JudikaturOLG Wien

33R72/22h – OLG Wien Entscheidung

Entscheidung
31. Oktober 2022

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Hinger als Vorsitzenden, die Richterin Mag. Tscherner und den fachkundigen Laienrichter Patentanwalt DI Pawloy in der Patentrechtssache der Antragstellerin B***** , vertreten durch die Gassauer-Fleissner Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die Antragsgegnerin R *****, vertreten durch die GEISTWERT Kletzer Messner Mosing Schnider Schultes Rechtsanwälte OG in Wien, wegen Erlassung einer einstweiligen Verfügung zur Unterlassung (EUR 100.000) über den Rekurs der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Handelsgerichts Wien vom 24.5.2022, 49 Cg 46/21p 20, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Antragstellerin hat die Kosten ihrer Rekursbeantwortung vorläufig, die Antragsgegnerin hat ihre Rekurskosten endgültig selbst zu tragen.

Der Wert des Entscheidungsgegenstands übersteigt insgesamt EUR 30.000.

Der ordentliche Revisionsrekurs ist nicht zulässig.

Begründung

Text

Die Antragstellerin ist Inhaberin des Patents EP 2305255 B1, in Österreich: E 571562. Es schützt den pharmazeutischen Wirkstoff N (4 Chlor 3-(trifluormethyl)phenyl)-N’-(4-(2-(N-methylcarbamoyl)-4-pyridyloxy)phenyl)harnstoff, der auch unter dem internationalen Freinamen „Sorafenib“ bekannt ist. Die Anmeldung des Patents erfolgte unter Inanspruchnahme der US-Priorität US 60/334,609 vom 3.12.2001.

Anspruch 12 des Patents betrifft das Tosylatsalz von Sorafenib, also Sorafenib-Tosylat, und lautet „Arylharnstoff-Verbindung, die ein Tosylatsalz von N (4 Chlor 3-(trifluormethyl)phenyl)-N’-(4-(2-(N-methylcarbamoyl)-4-pyridyloxy)phenyl)harnstoff ist“. Beim Wirkstoff Sorafenib-Tosylat handelt es sich um einen Proteinkinaseinhibitor aus der Gruppe der Multi-Kinase-Inhibitoren. Er wird in Form von Tabletten angewendet und wirkt, indem er das Wachstum von Krebszellen verlangsamt und die Blutversorgung, die die Krebszellen wachsen lässt, unterbindet. Die zugelassenen Indikationen sind derzeit die Behandlung des Leberzellkarzinoms sowie bestimmte Formen des Nierenkarzinoms und Schilddrüsenkarzinoms.

Die Antragsgegnerin stellt Generika her. Sie hält seit 16,1,2019 die österreichische Marktzulassung für das Generikum „Sorafenib TEVA 200 mg Filmtabletten“ (Zulasungsnummer 138615). Der Wirkstoff in diesem Produkt ist Sorafenib-Tosylat. Es ist im Warenverzeichnis I des Österreichischen Apothekerverlags aufgenommen und im Erstattungskodex verzeichnet. In der Gebrauchsinformation ist die Antragsgegnerin als Herstellerin genannt.

Die Antragstellerin begehrte zur Sicherung ihres mittlerweile mit Klage geltend gemachten gleich lautenden Unterlassungsanspruchs die Erlassung einer einstweiligen Verfügung. Das Patent der Antragstellerin sei rechtsbeständig. Die Antragsgegnerin greife mit dem von ihr vertriebenen Produkt „Sorafenib TEVA 200 mg Filmtabletten“, das wortsinngemäß unter den Anspruch 12 des Streitpatents falle, in das Streitpatent ein.

Die Antragsgegnerin beantragte die Abweisung des Antrags. Die Antragstellerin habe die gültige Beanspruchung der Priorität von Anspruch 12 des Streitpatents nicht ausreichend nachgewiesen. Darüber hinaus sei Anspruch 12 des Streitpatents aufgrund fehlender Neuheit nichtig, jedenfalls aber aufgrund mangelnder erfinderischer Tätigkeit.

Mit dem angefochtenen Beschluss erließ das Erstgericht eine einstweilige Verfügung, mit der der Antragsgegnerin

(1.) verboten wurde, in Österreich betriebsmäßig eine Arylharnstoff-Verbindung, die ein Tosylatsalz von N (4 Chlor 3-(trifluormethyl)phenyl)-N’-(4-(2-(N-methylcarbamoyl)-4-pyridyloxy)phenyl)harnstoff ist, insbesondere das Produkt „Sorafenib TEVA 200mg Filmtabletten“ (Zulassungsnummer 138615), herzustellen, in Verkehr zu bringen, feilzuhalten, zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken einzuführen, und

(2a.) geboten wurde, die Listung von Produkten gemäß Punkt 1 des Verfügungsgebots, insbesondere des Produkts „Sorafenib TEVA 200 mg Filmtabletten“ (Zulassungsnummer 138615), im Warenverzeichnis I des Österreichischen Apotheker-Verlags unter Nennung der Verkaufspreise zu unterlassen, sofern dabei nicht gleichzeitig angeführt wird, dass das gelistete Arzneimittel nicht lieferbar ist, sowie

(2b) ihr geboten wurde, einen Antrag auf Streichung der Produkte gemäß Punkt 1. des Verfügungsgebots, insbesondere „Sorafenib TEVA 200 mg Filmtabletten“ (Zulassungsnummer 138615), aus dem Erstattungskodex des Dachverbands der Sozialversicherungsträger (EKO) zu stellen und der gefährdeten Partei hierüber Nachweis zu erbringen, und es zu unterlassen, einen Antrag auf Aufnahme solcher Produkte in den EKO zu stellen, solange das Patent EP 2305255 B1 (in Österreich: E 571562) der gefährdeten Partei aufrecht ist.

Dagegen richtet sich der Rekurs der Antragsgegnerin aus den Rekursgründen der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die einstweilige Verfügung aufzuheben.

Die Antragstellerin beantragt, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist nicht berechtigt.

I. Zur Beweisrüge :

1. Die Antragsgegnerin wendet sich im Rahmen der Beweisrüge gegen die Annahme, dass Sorafenib-Tosylat (Anspruch 12) als neu gegenüber der internationalen Anmeldung WO 00/42012 A1 und der US-Anmeldung US 09/948,915 anzusehen sei. Sie bekämpft zunächst die Feststellungen

(F1) „Die WO 00/42012 A1 offenbart allerdings nicht das Tosylat-Salz von Sorafenib in individualisierter Form, sodass Sorafenib-Tosylat als neu gegenüber der WO 00/42012 A1 anzusehen ist.“ sowie

(F2) „Dass die für das Patent beanspruchte Priorität (US 60/334,609 vom 3. Dezember 2001) nicht die erste Anmeldung für Sorafenib-Tosylat sei, ist nicht ausreichend bescheinigt.“

und begehrt die Ersatzfeststellungen

(E1) „Die WO 00/42012 A1 offenbart das Tosylat-Salz von Sorafenib in individualisierter Form, sodass Sorafenib-Tosylat nicht als neu gegenüber der WO 00/42012 A1 anzusehen ist. Insbesondere ist Sorafenib-Tosylat nur eine willkürlich gewählte Ausführungsform gemäß der Offenbarung der WO‘012 in der Gesamtbetrachtung, ohne neue technische Lehre zum relevanten Zeitpunkt des Verfügungspatents, daher keine Auswahlerfindung gegenüber der WO 00/42012 A1.“ und

(E2) „US 60/334,609 vom 3. Dezember 2001 ist nicht die erste Anmeldung für Sorafenib-Tosylat, sondern US 09/948,915 ist die erste Anmeldung.“

1.1. Die Anmeldungen WO 00/42012 A1 und US 09/948,915 offenbaren jeweils eine Liste von Harnstoffverbindungen (darunter Sorafenib) als Wirkstoffe und eine Liste pharmazeutisch verträglicher Säuren zur Bildung von Salzen derartiger Verbindungen (darunter auch die p-Toluolsulfonsäure zur Bildung eines Tosylats). Der pharmazeutische Wirkstoff Sorafenib und das pharmazeutisch annehmbare Salz Tosylat werden nicht zusammen und damit individualisiert genannt, sondern nur getrennt offenbart. Eine Offenbarung der Begriffe „Tosylatsalz von Sorafenib“ oder „Sorafenib Tosylat“ enthalten sie nicht.

1.2. Der Rekurs legt nicht überzeugend dar, wieso die bekämpften Feststellungen F1 und F2 unrichtig sein sollen und welche Beweisergebnisse die Ersatzfeststellungen E2 und E2 stützen sollen.

1.3. Im Rahmen der Beweisrüge argumentiert die Antragsgegnerin auch rechtlich, wieso die Offenbarung des Tosylat-Salzes von Sorafenib nicht als neu gegenüber WO 00/42012 A1 und US 09/948,915 anzusehen sei. Dazu wird auf die Bearbeitung der Rechtsrüge verwiesen.

2. Darüber hinaus bekämpft die Antragsgegnerin die Feststellung, wonach Tosylatsalze selten genutzt werden. Sie beantragt die Ersatzfeststellung

„Das Tosylatsalz ist kein seltenes Salz. Es wird im Lehrbuch von Aulton schon in der ersten Auflage von 1988 als eines von lediglich 15 pharmazeutisch verträglichen Salzen angeführt, und zwar schon an der dritten Stelle. Tosylatsalze werden in Standardreferenztexten ausdrücklich erwähnt und wurden auch in WO 012 bereits offenbart. In Anbetracht des pKa-Wertes von Sorafenib wäre die Herstellung des Tosylatsalzes von Sorafenib tatsächlich als geeignet angesehen worden.“

Für die Lösung der Rechtsfrage ist die Häufigkeit der Verwendung von Tosylatsalz nicht relvant. Die Erledigung der Beweisrüge kann daher unterbleiben (vgl RIS-Justiz RS0042386).

3. Auch ob die verbesserte Bioverfügbarkeit ein relevanter technischer Effekt ist, der für die Formulierung der objektiven technischen Aufgabe im Rahmen des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes zu beachten ist, ist eine Rechtsfrage. Der Themenkreis „objektive technische Aufgabe“ wird mit der Rechtsrüge behandelt.

II. Zur Rechtsrüge

4. Unstrittig ist, dass das Produkt der Antragsgegnerin den Gegenstand des Anspruchs 12 des Patents verwirklicht. Die Antragsgegnerin wendet sich mit dem Argument gegen die Erlassung der einstweiligen Verfügung, das Patent sei nichtig.

5. Gemäß § 24 PatV-EG sind auf Verfahren, die europäische Patente betreffen, ergänzend zu dessen Bestimmungen die Vorschriften des EPÜ (Europäisches Patentübereinkommen), des PCT (Vertrag über die internationale Zusammenarbeit im Patentwesen) und des Patentgesetzes sinngemäß anzuwenden. Für das Verfahren bei Patentverletzungsstreitigkeiten und für die Rechtsfolgen einer Patentverletzung gilt nach Art 64 Abs 3 EPÜ nationales Recht. Die österreichische Rechtsprechung orientiert sich im Patentverletzungsverfahren auch an der Spruchpraxis des EPA (4 Ob 228/18k 6.1.).

6. Die Patenterteilung schafft nach ständiger Rechtsprechung im Provisorialverfahren eine durch Gegenbescheinigung entkräftbare Vermutung für das Bestehen des Patentrechts (RS0071369; RS0103412 [T1]). Die Vorfrage der Gültigkeit oder Wirksamkeit eines Patents kann – mit den Mitteln des Provisorialverfahrens und in dessen Grenzen – auch im Provisorialverfahren geprüft werden (vgl RS0071408).

7. Die Antragsgegnerin steht auf dem Standpunkt, die Antragstellerin habe die Priorität nicht gültig beansprucht.

7.1. Die Antragsgegnerin führt in ihrem Rekurs aus, dass Feststellungen dazu fehlen, aus welchen Anmeldungen das Verfügungspatent hervorging, dass die vorläufige Anmeldung US 60/334,609 ohne Nennung der 18 Erfinder:innen eingereicht wurde und nicht nachgewiesen worden sei, dass mit allen Erfinder:innen die Übertragung von Erfindungen vereinbart wurde. Nur unter dieser Voraussetzung hätte die Nachanmeldung unter wirksamer Beanspruchung der Priorität von der B***** Corporation erfolgen können.

7.2. Das Erstgericht stellte fest, aus welchen Anmeldungen das Verfügungspatent hervorging und dass die vorläufige Anmeldung US 60/334,609 ohne Nennung der 18 Erfinder:innen eingereicht wurde. Dieser Anmeldung wurde vom US-Patentamt der 3.12.2001 als Anmeldedatum zugestanden. Die Erfindernennung wurde am 8.8.2002 nachgereicht. Die Erfinder sind auch in der PCT-Anmeldung WO 03/04759 A1 angeführt. Im Streitpatent sind nunmehr sieben dieser Erfinder genannt.

7.3. Da das Erstgericht seine Feststellungen auf Urkunden stützt, kann das Rekursgericht ergänzende Feststellungen treffen (vgl Kodek in Rechberger 5 , § 526 Rz 4 und 7; RS0044018; 2 Ob 228/16t, 10 Ob 71/16p und 10 Ob 102/08k mwN; RS0043026 und RS0043057).

7.4. Das Rekursgericht trifft aufgrund der vorliegenden Urkunden nachstehende ergänzende Feststellungen:

Sämtliche der im Patent US 60/334,609 genannten Erfinder waren zum Zeitpunkt der Erfindung Angestellte der B***** Corporation und alle unterschrieben im Rahmen ihres Angestelltenverhältnisses die nachstehende Vereinbarung:

«3. Ownership of Inventions

Each and every Invention I Make during the period of time I am actually employed by B***** shall become the property of B***** without additional compensation or consideration to me, except for any Invention for which no equipment, supplies, facility or B*****’s Confidential Information was used and which was developed entirely on my own time and (a) which does not relate to the business of B***** or B*****’s actual or demonstrably anticipated research or development or (b) which does not result from any work performed by me for B*****.

If I assert any property right in an Invention I Make during the period of time I am employed by B*****, I will promptly notify B***** in writing.»

Die Feststellungen gründen sich auf die Erklärung von J***** (./N), der angibt, dass alle Erfinder Angestellte der B***** Corporation gewesen seien und sie im Rahmen ihrer Anstellung die obige Erklärung unterzeichnet hätten. Im Anhang zur ./N sind zudem sieben von Erfindern unterfertigte Vereinbarungen angeschlossen. Auch aus der ./O (Erklärung von W*****) und dem Anhang zur ./O ergibt sich das Angestelltenverhältnis der Erfinder. Aufgrund des verstrichenen Zeitraums erscheint es nachvollziehbar, dass nicht mehr alle Erklärungen aufgefunden werden konnten, sodass der Erklärung von J*****, warum nicht alle unterfertigten Vereinbarungen vorgelegt werden können, Glauben geschenkt werden kann. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit dieser Erklärungen. Das Rekursgericht erachtet es daher als im Provisorialverfahren ausreichend bescheinigt, dass die Erfinder der Prioritätsanmeldung US 60/334,609 (./I Gut 6) Vereinbarungen mit der B***** Corporation mit dem oben festgestellten Wortlaut geschlossen haben. Dies kann weder durch in Privatgutachten geäußerte Rechtsmeinungen noch durch den Umstand entkräftet werden, dass eine Urkunde existiert, in welcher die Erfinder:innen formal als Rechteinhaber auftreten (./11); letzteres könnte etwa auch darauf zurückzuführen sein, dass gegenüber der US-Patentbehörde ein Auftreten der Erfinder:innen erforderlich war. Dass die Erfinder ihre Rechte an die (Rechtsvorgängerin der) Antragstellerin übertragen wollten, wird von der Antragsgegnerin nicht bestritten. Die im Rekurs geforderten Ersatzfeststellungen aus diversen Urkunden können daher unterbleiben.

7.5. Durch die zwischen den Erfindern und der B***** Corporation geschlossenen Vereinbarungen ist das Recht an der Erfindung auf die B***** Corporation übergegangen, sodass sich die Antragstellerin auf die Priorität aus dem Patent US 60/334,609 wirksam berufen kann. Dass die Antragstellerin im Verhältnis zur B***** Corporation nicht Rechtsnachfolgerin sei, hat die Antragsgegnerin nicht behauptet.

8. Nach § 10 Abs 1 PatV-EG iVm Art 138 Abs 1 lit a EPÜ kann ein europäisches Patent mit Wirkung für einen Vertragsstaat für nichtig erklärt werden, wenn sein Gegenstand nach Art 52 bis 57 EPÜ nicht patentierbar ist. Nach Art 52 Abs 1 EPÜ werden europäische Patente für Erfindungen auf allen Gebieten der Technik erteilt, sofern sie neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind. Eine Erfindung gilt als neu, wenn sie nicht zum Stand der Technik gehört (Art 54 Abs 1 EPÜ), und als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend, wenn sie sich für die Fachperson nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt (Art 56 EPÜ). Nach Art 54 Abs 2 EPÜ bildet den Stand der Technik alles, was vor dem Anmeldetag der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist. Für die Beurteilung, ob die erfinderische Tätigkeit zu bejahen ist, ist nach dem vom EPA entwickelten „Aufgabe-Lösungs-Ansatz“ zunächst der nächstliegende Stand der Technik zu ermitteln, sodann die zugrunde liegende technische Aufgabe zu bestimmen und schließlich zu beurteilen, ob die Erfindung angesichts des nächstliegenden Stands der Technik und der technischen Aufgabe für die Fachperson naheliegend war (mwN Kinkeldey/Karamanli in Benkard 2 Art 56 EPÜ Rn 23; OLG Wien 33 R 31/20a ua).

9. Die Antragsgegnerin argumentiert auch rechtlich, dass der Anspruch gegenüber der Anmeldung WO 00/42012 A1 nicht neu sei. Darüber hinaus versucht sie, den Anschein der Rechtsbeständigkeit durch die Behauptung zu entkräften, der Anspruch beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit, weil die technische Wirkung des Unterscheidungsmerkmals im Patent nicht offenbart sei und das Erstgericht den „Aufgabe-Lösungs-Ansatz“ und den „could-would-approach“ unrichtig angewendet habe.

9.1. Zur Neuheit

9.1.1. Wie die Antragstellerin selbst einräumt, ging aus der Anmeldung WO 00/42012 A1 das Europäische Patent EP 1140840 B1 hervor. Auf dessen Basis wurde in Österreich zu SZ 35/2006 ein ergänzendes Schutzzertifikat erteilt. Der Schutzbereich des Grundpatents und des Schutzzertifikats erstreckt sich auf „ Sorafenib und pharmazeutisch verträgliche Salze hievon “. Die Anmeldung WO 00/42012 A1 und das Grundpatent EP 1140840 B1 offenbaren verschiedene Arylharnstoffe als Wirkstoffe, darunter Sorafenib, in einer Liste und getrennt in einer anderen Liste pharmazeutisch annehmbare Säuren zur Bildung von Salzen dieser Arylharnstoffe.

9.1.2. Es mag sein, dass für die Erteilung des ergänzenden Schutzzertifikats die Bedingung des Art 3b VO (EG) Nr 469/2009, wonach für das Erzeugnis als Arzneimittel eine gültige Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt worden sein muss, mithilfe der Genehmigung für das Inverkehrbringen des Arzneimittels Nexavar mit dem Wirkstoff „Sorafenib-Tosylat“ nachgewiesen wurde.

9.1.3. Daraus ist für den Standpunkt der Antragsgegnerin nichts zu gewinnen:

Die Erteilung des ergänzenden Schutzzertifikats steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH: In der Rechtssache C 392/97, Farmitalia , hatte der EuGH einen Fall zu beurteilen, in dem das Grundpatent die freie Base eines Wirkstoffes schützte und ein ergänzendes Schutzzertifikat für den Wirkstoff und Salze hievon aufgrund der arzneimittelrechtlichen Genehmigung des Wirkstoffs in Form eines bestimmten Salzes erteilt werden sollte. Der EuGH sprach aus, dass das Zertifikat den gleichen Schutz gewähre, wenn das Grundpatent für einen Wirkstoff und seine Derivate (Salze und Ester) gelte. Da die arzneimittelrechtliche Genehmigung einen Wirkstoff in Form eines Salzes nenne und der Wirkstoff durch das Grundpatent geschützt sei, könne das Zertifikat den Wirkstoff ebenso wie seine verschiedenen Derivate wie Salze und Ester als Arzneimittel schützen, soweit sie dem Schutz des Grundpatents unterliegen.

9.1.4. Aus der Entscheidung C 392/97, Farmitalia , und der Erteilung des ergänzenden Schutzzertifikats für Sorafenib und pharmazeutisch verträgliche Salze hievon lässt sich nur ableiten, dass aufgrund eines Grundpatents, das Sorafenib und Salze davon schützt, und aufgrund der arzneimittelrechtlichen Genehmigung eines Wirkstoffs, der das Tosylatsalz von Sorafenib ist, ein Schutzzertifikat für „Sorafenib und pharmazeutisch verträgliche Salze hievon“ erteilt wurde. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass der Schutzbereich des Grundpatents EP 1140840 B1 (basierend auf WO 00/42012 A1) den Wirkstoff Sorafenib und seine verschiedenen Derivate wie Salze (beispielsweise das Tosylat) und Ester als Arzneimittel umfasst. Daraus ergibt sich entgegen der im Rekurs vertretenen Ansicht nicht, dass WO 00/42012 A1 oder EP 1140840 B1 Sorafenib-Tosylat bereits individualisiert offenbarten.

9.1.5. Richtig ist, dass der EuGH in der Entscheidung C 650/17, Royalty Pharma, betonte, dass das ESZ den durch das Patent gewährten Schutzbereich nicht über die von ihm geschützte Erfindung hinaus ausweiten solle. Ein Erzeugnis könne nämlich nur dann als durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt im Sinne von Art 3 lit a der Verordnung Nr 469/2009 angesehen werden, soweit es durch einen Fachmann unter Zugrundelegung seiner allgemeinen Kenntnisse in dem betreffenden Bereich am Anmelde- oder am Prioritätstag des Grundpatents und unter Berücksichtigung des Stands der Technik zu diesem Zeitpunkt im Licht aller durch das Patent offengelegten Angaben in spezifischer Weise zu identifizieren ist. Dies sei bei einem Erzeugnis, das nach der Anmeldung oder dem Prioritätstag des Grundpatents nach einer eigenständigen erfinderischen Tätigkeit entwickelt wurde, nicht der Fall.

Wenn die Antragsgegnerin ihren Standpunkt auf diese Entscheidung stützt, übersieht sie, dass das ergänzende Schutzzertifikat SZ 35/2006 nicht für das Erzeugnis „Sorafenib-Tosylat“, sondern für das Erzeugnis „Sorafenib und pharmazeutisch verträgliche Salze hievon“ erteilt wurde. Auch vor dem Hintergrund von C 650/17, Royalty Pharma, ist daher der Schluss unzulässig, aus der Erteilung des ergänzenden Schutzzertifikats SZ 35/2006 lasse sich die Offenbarung von Sorafenib Tosylat in WO 00/42012 A1 ableiten. Abgesehen davon hätten die diesem Verfahren zugrunde liegenden Überlegungen keine bindende Wirkung für das vorliegende Verfahren.

9.1.6. Um anhand der Offenbarung in WO 00/42012 A1 und US 09/948,915 zu Sorafenib-Tosylat in individualisierter Form zu gelangen, müsste der Fachmann aus zwei Listen jeweils eine Auswahl treffen und diese kombinieren (siehe dazu auch zur Beweisrüge, I.1.1.). Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts ist eine bestimmte Kombination von Elementen, die eine Auswahl aus zwei bekannten Gruppen/Listen voraussetzt, nicht als Neuheit im Stand der Technik offenbart anzusehen, so dass die Kombination dem Erfordernis der Neuheit genügt (Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA 10 I.C.6.1.; vgl T 12/81, ABl 1982, 296; vgl dazu auch OGH 17 Ob 24/09t und 17 Ob 13/09z).

9.2. Das Erstgericht ermittelte – unbeanstandet – als nächstliegenden Stand der Technik die Ausführungen von Lyons et al im Artikel Endocr. Rel. Cancer 8 (2001), 219-225. Dort wird die gute Wirkung von Sorafenib als freie Base bei der Behandlung von Tumorpatienten dargestellt und offenbart, dass eine klinische Prüfung von Sorafenib in Tablettenform begonnen wurde.

9.3. Die „objektive technische Aufgabe“ ist es, die technischen Effekte oder Wirkungen jener Merkmale, welche die beanspruchte Erfindung vom nächstliegenden Stand der Technik unterscheiden, beim nächstliegenden Stand der Technik zu erzielen ( Wildhack/Groß/Müller-Huber in Stadler/Koller, PatentG Nach § 3 Abs 1 Rz 52; OLG Wien 133 R 133/19k). Der Anspruch 12 unterscheidet sich vom nächstliegenden Stand der Technik dadurch, dass das Patent das Tosylatsalz von Sorafenib und nicht Sorafenib als freie Base beansprucht. Diese Stoffe unterscheiden sich in ihrer Löslichkeit nicht wesentlich. Sorafenib-Tosylat weist aber eine um den Faktor 7 höhere Bioverfügbarkeit auf, als Sorafenib. Damit besteht die Wirkung des Unterscheidungsmerkmals zwischen dem Anspruch und dem nächstliegenden Stand der Technik in der besseren Bioverfügbarkeit.

9.3.1. Richtig ist, dass diese Wirkung im Patent nicht explizit beschrieben wird.

9.3.2. In T 1639/07 urteilte die Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts, dass die objektive technische Aufgabe sich aus physikalischen, chemischen oder sonstigen Wirkungen ergeben müsse, die unmittelbar und kausal mit den technischen Merkmalen der beanspruchten Erfindung zusammenhängen. In T 377/14 sprach die Kammer unter Bezugnahme auf T 344/89 aus, dass die Aufgabe in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung nicht ausdrücklich offenbart sein müsse; es reiche aus, dass sie angedeutet wurde. Die gestellte Aufgabe soll laut Beschwerdekammer des EPA eine Aufgabe sein, die die Fachperson, die nur den Stand der Technik kennt, tatsächlich zu lösen wünsche (EPA T 800/91). Zwar werde in der RSpr bisweilen bei der Ermittlung der objektiven technischen Aufgabe zunächst von der im Patent genannten Aufgabe („subjektive Aufgabe“) ausgegangen; die Formulierung dieser „objektiven Aufgabe" solle nach Auffassung der Kammer regelmäßig erst nach der Festlegung des nächstliegenden Stands der Technik erfolgen. Nur auf der Basis der Unterscheidungsmerkmale im Vergleich zum nächstliegenden Stand der Technik (als geeignetem Ausgangspunkt) könne ja nach dem etablierten Aufgabe-Lösungs-Ansatz überhaupt die objektive technische Aufgabe bestimmt werden (EPA T 1861/17 mwN). Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts können bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit auch zusätzliche Vorteile berücksichtigt werden, die in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht beschrieben sind, aber einen darin genannten Anwendungsbereich betreffen, sofern diese Vorteile nicht das Wesen der Erfindung verändern (T 1422/12). In dieser Entscheidung urteilte die Beschwerdekammer, dass die Zurverfügungstellung eines Wirkstoffs in einer stabileren Form bei der Formulierung der technischen Aufgabe berücksichtigt werden könne, weil die Begründung der Anmeldung auf die Verbesserung der Leistungsmerkmale von Phamaprodukten, darunter des geoffenbarten Wirkstoffs, Bezuge genommen hatte. Dass das spezielle Problem der verbesserten Stabilität hinsichtlich Epimerisation nicht in der Anmeldung geoffenbart sei, sei irrelavent, weil dieser Effekt für die Fachperson klar als wünschenswerter Effekt für den Wirkstoff erkennbar sei.

9.3.3. Die Ansprüche 1 bis 11 des Patents beziehen sich auf eine in der Krebstherapie eingesetzte Kombinationsmediaktion, die sich aus einer Arylharnstoff-Verbindung und 5-Fluoruracil (oder einem pharmazeutisch akzeptablen Salz davon) zusammensetzt. Die Arylharnstoff-Verbindung ist jeweils das Tosylatsalz von Sorafenib, das in Form des Anspruchs 12 einen unabhängigen Produktanspruch bildet. Laut Patentschrift soll die Kombination der Wirkstoffe dazu führen, dass die Therapie trotz der Verwendung geringerer Mengen der einzelnen Wirkstoffe bei besserer Verträglichkeit besser wirksam ist, als bei Verabreichung der einzelnen Wirkstoffe. Die im Vergleich zur freien Base Sorafenib wesentlich verbesserte Freisetzung des Wirkstoffes bei Verabreichung des Tosylatsalzes von Sorafenib ist eine wesentliches Voraussetzung für das Gelingen der im Patent beschriebenen Aufgabe; die bessere Bioverfügbarkeit ermöglicht auch bei der Bereitstellung möglichst geringer Mengen des Wirkstoffs eine bessere Wirkung. Die Bildung des Tosylatsalzes von Sorafenib hatte gerade den Zweck, für die im Patent offenbarte Therapie eine besser verfügbare Form von Sorafenib bereitzustellen. Die Wirkung von Anspruch 12 ist daher im Gesamtzusammenhang des Patents zu sehen und ergibt sich aus der Anmeldungsoffenbarung zumindest implizit. Das reicht nach der Rechtsprechung aus (4 Ob 17/15a mwN).

9.3.4. Es spielt keine Rolle, dass die Möglichkeit der oralen Verabreichung der freien Base des Wirkstoffs im Rahmen des nächstliegenden Stands der Technik bereits beschrieben wurde. Die Neuheit besteht in der Verabreichung des besser bioverfügbaren Tosylatsalzes anstatt der bisher beschriebenen freien Base.

9.3.5. Dass das Erstgericht als objektive technische Aufgabe definierte, Sorafenib bzw eine auf Sorafenib basierende pharmazeutische Formulierung in einer verbesserten Form zur (oralen) Anwendung bei der Behandlung bestimmter Tumore zur Verfügung zu stellen, ist nicht zu beanstanden.

9.4. Die Erfindung gilt nicht schon dann als naheliegend im Sinne des „Aufgabe-Lösungs-Ansatzes“, wenn die Fachperson aufgrund des Stands der Technik zu ihr hätte gelangen können, sondern nach dem vom EPA als „could-wood-approach“ bezeichneten Ansatz erst, wenn die Fachperson sie aufgrund eines hinreichenden Anlasses in Erwartung einer Verbesserung oder eines Vorteils auch tatsächlich vorgeschlagen hätte (vgl RS0071157 [T1]; RS0130386; 4 Ob 228/18k).

Auch wenn einzelne Elemente des Inhalts der Erfindung bereits vorher bekannt waren, so bedeutet dies noch nicht, dass keine erfinderische Tätigkeit vorliegt, zumal eine Erfindung auch darin bestehen kann, dass bereits bekannte Einrichtungen durch eine besondere Art ihrer Verwendung oder durch die Verbindung mit noch unbekannten Einrichtungen dazu verwendet werden, ein technisches Problem zu lösen (RS0071157).

9.4.1. Wie das Erstgericht richtig darlegte, ist auch vor dem Hintergrund der Therapietreue von Patienten die bessere Bioverfügbarkeit ein relevantes Element bei der Suche nach Verbesserungen eines pharmazeutischen Produkts. Eine der zentralen physikochemischen Eigenschaften ist für die Fachperson die Löslichkeit. Die Löslichkeit der freien Base Sorafenib ist schlecht. Es ist daher naheliegend, geeignete Salzformen zu suchen. Dabei hätte die Fachperson neben Sulfat und Hydrochlorid auch Tosylat als mögliche Salzform miteinbezogen, jedoch festgestellt, dass Sorafenib-Tosylat im Vergleich zur freien Base keine verbesserte Löslichkeit aufweist. Da in der Fachwelt das Vorurteil vorherrscht, dass eine schlechte Löslichkeit auch eine schlechte Bioverfügbarkeit bedeutet, bestanden für die Fachperson keine angemessenen Erfolgsaussichten dafür, dass mit dem Tosylat von Sorafenib eine Verbesserung der Wirkung des pharmazeutischen Produkts erzielt wird. Sie hätte keinen Anlass gehabt, weitere Untersuchungen zu Sorafenib-Tosylat anzustellen.

9.4.2. Wieso die Untersuchung der Auflösungsgeschwindigkeit als ein Aspekt der Löslichkeit vor dem Hintergrund des dargestellten Vorurteils eine Veranlassung zu weiteren Untersuchungen mit Sorafenib-Tosylat hätte bieten sollen, legt die Rekurswerberin nicht überzeugend dar.

9.4.3. Das Vorurteil, dass eine schlechte Löslichkeit auch eine schlechte Bioverfügbarkeit bedeute, wurde in den der Patentanmeldung vorangegangenen Versuchen überraschend überwunden, indem sich herausstellte, dass das Tosylatsalz von Sorafenib zwar gleich schlecht löslich ist wie Sorafenib, aber wesentlich besser freigesetzt wird, das heißt besser bioverfügbar ist. Es ist daher davon auszugehen, dass die Fachperson in Kenntnis der schlechten Löslichkeit von Sorafenib-Tosylat keine weiteren Untersuchungen angestellt hätte, die letztlich die bessere Bioverfügbarkeit des Tosylatsalzes ergeben hätten. Die Erfindung ist nicht naheliegend.

10. Zusammengefasst gelingt es der Antragsgegnerin nicht, die Vermutung der Rechtsbeständigkeit zu entkräften. Die Einstweilige Verfügung war daher zu bestätigen.

11. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 393 Abs 1 EO iVm § 41 ZPO.

12. Der Ausspruch über den Wert des Entscheidungsgegenstands nach §§ 78, 402 Abs 4 EO iVm § 500 Abs 2 Z 1 lit. b ZPO ergibt sich aus der wirtschaftlichen Bedeutung des Patentrechts und orientiert sich auch an der Bewertung durch die Antragstellerin.

13. Ob der Gegenstand eines Patents erfinderisch ist, kann nur im Einzelfall beurteilt werden und wirft demnach keine Rechtsfrage im Sinne des § 528 Abs 1 ZPO auf. Aus diesem Grund war der ordentliche Revisionsrekurs nicht zuzulassen.

Rückverweise