3R61/23x – OLG Wien Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Wien hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten Mag. Iby als Vorsitzenden sowie den Richter Dr. Stiefsohn und die Richterin MMag. a Pichler in der Rechtssache der klagenden Partei A* GmbH , FN **, **gasse **, **, vertreten durch Dr. Keyvan Rastegar, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei B* , geboren am **, **gasse **, **, vertreten durch die Robathin Partner Rechtsanwalts GmbH in Wien, wegen EUR 471.745,27 sA, hier wegen Verfahrenshilfe, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts Korneuburg vom 21.3.2023, 6 Cg 150/17i-104, in nicht öffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der angefochtene Beschluss wird als nichtig aufgehoben . Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung über den Verfahrenshilfeantrag der beklagten Partei nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Ein Kostenersatz findet nicht statt.
Text
Begründung :
Die Beklagte brachte am 22.2.2023 im Elektronischen Rechtsverkehr eine Berufung gegen das Urteil des Erstgerichts vom 23.1.2023 (ON 100) ein, beantragte die Bewilligung der Verfahrenshilfe im Umfang des § 64 Abs 1 Z 1 lit a ZPO und schloss eine Kopie des von ihr ausgefüllten Formulars ZPForm1 (Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe und Vermögensbekenntnis) an. Sie kündigte an, das Original „samt Beilagen“ – diese waren in der ERV-Eingabe nicht enthalten – per Post zu schicken (ON 101). Es ging am folgenden Tag, dem 23.2.2023, beim Erstgericht ein. Die Beilagen waren umfangreich (Kontoauszüge, Kreditzusage, Einkommensteuerbescheide und -erklärung, Zinsliste, Grundbuchsauszug, Buchungsmitteilung, Taufschein, Überweisungsbestätigungen).
Mit Beschluss vom 24.2.2023 (ON 102), zugestellt am 28.2.2023, räumte das Erstgericht der Klägerin die Möglichkeit ein, binnen einer Woche zum Verfahrenshilfeantrag Stellung zu nehmen.
In ihrer Stellungnahme vom 7.3.2023 (ON 103) brachte die Klägerin vor, eine Überprüfung des Vermögensbekenntnisses sei ihr nicht möglich, weil ihr keine Belege übermittelt worden seien. Sie bestritt die Richtigkeit der im Vermögensbekenntnis angegebenen Zahlen und Werte. Hilfsweise ging sie auf einzelne Positionen des Vermögensbekenntnisses ein.
Mit dem angefochtenen Beschluss bewilligte das Erstgericht der Beklagten die Verfahrenshilfe im beantragten Umfang. Die Angaben im Vermögensbekenntnis seien grundsätzlich für wahr zu halten. Die Beklagte sei aufgrund ihrer Einkommens- und Vermögenssituation nicht in der Lage, die Pauschalgebühr für die Berufung ohne Gefährdung ihres Unterhalts zu tragen. Die Rechtsverteidigung sei nicht offenbar aussichtslos.
Rechtliche Beurteilung
Dagegen richtet sich der Rekurs der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlichen Beurteilung mit dem Abänderungsantrag, den Verfahrenshilfeantrag abzuweisen; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.
Die Beklagte beantragt, dem Rekurs nicht Folge zu geben.
Aus Anlass des Rekurses ist von Amts wegen eine dem angefochtenen Beschluss anhaftende Nichtigkeit aufzugreifen (vgl RS0041942):
1. Die Klägerin weist in der Verfahrensrüge darauf hin, dass sie die von der Beklagten beigebrachten Belege zum Vermögensbekenntnis nicht erhalten habe. Das stimmt: Im Zustellnachweis zum Beschluss vom 24.2.2023 (ON 102), mit dem ihr die Äußerungsmöglichkeit zum Verfahrenshilfeantrag eingeräumt wurde, scheinen nur die im ERV eingebrachten Teile des Verfahrenshilfeantrags auf (Antrag und Vermögensbekenntnis), nicht aber die von der Beklagten postalisch übersendeten Belege. Daraus folgt sogar die Nichtigkeit des angefochtenen Beschlusses:
2. Seit der Zivilverfahrensnovelle (ZVN) 2004, BGBl I 2004/128, ist das Rekursverfahren in Verfahrenshilfesachen zweiseitig ausgestaltet (§ 72 Abs 2a ZPO). Der Gesetzgeber begründete diesen Schritt mit der Notwendigkeit, gemäß Art 6 EMRK das rechtliche Gehör des Prozessgegners zu wahren (613 BlgNr XXII. GP, 13). Dieses Erfordernis besteht aber nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des OLG Wien auch schon im erstinstanzlichen Verfahren: Beantragt eine Partei die Bewilligung der Verfahrenshilfe in einem bereits streitanhängigen Verfahren, ist dem Prozessgegner Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Unterbleibt dieser Schritt, verletzt das Erstgericht das rechtliche Gehör des Prozessgegners und belastet den die Verfahrenshilfe bewilligenden Beschluss mit einer Nichtigkeit nach §§ 514 Abs 2, 477 Abs 1 Z 4 ZPO (RW0000895; ihm folgend zB 3 R 50/20z; 2 R 170/22t; 33 R 40/23d [alle unveröffentlicht]).
3. Über den Verfahrenshilfeantrag ist auf der Grundlage des Vermögensbekenntnisses zu entscheiden. Das Vermögensbekenntnis ist nur dann zu überprüfen, wenn das Gericht Bedenken gegen seine Richtigkeit oder Vollständigkeit hat (§ 66 Abs 2 ZPO). Die Verfahrenshilfe darf also nur auf der Grundlage eines unbedenklichen Vermögensbekenntnisses bewilligt werden. Das Äußerungsrecht soll dem Prozessgegner allgemein die Möglichkeit geben, die Unzulässigkeit oder das Fehlen der Berechtigung des Verfahrenshilfeantrags darzulegen. Dazu gehört es auch, Bedenken gegen die Richtigkeit und Vollständigkeit des Vermögensbekenntnisses aufzuzeigen. Da sich solche Bedenken in erster Linie aus einer Zusammenschau des Vermögensbekenntnisses mit den vom Antragsteller beigebrachten Belegen ergeben können, setzt eine das rechtliche Gehör wahrende Äußerungsmöglichkeit voraus, dass der Prozessgegner den vollständigen Verfahrenshilfsantrag – einschließlich des Vermögensbekenntnisses und aller Belege – zugestellt erhält. Nur unter dieser Voraussetzung kann er sich vollständig und sinnvoll äußern. Die Bewilligung eines Verfahrenshilfeantrags ist daher nicht nur dann nichtig nach §§ 514 Abs 2, 477 Abs 1 Z 4 ZPO, wenn der Gegner überhaupt keine Äußerungsmöglichkeit hatte, sondern auch dann, wenn ihm die dem Vermögensbekenntnis angeschlossenen Belege vorenthalten wurden.
4. Dieses aus § 66 Abs 2 ZPO abzuleitende Ergebnis steht auch mit der Rechtsprechung zu § 477 Abs 1 Z 4 ZPO im Einklang: Demnach wird das rechtliche Gehör in einem Zivilverfahren nicht nur dann verletzt, wenn einer Partei überhaupt die Möglichkeit genommen wird, sich im Verfahren zu äußern, sondern auch dann, wenn der Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrundegelegt werden, zu denen sich die Partei nicht äußern konnte (RS0005915). Das gilt zB dann, wenn sie keine Gelegenheit hatte, zu einer ihr unbekannten Urkunde, die das Gericht in seiner Entscheidung verwertete, Stellung zu nehmen (RS0117067). Folglich ist auch ein nach der Versäumung der Klagebeantwortungsfrist ergangenes Versäumungsurteil wegen einer Verletzung des rechtlichen Gehörs nichtig, wenn der mit dem Auftrag zur Klagebeantwortung zugestellten Klage wesentliche Teile fehlten, etwa die der Klage angeschlossenen Pläne (RW0000505). Dasselbe muss gelten, wenn das Gericht auf der Grundlage eines Vermögensbekenntnisses samt Belegen über einen Verfahrenshilfeantrag entscheidet und dem Gegner die Belege unbekannt waren, weil sie ihm nicht zugestellt wurden.
5. Im vorliegenden Fall hat das Erstgericht der Klägerin eine Äußerungsmöglichkeit zum Verfahrenshilfeantrag der Beklagten eingeräumt. Das war grundsätzlich richtig. Es hat ihr aber nicht den vollständigen Antrag übermittelt, sondern nur dessen im ERV eingebrachte Teile; die von der Beklagten postalisch übersendeten Belege waren nicht angeschlossen. Dadurch wurde die Klägerin in ihrem Äußerungsrecht beschnitten. Letztlich hat das Erstgericht aufgrund des Vermögensbekenntnisses und aller Belege über den Verfahrenshilfeantrag entschieden; die Belege waren der Klägerin aber unbekannt. Aufgrund der damit verbundenen Verletzung ihres rechtlichen Gehörs (§§ 514 Abs 2, 477 Abs 1 Z 4 ZPO) war die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses nicht zu vermeiden. Die Nichtigkeit war ohne Rücksicht darauf wahrzunehmen, ob die betroffene Entscheidung sachlich richtig ist oder nicht (vgl Pimmer in Fasching/Konecny, ZPG 3 § 477 ZPO Rz 1). Die Verfahrenshilfesache war an das Erstgericht zurückzuverweisen, damit es der Klägerin den vollständigen Verfahrenshilfeantrag der Beklagten mit allen Belegen zustellt, ihr eine Äußerungsmöglichkeit dazu einräumt und neuerlich über den Antrag entscheidet.
6. Auf die Verfahrens- und die Rechtsrüge der Klägerin ist dann nicht mehr einzugehen.
7. Der Ausspruch über die Kosten des Rekursverfahrens gründet auf § 72 Abs 3 ZPO.
8. Sollte es nach der neuerlichen Entscheidung des Erstgerichts wieder zu einem Rekursverfahren kommen, wäre auch der Revisor zu beteiligen (vgl § 72 Abs 2a ZPO).