JudikaturOLG Wien

23Bs10/24z – OLG Wien Entscheidung

Entscheidung
10. Januar 2024

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat durch den Richter Dr. Aichinger als Vorsitzenden sowie die Richterin Mag. Staribacher und den Richter Mag. Trebuch, LL.M.WU, als weitere Senatsmitglieder in der Strafsache gegen A* wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall SMG, § 15 StGB und weitere strafbare Handlungen über die Beschwerde des Genannten gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten vom 29. Dezember 2023, GZ 11 HR 259/23z-37, nichtöffentlich den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Aus Anlass der Beschwerde wird der angefochtene Beschluss aufgehoben und die sofortige Enthaftung des Beschuldigten angeordnet .

Text

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

Über den am ** geborenen österreichischen Staatsbürger A* wurde nach seiner Festnahme gemäß § 171 Abs 2 Z 1 iVm § 170 Abs 1 Z 1 StPO am 6. Dezember 2023, 15.00 Uhr (ON 8.2), und Einlieferung in die Justizanstalt St. Pölten am 7. Dezember 2023, 15.10 Uhr (ON 1.11 S 3; ON 34), – dem Antrag der Staatsanwaltschaft folgend (ON 1.10) - am 8. Dezember 2023 wegen des dringenden Tatverdachts nach § 28a Abs 1 fünfter Fall SMG (zu ergänzen: , § 15 StGB); §§ (richtig:) 15, 12 zweiter Fall StGB, § 28a Abs 1 zweiter und dritter Fall SMG; (in Ansehung von C./ zu ergänzen:) § 27 Abs 1 Z 1 zweiter Fall SMG; §§ (richtig:) 15, 12 zweiter Fall StGB, § 4 Abs 1 zweiter und dritter Fall NPSG; § 4 Abs 1 vierter Fall NPSG die Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO bis längstens 27. Dezember 2023 verhängt (ON 11 S 5; ON 12).

Darnach bestand der dringende Verdacht, er habe in ** und allenfalls anderen Orten

I. vorschriftswidrig

A. Suchtgift in einer insgesamt jedenfalls die Grenzmenge (§ 28 b SMG) übersteigenden Menge, anderen überlassen und zu überlassen versucht, indem er nachgenannte Suchtgiftbestände mit zumindest durchschnittlichen Reinsubstanzgehalten über den von ihm betriebenen Webshop „**“ gewinnbringend vertrieb und an die Abnehmer teils versandte, teils persönlich übergab, und zwar

1. im Zeitraum August 2023 bis 6. Dezember 2023 an zumindest 20 Abnehmer etwa 200 Tabletten MDMA („XTC“) zum Stückpreis von 10 Euro sowie 15 g MDMA in Pulverform zum Grammpreis von 60 Euro (a.), zumindest 750 g Cannabiskraut (darin zumindest 1 % Delta-9-THC und 5 % THCA) zum Grammpreis von 10 Euro (b.), etwa 200 g Amphetamin zum Grammpreis von 10 Euro (c.) und ca. 25 LSD-Trips zum Stückpreis von 10 Euro (d.);

2. einem verdeckten Ermittler

a. am 4. Dezember 2023 10 Stück Tabletten MDMA („blauer Punisher“) zum Stückpreis von 10 Euro;

b. am 6. Dezember 2023 78 Stück Tabletten MDMA („blauer Punisher“) zum Stückpreis von 7 Euro sowie 100 g Cannabiskraut (darin zumindest 1 % Delta-9-THC und 5 % THCA), wobei es beim Versuch blieb, weil er vor Übergabe festgenommen wurde;

B. zeitnah vor dem 15. November 2023 Dritte zumindest dazu zu bestimmen versucht, Suchtgift in einer die Grenzmenge (§ 28 b SMG) zum Teil übersteigenden Menge aus den Niederlanden aus- und nach Österreich einzuführen, indem er eine Online-Bestellung bei einer Handelsplattform im „Darknet“ über 250 g MDMA, 100 g Amphetamin und 100 g Methamphetamin an seine Wohnadresse als Lieferadresse tätigte;

C. Suchtgift bis 6. Dezember 2023 „nicht zum ausschließlichen persönlichen Gebrauch“ besessen, indem er in den von ihm verwendeten Wohnungen in ** und **, etwa 25 g Amphetamin, 8 g MDMA, 16 Stück LSD-Trips, 1 g Methamphemtamin und 12 Cannabiszigaretten („Joints") zumindest teilweise zum Zwecke des Weiterverkaufs aufbewahrte;

II. im Zuge der im Punkt I.B. dargestellten Tat, indem er auch 25 g Ketamin mit dem Vorsatz bestellte, daraus einen Vorteil zu ziehen, Dritte zumindest dazu zu bestimmen versucht, eine mit Verordnung gemäß § 3 NPSG bezeichnete oder von einer gemäß § 3 NPSG definierten chemischen Substanzklasse umfasste Neue Psychoaktive Substanz, nämlich Ketamin, mit dem Vorsatz, dass sie von ihm oder einem Dritten zur Erreichung einer psychoaktiven Wirkung im menschlichen Körper angewendet wird, aus den Niederlanden aus- und nach Österreich einzuführen;

III. im Zeitraum von August 2023 bis 6. Dezember 2023 mit dem Vorsatz, daraus einen Vorteil zu ziehen, eine mit Verordnung gemäß § 3 NPSG bezeichnete oder von einer gemäß § 3 NPSG definierten chemischen Substanzklasse umfasste Neue Psychoaktive Substanz, nämlich Ketamin, mit dem Vorsatz, dass sie von einem Dritten zur Erreichung einer psychoaktiven Wirkung im menschlichen Körper angewendet wird, anderen überlassen, indem er 15 g Ketamin zum Grammpreis von 55 Euro an Abnehmer verkaufte.

Nachdem die Untersuchungshaft in der Haftverhandlung am 27. Dezember 2023 aus eben diesem Haftgrund verlängert worden war (ON 40), erkannte die Erstrichterin beim Ausfertigen des Beschlusses, dass die Haftfrist tatsächlich bereits am 22. Dezember 2023 geendet hatte, und ordnete daher die sofortige Enthaftung des Beschuldigten an (ON 1.36; ON 30).

Die tatsächliche Enthaftung erfolgte am 27. Dezember 2023 um 15.40 Uhr (ON 34). Bereits um 15.45 Uhr wurde A* – auf Grund (um 15.26 Uhr) gerichtlich bewilligter mündlicher Festnahmeanordnung und nach diesbezüglicher Verständigung des LKA NÖ (siehe ON 1.37; ON 1.38) - abermals verhaftet (ON 35 S 1). Am 29. Dezember 2023 wurde über ihn – wiederum dem Antrag der Staatsanwaltschaft folgend (ON 1.37) - erneut die Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO verhängt (ON 36.1 S 5; ON 37).

Gegen die abermalige Verhängung der Untersuchungshaft richtet sich die rechtzeitig erhobene, nicht gegen den dringenden Tatverdacht gerichtete, sondern (allein) die Substituierbarkeit der Untersuchungshaft durch gelindere Mittel behauptende Beschwerde des Beschuldigten.

Die Oberstaatsanwaltschaft hat sich einer Stellungnahme enthalten.

Gemäß § 175 Abs 1 StPO sind Beschlüsse auf Verhängung oder Fortsetzung der Untersuchungshaft längstens für einen bestimmten Zeitraum wirksam (Haftfrist), wobei der Ablauftag dieser Frist jeweils im Beschluss anzuführen ist. Die (erste) Haftfrist beträgt 14 Tage ab Verhängung der Untersuchungshaft (Abs 2 Z 1 leg.cit). Ist die Haftfrist abgelaufen, ohne dass die Verhängung oder Fortsetzung der Untersuchungshaft beschlossen wurde, ist der Beschuldigte zu enthaften (§ 175 Abs 1 zweiter Satz; 15 Os 139/97; RIS-Justiz RS0108349; RS0108350).

Weder der klare Wortlaut noch die ratio legis lassen einen Ermessensspielraum zu; demnach gestattet die in § 175 Abs 2 StPO bestimmte Höchstdauer der Haftfristen (14 Tage, ein Monat, zwei Monate) – von den ausdrücklich normierten Ausnahmen abgesehen (§ 84 Abs 1 Z 5 StPO, § 175 Abs 3 und Abs 5 StPO) – keine Verlängerung (15 Os 139/97; RS0096192). Aus der Unerstreckbarkeit der prozessualen Fristen des § 175 Abs 2 StPO folgt, dass (ausgenommen im Fall des § 175 Abs 3 StPO) bis zu deren Ablauf - uU bei sonstiger Präklusion - entweder eine Haftverhandlung oder im Fall des § 175 Abs 4 StPO - eine schriftliche Beschlussfassung vorgenommen werden muss, andernfalls der Beschuldigte zu enthaften ist (siehe § 2 Abs 2 GRBG; 14 Os 57/94; 15 Os 139/97; Fabrizy/Kirchbacher , StPO 14 § 175 Rz 7; Kirchbacher/Rami in WK-StPO § 175 Rz 5 mwN; Nimmervoll , Haftrecht 3 Z 1039).

Da die Haftfrist in casu am 22. Dezember 2023, 24.00 Uhr, abgelaufen und ein rechtzeitiger Beschluss infolge Versehens der zuständigen HR-Richterin unterblieben ist, wurde A* (am fünften Tag nach dem Ablauf der 14-tägigen Haftfrist) am 27. Dezember 2023 zu Recht enthaftet .

Wenn auch eine neuerliche Verhängung der Untersuchungshaft bei Fristversäumnis nicht per se ausgeschlossen ist ( Kirchbacher/Rami, aaO § 175 Rz 5 iVm § 178 Rz 16), stellt in casu die neuerliche – ohne Änderung der tatsächlichen Verhältnisse erfolgte - Festnahme des Beschwerdeführers nur fünf Minuten nach seiner Enthaftung, noch dazu in der Justizanstalt St. Pölten (ON 35 S 1), und die abermalige Verhängung (Fortsetzung) der Untersuchungshaft über ihn jedoch nichts anderes als eine Umgehung der Unerstreckbarkeit der prozessualen Fristen des § 175 Abs 2 StPO dar.

Aus all dem folgt, dass der Beschwerdeführer - unabhängig vom Gewicht der ihm zur Last gelegten Taten und des angezogenen Haftgrundes - zu enthaften ist.

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