JudikaturOLG Wien

33R130/22p – OLG Wien Entscheidung

Entscheidung
02. Mai 2023

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Hinger als Vorsitzenden, den Richter Mag. Schmoliner und die fachkundige Laienrichterin Patentanwältin DI Dr. Cunow in der Patentrechtssache der Antragstellerin B***** , vertreten durch die Gassauer-Fleissner Rechtsanwälte GmbH in Wien, unter Mitwirkung der Schwarz Partner Patentanwälte GmbH, wider die Antragsgegnerin N***** , vertreten durch die GEISTWERT Kletzer Messner Mosing Schnider Schultes Rechtsanwälte OG in Wien, unter Mitwirkung der Wildhack Jellinek Patentanwälte GmbH, wegen Erlassung einer einstweiligen Verfügung zur Unterlassung (EUR 250.000) über den Rekurs der Antragstellerin gegen den Beschluss des Handelsgerichts Wien vom 20.10.2022, GZ 30 Cg 31/22v 17, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Antragstellerin hat die Kosten ihres Rekurses endgültig selbst zu tragen und ist schuldig, der Antragsgegnerin die mit EUR 4.622,31 (darin EUR 770,39 USt) bestimmten Kosten der Rekursbeantwortung zu ersetzen.

Der Wert des Entscheidungsgegenstands übersteigt EUR 30.000.

Der ordentliche Revisionsrekurs ist nicht zulässig.

Begründung

Text

Die Antragstellerin ist Inhaberin des Patents EP 2653873 B1 („Streitpatent“). Dabei handelt es sich um eine Teilanmeldung von EP 2137537 („Stammpatent“), das in einem Einspruchsbeschwerdeverfahren vor dem Europäischen Patentamt (EPA) 2016 widerrufen wurde. Es schützt den pharmazeutischen Wirkstoff Dimethylfumarat („DMF“; auch Fumarsäuredimethylester genannt). Dieser wird von der Antragstellerin im Medikament „Tecfidera“, das in der EU für die Behandlung schubförmig remittierender Multipler Sklerose (MS) zugelassen ist, vermarktet.

Auch gegen das Streitpatent wurden beim EPA mehrere Einsprüche eingelegt. Die Einspruchsfrist endete am 20.4.2023; die Schutzdauer endet am 7.2.2028.

Die Ansprüche 1 und 5 des Streitpatents lauten:

1. Pharmazeutische Zusammensetzungen zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei die Zusammensetzung Folgendes umfasst:

(a) Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäure-monomethylester und

(b) einen oder mehrere pharmazeutisch unbedenkliche Arzneimittelträger, wobei die Zusammensetzung einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose oral zu verabreichen ist und wobei die zu verabreichende Dosis Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester 480 mg pro Tag beträgt,

5. Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäure-monomethylester zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose mit einer Dosis von 480 mg pro Tag oral zu verabreichen ist.

Anspruch 1 lässt sich wie folgt in eine Merkmalsgliederung übertragen:

1. Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung bei der Behandlung von Multipler Sklerose, wobei die Zusammensetzung Folgendes umfasst,

1.1. Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäure-monomethylester und

1.2. einen oder mehrere pharmazeutisch unbedenkliche

Arzneimittelträger,

2. wobei die Zusammensetzung einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose oral zu verabreichen ist und

3. wobei die zu verabreichende Dosis Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester 480 mg pro Tag beträgt.

Anspruch 5 lässt sich wie folgt in eine Merkmalsgliederung übertragen:

1. Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäure-monomethylester zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose

2. wobei der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose oral zu verabreichen ist

3. mit einer Dosis von 480 mg pro Tag.

Gemäß dem Streitpatent kann die Tagesdosis in getrennten Verabreichungen von zwei, drei, vier oder sechs gleichen Dosen verabreicht werden. Dies gilt sinngemäß auch für die beanspruchte Dosierung von 480 mg/Tag.

Die Antragsgegnerin stellt Generika her. Die mit ihr gesellschaftsrechtlich verbundende Laboratorios Lesvi S.L. hält seit 13.5.2022 die zentrale Marktzulassung für die Generika „Dimethylfumarat Neuraxpharm 120 mg magensaftresistente Hartkapseln“ (Zulassungsnummer EU/1/22/1637/001-002) und „Dimethylfumarat Neuraxpharm 240 mg magensaftresistente Hartkapseln“ (Zulassungsnummer EU/1/22/1637/003-005). Die Beklagte bietet diese Generika seit Juli 2022 im Warenverzeichnis I des Österreichischen Apothekerverlags an.

Aufgrund der Gebrauchsinformation dieser Generika soll die Dosierung von DMF nach einer Anfangsdosis von 120 mg zweimal täglich nach sieben Tagen auf die empfohlene Erhaltungsdosis von 240 mg zweimal täglich, also insgesamt 480 mg/Tag, erhöht werden.

Die Antragstellerin begehrte die Erlassung einer einstweiligen Verfügung zur Sicherung ihres Unterlassungsanspruchs mit dem Inhalt, es der Antragstellerin

1. zu verbieten, in Österreich betriebsmäßig eine pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei die Zusammensetzung Folgendes umfasst:

(a) Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremono-methylester und

(b) einen oder mehrere pharmazeutisch unbedenkliche Arzneimittelträger, wobei die Zusammensetzung einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose oral zu verabreichen ist und wobei die zu verabreichende Dosis Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester 480 mg pro Tag beträgt;

Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremono-methylester zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose mit einer Dosis von 480 mg pro Tag oral zu verabreichen ist, insbesondere die Produkte „Dimethylfumarat Neuraxpharm 120 mg magensaftresistente Hartkapseln“ (Zulassungsnummer EU/1/22/1637/001-002) und „Dimethylfumarat Neuraxpharm 240 mg magensaftresistente Hartkapseln“ (Zulassungsnummer EU/1/22/1637/003-005) in Verkehr zu bringen, feilzuhalten, zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken einzuführen.

2. zu gebieten,

a. die Listung von Produkten gemäß Punkt 1. des Verfügungsbegehrens, insbesondere die Produkte „Dimethylfumarat Neuraxpharm 120 mg magensaftresistente Hartkapseln“ (Zulassungsnummer EU/1/22/1637/001-002) und „Dimethylfumarat Neuraxpharm 240 mg magensaftresistente Hartkapseln“ (Zulassungsnummer EU/1/22/1637/003-005), im Warenverzeichnis des Österreichischen Apotheker-Verlages unter Nennung der Verkaufspreise zu unterlassen, sofern dabei nicht gleichzeitig angeführt wird, dass das gelistete Arzneimittel nicht lieferbar ist, und

b. einen Antrag auf Streichung der Produkte gemäß Punkt 1. des Verfügungsbegehrens, insbesondere „Dimethylfumarat Neuraxpharm 120 mg magensaftresistente Hartkapseln“ (Zulassungsnummer EU/1/22/1637/001-002) und „Dimethylfumarat Neuraxpharm 240 mg magensaftresistente Hartkapseln“ (Zulassungsnummer EU/1/22/1637/003-005), aus dem Erstattungskodex des Dachverbandes der Sozialversicherungsträger zu stellen und der gefährdeten Partei hierüber Nachweis zu erbringen, und es zu unterlassen, einen Antrag auf Aufnahme solcher Produkte in den Erstattungskodex zu stellen, solange das Patent EP 2653873 B1 der gefährdeten Partei aufrecht ist.

Die Antragsgegnerin greife mit den von ihr vertriebenen Generika in das Streitpatent ein. Das Patent der Antragstellerin sei rechtsbeständig; eine unzulässige Erweiterung liege nicht vor. Der Gegenstand der Ansprüche 1 und 5 sei deutlich und vollständig geoffenbart, sei neu und beruhe auf erfinderischer Tätigkeit.

Die Antragsgegnerin beantragte die Abweisung des Antrags. Das Streitpatent sei weder neu noch rechtsbeständig. Der Widerruf des Stammpatents indiziere bereits die Nichtigkeit des Streitpatents. Das Begehren sei auch überschießend, weil nur die Dosis von 480 mg Dimethylfumarat (DMF) pro Tag von den geltend gemachten Ansprüchen umfasst sei.

Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Erstgericht den Antrag auf Erlassung der einstweiligen Verfügung ab. Die Ansprüche 1 und 5 des Streitpatents seien zwar neu gegenüber der WO 2006/037342 A1 und dem EP 2792349; eine unzulässige Erweiterung im Sinne des Art 123 Abs 2 EPÜ liege nicht vor. Allerdings sei das Stammpatent im Einspruchsbeschwerdeverfahren rechtskräftig widerrufen worden. Die Schlussfolgerungen der Einspruchsabteilung zur fehlenden erfinderischen Tätigkeit des Stammpatents müssten analog auch für das Streitpatent gelten. Damit sei auch die Nichtigkeit des Streitpatents wahrscheinlich und der Antrag schon aus diesem Grund abzuweisen.

Dagegen richtet sich der Rekurs der Antragstellerin aus dem Rekursgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung sowie der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung mit dem Antrag, den Beschluss abzuändern und die einstweilige Verfügung zu erlassen, in eventu, den Beschluss aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Die Antragssgegnerin beantragt, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist nicht berechtigt.

1. Zur Beweisrüge:

Die Antragstellerin bekämpft folgende Feststellungen des Erstgerichts:

Nicht bescheinigt wurde, dass die Prüfungsabteilung, die das Klagspatent erteilt hat, die vorinstanzliche Entscheidung der Einspruchsabteilung des EPA (GUT./6) über das Stammpatent in Bezug auf die darin verneinte erfinderische Tätigkeit für überholt ansieht.

Die Klägerin behauptete zwar, dass die Prüfungsabteilung die Entscheidung der Einspruchsabteilung (GUT./6) in Bezug auf die fehlende erfinderische Tätigkeit des Stammpatents als „überholt“ ansehe, bescheinigte dies aber in keiner Weise. Die Schlussfolgerungen in der genannten Entscheidung der Einspruchsabteilung (GUT./6) zur erfinderischen Tätigkeit können daher auf das Klagspatent angewendet werden (was in Rahmen der rechtlichen Beurteilung noch ausgeführt wird).

In Bezug auf die erfinderische Tätigkeit ist zunächst festzustellen, dass die Schlussfolgerungen der Einspruchsabteilung (GUT./6) zur fehlenden erfinderischen Tätigkeit des Stammpatent in gleicher Weise für das Klagspatent gelten müssen und unmittelbar darauf umlegbar sind, zumal Anspruch 1 des Verfügungspatents breiter als Anspruch 1 des Stammpatents ist und sich beide Ansprüche durch dasselbe abgrenzende technische Merkmal (480 mg DMF oder MMF täglich) vom nächstliegenden Stand der Technik Kappos (GUT 7./, GUT./10) unterscheiden. Die Änderung von ,bestehend‘ auf ,umfassend‘ im Klagspatent ist für das abgrenzende technische Merkmal unerheblich.

Die Klägerin behauptet, dass das Klagspatent unter Berücksichtigung der Gründe, die für den Widerruf des Stammpatents ausschlaggebend waren, sowie unter vollständiger und sorgfältige Prüfung umfangreicher Einwendungen Dritter erteilt worden sei. Dies wird allerdings nicht bescheinigt. In Bezug auf die erfinderische Tätigkeit stellt die Prüfungsabteilung in ihrer Kommunikation vom 9.6.2022 (GUT./14) unspezifisch fest, dass sich die Einwendungen Dritter auf die Stammanmeldung beziehen, die von der dem Klagspatent zugrunde liegenden Teilanmeldung unabhängig ist, weshalb die in den Einwendungen Dritter vorgebrachten Argumente nicht auf die Teilanmeldung anwendbar seien. In dieser Feststellung der Prüfungsabteilung ist kein konkreter Hinweis darauf zu erkennen, dass sie die negative Entscheidung der Einspruchsabteilung (GUT./6) zum Stammpatent in Bezug auf die erfinderische Tätigkeit als überholt erachtet .“

Stattdessen begehrt sie die Ersatzfeststellung:

Die Prüfungsabteilung des Europäischen Patentamtes, die das Klagspatent erteilte, kannte die Begründung der Entscheidung der Einspruchsabteilung, die zum Widerruf des Stammpatentes führten (GUT ./6). Die Prüfungsabteilung setzte sich auch detailliert mit diesen Gründen auseinander und kam zum Schluss, dass diese einer Erteilung des Klagepatentes nicht entgegenstehen und insbesondere auch angesichts dieser Gründe ein erfinderischer Schritt iSd Art 56 EPÜ im Klagepatent verwirklicht ist. Die zuständige Prüfungsabteilung betrachtete die Begründung der Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Stammpatent daher als überholt. Das Klagepatent wurde daher unter Berücksichtigung der Gründe, die für den Widerruf des Stammpatents ausschlaggebend waren, sowie unter vollständiger und sorgfältiger Prüfung umfangreicher Einwendungen Dritter erteilt.“

Überwiegend handelt es sich bei den bekämpften „Feststellungen“ nicht um solche, sondern entweder um beweiswürdigende Ausführungen oder die rechtlichen Schlussfolgerungen des Erstgerichts, die einer Beweisrüge nicht zugänglich sind. Die Antragstellerin setzt den solchermaßen bekämpften Feststellungen auch keine damit in Widerspruch stehende Ersatzfeststellungen entgegen, sodass die Beweisrüge insoweit nicht gesetzmäßig ausgeführt ist (vgl Kodek in Rechberger/Klicka , ZPO 5 § 496 Rz 10).

Nur in Bezug auf die Negativfeststellung, es sei nicht bescheinigt worden, dass die Prüfungsabteilung die vorinstanzliche Entscheidung der Einspruchsabteilung des EPA über das Stammpatent in Bezug auf die darin verneinte erfinderische Tätigkeit für überholt ansehe, liegt eine behandelbare Beweisrüge vor. Diese ist aber nicht berechtigt: Der bloße Umstand, dass der Prüferin des Streitpatents die Begründung der Einspruchsabteilung für den Widerruf des Stammpatents bekannt war und sie dennoch das Streitpatent erteilte, lässt noch nicht darauf schließen, dass sie diese Entscheidung als überholt angesehen habe. Vielmehr ergibt sich, worauf bereits das Erstgericht hinwies, aus der Kommunikation der Prüfungsabteilung (GUT ./14), dass diese die gegen das Stammpatent vorgebrachten Argumente nicht auf die davon unabhängige Teilanmeldung anwendbar erachtete. Damit brachte sie aber nicht zum Ausdruck, die Entscheidung über das Stammpatent als überholt anzusehen.

Das Rekursgericht übernimmt daher die bekämpfte Feststellung. Allerdings kommt dieser keine erhebliche Bedeutung zu, weil schon aus anderen (rechtlichen) Erwägungen davon auszugehen ist, dass das Fehlen der Rechtsbeständigkeit des Streitpatents bescheinigt ist.

2. Zur Rechtsrüge:

2.1 Gemäß § 24 PatV-EG sind auf Verfahren, die europäische Patente betreffen, ergänzend zu dessen Bestimmungen die Vorschriften des EPÜ (Europäisches Patentübereinkommen), des PCT (Vertrag über die internationale Zusammenarbeit im Patentwesen) und des Patentgesetzes sinngemäß anzuwenden. Für das Verfahren bei Patentverletzungsstreitigkeiten und für die Rechtsfolgen einer Patentverletzung gilt nach Art 64 Abs 3 EPÜ nationales Recht. Die österreichische Rechtsprechung orientiert sich im Patentverletzungsverfahren auch an der Spruchpraxis des EPA (4 Ob 228/18k [6.1.]).

2.2 Die Frage der Rechtsbeständigkeit ist eine Rechtsfrage, die das Gericht im Provisorialverfahren – vorläufig – selbständig zu beurteilen hat ( Koller in Stadler/Koller , PatG § 151b Rz 75 mnN). Die Patenterteilung schafft nach ständiger Rechtsprechung im Provisorialverfahren eine durch Gegenbescheinigung entkräftbare Vermutung für das Bestehen des Patentrechts (RS0071369; RS0103412 [T1]; Weiser , PatG³ § 151b S 597). Der Antragsgegner hat dabei zu bescheinigen, dass eine Nichtigerklärung oder ein Widerruf des Patents, auf das der Antragsteller seinen Sicherungsanspruch stützt, in einem patentrechtlichen Nichtigkeits- oder Einspruchsverfahren wahrscheinlich ist. Erscheint es hingegen bloß möglich, dass das Patent keinen Bestand haben könnte, kommt (nur) die Auferlegung einer Sicherheitsleistung in Betracht ( Koller aao Rz 76 und 79).

2.3 Nach § 10 Abs 1 PatV-EG iVm Art 138 Abs 1 lit a EPÜ kann ein europäisches Patent mit Wirkung für einen Vertragsstaat für nichtig erklärt werden, wenn sein Gegenstand nach Art 52 bis 57 EPÜ nicht patentierbar ist. Nach Art 52 Abs 1 EPÜ werden europäische Patente für Erfindungen auf allen Gebieten der Technik erteilt, sofern sie neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind. Eine Erfindung gilt als neu, wenn sie nicht zum Stand der Technik gehört (Art 54 Abs 1 EPÜ), und als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend, wenn sie sich für die Fachperson nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt (Art 56 EPÜ). Nach Art 54 Abs 2 EPÜ bildet den Stand der Technik alles, was vor dem Anmeldetag der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist. Für die Beurteilung, ob die erfinderische Tätigkeit zu bejahen ist, ist nach dem vom EPA entwickelten „Aufgabe-Lösungs-Ansatz“ zunächst der nächstliegende Stand der Technik zu ermitteln, sodann die zugrunde liegende technische Aufgabe zu bestimmen und schließlich zu beurteilen, ob die Erfindung angesichts des nächstliegenden Stands der Technik und der technischen Aufgabe für die Fachperson naheliegend war ( Kinkeldey/Karamanli in Benkard 2 Art 56 EPÜ Rn 23 mwN; OLG Wien 133 R 90/18k = ÖBl 2019/52, 194 [Wildhack] ua).

2.4 Ist – wie hier – die Dosierung das einzige abgrenzende Merkmal eines Anspruchs, ist bei der Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit zu prüfen, ob die im Anspruch beanspruchte Dosierung gegenüber dem bekannten Stand der Technik nachweislich einen besonderen und nicht vorhersehbaren technischen Effekt mit sich bringt (Große Beschwerdekammer des EPA, G 2/08; OLG Wien, 33 R 31/20a).

2.5 Der Rekurs wendet sich gegen die Annahme des Erstgerichts, die Präsentation von Prof. Kappos (GUT ./10) hätte eine Fachperson dazu veranlasst, tiefergehende Untersuchungen zu niedrigeren Dosierungen als 720 mg DMF pro Tag anzustellen, weil bei niedrigeren Dosierungen auch die Nebenwirkungen weniger ausgeprägt seien. Tatsächlich ließen sich, wie auch aus der eidesstättigen Erklärung Prof. Kappos (GUT ./13) ersichtlich sei, aus den veröffentlichten Daten zu den Nebenwirkungen gerade keine statistisch relevanten Unterschiede erkennen.

Zwar ist der Antragstellerin zuzustimmen, dass nach GUT ./10 eine Dosisabhängigkeit der Nebenwirkungen noch innerhalb der Standardabweichungen liegt. Allerdings ist aus der genannten Beilage eindeutig ersichtlich, dass auch niedrigere Dosen von DMF eine Wirksamkeit zeigen. So sinkt die Zahl der Gd+-Läsionen in den Wochen 12 bis 24 kontinuierlich von 120 mg/Tag zu 720 mg/Tag ab. In den Wochen 4 bis 24 sinkt die Zahl der Gd+ Läsionen bei jener Gruppe, die nur 120 mg/Tag an DMF erhalten, gegenüber Placebo-Empfängern ab, bei 360 mg/Tag steigt dieser Wert wieder an und bei 720 mg/Tag ist der Wert deutlich gegenüber der Placebo-Gruppe verringert. Die Zahl der neuen T1-Läsionen ist bei der Verabreichung von 120 mg/Tag massiv gegenüber Placebo-Empfängern verringert. Schließlich ist die Rückfallwirksamkeit bei 120 mg/Tag sogar noch höher als bei 720 mg/Tag. Eine Fachperson, der diese Studie in Händen hat, hätte somit ohne Zweifel erkannt, dass auch geringe Dosen von DMF wirken. Weiters hätte er erkannt, dass die Studie insgesamt gesehen keine konsistenten Ergebnisse zeigt bzw solche, deren Gewichtung aufgrund der Standardabweichung nicht eindeutig zuordenbar sind. Er hätte daher auch weitere von 720 mg/Tag abweichende Dosierungen von DMF geprüft; dies umso mehr, als die Ergebnisse auch für 720 mg nicht überragend waren. Das Erstgericht hat daher zu Recht angenommen, dass es für eine Fachperson ausgehend von GUT ./10 naheliegend gewesen wäre, auch die Anwendung niedriger Dosen zu prüfen.

2.6 Weiters tritt die Antragstellerin der Annahme des Erstgerichts entgegen, die Pilotstudie vom Schimrigk et al. (GUT ./3) habe einen erfolgversprechenden Hinweis auf die Wirksamkeit einer Dosierung von 360 mg DMF pro Tag geliefert. Ihre Hauptkritikpunkte an dieser Studie sind, dass sie nicht nur DMF alleine, sondern eine Wirkstoffzusammensetzung untersucht habe und dass nur sechs Patienten untersucht worden seien. Dem ersten Argument kann entgegengehalten werden, dass das Streitpatent in seinem Anspruch 1 das Wort „umfasst“ enthält und somit das Vorhandensein weiterer Wirkstoffe nicht ausschließt. Der Studie ist auch zu entnehmen, dass über einen Zeitraum von 70 Wochen sowohl für eine Dosis von 720 mg/Tag als auch eine solche von 360 mg/Tag eine signifikante Verbesserung der Läsionen ebenso wie eine Verringerung des Läsionsvolumens beobachtbar waren (GUT ./E, S 607 bis 609).

Der Problematik der geringen Anzahl an untersuchten Personen war sich der Autor ohnedies bewusst, indem er auf S 609, vorletzter Absatz, die Durchführung einer Studie mit einer höheren Anzahl an Probanden propagiert („These results suggest that further studies using larger patient populations are warranted to evaluate the efficacy of FAE alone […]“). Der vom Erstgericht gezogene Schluss, eine Fachperson hätte GUT ./E jedenfalls als erfolgversprechenden Startpunkt für tiefergehende Untersuchungen berücksichtigt, ist damit nicht zu beanstanden.

2.7 Schließlich wendet sich die Antragstellerin gegen die Annahme des Erstgerichts, auch die S3-Leitlinien zur Behandlung von Psoriasis (GUT ./M) lieferten der Fachperson Anhaltspunkte dafür, dass eine Reduktion der DMF-Dosis mit einem verbesserten Nebenwirkungsprofil einhergingen.

Soweit sie dazu neuerlich darauf verweist, auch hier seien nicht nur DMF, sondern auch andere Wirkstoffe untersucht worden, ist zunächst auf die Ausführungen zu Punkt 2.6 zu verweisen; wie dort ausgeführt schließt das Wort „umfasst“ in Anspruch 1 des Streitpatents Wirkstoff-Kombinationen nicht aus.

Entgegen den Rekursausführungen ist GUT ./M eindeutig zu entnehmen, dass nicht alle Patienten die empfohlene Höchstdosis von 720 mg/Tag an DMF benötigen und dass die meisten mit Fumarsäureestern behandelten Patienten zwischen zwei und vier Tabletten Fumaderm benötigen. Dies impliziert nicht nur eine Tagesdosis von 480 mg/Tag, sondern auch, dass die Dosis bis zum ausreichenden klinischen Ansprechen gesteigert wird. Anschließend wird durch langsame Verminderung der Dosis die individuelle Erhaltungsdosis festgestellt. Dies legt jeder Fachperson nahe, zunächst die geringste nötige Dosis zu verabreichen und davon ausgehend eine passende Dosis zu suchen. Zumal auch Schimrigk (GUT ./E, S 609) auf die Gemeinsamkeiten zwischen Psoriasis und MS hinwies, ist es durchaus nachvollziehbar, dass eine Fachperson auch die berechtigte Erwartungshaltung haben konnte, das in den Leitlinien GUT ./M geoffenbarte Dosierungsschema könne auch als Erhaltungsdosis bei der MS-Therapie angewendet werden.

Da nach GUT ./E, ./I, ./M und ./10 immer nur ein Vielfaches von 120 mg/Tag verabreicht wurden, war es für eine Fachperson naheliegend, nicht bloß die Dosen von 360 und 720 mg/Tag, sondern auch andere ein Vielfaches von 120 mg bildende Dosen, wie eben auch 480 mg/Tag, zu probieren. Die laut Streitpatent beanspruchte zu verabreichende Menge stellt damit keine Erfindung dar. Dies umso weniger, als ein unerwarteter oder überraschender Effekt für die beanspruchte Dosis im Streitpatent nicht beschrieben ist.

2.8 Nach der jüngsten Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer ist die Plausibilität weder ein eigenständiger Rechtsbegriff noch eine Voraussetzung für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nach Art 56 EPÜ (G 2/21, Rn 92). Eine nähere Befassung damit kann daher unterbleiben.

3. Zusammengefasst gelingt es der Antragsgegnerin, die Vermutung der Rechtsbeständigkeit des Streitpatents zu entkräften, was im Sinne der unter Punkt 2.2 angeführten Judikatur der Erlassung einer einstweiligen Verfügung entgegensteht. Der angefochtene Beschluss war daher zu bestätigen.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 393 Abs 1 EO iVm § 41 ZPO. Die im Provisorialverfahren unterliegende gefährdete Partei hat ihre Kosten endgültig selbst zu tragen und der obsiegenden Gegnerin deren Kosten zu ersetzen ( Kodek in Angst/Oberhammer , EO³ § 393 Rz 2/1, 4). Der Zuschlag für die Beiziehung eines Patentanwalts steht ihr zu, weil nicht nur prozessual-juristische Fragen Gegenstand des Rekursverfahrens waren (4 Ob 71/19y; OLG Wien 33 R 61/22s ua; vgl auch EuGH C-531/20, NovaText ).

5. Der Ausspruch über den Wert des Entscheidungsgegenstands nach §§ 78, 402 Abs 4 EO iVm § 500 Abs 2 Z 1 lit b ZPO resultiert aus der wirtschaftlichen Bedeutung des Patentrechts und orientiert sich auch an der Bewertung durch die Antragstellerin sowie an § 5 Z 14 AHK.

6. Ob es der Antragsgegnerin gelungen ist, die Vermutung der Rechtsbeständigkeit des Streitpatents zu entkräften, kann nur im Einzelfall beurteilt werden und wirft demnach keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 528 Abs 1 ZPO auf. Aus diesem Grund war der ordentliche Revisionsrekurs nicht zuzulassen.

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