JudikaturOLG Wien

20Bs94/23d – OLG Wien Entscheidung

Entscheidung
Strafrecht
13. Juli 2023

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat durch den Senatspräsidenten Mag. Jilke als Vorsitzenden sowie die Richterinnen Mag. Neubauer und Mag. Wolfrum, LL.M., als weitere Senatsmitglieder in der Strafsache gegen Ing. A* B* und einen weiteren Beschuldigten wegen des Verbrechens der Geldwäscherei nach § 165 Abs 2, erster, zweiter, dritter, vierter, fünfter und sechster Fall, Abs 4 StGB idgF und weiterer strafbarer Handlungen über die Beschwerde des Prof. KR Ing. C* D* gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 1. März 2023, GZ 333 HR 170/19y-642, nichtöffentlich den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Beschwerde wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

Die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption (in der Folge kurz: WKStA) führte zu AZ 85 St 2/20i (vormals 28 St 8/19a) ein Ermittlungsverfahren unter anderem gegen Prof. KR Ing. C* D* wegen des Verbrechens der Geldwäscherei nach § 165 Abs 1 Z 2, Abs 4 StGB idgF.

Das Ermittlungsverfahren wurde durch Einbringung der Anklageschrift beim Landesgericht für Strafsachen Graz als Schöffengericht (AZ 150 Hv 29/23g) am 10. Mai 2023 beendet (ON 676).

Zum Zeitpunkt der Beschlussfassung ging das Erstgericht von einem gegen Ing. C* D* bestehenden Verdacht aus, er habe ab 2008 wissentlich über 500.000 Euro, die aus einer Untreue des in Deutschland hierfür rechtskräftig verurteilten F* zum Nachteil der G* mit einem Gesamtschaden von über 90 Millionen Euro herrührten, an sich gebracht, verwahrt, angelegt, verwaltet, verwertet oder Dritten übertragen, indem er Barschecks der I* J* (I*) eingelöst und die lukrierten Beträge weiter veranlagt habe, wobei der I* die Gelder im Wege der durch die Untreue unmittelbar bereicherten "schwarzen Kasse" L* und der zwischengeschaltten M* K* (M*) zugeflossen waren.

Sowohl lng. A* B* als auch C* D* waren in Unternehmen der P*-Q* in führender Funktion tätig. Daher bestehe ferner der Verdacht, sie hätten sich durch das angeführte Verhalten auch der Untreue zum Nachteil der von ihnen vertretenen Gesellschaften der P*-Q* strafbar gemacht. Die Zahlungen von L* erfolgten in engem Zusammenhang mit der Anrechnung durch das R* von konkreten Geschäften der P*-Q* auf die Gegengeschäftsverpflichtung der S* GmbH (T*). Im Gegenzug dafür von T* im Wege von L* geleistete Zahlungen wären demzufolge den jeweiligen Unternehmen zugestanden, und nicht diese vertretenden Machthabern. Letztere, darunter B* und D*, hätten dafür Sorge zu tragen gehabt, dass die Zahlungen unmittelbar den Machtgebern zufließen; ihnen persönlich zugekommene Zahlungen hätten sie abzuführen gehabt.

Nach der Verdachtslage habe KR Ing. C* D* daher das Verbrechen der Geldwäscherei nach § 165 Abs 1 bzw. 2 und 4 StGB, allenfalls auch das Verbrechen der Untreue nach § 153 Abs 1 und 3 zweiter Fall StGB, begangen.

Im Zuge des Ermittlungsverfahrens wurde am 21. Juli 2022 - überwiegend durch den zuständigen Referenten der WKStA, Dr.Mag. H* - eine Vernehmung des Zeugen K* U* in ** durchgeführt (ON 602 S 82 ff). Im Zuge der Einvernahme wurde folgende Frage an den Zeugen protokolliert: „ Warum wurden im Zusammenhang mit diesen V*-Geschäften auch Mitarbeiter von Auftragnehmern mit Provisionen von L* bedient (B*, D* von P*)? “.

Am 5. Jänner 2023 (ON 619) erhob der Beschuldigte KR Ing. C* D* (rechtzeitig) Einspruch wegen Rechtsverletzung gemäß § 106 Abs 1 Z 2 StPO und monierte durch die Fragestellung einerseits einen Verstoß gegen das in § 3 Abs 2 zweiter Satz normierte Objektivitätsgebot und andererseits eine Verletzung des § 161 Abs 3 StPO, weil die suggestive Fragestellung der WKStA für das Verständnis des Zusammenhangs nicht erforderlich gewesen sei (ON 619).

Die WKStA legte den Einspruch am 17. Jänner 2023 mit ablehnender Stellungnahme (ON 620) dem Landesgericht für Strafsachen Wien zur Entscheidung vor und führte aus, es sei dem Vorbringen des Einspruchswerbers unter Verweis auf den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 21. September 2020 (ON 335) zu entgegnen, dass sich das Ermittlungsverfahren gegen den Einspruchswerber zu einem überwiegenden Teil um den persönlichen Erhalt von unrechtmäßigen Provisionen für P*-Gegengeschäfte drehe. Aus bei L* vorgefundenen Aufstellungen ergebe sich, dass die Zahlungen an M* auf den von P*-Unternehmen zur Verfügung gestelltes Gegengeschäftsvolumen gestützt worden sei. Die in den Aufstellungen als Bemessungsgrundlage für die Provisionen der M* aufscheinenden Anrechnungssummen („R* W*“) ließen sich konkreten P*-Geschäften zuordnen (ON 179). Mit Blick auf die an ihn fließenden Zahlungen in Millionenhöhe, ein Weiterfluss an den ihm in der P*-Q* übergeordneten D* und die hervorgekommenen Informationen der Schweizer Behörden liege nahe, dass die Verteilung der aus dem L*-Konstrukt zufließenden Gelder im P*-Umfeld über B* abgewickelt worden seien. Angesichts der in Rede stehenden Summen sei anzunehmen, dass weitere maßgebliche Personen, so auch D*, von ihm beteilt worden seien. Dieser Beschluss nenne auch die dem Tatverdacht und damit der Fragestellung an den Zeugen DI K* U* zugrundeliegenden Ermittlungsergebnisse auszugsweise. Das Vorbringen des Einspruchswerbers, wonach die Fragestellung an den Zeugen nicht vom Akteninhalt gedeckt sei, verkenne oder negiere demnach bewusst den tatsächlichen Inhalt des Ermittlungsaktes. Insbesondere seien an den Zeugen im Vorfeld der nunmehr beanstandeten Frage auch offene Fragen zum Thema der Vergütung/Provisionen für V*-Gegengeschäfte gestellt worden. Die gewählte Fragestellung sei zwingend erforderlich gewesen, um vom Themengebiet der (berechtigten) Provisionszahlungen für V* als Auftraggeber und das Gegengeschäft für T*/G* zur Verfügung stellenden Unternehmen zu den (unrechtmäßigen) Provisionszahlungen an den Auftragnehmervertreter zu wechseln und deren Gründe (neutral) zu hinterfragen. Die Fragestellung sei zudem der Bestimmung des § 161 Abs 3 StPO entsprechend wörtlich dokumentiert worden. Dabei sei die Einschränkung auf die möglichen Gründe für diese Zahlungen bewusst gewählt worden, zumal sich die Tatsache, dass derartige Zahlungen erfolgt seien, sich bereits unzweifelhaft aus den schon vorliegenden Beweismitteln ergebe. Die Fragestellung an den Zeugen hätte lediglich die Hintergründe dieser unüblichen Zahlungen hinterfragen und aufklären sollen, zumal es sich bei DI K* U* um den Leiter der „Offset-Abteilung“ der G* X* GmbH, und damit um einen ausgewiesenen Experten mit langjähriger Erfahrung auf diesem Gebiet, handle.

In seiner Äußerung vom 27. Jänner 2023 brachte der Einspruchswerber weiters vor, im von der WKStA zitierten Gerichtsbeschluss sei gerade nicht die Rede von Provisionszahlungen von L* an den Antragsteller. Es werde „nur“ der Verdacht geäußert, dass von L* Geld an den Beschuldigten B* geflossen sei, das er an den Antragsteller weitergeleitet habe. Vielmehr sei es die WKStA, die die Verdachtslage verkürzt darstelle und dem Zeugen U* suggeriert habe, es seien Zahlungen von Provisionen von L* an den Einspruchswerber festgestellt worden. Die WKStA hätte zwischen legitimen und „nicht legitimen“ Provisionszahlungen und zwischen den verschiedenen Beschuldigten zu differenzieren gehabt (ON 626).

Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Erstgericht den Einspruch wegen Rechtsverletzung gemäß § 106 Abs 1 StPO wegen Durchführung einer Ermittlungsmaßnahme unter Verletzung des § 3 Abs 2 zweiter Satz StPO und des § 161 Abs 3 StPO ab (ON 642).

Begründend führte die Haft- und Rechtsschutzrichterin auf die zuletzt ständige Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Wien aus, dass in § 3 Abs 1 und Abs 2 StPO kein subjektives Recht verbrieft sei, welches den Betroffenen einen Anspruch auf ein bestimmtes Verfahrensrecht nach der StPO einräume oder die Voraussetzungen und Bedingungen festlege, die bei der Ausübung von Zwang gegenüber Betroffenen nach der StPO konkret einzuhalten seien, weshalb sich ein Einspruch wegen Rechtsverletzung verbiete. Wenn sich ein behaupteter Mangel an Objektivität in Verstößen gegen in der StPO konkret ausgestaltete Rechte (Rechtsbelehrung, Akteneinsicht, Beiziehung einer Vertrauensperson etc.) oder gegen Zwangsausübungsvorschriften manifestiere, könnten diese Rechtsverletzungen mit Einspruch nach § 106 Abs 1 StPO bekämpft werden (OLG Wien 18 Bs 34/16f; Brandstetter/Singer in Birklbauer/Haumer/Nimmervoll/Wess, LiK StPO  2020, § 106 Rz 6).

In Bezug auf § 161 Abs 3 StPO hielt die Haft- und Rechtsschutzrichterin fest, dass dieser Bestimmung kein subjektives Recht eines Verfahrensbeteiligten zu entnehmen sei, da sich darin – im Gegensatz zu anderen Normen – nicht die Diktion „hat das Recht“, „hat Anspruch“ etc. finde. Dies gelte sowohl für einen Zeugen, der primär von dieser Ermittlungsmaßnahme betroffen sei, die sich – anders als eine Zwangsmaßnahme – gegen niemanden, sondern allgemein auf die Aufklärung des Sachverhalts beziehe und noch viel weniger für einen anderen Verfahrensbeteiligten. Vielmehr werde einen an die ermittelnden Organe gerichteter Appell formuliert, weswegen dem Einspruchswerber Ing. C* D* kein aus § 161 Abs 3 StPO ableitbares subjektives Recht zukomme.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die fristgerechte Beschwerde des Beschuldigten Prof. KR Ing. C* D* (ON 647), mit der er zunächst bezogen auf § 161 Abs 3 StPO moniert, die auf den Wortlaut des § 161 Abs 3 StPO gestützte Argumentation sei insofern nicht überzeugend, als auch andere Bestimmungen, aus denen sehr wohl ein subjektives Recht abgeleitet werde, keinen Hinweis auf ein Recht der betroffenen Person enthalte. So normiere § 50 StPO ebenso „nur“ eine Verpflichtung des ermittelnden Organs, Beschuldigte über den Tatverdacht zu informieren, dessen ungeachtet sei jedoch unstrittig, dass ein Verstoß gegen § 50 StPO zur Erhebung eines Einspruchs wegen Rechtsverletzung berechtige. Der Gesetzgeber habe in diesen Bestimmungen nicht einfach nur einen „Appell“ an die ermittelnden Organe gerichtet, vielmehr sei aus dem Telos und der verwendeten Worte „ist“ und „darf“ eindeutig eine Verpflichtung der ermittelnden Organe abzuleiten, weshalb das Erstgericht eine Fehlinterpretation in Bezug auf das Vorliegen eines subjektiven Rechts vorgenommen habe. Diese Erwägungen gelten auch für die Verfahrensrechte der §§ 74, 75, 77, 195 Abs 3 StPO. Dass in der vom Erstgericht angezogenen Kommentarstelle Brandstetter/Singer § 161 Abs 3 StPO nicht zitiert werde, während die §§ 74, 75, 77, 195 Abs 3 StPO sehr wohl als ein subjektive Rechte verbriefende Gesetzesstellen genannt werden, sei lediglich auf den Umstand zurückzuführen, dass zu diesen Bestimmungen bereits eine Rechtsprechung vorliege, zu § 161 Abs 3 StPO hingegen noch nicht.

Das gelte umso mehr, als ein Einspruch wegen Rechtsverletzung nur dann nicht zustehen solle, wenn das Gesetz ein eigenes Procedere zur Effektuierung einer Vorschrift vorsehe, die hinsichtlich § 161 Abs 3 StPO nicht ersichtlich sei. Entgegen der Ansicht des Erstgerichts sei der Beschwerdeführer als Verfahrensbeteiligter selbstverständlich aktiv legitimiert zur Erhebung eines Einspruchs wegen Rechtsverletzung, auch wenn die unzulässige Suggestivfrage nicht dem Beschwerdeführer, sondern einem Zeugen gestellt worden sei. Suggestivfragen seien nämlich deshalb tunlichst zu vermeiden, weil sie für die Wahrheitsfindung gefährlich seien, zumal die (infolge einer Suggestivfrage als unrichtig zu wertende) Sachverhaltsauf-arbeitung logischerweise letztlich Grundlage für die Entscheidung über eine Anklage bilde.

In Bezug auf § 3 Abs 2 zweiter Satz StPO führte der Beschwerdeführer aus, dass dieser verfahrensleitenden Bestimmung herausragende Bedeutung in Hinsicht auf die Verpflichtung ermittelnder Organe zur objektiven Sachverhaltsermittlung zukomme. Es sei daher nicht nur von einem Appell an die ermittelnden Organe, sondern vielmehr von einer Verpflichtung auszugehen. Es wäre sinnwidrig und nicht nachvollziehbar, wenn gerade aus dieser fundamentalen Bestimmung kein subjektives Recht ableitbar wäre, eine derartige Interpretation konterkariere nicht nur den Zweck des § 106 StPO, wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten, gelte doch eine Dienstaufsichtsbeschwerde nicht als effektiver Rechtsbehelf iSd Art 13 EMRK.

Dass ein Beschuldigter zur Erhebung eines Einspruchs gegen ein nicht objektiv geführtes Ermittlungsverfahren aktiv legitimiert sei, bedürfe keiner weiteren Erläuterung. Würde die Argumentation des Erstgerichts in Bezug auf die mangelnde Anwendbarkeit des § 106 StPO auf Verstöße gegen § 3 Abs 2 zweiter Satz StPO zutreffen, stünde kein effektiver Rechtsbehelf zu, um im Ermittlungsverfahren nicht objektive Ermittlungsschritte der Staatsanwaltschaft zu ahnden.

Rechtliche Beurteilung

Dem Rechtsmittel kommt keine Berechtigung zu.

Gemäß § 106 Abs 1 StPO steht Einspruch wegen Rechtsverletzung im Ermittlungsverfahren jeder Person zu, die behauptet, durch (die) Staatsanwaltschaft in einem subjektiven Recht verletzt zu sein, weil ihr die Ausübung eines Rechts nach diesem Gesetz verweigert (Z 1) oder eine Ermittlungs- oder Zwangsmaßnahme unter Verletzung von Bestimmungen dieses Gesetzes angeordnet oder durchgeführt wurde (Z 2).

Als subjektive Rechte im Sinne des § 106 StPO sind nur solche zu verstehen, welche die Voraussetzungen und Bedingungen festlegen, die bei Ausübung von Zwang gegenüber Betroffenen nach diesem Bundesgesetz konkret einzuhalten sind (Z 2), oder welche den Betroffenen einen Anspruch auf ein bestimmtes Verfahrensrecht nach der StPO einräumen (Z 1). Eine Verletzung eines subjektiven Rechts liegt nicht vor, soweit das Gesetz von einer bindenden Regelung des Verhaltens der Staatsanwaltschaft absieht und von diesem Ermessen im Sinn des Gesetzes Gebrauch gemacht wurde (Pilnacek/Stricker in Fuchs/Ratz, WK StPO § 106 Rz 11 und 19).

Nach allgemeinem Sprachgebrauch ist ein subjektives Recht eine Rechtsmacht, die dem Einzelnen von der Rechtsordnung verliehen ist (6 Ob 690/81; 3 Ob 518/86; Nimmervoll, Strafverfahren 2 422).

Die Bestimmungen des § 106 Abs 1 Z 1 und Z 2 StPO sollen den individuellen Anspruch sichern, dass in subjektive Rechte eingreifende Ermittlungen nur in den Fällen und auf die Weise ausgeübt werden, die der Strafprozessordnung entsprechen. Bedeutung erlangt der Einspruch insbesondere im Fall der Verweigerung bestimmter Verfahrensrechte des Beschuldigten oder des Privatbeteiligten (Abs 1 Z 1). Auch die Bestimmungen über die Grundsätze des Verfahrens legen eine Reihe subjektiver Rechte fest, die in spezielleren Normen zum Teil detailliert geregelt werden, wie zB das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen nach § 9 Abs 2 StPO in § 172 StPO. Keinen Unterschied macht es, ob der Betroffene gehindert wird, seine Rechte auszuüben, oder ob ihm seine konkreten Verfahrensrechte „nur“ nicht gewährt werden (zB eine vorgeschriebene Belehrung nicht erteilt wird (Pilnacek/Stricker, WK-StPO § 106 Rz 11).

Wie vom Erstgericht zutreffend dargestellt, judiziert das Oberlandesgericht Wien - in Abweichung von seiner früheren Rechtsprechung (vgl. etwa 22 Bs 176/12m, 18 Bs 156/12w) - in nunmehr ständiger Rechtsprechung, dass aus den in § 3 StPO normierten Prinzipien einzelnen Personen keine subjektiven Rechte eingeräumt werden, die nach § 106 Abs 1 StPO relevierbar sind (vgl. etwa OLG Wien 18 Bs 34/16f, 22 Bs 123/16y, 19 Bs 345/16y, 19 Bs 140/18d, 22 Bs 332/18m, 22 Bs 333/18h, 18 Bs 344/19y, 18 Bs 345/19w, 22 Bs 28/20h, 20 Bs 189/22y), wobei dieser Standpunkt nicht nur vom Oberlandesgericht Wien, sondern auch vom Oberlandesgericht Graz vertreten wird (vgl. Beschluss des OLG Graz vom 2. Juni 2016, AZ 10 Bs 402/15s, 10 Bs 428/15i).

Das Erstgericht ist daher zutreffend zum Kalkül gelangt, dass der Beschwerdeführer anlässlich der Stellung einer Suggestivfrage an einen Zeugen aus § 3 Abs 2 StPO kein subjektives Recht ableiten kann, das nach § 106 Abs 1 StPO relevierbar wäre.

Aber auch in Bezug auf § 161 Abs 3 StPO ist die Einschätzung des Erstgerichts nicht zu beanstanden.

In Bezug auf die relevierte Verletzung des § 161 StPO ist vorauszuschicken, dass diese Bestimmung die Vernehmung als Zeuge normiert.

Gemäß § 161 Abs 3 StPO dürfen Fragen, mit denen dem Zeugen Umstände vorgehalten werden, die erst durch seine Antwort festgestellt werden sollen, nur dann gestellt werden, wenn dies zum Verständnis des Zusammenhangs erforderlich ist; solche Fragen und die darauf gegebenen Antworten sind wörtlich zu protokollieren.

Die gesetzliche Regelung in Bezug auf die Vermeidung bzw. wortwörtliche Protokollierung von Suggestivfragen zielt zweifellos (allgemein) auf die Objektivität des Ermittlungsverfahrens ab, die vom Beschwerdeführer ins Treffen geführte Bestimmung des § 161 StPO regelt jedoch die Vernehmung des Zeugen, weshalb aus einer (allfälligen) Verletzung des § 161 Abs 3 erster Satz StPO kein subjektives Recht des Beschuldigten abzuleiten ist. Dem Beschuldigten wird selbst im Fall der Nichtbefolgung dieser Bestimmung - die „Ausübung eines Rechts“ nach diesem Gesetz nicht verwehrt; im Zusammenhang mit Suggestivfragen sind die Rechte des Beschuldigten in § 164 Abs 4 StPO geregelt. Der Beschuldigte kann aus § 161 Abs 3 StPO aber auch kein ihm zukommendes konkretes Verfahrensrecht ableiten.

Abgesehen davon, dass die suggestive Befragung eines Zeugen im Ermittlungsverfahren dem Verdächtigen bzw. Beschuldigten auch zum Vorteil gereichen kann und die Bestimmung des § 161 Abs 3 StPO keineswegs auf die (subjektiven) Rechte des Beschuldigten abzielt, ist klarzustellen, dass Suggestivfragen an Zeugen oder Beschuldigte (Angeklagte) weder verboten sind, noch die Missachtung bezüglicher Formvorschriften (Protokollierung) – die fallkonkret ohnehin gewahrt wurden – in einem allfälligen späteren Hauptverfahren - mit Nichtigkeit bedroht sind (RIS-Justiz RS0097629). Im Übrigen hat sogar der Oberste Gerichtshof (11 Os 110/08y) eingeräumt, dass die Vernehmungsrealität zeige, dass es fast unmöglich sei, ohne Suggestivfragen auszukommen, wenn man in einer allgemein verständlichen Weise fragen wolle (Graßberger, Psychologie des Strafverfahrens² 146). Abgesehen davon lässt sich aus dem Gesetzestext des § 161 Abs 3 StPO in Bezug auf Suggestivfragen „...dürfen nur dann gestellt werden, wenn dies zum Verständnis des Zusammenhangs erforderlich ist“ in Bezug auf die Erforderlichkeit Ermessen des Vernehmungsorgans ableiten, dessen Gebrauch nach § 106 Abs 1 letzter Satz StPO der Überprüfung im Einspruchsverfahren entzogen ist.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass im Zusammenhang mit der Behauptung der Unterlassung der Protokollierung von Entlastungsangaben einer Zeugin durch die Kriminalpolizei vom Oberlandesgericht Graz judiziert wurde, dass § 96 StPO keinen Rechtsanspruch des Beschuldigten auf Dokumentation sämtlicher oder bestimmter Zeugenangaben begründet. Vielmehr räume § 96 Abs 3 StPO, wonach Aussagen im Protokoll wörtlich wieder zu geben sind, soweit dies für die Beurteilung der Sache und der Ergebnisse der Amtshandlung erforderlich ist oder eine einvernommene Person es verlangt, im Übrigen die Antworten ihrem wesentlichen Inhalt nach erzählungsweise festzuhalten sind und gestellte Fragen nur soweit aufzunehmen sind, als dies für das Verständnis der Antwort erforderlich ist, dem Vernehmungsorgan hinsichtlich der protokollarischen Dokumentation von Aussagen ein (an der Wesentlichkeit des Inhalts zu orientierendes) Ermessen ein (OLG Graz, 10 Bs 402/15s; 10 Bs 428/15i).

Zwar fließen die Garantien der EMRK über § 5 StPO ebenfalls in § 106 Abs 1 StPO ein (11 Os 51/20i; 11 Os 56/20z), eine Verletzung des Grundsatzes eines fairen Verfahrens, insbesondere das rechtliche Gehör (Art 6 Abs 1 EMRK) und das Recht des Beschuldigten auf wirksame Verteidigung (Art 6 Abs 3 lit c EMRK, § 7 StPO) ist fallkonkret nicht zu befürchten, weil durch die (gesetzeskonform erfolgte wortwörtliche) Protokollierung der Suggestivfrage an einen Zeugen die konkrete Fragestellung sowohl im Ermittlungsverfahren (etwa bei Prüfung eines Einstellungsantrags nach § 108 StPO), als auch in einem allfälligen Hauptverfahren (sollte das Protokoll durch Verlesung Eingang finden) im Detail nachvollzogen und bewertet werden konnte bzw. kann. Als wesentlich problematischer erweisen sich diesbezüglich von vernehmenden Organen nicht als solche erkannte und deshalb nicht wortwörtlich protokollierte Suggestivfragen.

Das Kalkül des Erstgerichts, wonach dem Beschuldigten aus der Bestimmung des § 161 Abs 3 erster Satz StPO kein subjektives Recht erwächst, ist daher nicht zu beanstanden, weshalb der Beschwerde kein Erfolg beschieden war.

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