In diesem Zusammenhang wäre daher jedenfalls die Einholung eines Gutachtens auf dem Fachgebiet der Landwirtschaft angezeigt und einzuholen gewesen, wonach der Kläger aufgrund seiner gesamten Beschwerden nicht mehr in der Lage sei, seinen Betrieb fortzuführen, weshalb eine Betriebsrente jedenfalls angemessen und gerechtfertigt sei, selbst dann, wenn dies (nicht nur) auf den Anlassfall (Unfall) zurückzuführen sei.
1.2. Wie schon das Erstgericht zutreffend ausgeführt hat, wird bei der Bewertung, in welchem Ausmaß die Erwerbsfähigkeit eingeschränkt ist, auf den gesamten („allgemeinen") Arbeitsmarkt Bezug genommen (§ 124 Abs 1 BSVG; vgl auch insoweit gleichlautend § 133 Abs 1 GSVG). Erwerbsunfähigkeit bezeichnet die aus gesundheitlichen Gründen eingetretene Unfähigkeit der versicherten Person, den Lebensunterhalt durch eine Erwerbstätigkeit zu erlangen (vgl Seidenberger; Roth in Brameshuber/Aubauer/Rosenmayr-Khoshideh , SVS-ON § 133 GSVG Rz 1). Für BSVG-Versicherte bis zum vollendeten 60. Lebensjahr ist das Verweisungsfeld nicht eingeschränkt. Es umfasst alle unselbständigen Erwerbstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und alle selbständigen Erwerbstätigkeiten ( Seidenberger; Roth aaO Rz 23).
Erwerbsunfähig nach diesem „strengen“ Begriff sind nur Versicherte, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage sind, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen. Die versicherte Person muss außerstande sein, im Rahmen ihres Leistungskalküls ihre bisherige (letzte) selbständige Erwerbstätigkeit, unter Berücksichtigung zumutbarer Umorganisierungen, weiter auszuüben (konkrete Prüfung im ersten Prüfschritt), oder irgendeine andere regelmäßige selbständige oder unselbständige Erwerbstätigkeit auszuüben. Das Verweisungsfeld ist der gesamte allgemeine Arbeitsmarkt für unselbständig Beschäftigte und darüber hinaus alle selbständigen Tätigkeiten, die ins Leistungskalkül fallen. Weder die Zumutbarkeit in Bezug auf die bisherige Tätigkeit noch das erzielbare Einkommen schränken die Verweisung ein. Ergibt sich bereits, dass Erwerbsunfähigkeit nicht besteht, muss die Fähigkeit zur Weiterausübung der Erwerbstätigkeit nicht mehr geprüft werden. Bereits ein einziger Verweisungsberuf, in dem es (abstrakt, nicht tatsächlich) ausreichend Arbeitsplätze gibt, schließt die Erwerbsunfähigkeit aus ( Seidenberger; Roth aaO Rz 28 ff).
Auch die Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) iS des § 149d BSVG ist nicht nur auf die unfallverursachende Tätigkeit ausgerichtet, sondern bezieht sich auf den gesamten Arbeitsmarkt. Zu berücksichtigen sind alle verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, also unselbständige wie auch selbständige Tätigkeiten und nicht nur tatsächlich genützte. Ob der Versicherungsfall tatsächlich zu einem Einkommensausfall führt, ist bedeutungslos. Die Betriebsrente wird infolge der abstrakten Schadensberechnung auch dann gewährt, wenn der land(forst)wirtschaftliche Betrieb im bisherigen Umfang ohne reale wirtschaftliche Einbußen weitergeführt werden kann oder sogar ein höheres Einkommen erzielt wird. Der Grad der MdE ist aufgrund der abstrakten Beurteilung nicht nur auf die unfall- bzw berufskrankheitsverursachende Tätigkeit, sondern auf den gesamten Arbeitsmarkt ausgerichtet. Auch wenn die unfallbedingte Einschränkung einen Versicherten bei Ausübung seiner Tätigkeit als Landwirt in größerem Ausmaß behindert, rechtfertigt dies nicht die Annahme einer über der medizinischen Einschätzung liegenden MdE ( Schantl-Stadtschreiber in Brameshuber/Aubauer/Rosenmayr-Khoshide h, SVS-ON § 149d BSVG Rz 14 f).
Darauf, ob der Berufungswerber in der Lage ist, seinen Betrieb fortzuführen bzw zur Unterstützung bei der Arbeit in der Landwirtschaft auf fremde Hilfe angewiesen ist kommt es damit nicht an. Der herangezogene Verfahrensmangel wegen der Unterlassung der Einholung eines Gutachtens auf dem Fachgebiet der Landwirtschaft ist damit zu verneinen.
1.3. Auch zum Berufungsvorbringen, wonach eine schmerzmedizinische Einschätzung durch einen speziellen Gutachter notwendig und erforderlich gewesen wäre, kann auf die zutreffenden Ausführungen des Erstgerichts verwiesen werden: Medizinische Fachfragen sind im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich durch entsprechende medizinische Sachverständige zu klären. Es stellt eine rein medizinische Frage dar, welche Untersuchungen zur Feststellung eines Leidenszustands notwendig sind. Es muss daher auch dem ärztlichen Sachverständigen überlassen bleiben zu beurteilen, welche Untersuchungen zur Feststellung des Leidenszustands des jeweils zu untersuchenden Versicherten erforderlich sind. Ein medizinischer Sachverständiger, auch wenn er nicht Facharzt für das Fachgebiet ist, dem die vom Untersuchten berichteten Beschwerden zuzuordnen sind, besitzt doch so weitgehende medizinische Kenntnisse, dass er beurteilen kann, ob die Abklärung der an sich fachfremden Beschwerden durch ein anderes Fachgebiet notwendig ist (OLG Wien 7 Rs 105/24y mwN uva).
Der vom Erstgericht bestellte Sachverständige Dr. B* hat ausgeführt, dass die Einholung eines schmerzmedizinischen Gutachtens nicht erforderlich ist. Sachverständige sind Hilfsorgane des Gerichts, die dem Richter kraft ihrer besonderen Sachkunde Kenntnisse von Erfahrungssätzen vermitteln, daraus Schlussfolgerungen ziehen und zufolge ihrer Sachkenntnisse streiterhebliche Tatsachen erheben. Den Sachverständigen trifft entsprechend dem von ihm abgelegten Eid die Verpflichtung, sein Gutachten nach dem letzten Stand der Wissenschaft abzulegen. Das Gericht kann sich darauf verlassen, dass keine notwendige oder zweckdienliche Erweiterung der Untersuchung unterbleibt, wenn sie vom Sachverständigen nicht angeregt oder vorgenommen wird (OLG Wien 7 Rs 18/24d mwN uva). Damit bestand kein Anlass zur Einholung weiterer Gutachten.
2. Um eine Tatsachen- und Beweisrüge gesetzmäßig auszuführen ist erforderlich darzulegen a) welche konkrete Feststellung bekämpft wird, b) aufgrund welcher unrichtigen Beweiswürdigung das Erstgericht diese getroffen hat, c) welche (ersatzweise) Feststellung begehrt wird und d) aufgrund welcher Beweisergebnisse und Erwägungen diese zu treffen gewesen wäre ( A. Kodek in Rechberger/Klicka ZPO 5 § 471 Rz 15 mwN). Eine gesetzmäßig ausgeführte Beweisrüge liegt schon deshalb nicht vor, zumal sich der Rechtsmittelwerber in keiner Weise mit der erstgerichtlichen Beweiswürdigung auseinandersetzt.
Im Übrigen ist die Frage, ob beim Kläger Erwerbsunfähigkeit vorliegt eine Rechtsfrage (OLG Wien 8 Rs 21/23a; vgl bspw 10 ObS 153/02a). Dementsprechend sind die Ausführungen des Erstgerichts, wonach beim Kläger „keine Minderung der Erwerbsfähigkeit gegeben“ ist, der rechtlichen Beurteilung zuzuordnen.
3. Zur Rechtsrüge :
3.1. Dazu führt der Berufungswerber aus, dass durch den Unfall ein bestehenden Vorleiden „jedenfalls offensichtlich aktiviert“ worden sei, die degenerativen Beschwerden seien auf die Tätigkeit des Klägers in der Landwirtschaft zurückzuführen. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung wäre dies festzustellen gewesen, dies sei Ausfluss einer Berufskrankheit in der Landwirtschaft, der Kläger erreiche bald das 60. Lebensjahr. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung wäre daher das Gesamtkalkül des Krankheitsbildes des Klägers zugrunde zu legen gewesen und eine Berufskrankheit mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von zumindest 20% festzustellen gewesen.
3.2. Sowohl das vorgeschaltete Verwaltungsverfahren als auch das erstgerichtliche Verfahren haben sich auf Ansprüche des Klägers aus dem Versicherungsfall des Arbeitsunfalls bezogen. Der Geltendmachung von Ansprüchen aus einer Berufskrankheit steht damit nicht nur im Berufungsverfahren das auch in Sozialrechtsverfahren geltende Neuerungsverbot des § 482 ZPO (RS0042049) entgegen, sondern insbesondere auch allgemein der in Sozialrechtssachen geltende Grundsatz der sukzessiven Kompetenz.
Danach kann in einer Leistungssache - abgesehen vom hier nicht vorliegenden Fall des § 65 Abs 1 Z 3 ASGG und vorbehaltlich des ebenfalls nicht in Rede stehenden § 68 ASGG - das Gericht nur angerufen werden, wenn vom Versicherungsträger entweder „darüber“, das heißt über den der betreffenden Leistungssache zugrunde liegenden Anspruch des Versicherten, bereits ein Bescheid erlassen wurde oder der Versicherungsträger mit der Bescheiderlassung - ein solcher Fall liegt hier unstrittig nicht vor - säumig geworden ist (§ 67 Abs 1 ASGG; RS0085867; 10 ObS 125/18g uva). Der mögliche Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist durch Antrag, Bescheid und Klagebegehren in dreifacher Weise eingegrenzt ( Neumayr in ZellKomm ³ § 67 ASGG Rz 4 mwH; RS0105139 [T1]; 10 ObS 125/18g uva). Der Streitgegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens muss mit jenem des vorgestalteten Verwaltungsverfahrens ident sein, ansonsten fehlt es bei einer Bescheidklage an einer „darüber“ ergangenen Entscheidung des Versicherungsträgers. Die Klage darf im Vergleich zum vorangegangenen Antrag weder die rechtserzeugenden Tatsachen auswechseln noch auf Leistungen (Gestaltungen, Feststellungen) gerichtet sein, über die der Versicherungsträger im bekämpften Bescheid gar nicht erkannt hat. Daraus ergibt sich, dass auch ein „Austausch“ des Versicherungsfalls oder der Art der begehrten Leistungen im gerichtlichen Verfahren nicht zulässig ist.
Auch im Zusammenhang mit der – im Zweifel zur Deutung des Spruchs heranzuziehenden (RS0049680 [T1]) – Begründung des Bescheids der beklagten Partei (./A) ist eine Zuordnung zum Versicherungsfall der Berufskrankheit nicht zu erkennen. Der Bescheid bezieht sich ausschließlich auf die Anerkennung des Unfalls vom 23.12.2022 als Arbeitsunfall und die Ablehnung einer Betriebsrente für die Folgen dieses Arbeitsunfalls. Hinweise darauf, dass im Verwaltungsverfahren auch der Versicherungsfall der Berufskrankheit gegenständlich war, was auf einen darauf bezogenen Entscheidungswillen des Versicherungsträgers schließen lassen könnte (vgl 10 ObS 141/22s Rz 16 und 21) sind dem Akt nicht zu entnehmen und werden vom Kläger auch nicht behauptet.
Mit seiner Klage wendete sich der anwaltlich vertretene Kläger auch nur gegen den gegenständlichen Bescheid und thematisierte übereinstimmend damit inhaltlich ausschließlich den Versicherungsfall des Arbeitsunfalls und den daraus abgeleiteten Anspruch auf Betriebsrente. Das Klagebegehren war ausdrücklich auf die Verpflichtung der beklagten Partei gerichtet, „dem Kläger für den Arbeitsunfall vom 23.12.2022 eine Betriebsrente im gesetzlichen Ausmaß ab 23.12.2022 zu gewähren“. Eine Geltendmachung des Versicherungsfalls der Berufskrankheit ist daraus nicht im Ansatz ersichtlich. Der Versicherungsfall der Berufskrankheit war nicht Gegenstand der Klage (vgl 10 ObS 61/23b).
3.3. Nur ergänzend ist anzumerken, dass auch bei Berufskrankheiten, die zur Aufgabe schädigender Tätigkeiten zwingen, das Ausmaß der MdE nicht etwa nach der Unfähigkeit, den zuletzt ausgeübten Beruf weiter auszuüben, zu beurteilen ist, sondern nach der durch die Krankheit bewirkten Einschränkung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ( Schantl-Stadtschreiber in Brameshuber/Aubauer/Rosenmayr-Khoshide h, SVS-ON § 149d BSVG Rz 16).
Der Berufung war daher der Erfolg zu versagen.
Ein Kostenzuspruch nach Billigkeit gemäß § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG kommt schon deshalb nicht in Frage, weil Billigkeitsgründe weder behauptet wurden noch aus dem Akt ersichtlich sind.
Die ordentliche Revision war nicht zuzulassen, weil vorliegend eine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO nicht zur Beurteilung stand.